Jules Verne


Die Jagd nach dem Meteor



Abenteuerroman



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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-145-9


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Einundzwanzigstes Kapitel



Das letzte Kapitel mit dem Epilog dieser Geschichte, worin der Richter John Proth das letzte Wort hat


Nach Befriedigung ihrer Neugier blieb der herzugeströmten Menge nichts andres übrig, als sich wieder auf den Weg zu machen.

Waren die Leute wirklich befriedigt? Das dürfte fraglich sein. Der Ausgang der Sache wog doch kaum die Beschwerden und Unkosten einer Reise hierher auf. Nachdem man das Meteor gesehen hatte, ohne sich ihm weiter als bis auf vierhundert Meter nähern zu können, erschien das Endergebnis ja recht mager. Man mußte sich aber wohl oder übel damit abfinden.

Bestand denn eine Hoffnung, dafür früher oder später entschädigt zu werden? Würde jemals wieder eine goldne Feuerkugel an unserm Horizonte auftauchen? Nein, dergleichen ereignet sich nicht zweimal. Zweifellos werden noch andre aus Gold bestehende Himmelskörper im Weltraume umherirren, so gering ist aber die Aussicht, daß sie in den Bereich der Anziehung unsrer Erde kommen könnten, daß man von dieser Möglichkeit am besten ganz absieht.

Und das ist auch ein wahres Glück. Sechs Trillionen Gold dem Goldumlaufe zugeführt, würden eine unmäßige Entwertung dieses Metalls zur Folge haben... eine schlimme für die einen, die jetzt Gold besitzen, eine gute für die andern, die keins ihr Eigen nennen. Niemand brauchte also den Verlust dieser Feuerkugel zu beklagen, die, nicht zufrieden, einen Umsturz des Geldmarktes der Welt herbeizuführen, vielleicht gar noch einen Krieg aller gegen alle entfesselt hätte.

Die freilich, die an dieser Lösung besonders interessiert waren, hatten gewiß recht, sie als eine Enttäuschung zu betrachten. Mit welchem innern Kummer starrten Mr. Dean Forsyth und Mr. Sydney Hudelson die Stelle an, wo ihre Feuerkugel explodiert war! Es war ja hart, zurückzukehren, ohne auch nur etwas von dem himmlischen Golde mit heimzubringen. Nicht einmal so viel, eine Krawattennadel oder einen Manschettenknopf daraus anfertigen zu lassen, nicht ein Körnchen, das man hätte als Andenken aufbewahren können... immer vorausgesetzt, daß Herr von Schnack nicht alles für sein Land mit Beschlag belegte.

In ihrem Schmerze hatten die beiden Gegner ihre frühere Rivalität schon völlig vergessen. Es konnte ja auch kaum anders sein. Wäre es möglich gewesen, daß der Doktor Hudelson noch einen Groll gegen den hegte, der so edelmütig dem Tode getrotzt hatte, um ihn zu retten? Und ist es anderseits nicht rein menschlich, daß man doch den hochschätzen und lieben mußte, für den man vielleicht den Tod zu erleiden wagte? Das Verschwinden der Feuerkugel hätte nötigenfalls schon allein eine Aussöhnung herbeigeführt... warum sich noch um den Namen eines Meteors streiten, das nicht mehr vorhanden war?

Ob sich die beiden alten Gegner das wohl vorstellten und ob sie wohl das Bewußtsein hatten, von dem, was der eine für den andern getan hatte, als sie jetzt im ersten Viertel des Honigmondes eines erneuerten Freundschaftsbundes Arm in Arm dahingingen?

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"Ein großes Unglück," sagte der Doktor Hudelson, "daß die Forsythsche Feuerkugel verloren gegangen ist."

"Die Hudelsonsche Feuerkugel," berichtigte ihn Mr. Dean Forsyth, "sie gehörte ja dir, lieber Freund."

"Nein, gewiß nicht," protestierte der Doktor. "Deine Beobachtung, bester Freund, war der meinigen vorangegangen."

"Nein, sie war ihr nachgefolgt, lieber Freund."

"Warum nicht gar! Der Mangel an Genauigkeit meines an die Sternwarte in Cincinnati gerichteten Schreibens würde das schon allein beweisen. Statt daß ich wie du gesagt hätte, 'zu der und der Stunde', habe ich nur 'zwischen der und der Stunde' gesagt. Das ist ein gewaltiger Unterschied!"

Er wollte von seiner Ansicht nicht ablassen, der vortreffliche Doktor, Mr. Dean Forsyth aber freilich auch nicht. Das gab neues, diesmal jedoch nicht beleidigendes Hinundwiderreden.

Es ging so weit, daß diese plötzliche Sinnesänderung fast ans Komische streifte. Einer, der nicht darüber lachte, war aber Francis Gordon, der sich nun wieder offiziell als Verlobter seiner lieben Jenny fühlte. Die beiden jungen Leute genossen nach so vielen Stürmen das gute Wetter doppelt und brachten gewissenhaft die vielen verlornen Stunden wieder ein.

Am Morgen des 4. September lichteten die auf der Reede von Upernivik liegenden Dampfer und Kriegsschiffe die Anker und steuerten südlicheren Himmelsstrichen zu. Von allen Neugierigen, die kurze Zeit die hochnördliche Insel so außerordentlich belebt gemacht hatten, blieben, da sie die Rückkehr des "Atlantik" abwarten mußten, nur Herr Lecoeur und sein Pseudo-Neffe noch zurück. Die Jacht traf schon am nächsten Tage ein, und Herr Lecoeur und Zephyrin Xirdal gingen sofort an Bord. Sie hatten gerade genug an dem um vierundzwanzig Stunden verlängerten Aufenthalt in Upernivik.

