GREG BEAR
DIE MACHT
DER STEINE
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Vor Jahrtausenden bauten Christen, Moslems und Juden gewaltige selbsterhaltende Städte auf dem Planeten Gott-der-Schlachtenlenker, die ständig in Bewegung sind. Sie sollten das Leben der Gläubigen schützen und erhalten – aber auch die Reinheit von Glaube und Lehre, denn jeder, der gegen die Gebote verstößt, wird ausgesetzt. Da jeder Mensch ein potenzieller Sünder ist, sind diese Kolosse längst menschenleer und dem Verfall preisgegeben – und zu einer Bedrohung für die Bewohner dieser Welt geworden …
Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern.
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Titel der Originalausgabe
STRENGHT OF STONES
Aus dem Amerikanischen von Martin Gilbert
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1981 by Greg Bear
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Das Illustrat
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-17535-1
INHALT
Prolog
ERSTES BUCH – Mandala
ZWEITES BUCH – Wiederauferstehung
DRITTES BUCH – Die Rückkehr
11 – »Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte;
und welches Ende wartet auf mich,
dass ich geduldig sein sollte?
12 – Ist doch meine Kraft nicht aus Stein
und mein Fleisch nicht aus Erz
13 – Hab ich denn keine Hilfe mehr,
und gibt es keinen Rat mehr für mich?«
DAS BUCH HIOB 6, Masoretischer Text
Die letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Erde waren kataklysmisch. Die fundamentalistischen islamischen Staaten überzogen die gemäßigten mit verheerenden Kriegen und verwüsteten dabei weite Teile Afrikas und des Nahen Ostens. In nicht einmal fünf Jahren hatte der während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stetig anhaltende Siegeszug des Islam sich in einen Amoklauf des Terrors und der Apostasie verwandelt, eine der schlimmsten religiösen Aufwallungen in der Menschheitsgeschichte.
Christliche Splitterkulte übten sich weltweit in jeder nur denkbaren Form des zivilen Ungehorsams, um das Eintreten des lange überfälligen Tausendjährigen Reiches zu beschleunigen, aber es erschien kein zweiter Messias. Ihre Renitenz färbte auf alle Christen ab.
Was die Juden betrifft – die Welt hatte noch nie einen Grund benötigt, um die Juden zu hassen.
Die in der Diaspora verstreuten Kinder Abrahams lebten ihre Sturm- und Drang-Dekade aus, und sie bezahlten dafür. Notdürftig geeint durch eine Welt, die sich anderen Religionen zu- und von ihnen abwandte, ratifizierten Juden, Christen und Moslems im Jahre 2020 den Gottespakt. Verzweifelt beschworen sie vergangene Zeiten, um eine gemeinsame Basis zu finden. Nachdem sie das Heilige Land aller drei Weltreligionen verwüstet hatten, gab es keinen Ort mehr auf der Erde, an dem sie sich vereinigen konnten.
In den letzten Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts richteten sie den Blick auf das Weltall. Die Himmelswanderung begann im Jahre 2113. Nach weiteren Dekaden der Verfolgung und Erniedrigung bündelten sie ihre finanziellen Ressourcen und erwarben eine eigene Welt. Diese Welt wurde auf den Namen Gott-der-Schlachtenlenker getauft und durch den Reichtum der Erben Christi, Roms, Abrahams und der OPEC kultiviert.
Sie engagierten den größten Architekten der Menschheit, um ihre neuen Städte zu bauen. Er versuchte, alle ihre Forderungen miteinander zu vereinbaren und ihren Bedürfnissen optimal gerecht zu werden.
Er scheiterte.
ERSTES BUCH
3451 n. Chr.
Mandala
Die Stadt, die sich auf Mesa Canaan befunden hatte, wanderte nun über die Ebene. Jeshua spähte mit einem Fernglas aus der Deckung des Dschungels. Die Stadt hatte sich kurz vor dem Einsetzen der Dämmerung desintegriert und marschierte nun auf elefantenartigen Beinen, mit Ketten- und Radfahrzeugen, in Gestalt von lebenden senkrechten Schotten und demontierten Strebepfeilern, die aufgrund einer Umprogrammierung nun krochen, statt ihre Stützfunktion zu erfüllen; Böden und Decken, Transportfahrzeuge und kleinere Stadt-Teile, Fabriken und Ressourcenzentren verschmolzen jetzt zur Unkenntlichkeit, wie ein Schleimwesen, das sich anschickte, sich in seinem neuen Revier einzurichten.
Die Stadt führte ihren Bauplan tief im lebenden Plasma des fragmentierten Körpers mit. Jedes Teil kannte seinen Platz, und in diesem Schema gab es weder Raum für Jeshua noch für irgendeinen anderen Menschen.
Die lebenden Städte hatten sie schon vor tausend Jahren vertrieben.
Er lag rücklings auf einem Baum, das Fernglas in der einen Hand und eine Orange in der anderen, und lutschte nachdenklich an einem Stück bitterer Rinde. Egal, wie weit er in der Vergangenheit zurückging, der erste Vorgang, an den er sich erinnerte, war der Anblick einer Stadt, die sich in eine Flutwelle aus Fragmenten zerlegte und auf Wanderschaft ging. Er war damals drei Jahre alt gewesen, zwei gemessen an den Jahreszeiten auf Gott-der-Schlachtenlenker, als er auf seines Vaters Schultern gesessen hatte, während sie unterwegs zu dem Dorf Bethel-Japhet waren, um sich dort niederzulassen. Jeshua – diese Namensgebung war schlicht ironisch, denn er würde immer keusch bleiben – erinnerte sich an nichts, was vor der Ankunft in Bethel-Japhet von Bedeutung gewesen wäre. Vielleicht waren seine Erinnerungen aber auch durch den Schock des Sturzes in das Lagerfeuer gelöscht worden, der sich einen Monat vor Erreichen des Dorfes ereignet hatte. Sein Körper wies noch die Brandmale auf – ein Kreis aus Narben auf der Brust, geschwärzt von winzigen Aschepartikeln.
Jeshua war ein Riese, er maß sieben Fuß vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Arme hatten den Umfang eines normalen Männerbeines. Wenn er einatmete, blähte sich seine Brust auf wie ein Blasebalg. Er war der Dorfschmied, bearbeitete Eisen und goss Bronze und Silber. Aber seine starken Hände hatten auch die Geschicklichkeit erworben, Familienschmuck und solchen für rituelle Anlässe anzufertigen. Sein Gewerbe hatte ihm den Zunamen Tubal eingetragen – Jeshua Tubal Iben Daod, Spezialist für alle Metalle.
Die Stadt in der Ebene marschierte in Richtung des Arat-Massivs. Sie bewegte sich absolut synchron. Städte wanderten nur selten mehr als hundert Meilen am Stück oder mehr als einmal in hundert Jahren – so sagten die Legenden –, aber nun waren sie anscheinend rastloser geworden.
Er rieb sich den Rücken am Baumstamm und verstaute dann das Fernglas in einer Beintasche. Er schlüpfte in die Sandalen, die er auf den bemoosten Dschungelboden hatte fallen lassen, stand auf und streckte sich. Er spürte die Anwesenheit einer anderen Entität hinter ihm, drehte sich jedoch nicht um, obwohl seine Nackenmuskulatur sich verkrampfte.