Da die Blockhütte durch die auf die Explosion folgende Riesenwoge zerstört worden war, hatten sie die Nacht unter freiem Himmel in recht kläglichen Verhältnissen zubringen müssen. Das Meer hatte sich nicht nur damit begnügt, ihr Häuschen fortzuspülen, sondern hatte sie auch bis auf die Knochen durchnäßt. Durch die bleich Sonne der Polargegenden nur notdürftig getrocknet, fehlte es ihnen obendrein an einer Decke, sich gegen die Kälte der Stunden der Dunkelheit zu schützen.

Bei dem furchtbaren Wassereinbruch war alles zugrunde gegangen bis auf das geringste Ausrüstungsstück ihrer Wohnung, bis auf die Reisekoffer und die Instrumente Zephyrin Xirdals. Begraben das getreue Fernrohr, womit er das Meteor so oft beobachtet hatte, und ebenso begraben die Maschine, die es ihm ermöglicht hatte, dieses Meteor, bevor er es ins Wasser stürzte, auf die Erde herabzuziehen.

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Herr Lecoeur konnte sich über die Vernichtung eines so wunderbaren Apparates gar nicht trösten, während Xirdal darüber nur lachte. Da er die eine Maschine hergestellt hatte, war er ja gewiß imstande, sich auch noch eine zweite, bessere und noch mächtigere herzustellen.

Natürlich wäre ihm das gelungen, daran ist nicht zu zweifeln, leider dachte er aber niemals daran. Sein Pate drängte ihn vergeblich, diese Arbeit vorzunehmen, er verschob das jedoch immer von einem Tag zum andern, bis er, schon in vorgerücktem Alter, sein Geheimnis ins Grab mitnahm.

Man muß also auf sie verzichten: diese wunderbare Maschine ist für die Menschheit für immer verloren und ihr Prinzip wird unbekannt bleiben, solang nicht ein zweiter Zephyrin Xirdal auf Erden wandelt.

Der jetzige kehrte von Grönland tatsächlich ärmer zurück, als er dahin gegangen war. Ohne die Instrumente und seine reiche persönliche Ausstattung zu rechnen, hinterließ er hier auch ein umfängliches Landgebiet, das um so schwieriger wieder zu veräußern sein mußte, als jetzt der größte Teil dieses Eigentums im Meere versunken war.

Wie viele Millionen hatte dagegen sein Pate im Verlaufe dieser Reise gewonnen! Diese Millionen fand er bei der Heimkehr in die Rue Drouot und sie bildeten die Grundlage des ungeheuren Vermögens, das das Bankhaus Lecoeur in gleiches Niveau mit den mächtigsten Geldinstituten der Erde setzte.

Zephyrin Xirdal war ja an dem Wachstume dieser kolossalen Macht nicht unbeteiligt, und Herr Lecoeur, der sich jetzt überzeugt hatte, was sein Patenkind leisten konnte, wußte das bestens auszunützen. Alle Erfindungen, die dem genialen Gehirn entsprangen, brachte die Bank zur praktischen Ausführung. Das hatte sie niemals zu bereuen: statt des Goldes vom Himmel sammelte sie dabei einen beträchtlichen Teil des Goldes der Erde in ihren Panzerschränken an.

Herr Lecoeur war übrigens kein Shylock. Von dem Vermögen, das doch eigentlich Zephyrin Xirdals Werk war, hätte sich dieser leicht sein Teil, und auch das größte, nehmen können, wenn das sein Wunsch gewesen wäre. Wenn aber auf so etwas die Rede kam, sah einen Zephyrin Xirdal so blöde an, daß man ein solches Gespräch gern abbrach. Geld?... Geld? Was hätte er damit anfangen sollen? In unregelmäßigen Zwischenräumen die bescheidenen, seinen Bedürfnissen genügenden Summen abzuheben, nun ja, dagegen hatte er nichts einzuwenden. Bis ans Ende seines Lebens suchte er zu diesem Zwecke denn auch, doch stets zu Fuß, seinen "Onkel" und "Bankier" auf, ließ sich indes nie dazu bewegen, seine sechste Etage in der Rue Cassette zu verlassen oder der Witwe Thibaud, der Fleischersfrau, zu kündigen, die bis zu seinem Ende als plauderlustige Dienerin bei ihm blieb.

Sieben Tage nach dem erwähnten Auftrage Lecoeurs an seinen Korrespondenten in Paris war der endgültige Verlust der Feuerkugel auf dem ganzen Erdenrund bekannt. Der französische Kreuzer war es gewesen, der auf der Rückfahrt von Upernivik der ersten Semaphorstation davon Mitteilung gemacht hatte und von der aus verbreitete sich die Neuigkeit mit außerordentlicher Schnelligkeit in der ganzen Welt.

Wenn das, wie kaum anders zu erwarten, auch eine große Aufregung verursachte, so legte sich diese doch bald. Man stand ja einer vollendeten Tatsache gegenüber, und da war es am besten, an die Sache nicht weiter zu denken. In kurzer Zeit hatten sich die Menschen wieder mit ihren persönlichen Sorgen abzufinden und vergaßen darüber gänzlich den himmlischen Sendboten, der ein so klägliches, man könnte fast sagen, ein so lächerliches Ende gefunden hatte.

Keiner sprach schon mehr davon, als der "Mozik" am 18. September in Charleston Anker warf.

Außer seinen ursprünglichen Passagieren setzte der "Mozik" auch eine Dame ans Land, die sich zur Ausreise nicht darauf eingeschifft hatte. Das war niemand anders als Mrs. Arcadia Walker, die, jetzt beseelt von dem Wunsche, sich ihrem früheren Gatten auch noch ferner dankbar zu erweisen, sich beeilt hatte, die durch Herrn von Schnacks Abgang frei gewordene Kabine zu belegen.

Von Südkarolina nach Virginien ist die Entfernung nicht groß und in den Vereinigten Staaten fehlt es ja nirgends an Eisenbahnen. Schon am nächsten Tage, am 19. September, waren Mr. Dean Forsyth, Francis und Omikron einerseits und Mr. Sydney Hudelson samt seiner Tochter anderseits, die ersten in der Elisabeth-, die zweiten in der Morrißstraße, wieder glücklich heimgekehrt.

Hier wurden sie mit erklärlicher Ungeduld erwartet. Mrs. Hudelson und Loo hatten sich auf dem Whastoner Bahnhof eingefunden, ebenso auch die respektable Mitz als der Schnellzug von Charleston seine Passagiere absetzte. Und diese mußte der Empfang, der ihnen hier zu teil wurde, wirklich tief rühren. Francis Gordon umarmte seine zukünftige Schwiegermutter, und Mr. Dean Forsyth drückte der Mrs. Hudelson so herzlich die Hand, als ob vorher gar nichts geschehen wäre.

An jene peinlichen Tage wäre überhaupt nicht wieder erinnert worden, wenn Loo nicht hätte die geheimste Last vom Herzen schütteln wollen.

"Na, nun ist wohl die Streitaxt begraben," rief sie, indem sie sich dem Mr. Dean Forsyth um den Hals warf.

Ja, so war es... für immer begraben. Als Beweis dafür diene, daß am 30. September alle Glocken der Saint-Andrewkirche ihre metallnen Stimmen über der virginischen Stadt ertönen ließen. Vor einer glänzenden Versammlung, darunter die Eltern, die Freunde der beiden Familien und die Notabilitäten der Stadt, vollzog der Reverend O'Garth die Vermählung Francis Gordons mit Jenny Hudelson, die endlich nach so vielen Irrwegen und Hindernissen den ersehnten Hafen glücklich erreicht hatten.

Selbstverständlich war Miß Loo bei der Feierlichkeit als Ehrenjungfrau anwesend... reizend in ihrer schon seit vier Monaten fertigen Staatsrobe. Auch Mitz fehlte nicht und die lächelte und weinte abwechselnd über das Glück ihres "Söhnchens". Jedem, der es hören wollte, erklärte sie, noch niemals in ihrem Leben wäre sie so bis in Herz und Nieren erregt gewesen.

Fast gleichzeitig erfolgte andernorts noch eine Vermählung, wenn auch mit weniger Zulauf und Aufwand. Diesmal hatten Mr. Seth Stanfort und Mrs. Arcadia Walker den Richter John Proth weder zu Pferd, noch zu Faß oder mittels Ballon aufgesucht.

Nein, sie saßen dabei hübsch nebeneinander in einem schönen Wagen und zum ersten mal betraten sie Arm in Arm das Haus des Beamten, um ihm auf weniger phantastische Weise ihre, in bester Ordnung befindlichen, Papiere zu überreichen.

Der Beamte tat, was ihm zukam, und vereinigte nochmals das frühere Ehepaar, das durch Scheidung einige Wochen getrennt gewesen war und vor dem er sich jetzt galant verneigte.

"Besten Dank" sagte Mrs. Stanfort.

"Und leben Sie wohl" setzte Mr. Seth Stanfort hinzu.

"Leben Sie wohl, Mister und Mistreß Stanfort!" antwortete John Proth, der sich dann gleich umwendete, die Blumen seines Gartens zu pflegen.

Ein kleines Bedenken ging dem würdigen Philosophen dabei aber doch nicht aus dem Kopfe. Als er das dritte Mal zu begießen anfing, hörte seine Hand plötzlich auf, die durstenden Geranien mit dem Naß zu erquicken.

"Leben Sie wohl?..." murmelte er, mitten im Gange nachdenklich stehen bleibend, "hätte ich vielleicht doch nicht besser getan, zu den beiden 'Auf baldiges Wiedersehen!' zu sagen?"


Ende

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel - Worin der Richter John Proth eine seiner angenehmsten Amtspflichten erfüllt, bevor er nach seinem Garten zurückkehrt

Zweites Kapitel - Das den Leser in das Haus Dean Forsyths einführt und ihn in Verbindung mit dessen Neffen Francis Gordon und seiner Haushälterin Mitz bringt

Drittes Kapitel - Worin von dem Doktor Sydney Hudelson, seiner Gattin Mrs. Flora Hudelson, sowie von Miß Jenny und Miß Loo, den beiden Töchtern der Genannten, die Rede ist

Viertes Kapitel - Worin zwei Briefe, ein an die Sternwarte in Pittsburgh und ein an die Sternwarte von Cincinnati gerichteter, in die Akten über Feuerkugeln aufgenommen werden

Fünftes Kapitel - Worin Mr. Dean Forsyth und der Doktor Sydney Hudelson trotz ihrer Bemühung etwas Weiteres über ihr Meteor doch nur aus den Tageszeitungen erfahren

Sechstes Kapitel - Das einige mehr oder weniger phantastische Variationen über die Meteor im allgemeinen und über die Feuerkugel der Herren Forsyth und Sydney Hudelson im besonderen enthält

Siebentes Kapitel - Worin man Mrs. Hudelson wegen ihres Gatten sehr bekümmert sehen und hören wird, wie energisch die gute Mitz ihrem Herrn den Kopf zurechtsetzt

Achtes Kapitel - Worin die Polemik in der Presse die Sachlage noch verschlimmert und das mit einer ebenso bestimmten wie unerwarteten Erklärung endet

Neuntes Kapitel - Worin die Zeitungen, das Volk, Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson eine wahre mathematische Orgie feiern

Zehntes Kapitel - Worin Zephyrin Xirdal ein und dann noch ein neuer Gedanke kommt

Elftes Kapitel - Worin Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson eine arge Erregung erfahren