»Jeshua.« Es war der Kommandeur der Wache und der Rat der Gesetze, Sam Daniel der Katholik. Sein Vater und Sam Daniel waren Freunde gewesen, bevor sein Vater verschwand. »Es ist an der Zeit, dass das Synedrium zusammenkommt.«
Jeshua zog die Sandalenriemen stramm und folgte ihm.
Bethel-Japhet war ein Dorf von bescheidener Größe mit etwa zweitausend Einwohnern. Seine Häuser und sonstigen Gebäude waren ohne eine klar definierte Grenze im Dschungel verstreut. Die zum Synedrium führende gepflasterte Straße kam Jeshua zu kurz vor, und die Menge in der Versammlungshalle war viel zu groß. Seine Braut, Kisa, Tochter des Jake, war nicht anwesend, dafür jedoch sein Nebenbuhler, Renold Mosha Iben Yitshok.
Der Repräsentant der siebzig Richter, der Septuagint, rief die Versammlung zur Ordnung und ließ sich die Details des zur Verhandlung anstehenden Falles vortragen.
»Sohn des David«, sagte Renold, »ich bin gekommen, um dein Verlöbnis mit Kisa, Tochter des Jake, anzufechten.«
»Ich höre«, erwiderte Jeshua und nahm auf der Anklagebank Platz.
»Ich habe Gründe für meine Anklage. Willst du sie hören?«
Jeshua antwortete nicht.
»Entschuldige meine Beharrlichkeit. Es ist das Gesetz. Ich habe nichts gegen dich – ich erinnere mich noch an unsere Kindheit, als wir zusammen spielten –, aber nun sind wir erwachsen, und die Zeit ist gekommen.«
»Dann sprich.« Jeshua zupfte an seinem dichten, dunklen Bart. Sein jetzt geröteter Teint hatte die Farbe des feinen Sandes am Ufer des Hebron angenommen. Er überragte den schlanken und geschmeidigen Renold um einen guten Fuß.
»Jeshua, du bist ein Mensch wie andere auch, aber du bist nicht so aufgewachsen wie wir. Du siehst zwar wie ein Mann aus, aber das Synedrium besitzt Unterlagen über deine Entwicklung. Du kannst nicht in den Stand der Ehe eintreten. Du bist nämlich nicht imstande, mit Kisa ein Kind zu zeugen. Dies annulliert dein Kindheitsverlöbnis. Durch das Gesetz und aufgrund meines eigenen Wunsches muss ich an deine Stelle treten und deine Verpflichtungen ihr gegenüber erfüllen.«
Kisa würde nie etwas davon erfahren. Niemand würde es ihr sagen. Sie würde Renold mit der Zeit akzeptieren und lieben lernen und Jeshua nur als weiteren Mann in Erinnerung behalten, der allein und unverheiratet war. Ihr schlanker warmer Körper mit der Haut, die so weich war wie das feinste Baumwollgewebe, würde bald unter dem Mann liegen, den er jetzt vor sich sah. Sie würde Renolds Rücken umklammern und von der Zeit träumen, in der den Menschen wieder Einlass in die Städte gewährt wurde, der Himmel wieder voller Schiffe war und Gott-der-Schlachtenlenker erlöst werden würde …
»Ich kann darauf nicht antworten, Renold Mosha Iben Yitshok.«
»Dann wirst du das hier unterzeichnen.« Renold brachte ein Blatt Papier zum Vorschein und trat auf ihn zu.
»Es wäre nicht nötig gewesen, diese Sache publik zu machen«, monierte Jeshua. »Warum hat das Synedrium beschlossen, mich in aller Öffentlichkeit zu beschämen?« Er schaute sich mit Tränen in den Augen um. Er hatte noch nie zuvor geweint, nicht einmal, als sein Vater ins Lagerfeuer gefallen war – zumindest hatte sein Vater ihm das erzählt.
Er stöhnte auf. Renold trat zurück und schaute gequält hoch. »Es tut mir leid, Jeshua. Bitte unterschreibe. Wenn du Kisa oder mich oder die Expolis liebst, unterschreibe.«
Ein Schrei entrang sich Jeshuas mächtiger Brust. Renold machte kehrt und floh. Jeshua ließ die Faust auf das Geländer krachen, schlug sich auf die Stirn und zerriss sein Hemd. Er verkraftete es nicht mehr. Seit neun Jahren wusste er nun schon von seiner Behinderung, aber er hatte gehofft, dass die Dinge sich ändern würden, dass seine Genitalien sich wie eine späte Blume doch noch normal entwickelten, und das hatten sie auch. Aber nicht genug. Seine Hoden waren voll entwickelt, ausreichend, um ihm Körperbehaarung wachsen zu lassen und ihn mit breiten Schultern, flachem Bauch, schmalen Hüften und allen Attributen eines jungen Mannes auszustatten – aber sein Penis war nach wie vor das kleine rosige Gehänge eines Kindes.
Nun explodierte Jeshua. Er rannte hinter Renold her, aus der Halle hinaus, stieß unartikulierte bellende Laute aus und ließ das Fernglas am Lederriemen herumwirbeln. Renold rannte auf den Dorfplatz und kreischte eine Warnung. Kinder und Geflügel rannten schreiend durcheinander. Frauen rafften ihre Röcke und flüchteten sich in die Holz- und Ziegelhäuser.
Jeshua verhielt den Schritt. Er ließ das Fernglas über dem Kopf rotieren und schleuderte es fort, so weit er konnte. Das Instrument rasierte den Wipfel des höchsten Baumes im Umkreis ab und fiel in einer Entfernung von hundert Fuß zu Boden. Noch immer diese bellenden Laute ausstoßend, hetzte er auf ein Haus zu und legte die Hände auf die Mauer. Er stemmte die Füße auf den Boden und drückte. Er warf sich mit der Schulter dagegen. Es rührte sich nicht. Dadurch nur noch mehr in Rage versetzt, wandte er sich einem Wassertrog zu, hob ihn an und schüttete sich den Inhalt über den Kopf. Die kalte Dusche konnte ihn indes auch nicht abkühlen. Er warf den Trog gegen die Mauer, wo er zersplitterte.
»Genug!«, rief da der Kommandeur der Wache. Jeshua hielt inne und schaute blinzelnd auf Sam Daniel den Katholiken. Er wankte, völlig verausgabt. Er verspürte Bauchschmerzen.
»Genug, Jeshua«, sagte Sam Daniel leise.
»Das Gesetz nimmt mir mein Geburtsrecht. Ist das denn Gerechtigkeit?«
»Deine Bürgerrechte vielleicht, jedoch nicht dein Geburtsrecht. Du bist nicht hier geboren, Jeshua. Aber das ist nicht unsere Schuld. Niemand weiß, warum die Natur manchmal einen Fehler macht.«
»Nein!« Er lief um das Haus und nahm eine Seitenstraße zu dem dreieckig angelegten Marktplatz. Die Stände waren von Kunden umlagert, die gefüllte Einkaufstaschen fortschleppten. Er sprang in das Dreieck und begann zu randalieren, wobei er die Leute bedrängte und die Marktstände demolierte. Sam Daniel und seine Truppe folgten ihm.