Zwölftes Kapitel - Worin man Mrs. Arcadia Stanfort ihrerseits und nicht ohne lebhafte Ungeduld warten sieht und in dem Mr. John Proth sich für unzuständig erklärt

Dreizehntes Kapitel - Worin man, wie es der Richter John Proth vermutet hatte, einen dritten und bald noch einen vierten Aspiranten auftauchen sieht

Vierzehntes Kapitel - Worin die Witwe Thibaud, die sich unbedachterweise mit den größten Problemen der Himmelsmechanik beschäftigt, dem Bankier Robert Lecoeur schwere Sorgen verursacht

Fünfzehntes Kapitel - Worin J. B. K. Lowenthal den Gewinner des großen Loses verkündet

Sechzehntes Kapitel - Worin man eine Menge Neugierige die Gelegenheit benützen sieht, nach Grönland zu reisen, um dem Fall des wunderbaren Meteors beizuwohnen

Siebzehntes Kapitel - Worin die wunderbare Feuerkugel und ein Passagier des "Mozik", dieser mit einem Passagier des "Oregon" und jene mit der Erde zusammentreffen

Achtzehntes Kapitel - Worin Herr von Schnack und seine zahlreichen Begleiter, um zur Feuerkugel zu gelangen, auch vor einem Einbruch nicht zurückschrecken

Neunzehntes Kapitel - Worin Zephyrin Xirdal einen immer zunehmenden Widerwillen gegen die Fernerkugel empfindet und was daraus folgt

Zwanzigstes Kapitel - Das man vielleicht mit Bedauern lesen wird, das seine Achtung vor der historischen Wahrheit den Verfasser aber so zu schreiben genötigt hat, wie es dereinst in den astronomischen Annalen verzeichnet stehen wird

Einundzwanzigstes Kapitel - Das letzte Kapitel mit dem Epilog dieser Geschichte, worin der Richter John Proth das letzte Wort hat

 

 

 

Erstes Kapitel



Worin der Richter John Proth eine seiner angenehmsten Amtspflichten erfüllt, bevor er nach seinem Garten zurückkehrt


Es liegt kein Grund dafür vor, den Lesern zu verheimlichen, daß die Stadt, in der diese seltsame Geschichte beginnt, in Virginien, in den Vereinigten Staaten von Amerika zu suchen ist.

Mit ihrer Erlaubnis wollen wir sie Whaston nennen und in den östlichen Teil des Staates ans rechte Ufer des Potomac verlegen. Wir halten es aber für nutzlos, die Koordinaten dieser Stadt genauer anzugeben, da man sie selbst auf den besten Landkarten der Union doch vergeblich suchen würde.

Am Vormittag des 12. März des ... nun, eines gewissen Jahres konnten diejenigen Einwohner von Whaston, die zur rechten Zeit durch die Exeterstraße kamen, einen eleganten Herrn die Straße, die ziemlich starken Fall hat, langsam auf und ab reiten sehen, bis er schließlich auf dem fast im Mittelpunkte der Stadt gelegenen Konstitutionsplatze einmal stillhielt.

Der Reiter, ein Mann von reinstem Yankeetypus, der ja zuweilen auch eine originelle Vornehmheit verrät, konnte nicht älter als dreißig Jahre sein. Er war von übermittler Größe, von gutem, kraftstrotzendem Aussehen und hübscher Gestalt und hatte dunkle Haare sowie kastanienbraunen Bart, dessen Spitze sein Gesicht mit den sorgsam rasierten Lippen noch etwas verlängerte. Ein weiter Mantel bedeckte ihn bis zu den Beinen und lag ausgebreitet auf dem Rücken des Pferdes.

Er handhabte sein muntres, tänzelndes Tier mit ebenso viel Geschick wie Sicherheit. Alles an seiner Erscheinung wies auf einen tatkräftigen, entschlossenen und wohl der ersten Eingebung folgenden Mann hin. Sicherlich schwankte er niemals zwischen Wunsch und Befürchtung hin und her, wie das Sache eines zaudernden Charakters ist. Endlich hätte ein Beobachter wahrnehmen müssen, daß die natürliche Ungeduld des Mannes sich nur unvollkommen hinter einer äußerlichen Kälte verbarg.

Warum war nun wohl dieser Reiter hier in einer Stadt, wo keiner ihn kannte, keiner ihn vorher je gesehen hatte? Beschränkte er sich vielleicht darauf, sie nur zu durchqueren oder wollte er etwa einige Zeit hier verweilen? Ein Hotel aufzusuchen hätte er, im zweiten Falle, nur die Qual der Wahl gehabt, dafür war Whaston weit und breit bekannt. In keinem andern Zentrum der Vereinigten Staaten oder in andern Ländern könnte ein Reisender einen bessern Empfang, willigere Bedienung, vorzüglichere Verpflegung und tadelloseren Komfort, obendrein noch zu sehr mäßigem Preise finden. Es ist wirklich bedauerlich, daß die Landkarten die Lage einer mit solchen Vorzügen ausgestatteten Stadt nicht genau angeben.

Doch nein, jener Fremdling schien nicht die Absicht zu haben, sich in Whaston irgend länger aufzuhalten, und das einladende Lächeln der Hoteliers blieb auf ihn jedenfalls ohne Eindruck. Wie in Gedanken versunken und ganz unachtsam auf alles um sich her, folgte er der sich am Rande des Konstitutionsplatzes hinziehenden Straße, die ein umfängliches ebenes Terrain einschließt... ohne jede Ahnung, daß er hier die öffentliche Aufmerksamkeit erregte.

Und Gott weiß, wie stark sie erregt war, diese öffentliche Aufmerksamkeit! Seit dem Auftauchen des fremden Reiters wechselten schon Herr und Diener, an der Haustür stehend, ihre Gedanken über diesen aus.

"Von wo aus ist er denn hierher gekommen?"

"Von der Exeterstraße her."