»Er läuft Amok!«, schrie Renold aus dem Hintergrund. »Er hat versucht, mich umzubringen!«
»Ich habe immer schon gesagt, er ist zu groß, als dass man ihn frei herumlaufen lassen dürfte«, grummelte ein Angehöriger der Wache. »Jetzt seht euch nur an, was er da anrichtet.«
»Er wird sich dafür vor dem Rat verantworten«, versprach Sam Daniel.
»Nee, vor dem Septuagint wird er sich verantworten, als Verbrecher, wenn er noch mehr Schaden verursacht!«
Sie folgten ihm über den Marktplatz.
Jeshua blieb an der Basis eines Hügels stehen, in der Nähe eines alten Tores, das aus dem eigentlichen Dorf hinausführte. Die Lunge schmerzte ihm beim Atmen, und sein Gesicht war rot wie eine Tomate. Sein Haar war schweißverklebt. Im Wirrwarr der Gedanken suchte er nach einem Ausweg, dem einzigen jetzt möglichen Ausweg. Sein Vater hatte es ihn gelehrt, als er dreizehn oder vierzehn gewesen war. »Die Städte sind wie Ärzte«, hatte sein Vater gesagt. »Sie können alle unsere Gebrechen heilen. Das haben wir nach der Vertreibung der Menschen aus den Städten verloren.«
Keine Stadt würde einem richtigen Mann oder einer richtigen Frau Zugang gewähren. Aber Jeshua war anders. Richtige Menschen konnten sündigen. Er hingegen konnte kein faktischer, sondern nur ein virtueller Sünder sein. In seiner Verwirrung schien dieser Unterschied eine bedeutende Relevanz zu erlangen.
Sam Daniel und seine Männer fanden ihn am Rande des Dschungels, als er sich von Bethel-Japhet entfernte.
»Stopp!«, befahl der Kommandeur der Wache.
»Ich gehe«, erwiderte Jeshua, ohne sich umzudrehen.
»Du kannst nicht ohne ein Urteil gehen!«
»Doch, kann ich.«
»Wir werden dich jagen!«
»Dann verstecke ich mich eben, verdammt!«
Es gab nur einen Schlupfwinkel in der Ebene, und der befand sich unter der Erde, an einem der Orte, welche durch die Konstruktion der lebenden Städte erschaffen worden waren und die gemeinhin als ›Sheol‹ bezeichnet wurden. Jeshua rannte los. Bald hatte er sie alle abgehängt.
Fünf Meilen vor sich sah er die Stadt, die von Mesa Canaan aufgebrochen war. Sie hatte sich am Fuße des Arat-Gebirges rekonfiguriert. Sie glitzerte in der Sonne, so schön wie nur irgendetwas, das der Menschheit jemals versagt worden war. Die Mauern glühten in der einsetzenden Dämmerung, und die abendliche Stille der Luft wurde vom Summen der Betriebsgeräusche der Stadt durchdrungen. Jeshua schlief in einer Bodenrinne im Gelände, wobei er sich unter einer Decke aus geflochtenem Schilf verbarg.
Im weichen gelben Licht der Dämmerung unterzog er die Stadt einer gründlicheren Observation und hob zu diesem Zweck den Kopf über den lehmigen Rand der Rinne. Die Stadtgrenze bestand aus einem Ring runder, nach außen geneigter Türme, wie die Blütenblätter einer Lotusblume. Innen schlossen sich ein zweiter, etwas höherer Ring an, und ein dritter, der sich in die Höhe schwang und von strahlenden Stützstreben gekrönt wurde. Diese Stützstreben trugen eine mit Säulen besetzte Plattform, die segmentiert und verwarzt wie die Fäden eines Einzellers waren. Im Scheitelpunkt der Stadt wurde eine Kuppel, die an das vergrößerte Facettenauge einer Fliege erinnerte, von einer Corona aus Spektralfarben eingehüllt. Helle Blau- und Grüntöne funkelten auf den Außenmauern.
Mit Hilfe des begabtesten Architekten, den die Menschheit jemals hervorgebracht hatte, Robert Kahn, hatten Jeshuas Vorfahren die Städte erbaut und so behaglich wie möglich eingerichtet. Große Laboratorien hatten sich jahrzehntelang damit beschäftigt, die richtigen Kombinationen aus Flora, Fauna und Maschinen zu ermitteln und sie in den entsprechenden Konstruktionen zu integrieren. Es war ein stolzer Tag gewesen, als man die ersten Städte eröffnet hatte. Die Christen, Juden und Moslems von Gott-der-Schlachtenlenker konnten sich Städten rühmen, die spektakulärer waren als alles, was Kahn andernorts errichtet hatte, und die Werke des Meisters waren auf hundert Welten zu finden.
Jeshua blieb hundert Yards vor den glasierten Stufen unterhalb der äußeren Blütenblätter der Stadt stehen. Breite, spitze Stacheln sprossen aus dem Boden und den glatten Gartenwänden. Die Pflanzen im Garten schrumpften zusammen. Der gesamte, die Stadt umgebende Boden zersplitterte zu einem starrenden Wall aus Silikatdornen. Es gab keine Möglichkeit, in die Stadt hineinzugelangen. Dennoch ging er näher auf sie zu.
Dann stand er vor dem Dickicht aus spitzen Stacheln, streckte eine Hand aus und berührte einen Stachel. Er erzitterte unter seiner Berührung.
»Ich habe nicht gesündigt«, erklärte er. »Ich habe niemanden verletzt, und ich habe nur das begehrt, was mir von Rechts wegen zustand.« Die dicht gepackten Stacheln äußerten sich nicht zu diesen Einlassungen, wurden aber zusehends größer.
Er setzte sich auf einen mit Gras bewachsenen Hügel vor der Stadt und presste die Hände auf den Bauch, um den Hunger und die Niedergeschlagenheit zu lindern. Er schaute zum Scheitelpunkt der Stadt hinauf. Ein schmaler, silbriger Turm erhob sich inmitten der Säulen und lief in einer aus Facetten bestehenden Sphäre aus. Die sonnenbeschienene Seite der Sphäre bildete eine strahlend gelbe Sichel. Ein kalter Wind fuhr durch seine Kleidung und ließ ihn schaudern. Er stand auf und begab sich auf eine Wanderung um die Stadt, wobei er das Tempo beschleunigte, als der Wind die Stimmen der Menschen aus der Expolis zu ihm herübertrug.
Jeshua erinnerte sich an die ausgiebigen Streifzüge seiner Jugend, dass es zwei Meilen weiter westlich einen großen Zugang zu Sheol gab. Um zwölf Uhr mittags stand er in dem höhlenartigen Eingang.
Die unterirdischen Gänge, aus denen Sheol bestand, hatten einst Versorgungstunnels für die mechanischen Städte dargestellt, die vor zwölf Jahrhunderten allesamt geschliffen worden waren. Die unterirdischen Tunnelsysteme waren jedoch nahezu unverwüstlich, so dass man sie aufgelassen und blockiert hatte. Manche waren von Grundwasser überflutet worden, und einige waren eingestürzt. Wieder andere, die Energie aus geothermalen Quellen bezogen, warteten sich selbst und verblieben im Bereitschaftszustand. Manche von ihnen dienten unzufriedenen Expoliten wie Jeshua als Unterschlupf.