"Ja, woher aber von außerhalb?"

"Er soll, wie man sagt, durch die Wilcox-Vorstadt hereingekommen sein."

"Er reitet nun aber schon eine halbe Stunde hier um den Platz herum."

"Ja; er wird wohl jemand erwarten."

"Wahrscheinlich, und offenbar mit einiger Ungeduld."

"Er sieht immer die Exeterstraße hinaus."

"Von da her wird man jedenfalls kommen."

"Was heißt das 'man'?... 'Sie' oder 'er'?"

"Wahrlich... er hat ein hübsches, vornehmes Aussehen!"

"Sie meinen also, es handle sich hier um ein Rendezvous?"

"Ja, um ein Rendezvous, doch nicht in dem Sinne, wie Sie es verstehen."

"Woher wollen Sie das wissen?"

"Sehr einfach, der Fremdling dort hat schon dreimal vor der Tür des Herrn John Proth Halt gemacht..."

"Und da Herr John Proth in Whaston als Richter fungiert..."

"Nun ja, so wird der junge Mann da einen Prozess haben..."

"Und sein Gegner hat sich bis jetzt noch nicht eingefunden..."

"Ganz recht."

"Schön! Na, der Richter Proth wird beide bald genug miteinander ausgesöhnt haben."

"Ja... der ist ein geschickter Mann."

"Und ein braver Mann obendrein."

Es war ja wirklich möglich, daß das für jenen Reiter der Grund seiner Anwesenheit in Whaston war. Schon mehrmals hatte er vor der Tür John Proths sein Pferd pariert, doch ohne aus dem Sattel zu steigen. Er sah nur die Tür an und warf einen Blick nach den Fenstern des Hauses hinauf, blieb aber ruhig sitzen, so als ob er erwarte, daß jemand auf der Schwelle erschiene, bis ihn sein vor Ungeduld mit den Füßen stampfendes Pferd weiter zu reiten nötigte.

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Als er dann wieder einmal an derselben Stelle hielt, öffnete sich plötzlich die Haustür und es zeigte sich ein Mann auf dem Absatz der kleinen Freitreppe, die nach dem Trottoir hinunterführte.

Kaum hatte der Fremde den Erschienenen bemerkt, als er sich schon, den Hut lüftend, an diesen mit den Worten wandte: "Herr John Proth, wenn ich nicht irre?"

"Der bin ich," antwortete der Richter.

"Nur eine einfache Frage, die von Ihrer Seite nichts weiter als ein Ja oder Nein verlangt."

"Und die lautet?..."

"Ist wohl heute früh schon jemand bei Ihnen gewesen, der nach Mister Seth Stanfort gefragt hat?"

"Daß ich nicht wüßte."

"Danke bestens."

Der Reiter nahm hierbei nochmals den Hut ab, ließ den Zügel lockerer und trottete in kurzem Trab die Exeterstraße hinaus.

Jetzt unterlag es, so urteilte man allgemein, keinem Zweifel mehr, daß der Unbekannte mit John Proth etwas zu tun hatte. Nach der Art und Weise, wie er seine kurze Frage stellte, war er offenbar selbst jener Seth Stanfort, der zu der bestimmten Zusammenkunft zuerst eingetroffen war. Nun gab es aber auch noch ein interessantes Rätsel zu lösen: War die Stunde des Zusammentreffens jetzt schon endgültig verpaßt, und würde der unbekannte Reiter die Stadt verlassen, um nicht wieder dahin zurückzukehren?

Da wir uns in Amerika, d. h. bei dem allerweillustigsten Volke befinden, das es hienieden gibt, wird man ohne Schwierigkeit glauben, daß bezüglich der baldigen Wiederkehr oder des endgültigen Weggangs des Fremden zahlreiche Wetten abgeschlossen wurden, Wetten um einen halben Dollar bis hinunter auf fünf bis sechs Cents, zwischen dem Personal der Hotels und den auf dem Platze zusammengeströmten Neugierigen, höhere nicht, die Beträge würden aber von den Verlierenden prompt bezahlt, und von den Gewinnern, es waren alle höchst ehrenwerte Leute, schmunzelnd eingestrichen werden.

Der Richter John Proth hatte sich begnügt, dem Reiter, der sich der Wilcox-Vorstadt zuwendete, mit den Blicken zu folgen.

Er war ein Philosoph, der Amtsrichter John Proth, ein kluger Beamter, der, so könnte man sagen, schon volle fünfzig Jahre Klugheit und Philosophie in sich aufgestapelt hatte, obgleich er selbst erst ein halbes Jahrhundert alt war, d. h. also, daß er schon ein Weiser und ein Philosoph in der Stunde war, wo er das Licht der Welt erblickte. Hierzu nehme man, daß sein Leben als Hagestolz, ein weiterer unbestreitbarer Beweis von Klugheit, nie von Sorgen getrübt worden war, was doch, das wird jedermann zugeben, die praktische Verwertung der Philosophie wesentlich erleichtert. In Whaston geboren, hatte er, selbst in den Jugendjahren, seine Vaterstadt kaum je oder überhaupt niemals verlassen, und hier wurde er von allen, die zu seinem Gerichtssprengel gehörten und die seine vortrefflichen Eigenschaften kannten, ebenso geliebt wie aufrichtig verehrt.

Von geradsinnigem Charakter, erwies er sich stets nachgiebig gegen die Schwächen, zuweilen sogar gegen die Fehler andrer Leute, und faßte seine Aufgabe nur als die Verpflichtung auf, die ihm zur Entscheidung vorliegenden streitigen Angelegenheiten auszugleichen, die Parteien, die vor seinem Tribunal erschienen, versöhnt heimzuschicken, alle Ecken und Kanten abzurunden, jedes Räderwerk gleichsam zu ölen und die in jeder, selbst der vollkommensten gesellschaftlichen Ordnung unausbleiblichen Stöße nach Möglichkeit zu mildern.