Viele Tunnelsysteme hatten sich in Gefahrenzonen verwandelt. Einige der lebenden Städte, die gerade erst fertiggestellt und noch nicht abgenommen worden waren, hatten ihre menschlichen Baumeister während des Exodus verjagt und waren dann kollabiert. Diverse isolierte Komponenten – Versorgungsmodule, Instandhaltungsroboter, Transportfahrzeuge – hatten sich aus den Trümmern befreit und waren in die Tunnel von Sheol gekrochen, krank und unvollständig, um dem natürlichen Zyklus der Wildnis von Gott-der-Schlachtenlenker und dem Zorn der Exilanten zu entfliehen. Die meisten waren gestorben und zerfallen, aber einige wenige hatten Möglichkeiten zum Überleben gefunden, und die sich darum rankenden Gerüchte machten Jeshua nervös.
Er schaute sich um und stieß auf ein knorriges, von der Sonne geschwärztes Rankengewächs, das so hart wie Holz war und einen massiven Stamm hatte. Er hob es auf, brach die dünne Spitze ab und steckte es so in den Gürtel, dass er nicht darüber stolperte.
Bevor er den schuttübersäten Abhang hinabstieg, drehte er sich noch einmal um. Die Expoliten von Ibreem waren nur ein paar hundert Yards hinter ihm.
Wie von der Sehne geschnellt rannte er los. Sand, Felsbrocken und Pflanzenreste hatten sich im Eingang des breiten Tunnels angesammelt. Wasser tröpfelte an Wänden mit abgeplatzten weißen Kacheln hinab und fiel platschend in kleine Teiche. Überall gediehen Moos und kaskadenartig gestufte Pilze.
Die Dörfler erschienen an der Abbruchkante des Hangs und riefen seinen Namen. Er verbarg sich für eine Weile im Schatten, bis er sicher war, dass sie ihm nicht mehr folgten.
Nachdem er eine Meile in den Tunnel vorgedrungen war, sah er Licht. Der Boden war knöcheltief mit Brackwasser bedeckt. Er hatte bereits mehrere der einheimischen Gliederfüßler von Gott-der-Schlachtenlenker gesehen und erwogen, einen davon zu erlegen und zu verzehren, aber er hatte keine Möglichkeit, ein Feuer zu entzünden. Er hatte all seine Zündhölzer in Bethel-Japhet zurückgelassen, weil es gegen das Gesetz war, Streichhölzer im Dschungel mitzuführen, es sei denn, man befand sich auf einer autorisierten Jagd oder Expedition. Er konnte den Gedanken an rohes Fleisch von Kriechtieren nicht ertragen, egal, wie hungrig er war.
Der Boden vor ihm hatte sich aufgeworfen und wieder gesetzt. Ein See hatte sich in dieser Senke gebildet. Seine Oberfläche kräuselte sich mit öliger Gemächlichkeit. Jeshua umging von Wasser umspülte, gezackte Betonbrocken. Er sah etwas Langes und Weißes in den Untiefen des Sees lauern, mit Fühlern wie den weichen Federn eines Mulcet-Astes. Es hatte große graue Augen und einen plumpen runden Kopf, mit einem Sortiment an Klauen, Greifern und Scheren, die aus Armen an beiden Seiten wuchsen. Nie zuvor hatte Jeshua etwas Derartiges gesehen.
Gott-der-Schlachtenlenker war indessen nur selten so bizarr. Es war eine überschaubare, etwas trockene, erdähnliche Welt, weshalb die Menschen sie auch vor dreizehn Jahrhunderten in so großer Zahl kolonisiert und den trägen Planeten in eine gelungene Synthese aus dem Besten verwandelt hatten, das zehn Planeten zu bieten hatten. Seitdem hatte das Terraformen zwar gelitten, aber nicht gravierend.
Wasser plätscherte, als er den festen Boden des gegenüberliegenden Ufers betrat. Der gefiederte Albtraum entschwand mit schnellen, schlängelnden Bewegungen in der Tiefe.
Das grelle Licht vor ihm wurde von sphärischen Lampen erzeugt und hatte keine Ähnlichkeit mit dem sanften Glühen der Mauern der lebenden Städte. Drähte zischten und knisterten in der Nähe eines schwarzen Metallkastens. Kabel gingen von einem Puffer aus und zogen sich um die entfernte Kurve. Schwarze Streifen, verblichen und zerkratzt, markierten einen Gehweg. Schilder in altem Englisch und einem Idiom ähnlich dem hebräischen Kauderwelsch, das in Ibreem gesprochen wurde, warnten vor einem Abweichen vom markierten Pfad. Er konnte das Englische leichter lesen als das Hebräische mit seinen spezifischen Schriftzeichen. In Ibreem wurden nur lateinische Buchstaben verwendet.
Jeshua hielt sich innerhalb der Markierungen und schritt um die Biegung. Der vor ihm liegende Tunnel wurde auf halber Breite von einem Klotz blockiert. Er war dreißig Fuß breit und zirka fünfzig Fuß lang, verrostet und mit Moder überzogen. Er war früher manuell bedient worden, nicht automatisch – über dem Gewirr aus Hebeln und Pedalen thronten noch immer eine Sitzschale sowie eine kleine, geschwungene Steuerkonsole. In seiner Eigenschaft als Schmied, Werkzeugmacher und Konstrukteur von Motorfahrzeugen hielt Jeshua diese Komponenten für abgetrennte Teile des Schienengleiters. Er untersuchte sie gründlicher und stellte fest, dass es sich nicht um Teile der Originalmaschine handelte. Sie waren irgendwelche Elemente mobiler Stadt-Teile. Sie waren eine Symbiose mit dem Schienengleiter eingegangen, in dem Versuch, einen brauchbaren Platz auf der größeren Maschine zu ergattern. Sie hatten jedoch nur Stille angetroffen. Jetzt waren sie tot, und alle organischen Komponenten waren schon seit langem zerfallen. Der Rest war mit Rost und Moder lasiert.
In dem Tunnel vor ihm hing eine Vielzahl Stalaktiten aus Beton und rostigem Stahl. Bruchstücke von Rohrleitungen und Verdrahtungen waren mit Krampen an ihnen befestigt. Einst musste der ganze Tunnel mit ihnen angefüllt gewesen sein, so dass nur der Pfad, den er jetzt auch benutzte, Platz für die Schienengleiter und Wartungstrupps geboten hatte. Der größte Teil des Metalls und des Kunststoffs war von Räubern fortgeschafft worden.
Jeshua befand sich nun unter dem gezackten Ende eines Luftkanals und vernahm ein Raunen. Er neigte den Kopf auf die Seite und lauschte gründlicher. Nichts. Dann hörte er es wieder, so schwach, dass er es fast überhaupt nicht wahrnehmen konnte. Der Kunststoff des Luftkanals war spröde und reicherte die Stimmen mit einem Timbre rieselnden Staubs an. Er stellte sich auf einen herumliegenden Metallkanister und führte das Ohr dichter an den Luftkanal heran.
»Beweg dich …«, hallte es aus dem Kanal.
»… nit da wat mir war …«
»Verdammte Hänge-Brust!«
»Nix … mach …«
Die Stimmen verstummten. Der Kanister knickte ein und ließ ihn zu Boden stürzen, wobei er wie ein Kind aufschrie. Mit wackligen Beinen stand er auf und marschierte weiter in den Tunnel hinein.
Die Beleuchtung wurde trüber. Er ging vorsichtig über den von schattigen Stellen übersäten Boden und wich Kachel- und Betonfragmenten aus, herabgefallenen Rohrleitungen, zusammengerollten Drähten und losen Befestigungsbändern. Dieser Weg war nicht so oft von Menschen benutzt worden. Schemenhafte Gestalten flohen bei seinem Erscheinen: Insekten, Kriechtiere, Nagetiere, manche dort heimisch, manche verwildert. Was zuerst wie eine umgestürzte Trommel aussah, erwies sich bei näherer Betrachtung als eine zwei Handbreit große Schnecke, die auf einem glitzernden Fuß dahinglitt, der so lang war wie seine Wade. Die Augen mit weißen Pupillen schwenkten nach oben, katzenhafte Schlitzaugen, hinter denen sich eine unbekannte Flüssigkeit und geheime Gedanken verbargen. Das Wesen verströmte einen warmen, widerwärtigen Gestank. Auf einer Seite klebte der verwesende Kadaver eines großen Käfers.
Nach hundert Yards wies der Boden eine erneute Verwerfung auf. Die von Rinnen durchsetzte unterirdische Landschaft aus Tümpeln, Beton und Schlamm roch faulig und wirkte unter seinen in Sandalen steckenden Füßen noch fauliger. Er hielt sich von den größeren Tümpeln fern, die von leeren Larvenkokons umgeben und von Insektenlarven wimmelten.
Er bedauerte seine Entscheidung. Er fragte sich, ob er zum Dorf zurückkehren und sich seiner Bestrafung stellen sollte. Ob er überhaupt in der ständigen Nähe von Kisa und Renold leben konnte. Ob er den Wassertrog reparieren und Wiedergutmachung an die Besitzer der Marktstände leisten sollte.
Er blieb stehen und lauschte. Vor ihm rauschte ein kaskadenartiger Wasserfall. Der Lärm überlagerte zwar die meisten Geräusche, aber dennoch konnte er diskutierende, näherkommende Menschen hören.
Jeshua zog sich aus der Tunnelmitte zurück und ging hinter einem herabgefallenen Rohr in Deckung.
Jemand rannte durch den Tunnel, von Block zu Block, wobei er tänzelnd mit den Armen balancierte und die Hände wie Flügelspitzen spreizte. Vier Gestalten verfolgten ihn mit im Dämmerlicht funkelnden Messerklingen. Jeshua sah, dass der fliehende Mann an ihm vorbeirannte und im schwarzen Schlick stolperte. Jeshua stützte sich beim Aufstehen auf der Röhre ab, wandte sich um und wollte losrennen. Ein Beben lief durch seine auf der Mauer liegende Hand. Eine Lawine aus herabstürzenden Felsbrocken und Staub riss ihn von den Beinen und verstreute Schutt um ihn herum. Vier Schreie ertönten und brachen ab. Er erstickte fast an dem Staub, fuchtelte mit den Armen und kroch aus der Gefahrenzone.
Die Beleuchtung war ausgefallen. Nur ein eitriges Glühen am Rand eines türkisfarbenen Sumpfs spendete noch Licht. Ein Schatten überquerte einen in der Finsternis gespenstisch wirkenden Tümpel. Jeshua versteifte sich in Erwartung eines Angriffs.
»Wer?«, fragte der Schatten. »Mach, sprech. Shan verletzt.«
Die Stimme schien dem Klang nach von einem älteren Jungen zu stammen, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Er sprach einen englischen Dialekt. Es war zwar nicht das Idiom, das Jeshua während seines Aufenthaltes in der Expolis Winston erlernt hatte, aber er konnte einiges davon verstehen. Er vermutete, dass es sich um Jäger-Englisch handelte, aber es gab eigentlich gar keine Jäger in der Expolis Ibreem. Sie mussten der Stadt gefolgt sein …
»Ich bin auf der Flucht, wie du«, sagte Jeshua im Winston-Dialekt.
»Dat ich, hast mich einsinken lassen, hast du. Vier verschütt, liegen se dachten ich rede. Wer spricht?«
»Was?«
»Wer Name? Du.«
»Jeshua«, sagte er.
»Jeshuu-a. Iberhim.«
»Ja, Expolis Ibreem.«
»Nit weit dat is. Bleib wo bist. Zurückbringen dich.«
»Nein, ich habe mich nicht verirrt. Ich bin auf der Flucht.«
»Nix guter Platz. Mück stech böse, Mück stech dich mehr als sie stech mich.«
Jeshua wischte mit seinen großen Händen langsam den Schlamm von der Hose. Dreck und Steinchen kullerten den Hügel hinunter, unter dem die vier begraben waren.
»Langsam«, artikulierte der Junge. »Langsam, nein? Krank im Kopf?« Der Junge trat vor. »Dat isset, langsam, du.«
»Nein, nur müde«, erwiderte Jeshua. »Wie kommen wir hier wieder raus?«
»Dat, da und da. Siehst?«
»Kann nichts sehen«, meinte Jeshua. »Nicht sehr gut.«
Der Junge trat weiter vor und legte eine kalte, feuchte Hand auf seinen Unterarm. »Groß, du. Quetsch, vielleicht gespannt.« Die Hand drückte und tastete. Dann zog sich der Schatten zurück. Jeshuas Augen akkommodierten sich, und er erkannte, wie schmächtig der Junge war.
»Wie ist dein Name?«, fragte er.
»Is egal. Komm mit mir jetzt.«
Der Junge führte ihn zu dem Schutthügel und stocherte in der pechschwarzen Finsternis herum, um ihnen einen Weg zu suchen. »Gut. Hier lang.« Jeshua kletterte die Halde hinauf und zwängte sich durch das darüber befindliche Loch, wobei er mit dem Rücken an der Keramikdecke entlangschabte. Die andere Seite des Tunnels lag im Dunklen. Der Junge murmelte Flüche. »Tunnel ganz«, sagte er. »Leichter Marsch nun.«
Die vor ihnen liegenden Tümpel wurden von dem nach oben gerichteten Glühen von Insektenlarven illuminiert. Manche waren einen Fuß lang und Einzelwesen; andere waren kleiner und gruppierten sich in Dunstkreisen aus trübem Licht. Die ganze Szenerie wurde von leisen, saugenden Geräuschen und dem Klappern von Fühlern, Klauen und Beinen untermalt. Jeshua bekam eine Gänsehaut, und ihm schauderte vor Ekel.
»Schsch«, machte der Junge. »Skyling hier, raus geh, durch Geräusch.«
Jeshua verstand zwar kein Wort von dieser Erklärung, schritt aber jetzt energischer aus. Dreck und Kacheln fielen in das Wasser, und ein chitinöser Klagegesang wurde angestimmt.
»Müssen durch hier«, erläuterte der Junge, ergriff Jeshuas Hand und führte sie an ein Metallschott. »Aufmach, dann geh. Verstun'?«
Das Schott fuhr mit einem ausgeleierten Quietschen auf, und blendende Helligkeit flutete in den Tunnel. Die Wesen im Hintergrund flüchteten in den Schatten. Jeshua und der Junge traten aus dem Tunnel in ein eingestürztes Vorzimmer, in welches das letzte Licht des Tages fiel. Die Vegetation hatte von der feuchten Senke Besitz ergriffen und große Rohrschieber und elektrische Schaltschränke eingehüllt. Als der Junge das Schott schloss, kratzte Jeshua an einem Metallwürfel herum und entfernte einen mehrschichtigen Moosbatzen. Vier Ziffern waren darunter eingraviert – ›2278‹.