John Proth erfreute sich eines gewissen Wohlstands. Wenn er die Funktionen eines Richters erfüllte, so geschah das eigentlich nur aus Liebhaberei, und es kam ihm niemals der Gedanke, eine höhere Stellung zu erstreben. Er liebte die Ruhe, für sich und für andere, und betrachtete die Menschen alle als nahe Nachbarn, mit denen man alle Ursache hat, immer auf gutem Fuße zu stehen. Früh auf und zeitig zu Bett war seit langem seine Gewohnheit. Wenn er auch einige Lieblingsautoren der Alten und der Neuen Welt las, so begnügte er sich doch meist mit einer ehrbaren, wackeren Zeitung der Stadt, mit den "Whaston News", worin die Anzeigen mehr Platz einnahmen als die Politik. Jeden Tag machte er einen ein- bis zweistündigen Spaziergang, bei dem die Hüte durch das viele Grüßen abgenützt wurden, was ihn dann zwang, den seinigen alle drei Monate durch einen neuen zu ersetzen. Außer der Zeit dieser Spaziergänge und der, die seine Berufstätigkeit in Anspruch nahm, blieb er in seiner friedlichen und hübsch ausgestatteten Wohnung und pflegte in seinem Garten die Blumen, die ihm dafür dadurch dankten, daß sie ihn mit ihren frischen Farben und ihrem lieblichen Dufte erfreuten.

Nachdem wir diesen Charakter mit einigen Strichen gezeichnet und das Bild John Proths in einen passenden Rahmen gebracht haben, wird man leicht begreifen, daß sich der genannte Richter durch die an ihn gerichtete Frage des Fremden nicht sonderlich aus der Ruhe bringen ließ. Hätte jener, statt sich an den Hausherrn zu wenden, dessen alte Dienerin Kate gefragt, so hätte diese wahrscheinlich noch manches andre zu erfahren gewünscht. Sie würde ihn nicht losgelassen und gefragt haben, was man antworten sollte, wenn sich jemand nach seiner Person erkundigte, und jedenfalls hätte es der würdigen Kate nicht mißfallen zu hören, ob der Fremde, sei es im Laufe des Vor- oder Nachmittags, wieder zum Hause Mr. John Proths zurückkehren werde oder nicht.

John Proth selbst würde sich eine solche Neugier, eine solche Indiskretion niemals verziehen haben, bei seiner Dienerin, die ja dem schwächeren Geschlechte angehörte, mußte er sie schon entschuldigen. Nein, Mister John Proth hatte nicht einmal bemerkt, daß das Eintreffen, die Anwesenheit und endlich das Verschwinden des Fremdlings den Maulaffen auf dem Konstitutionsplatze aufgefallen war, und nach Schließung seiner Haustür zog er sich ruhig zurück, um im Garten seinen Blumen, den Rosen, Iris, Geranien und Reseden zu trinken zu geben.

Die Neugierigen taten nicht desgleichen, sondern blieben noch beobachtend stehen.

Der Reiter war inzwischen ans Ende der Exeterstraße gelangt, die sich als Hauptader durch den Westen der Stadt hinzieht. Als er die Wilcox-Vorstadt erreichte, die die genannte Straße mit dem Zentrum von Whaston verbindet, hielt er sein Pferd an und sah sich, ohne den Sattel zu verlassen, nach allen Seiten um. Von dieser Stelle aus lag die Umgebung eine reichliche Meile weit vor ihm offen, und er konnte bis auf drei Meilen die vielfach gewundne abfallende Straße bis zu dem Flecken Steel übersehen, dessen Glockentürme sich jenseits des Potomac vom Horizont abhoben. Seine Blicke überflogen diese Straße aber vergeblich. Offenbar entdeckte er nicht, was er suchte. Das veranlaßte ihn zu lebhaften, ungeduldigen Bewegungen, die sich auf sein Pferd fortpflanzten, das er stramm im Zügel halten mußte.

So verstrichen zehn Minuten, dann begab sich der Reiter langsamen Schrittes wieder die Exeterstraße hinunter und zum fünften Male nach dem offenen Platze.

"Alles in allem, murmelte er nach einem Blick auf seine Uhr, kann von einer Verzögerung noch nicht die Rede sein. Es war ja auf zehn Uhr sieben Minuten verabredet, und jetzt ist es erst kaum halb zehn. Die Entfernung zwischen Whaston und Steel, von wo sie kommen muß, ist ebenso groß wie die zwischen Whaston und Brial, woher ich gekommen bin, und die ich vielleicht in noch nicht zwanzig Minuten zurückgelegt habe. Die Straße ist gut, das Wetter trocken, und ich wüßte nicht, daß ein Hochwasser etwa die Brücke weggerissen hätte. Da liegt also kein Grund zur Verzögerung, kein Hindernis vor. Wenn sie unter diesen Umständen das Stelldichein verfehlt, so wird das ihr eigener Wille sein. Die Pünktlichkeit besteht doch darin, zur rechten Zeit zur Stelle zu sein, nicht aber vorzeitig einzutreffen. Eigentlich bin ich es ja, der unpünktlich ist, denn ich bin um viel mehr zu zeitig gekommen, als es sich für einen methodischen Menschen ziemt. Freilich, von jedem anderen Gefühle abgesehen, erforderte es schon die einfache Höflichkeit, daß ich zuerst zum Stelldichein kam."

Dieses Selbstgespräch dauerte die ganze Zeit an, wo der Fremde die Exeterstraße hinunter ritt, und endete nicht eher, als bis die Hufeisen des Pferdes von neuem auf den Macadam des Platzes aufschlugen.