»Nit anfassen«, sagte der Junge. Er hatte große graue Augen und ein schmales, bleiches Gesicht. Ein Grinsen erschien zwischen leichenblassen Wangen. Er war drahtig und sehnig, hatte breite Kniegelenke und Ellbogen und nur wenig Fleisch auf den Rippen. Sein Haar hatte eine rost-orangefarbene Tönung und hing ihm in Strähnen in die Stirn und über die Ohren. Der mit einer zerrissenen Weste bekleidete Oberkörper war tätowiert. Der Junge rieb mit der Hand über diese Tätowierung, bemerkte Jeshuas Interesse und hinterließ eine Lehmspur auf der Haut.
»Mein Brand«, sagte der Junge. Das ›Brandzeichen‹ war ein leuchtender schwarz-orangefarbener Kreis mit einem Rechteck in der Mitte, das durch Diagonalen unterteilt war. Die solcherart entstandenen Dreiecke liefen mit lebhaftem Schwung in Punkten aus. »Dat hier gemacht, lange her, von Mandala.«
»Was ist das?«
»Die Richtung lauf ich, dir fallen skyling auf Kopf, wollten se nit hören wenn ich sag, sag dat ich, dat de Polis, und durchgehen hoch rein.« Er lachte. »Sie sagen, niemand jemals geht in Polis, nie mehr.«
»Mandala ist eine Stadt, eine Polis?«
»Zehn, fünfzehn Klomt'r von hier.«
»Klomt'r?«
»Kilometr. Klomt'r. Ung'fähr fünf Acht'l du sag Meil'.«
»Sprichst du vielleicht noch eine andere Sprache?«, fragte Jeshua, dessen Gesicht von dem Stress gezeichnet war, sich als ad-hoc-Linguist zu betätigen.
»Sprech? Tangee ich sprech, melea reepera tangea somatosea psorpea commingla …«
»Nein. Noch etwas?«
»Du, Hebra sprech, ich wett. Aber nit gut hier. Ich kann besser Englise, ein bisschen bemühen?«
»Hm?«
»Ich kann … versuchen … dies, wenn es besser.« Er schüttelte den Kopf. »Mach mir Dampf um besser zu sprechen lange, mach.«
»Vielleicht wäre Schweigen das beste«, sagte Jeshua. »Oder du nickst einfach, wenn du verstehst, und schüttelst den Kopf, wenn du nicht verstehst. Du hast eine Möglichkeit gefunden, in die Stadt zu gelangen?«
Nicken.
»Die Stadt heißt Mandala. Kannst du dorthin zurückgehen und mich mitnehmen?«
Kopfschütteln, nein. Lächeln.
»Geheimnis?«
»Kein Geheimnis. Sie große Maschin … Maschin dat sagt mir ich nie mehr wiederkomm. Hat dat auf meinen Body getan.« Er berührte seine Brust. »Mich rausgeworf'n.«
»Wie bist du überhaupt hineingelangt?«
»Durch? Dat große Polis, et kriecht bis erschöpft – sorry, bewegen nachdem laufen von Boden dat gut zu leben auf, viele Klomt'r von hier, un' direkt oben auf Platz wo Röhre offen in Mitte von Unterseite. Ich kenne dat Weg, also dat ich geh rein und raus nit viel spät … später. Auf meinen …« Er schlug sich auf den Hintern. »Ein paar Stürze, auch.«
Die eingestürzte Decke des Vorzimmers – oder skyling, wie der Junge sie bezeichnete –, ermöglichte einen bequemen Aufstieg von der gegenüberliegenden Wand an die Oberfläche. Sie kletterten hinauf bis zur Oberkante und musterten sich dann unsicher. Jeshua war mit dunkelgrünem Schlamm überzogen. Er wollte die angetrocknete Schmutzschicht mit der Hand ablösen, aber der Lehm klebte fest an der Haut.
»Vielleicht kommt schön Nass um zu baden drin.«
Ein Seitenarm des im Arat-Gebirge entspringenden Flusses Hebron erschien eine halbe Meile vom Tunnelausgang entfernt hinter einem Dickicht aus grünem Schilf. Jeshua schöpfte das lehmige Wasser mit den Händen und ließ es sich über den Kopf rinnen. Der Junge tauchte unter, aalte sich im Wasser, spie es mit vollen Backen aus und grinste den Ibreemiten dann wie ein Terrier an, wobei Schlick über sein Gesicht strömte.
»Geht schlecht runter«, sagte Jeshua und bearbeitete die Haut mit verklumpten Schilfgräsern.
»Warum du Interesse für Ort kein Mensch kommt?«
Jeshua schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Er hatte nun den Rumpf gesäubert und kniete sich ins Wasser, um die Beine einzuweichen. Das Flussbett war steinig und sandig und kühl. Er schaute auf und ließ den Blick über einen Gipfelgrat des Arat schweifen, der als Silhouette im Glühen des Sonnenuntergangs stand. »Wo ist Mandala?«
»Nein«, sagte der Junge. »Meine Polis.«
»Sie hat dich rausgeworfen«, korrigierte Jeshua. »Warum sollte es nicht mal jemand anders versuchen?«
»Jemand hat schon versucht«, informierte der Junge ihn mit schmalen Augen. »Sie dat versucht, und reingekommen, aber sie nicht durchgekommen wie ich. Sie-sie-ein Mäd'l, dat is alles – reingekommen ohne den Ärger wir erwartet hab'n. Mandala sie nit gestoppt.«
»Ich möchte das auch einmal versuchen.«
»Dat Mäd'l, sie besonders, sie auf und davon Legende jetzt. War vor einem Jahr sie ging und durfte betreten. Du glaubst du vielleicht auch besonders?«
»Nein«, konzedierte Jeshua. »Die Stadt von Mesa Canaan würde mir keinen Zutritt gewähren.«
»Sie gewandert ist, gerade gestern morgen?«
»Hm?«
»Wandern, bewegen. Dat Mes Cain wovon du murmelst.«
»Ich weiß.«
»Wenn dat dich nit reinlass, warum Mandala anders?«
Jeshua stieg aus dem Fluss und runzelte die Stirn. »Name?«, fragte er.
»Ich, mein Name, nicht richtiger Name oder du hast wie Haar von Dämonengestalt, mein Name für dich ist Thinner.«
»Thinner, woher kommst du?«
»Gleich wie dat Mäd'l, wir folgen der Polis.«
»Stadt-Jäger?« Nach den Normen von Ibreem wurde Thinner dadurch zum ruchlosen Wilden degradiert. »Thinner, du willst doch nicht nach Mandala zurückgehen, oder? Du hast ja Angst.«
»Wat, Angst? Wie Schreck?«
»Wie das Zittern in deinen bloßen Füßen im Schmutz.«
»Nit möglich für Thinner. Zäh wie Led'r, Schlangenhaut, stochern un' ich weggestoßen, nit durchkommen.«
»Thinner, du bist ein Schauspieler.« Jeshua streckte die Hand aus und zog ihn aus dem Wasser. »Jetzt hör mit dem Unsinn auf und rede in richtigem Englisch mit mir. Du kannst es nämlich – raus!«
»Nein!«, protestierte der Junge.
»Warum unterschlägst du dann alle ›th's‹, außer bei deinem Namen, und änderst in jedem Satz die Wortstellung? Ich bin doch nicht blöd. Ich beherrsche vier Sprachen und kenne ihre Grammatik. Du bist ein Komödiant.«
»Wenn Thinner lügen, Füße abfaulen sollen! Bin geboren dat komische Dialekt zu sprech, un' ich sprech halt anners als du! Dat bin ich, kein Komödiant! Lass los!« Thinner trat Jeshua ans Schienbein, wobei er sich aber bloß den Zeh verstauchte. Er schrie auf, und Jeshua schleuderte ihn wie eine Feder zurück. Dann drehte er sich um, sammelte seine Kleider auf und kletterte die Uferböschung hinauf.
»Niemand hat Thinner jemals so behandelt!«, heulte der Junge.
»Du lügst«, unterstellte Jeshua.
»Nein! Stopp.« Thinner stand im Fluss und hielt die Hände hoch. »Du hast recht.«
»Ich weiß, dass ich recht habe.«
»Aber nicht in jeder Hinsicht. Ich bin aus Winston, und es hat durchaus seinen Grund, dass ich wie ein Stadt-Jäger spreche. Und ich drücke mich präzise aus, weißt du.«
Jeshua runzelte die Stirn. Der Junge wirkte jetzt nicht mehr wie ein Junge. »Warum wolltest du mich zum Narren halten oder hast es wenigstens versucht?«
»Ich bin ein selbständiger Späher. Ich versuche, die Jäger im Auge zu behalten. Sie haben Bauernhöfe in der Umgebung von Winston überfallen. Ein paar von ihnen hätten mich fast erledigt, und ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass ich Mitglied eines Clans bin. Als sie dann verschüttet wurden, hielt ich dich auch für einen von ihnen, und nachdem ich auf diese Art mit dir gesprochen habe – nun, mein Instinkt rät mir, mich in unklaren Situationen bedeckt zu halten.«
»Kein Winstoner hat eine solche Tätowierung wie du.«
»Das ist auch nur die halbe Wahrheit. Ich habe tatsächlich einen Weg in die Stadt gefunden, und sie hat mich rausgeworfen.«
»Hast du noch immer Bedenken, mich dorthin zu führen?«
Thinner seufzte und krabbelte aus dem Fluss. »Es liegt nicht auf meinem Weg. Ich will zurück nach Winston.«
Jeshua beobachtete ihn misstrauisch, während er sich abtrocknete. »Du wunderst dich nicht darüber, dass du überhaupt Zugang zu einer Stadt erhalten hast?«
»Nein. Ich habe einen Trick angewandt.«
»Bessere Männer als du oder ich haben es schon seit Jahrhunderten versucht und mussten schließlich aufgeben. Jetzt hast du Erfolg gehabt und fühlst dich nicht als etwas Besonderes?«
Thinner zog seine zerlumpten Sachen an. »Warum willst du denn dorthin gehen?«
»Ich habe meine Gründe.«
»Hast du in Ibreem ein Verbrechen begangen?«
Jeshua schüttelte den Kopf. »Ich bin krank«, erklärte er. »Nichts Ansteckendes. Aber mir wurde gesagt, eine Stadt könne mir helfen, falls ich einen Weg hinein fände.«
»Ich bin solchen wie dir schon begegnet«, sagte Thinner. »Aber sie haben es nie geschafft. Vor ein paar Jahren hat Winston eine ganze Prozession von Kranken und Verwundeten zu einer Stadt geschickt. Hat ihre Stacheln aufgerichtet wie ein Igel. Keine Gnade zu erwarten, kannst du mir glauben.«
»Aber du weißt jetzt, wie es geht.«
»Okay«, sagte Thinner. »Wir können zurückgehen. Sie befindet sich auf der anderen Seite von Arat. Du hast mich jetzt direkt neugierig gemacht. Und außerdem glaube ich, dass ich dich mag. Du siehst zwar genauso tumb aus wie ein Kriechtier, aber du bist intelligent. Dynamisch. Und zudem hast du noch immer diesen Knüppel. Bist du verzweifelt genug, um zu töten?«
Jeshua dachte einen Moment darüber nach und schüttelte dann den Kopf.
»Es ist schon fast dunkel«, stellte Thinner fest. »Lass uns hier übernachten und morgen früh aufbrechen.«
In dem entfernten Tal inmitten von Arat lag die warme Stadt von Mesa Canaan – wobei die Bezeichnung ›Arat City‹ jetzt vielleicht passender gewesen wäre – wie ein Diadem im Glanz der untergehenden Sonne. Jeshua bereitete sich eine Lagerstatt aus Schilf und beobachtete Thinner, der eine Kuhle im Boden aushob und sich sein eigenes Nest baute. Jeshua hatte in dieser Nacht einen leichten Schlaf und erwachte schon in der Morgendämmerung. Als er die Augen aufschlug, erspähte er auf der Brust ein kleines Insekt, das sich mit fingerlangen Fühlern vorwärtstastete. Er schnickte es fort und räusperte sich.
Thinner schraubte sich aus seinem Nest, rieb sich die Augen und stand auf.
»Ich muss mich wundern«, sagte er. »Du hast mir ja gar nicht die Kehle durchgeschnitten.«
»Hätte mir auch keinen Vorteil verschafft.«
»Eine Arbeit wie diese lässt einen Mann misstrauisch werden.«
Jeshua lief wieder zum Fluss und machte sich frisch, wobei er mit vollen Händen Wasser schöpfte und das kühle Nass über Gesicht und Rücken rinnen ließ. Der Druck in der Leistengegend war an diesem Morgen nicht so heftig wie sonst, ließ ihn aber dennoch mit den Zähnen knirschen. Ihm war danach, sich stöhnend im Schilf umherzurollen und die Erde aufzuwühlen, aber das hätte ihm auch nicht weitergeholfen. Es war nur der Impuls, der existierte.
Sie einigten sich darauf, welchen Pass sie durch das Arat-Gebirge nehmen würden und brachen auf.
Jeshua hatte sein Leben überwiegend in Sichtweite der Dörfer der Expolis Ibreem verbracht, und daher wuchs seine Nervosität mit zunehmender Entfernung. Sie erklommen den Hang, wobei sich Thinners Feststellung bezüglich seiner robusten Sohlen bestätigte. Barfuß bewältigte er scharfkantiges Geröll aller Art, ohne dass er einen Schmerzenslaut geäußert hätte.
Auf dem Kamm einer Anhöhe drehte Jeshua sich um und überflog die unter ihm liegende schilfbestandene Ebene und den Dschungel. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, beschattete sie mit der Hand und konnte so die größeren Ansammlungen von Hütten zweier Dörfer und den Josua-Tempel auf dem Berg Miriam ausmachen. Alles andere blieb verborgen.