Die, die auf das Wiedererscheinen des Fremden gewettet hatten, hatten also die Einsätze gewonnen. Sie zeigten diesem, als er an den Hotels vorüberkam, auch ein recht freundliches Gesicht, während die Verlierenden ihn nur mit Achselzucken begrüßten.

Endlich schlug die Rathausuhr zehn. Sein Pferd anhaltend, zählte der Fremde die zehn Schläge und überzeugte sich von der Übereinstimmung der öffentlichen Uhr mit der eignen, die er aus der Tasche hervorzog.

Nun fehlten nur noch sieben Minuten zu der für das Rendezvous bestimmten Zeit, die bald nachher also schon überschritten war.

Seth Stanfort kehrte nach dem Eingange der Exeterstraße zurück; offenbar konnte weder er noch sein Pferd sich ruhig verhalten.

Jetzt herrschte auf dieser Straße ein lebhafter Verkehr. Mit denen, die diese hinausgingen, beschäftigte sich Seth Stanfort nicht im geringsten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur denen, die die Straße herabkamen, und er lugte scharf nach diesen aus, sobald sie an deren hochgelegenem Ende auftauchten.

Die Exeterstraße ist so lang, daß ein Fußgänger reichlich zehn Minuten braucht, sie zu durchmessen, drei oder vier Minuten aber nur ein schnellfahrender Wagen oder ein Pferd in gestrecktem Trab.

Um die Fußgänger kümmerte sich unser Reiter freilich kaum, er sah sie sogar nicht einmal. Sein vertrautester Freund hätte zu Fuß an ihm vorübergehen können, er hätte ihn gewiß gar nicht bemerkt. Die erwartete Person konnte nur zu Wagen oder zu Pferde ankommen.

Würde sie aber zur erwähnten Zeit eintreffen? Daran fehlten nur noch drei Minuten, gerade genug Zeit, die Exeterstraße hinunterzufahren, auf deren Höhenpunkte zeigte sich aber weder ein Wagen, noch ein Kraftfahrrad oder ein Bizyklett, ebenso wenig ein Automobil, das, wenn es mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde dahinsauste, sein Ziel noch ganz kurz vor dem Zeitpunkte für das Rendezvous erreicht hätte.

Seth Stanfort durchmaß die Exeterstraße noch mit einem letzten Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf, der durch die Pupille hervorschoß, während er im Tone unerschütterlicher Entschlossenheit die Worte murmelte:

"Wenn sie um zehn Uhr sieben Minuten nicht hier ist, heirate ich überhaupt nicht!"

Wie eine Antwort auf diese Erklärung hörte man da im gleichen Augenblick den Galopp eines Pferdes, das oben von der Straße herunterkam. Auf dem Tiere, einem prächtigen Zelter, saß eine junge Frau, die es mit ebenso viel Grazie wie Sicherheit lenkte. Die Leute wichen vor ihm zurück, so daß sich ihm bis zum Platze hinunter kein Hindernis entgegenstellte.

Seth Stanfort erkannte die, die er erwartete; seine Züge wurden wieder ruhiger. Er trieb sein Pferd an und begab sich ruhigen Schrittes vor das Haus des Richters.

Das reizte natürlich die neugierige Menge, die sich herandrängte, ohne daß der Fremde von ihr auch nur im geringsten Notiz nahm.

Einige Sekunden später sprengte auch die Reiterin auf den Platz ein und ihr von weißem Schaume bedecktes Pferd hielt zwei Schritte vor der Tür.

Der Fremde gab sich zu erkennen und sagte:

"Ich begrüße Miß Arcadia Walker..."

"Und ich Mister Seth Stanfort," erwiderte Arcadia Walker, indem sie sich mit graziöser Bewegung leicht verbeugte.

Selbstverständlich verloren die Eingebornen das Paar, das sie nicht kannten, keine Sekunde aus den Augen.

"Wenn sie wegen eines Prozesses gekommen sind, raunten sie einander zu, so möchte man wünschen, daß dieser Prozess zum Vorteil beider ausginge."

"Das wird auch der Fall sein, oder Mister Proth wäre nicht der geschickte Mann, der er doch ist."

"Und wäre keines von beiden verheiratet, so wär's das beste, die Geschichte endete mit einer Hochzeit!"

So flogen die Worte hinüber und herüber, so äußerten sich die Ansichten der Müßiggänger, doch weder Seth Stanfort noch Miß Arcadia Walker schien die ziemlich lästige Neugier, die sie erweckten, zu beachten.

Seth Stanfort wollte eben absteigen, um an die Tür des Mr. John Proth zu klopfen, als diese sich schon öffnete.

Mr. John Proth erschien auf der Schwelle, diesmal aber auch die alte Dienerin Kate dicht hinter ihm. Beide hatten Pferdegetrappel vor dem Hause gehört, und der Richter, der seinen Garten, sowie die Dienerin, die ihre Küche verließ, wollten wissen, was das zu bedeuten hätte.

Seth Stanfort blieb also im Sattel und wendete sich an den Beamten.

"Herr Richter John Proth," sagte er, "ich bin Seth Stanfort aus Boston, Massachusetts."

"Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Seth Stanfort."

"Und hier ist Miß Arcadia Walker aus Trenton, New-Jersey."

"Ich fühle mich sehr geschmeichelt, der Miß Arcadia Walker gegenüberzustehen."

Und während John Proth erst den ihm Fremden angesehen hatte, wendete er all seine Aufmerksamkeit jetzt der jungen Dame zu.