Nach zwei Tagen hatten sie das Arat-Gebirge überquert und eine wellige Hügellandschaft erreicht. Sie marschierten durch Felder mit wildem Hafer. »Diese Gegend wurde früher Agripolis genannt«, erläuterte Thinner. »Wenn man hier nur tief genug gräbt, stößt man auf Bewässerungssysteme, automatische Düngemaschinen, Erntemaschinen, Getreidespeicher – das ganze System. Jetzt aber ist es unbrauchbar. Seit neunhundert Jahren hat es keinem Menschen mehr Zutritt zu diesen Feldern gewährt. Irgendwann hat sich die Anlage dann desintegriert, und die mobilen Komponenten haben sich davongemacht. Die meisten sind jedoch gestorben.«
Jeshuas Kenntnisse der Geschichte der Städte an der Peripherie von Arat waren nur spärlich, und er berichtete Thinner von dem Komplex, der unter der Bezeichnung Tripolis bekannt gewesen war. Eine Konstellation von drei Städten hatte sich auf einer Seite von Arat befunden, ungefähr zwanzig Meilen in nördlicher Richtung von ihrer jetzigen Position entfernt. Nach dem Exodus hatte sich eine demontiert und war gestorben. Die zweite hatte sich erfolgreich in Bewegung gesetzt und die Gegend verlassen. Die dritte war beim Versuch, den Arat-Gebirgszug zu überqueren, gescheitert. Die Hauptmasse ihrer Trümmer befand sich als chaotischer, stummer Klumpen nicht weit von ihrem Standort.
In der Ebene von Agripolis stießen sie auf verstreute Fragmente dieser Stadt. Auf ihrem Marsch identifizierten sie Wände und Stützpfeiler, die solidesten, die von den größeren Gliedmaßen der Stadt übriggeblieben waren und die noch immer auf verdorrten Stelzen ruhten. Manche hatten eine Länge von fünfzig bis sechzig Yards bei einem Durchmesser von zwanzig Yards und liefen in organischen Räder-Konstrukten aus. Ihre Metallteile waren stark korrodiert. Die organischen Komponenten waren zerfallen, mit Ausnahme vereinzelter Silikatmembranen oder Innenskelette aus Kolloiden.
»Sie sind noch nicht alle tot«, sagte Thinner. »Ich habe mich hier früher schon umgeschaut. Einige haben mir den Weg etwas erschwert.«
Im grellen Licht der Nachmittagssonne versteckten sie sich vor einer auf Rädern laufenden Einheit, die wie ein großer, transparenter Panzer wirkte. »Das Ding stammt aus dem Zentrum einer Stadt – ein Räumer oder ein Lader«, erklärte Thinner. »Mit der Psyche eines verwilderten Stadt-Teils kenne ich mich nicht aus, und ich werde es auf keinen Fall reizen.«
Als der lebende Panzer an ihnen vorbeigerollt war, setzten sie ihre Wanderung fort. Sie stießen auf weniger bedrohliche, scheuere Kreaturen, von denen sie sich nicht aufhalten ließen. Jeshua konnte nur bei den wenigsten dieser Einheiten auf ihre Funktion in einer alten Stadt schließen. Bei den meisten handelte es sich um skurrile Kreaturen, die einem Traum entsprungen zu sein schienen: Drehkreisel, grasende Tausendfüßler, Wesen mit Büschen auf dem Rücken, Schüsseln, die wie Hunde aussahen, jedoch Wasser transportierten – groteske, fragmentarische Vexierbilder.
Am Ende des Tages hatten sie die Außenbezirke von Mandala erreicht. Jeshua ließ sich auf einem Stein nieder und betrachtete die Stadt. »Sie ist anders«, resümierte er, »nicht so ästhetisch.« Mandala war kompakter, weniger großzügig und organisch angelegt. Ihre Architektur in der Form einer Stufenpyramide wirkte unansehnlich. Die sich an ihren Mauern und Lichtbannern brechenden Farben – schwarz und orange – harmonierten kaum mit den pastellartigen Blau- und Grüntönen der Substanz der Stadt.
»Sie ist älter«, sagte Thinner. »Eine der ersten, glaube ich. Sie ist wie ein alter Baum, schon spröde, nicht so elastisch wie ein junger Trieb.«
Jeshua befestigte den Knüppel fester am Gürtel und beschirmte die Augen vor der Sonne. Die Jugend von Ibreem war soweit in der Städteplanung unterwiesen worden, dass sie alle Teile und Funktionen identifizieren konnte. Die lichtabsorbierenden Banner, die in der Nähe von Mandalas Scheitelpunkt flatterten, wirkten gleichermaßen wie das Laub eines Baumes und wie Flaggen. Strukturen auf ihrer Oberfläche stellten eine Sprache dar, welche den Daseinszweck und das religiöse Credo der Stadt signalisierten. Silbrige Reflektoren warfen Schatten unterhalb der Banner. Als er die Augen zusammenkniff, konnte er die Gärten, Springbrunnen und kristallinen Freizeitgebäude auf der obersten Promenade erkennen, eine Meile über ihnen. Sonnenlicht erhellte die grünen Mauern und zeigte ihre gesprenkelten Innereien, durchstach die libellenartigen Stützpfeiler, deren langsamer Flügelschlag die Luft zirkulieren ließ, kroch durch die Hallen, Lichtquellen und Wohnbezirke und ließ ganz Mandala in einem indirekten Licht erstrahlen. Trotz der orangefarben und schwarz getönten Mauern strahlte die Stadt eine innere Schönheit aus, die in Jeshua ein schmerzliches Gefühl der Sehnsucht weckte.
»Wie kommen wir hinein?«, fragte er.
»Durch einen Tunnel, ungefähr eine Meile von hier.«
»Du hast ein Mädchen erwähnt. War sie Teil deiner Tarnung?«
»Nein. Sie ist hier. Ich bin ihr begegnet. Sie hat Stadtrecht. Ich glaube nicht, dass sie sich über allzu viel bekümmern muss, es sei denn über Einsamkeit.« Er sah Jeshua mit einem untypisch ironischen Grinsen an. »Zumindest muss sie sich keine Gedanken darüber machen, wo sie die nächste Mahlzeit hernehmen soll.«
»Wie ist sie denn hineingekommen? Weshalb wird sie überhaupt von der Stadt geduldet?«
»Wer kann sich schon in die Gedanken einer Stadt hineinversetzen?«
Jeshua nickte nachdenklich. »Lass uns gehen.«
Thinners Grinsen gefror. Er versteifte sich und blickte über Jeshuas Schulter. Jeshua schaute sich um und lockerte verstohlen den Knüppel am Gürtel. »Was ist?«, fragte er.
»Die Stadt-Jäger. Normalerweise halten sie sich bedeckt. Irgendetwas muss sie heute aufgescheucht haben.«
Zwanzig Männer in grellen orangefarbenen und schwarzen Lumpen näherten sich ihnen in schnellem Lauf durch das Gras. Jeshua ortete eine zweite Gruppe, die von der anderen Seite der Stadt anrückte. »Wir werden uns ihnen stellen müssen«, erkannte er. »Wir können ihnen nicht entkommen.«
Thinner wirkte beunruhigt. »Freund«, meinte er. »Es ist an der Zeit, dass ich eine weitere List anwende. Wir können in die Stadt gelangen, sie indessen nicht.«
Jeshua ignorierte das non sequitur.