Miß Arcadia Walker war eine reizende Person, und man wird es verzeihen, wenn wir gleich eine Skizze von ihr entwerfen. Ihr Alter: vierundzwanzig Jahre. Augen: blau, etwas hell. Haare: dunkel kastanienbraun. Teint: von einer Frische, die vom Atem der freien Luft nicht verändert wurde. Zähne: tadellos weiß und vollkommen regelmäßig. Größe: etwas über mittel. Haltung: vorzüglich. Bewegungen: von bestechender Geschmeidigkeit und vielleicht etwas nervöser Grazie. In der Amazonentracht, die sie eben trug, folgte sie schmiegsam den Bewegungen ihres Pferdes. das mit dem Seth Stanforts den Boden um die Wette stampfte. Ihre von seinen Handschuhen bedeckten Hände spielten gleichsam mit den Zügeln, und jeder Sachkenner würde in ihr sofort eine gewandte Kunstreiterin vermutet haben. Ihre ganze Erscheinung trug den Stempel echter Vornehmheit und jenes besondere "ich weiß nicht, was" der oberen Klassen der Union, die man recht wohl die amerikanische Aristokratie nennen könnte, wenn diese Bezeichnung nicht gar zu grell gegen die demokratischen Instinkte der Eingebornen der Neuen Welt abstäche.

Miß Arcadia Walker, eine Dame, gebürtig aus New-Jersey, ohne jede nähere Verwandtschaft, frei in ihrem Tun und Lassen, unabhängig durch ihr Vermögen und etwas abenteuerlustig veranlangt, wie alle jungen Amerikanerinnen, führte ein Leben ganz nach ihrem Geschmacke. Da sie seit mehreren Jahren viel reiste und die wichtigsten Länder Europas besucht hatte, war sie gründlich von allem unterrichtet, was in Paris, London, Berlin oder in Rom geschah und als guter Ton galt. Über das, was sie auf ihren ununterbrochenen Wanderungen gesehen oder gehört hatte, verstand sie obendrein mit den Franzosen, den Engländern, den Deutschen und den Italienern in deren Muttersprache zu plaudern. Sie war eine höchst gebildete Person, unterrichtet von einem gegenwärtig schon von der Erde geschiedenen Lehrer, der sie höchst sorgfältig erzogen hatte. Auch an praktischem Geschäftssinn fehlte es ihr nicht; den bewies sie schon mit der Verwaltung ihres Vermögens, wobei sie ihre Interessen stets recht geschickt wahrzunehmen wußte.

Was hier von Miß Arcadia Walker gesagt ist, läßt sich "symmetrisch" ja, das ist das richtige Wort, auch auf Mr. Seth Stanfort anwenden. Dieser stand ebenso unabhängig da, war ebenso reich, liebte ebenso das Reisen und war in der ganzen Welt herumgekommen, nur dadurch unterschied er sich von Arcadia, daß er in seiner Vaterstadt Boston wohnte. Im Winter ein ständiger Besucher der Alten Welt und der Großstädte in dieser, war er hier öfters mit seiner abenteuerlustigen Landsmännin zusammengetroffen. Im Sommer kehrte er nach seiner Heimat zurück und verweilte hier meist in den Seebädern, wo sich dann die Familien der reichen Yankees aufzuhalten pflegen. Auch hier waren Miß Arcadia Walker und er einander wiederholt begegnet.

Die gleiche Geschmacksrichtung hatte die beiden jungen, lebensfrohen Leute, von denen die neugierigen Adamssöhne und vor allem die Evastöchter sagten, daß sie wie für einander geschaffen wären, mehr und mehr einander genähert. Wie sollten sie auch nicht übereingestimmt haben, bei ihrer gleichen Reiselust, bei dem gleichen Verlangen, dahin zu eilen, wo irgend ein Vorfall im politischen oder militärischen Leben die öffentliche Aufmerksamkeit erregte? Da kann es dem auch nicht wundernehmen, daß Mr. Seth Stanfort und Miß Arcadia Walker auf den Gedanken kamen, ihre Lebensbahnen zu vereinigen, was ja an ihren Gewohnheiten nichts ändern würde. Sie bildeten dann nicht mehr zwei Schiffe, die eines das andere begleiteten, sondern ein einziges, das vorzüglich ausgerüstet, getakelt und geführt war, sich auf allen Meeren der Erde zu bewähren.

Es war also kein Prozess, keine Verhandlung, keine Ordnung einer streitigen Angelegenheit, die Seth Stanfort und Miß Arcadia Walker veranlaßte. vor dem Richter dieser Stadt zu erscheinen. Nein; nach Erledigung der gesetzlichen Formalitäten bei den zuständigen Behörden in Massachusetts und in New-Jersey hatten sie für den 12. März zur schon erwähnten Zeit, zehn Uhr sieben Minuten, ihr Zusammentreffen in Whaston verabredet, um hier den Bund einzugehen, womit man, wie die Leute sagen, den wichtigsten Schritt im Leben tut. Nachdem die Vorstellung des Mr. Seth Stanfort und der Miß Arcadia Walker in der angeführten Weise erfolgt war, hatte John Proth den Fremden und die diesen begleitende Dame nur noch zu fragen, aus welchem Grunde sie vor ihm erschienen.

"Seth Stanfort wünscht der Ehemann der Miß Arcadia Walker zu werden," erklärte der eine.

"Und Miß Arcadia Walker wünscht die Ehefrau des Mister Seth Stanfort zu werden," setzte die andere hinzu.

Der Beamte verneigte sich höflich mit den Worten:

"Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Mister Stanfort, und ebenso zur Ihrigen, Miß Arcadia Walker."

Jetzt machten die beiden jungen Leute eine graziöse Verbeugung.

"Wann wäre es Ihnen genehm den Trauungsakt zu vollziehen?" fuhr John Proth fort.

"Gleich auf der Stelle... wenn Sie keine andere Abhaltung haben," antwortete Seth Stanfort.

"Denn wir verlassen Whaston, sobald ich Mistreß Stanfort geworden bin," erklärte Miß Arcadia Walker.

Der Richter Proth verriet durch seine Haltung, wie sehr er und mit ihm die ganze Stadt bedauere, daß das schöne junge Paar, das augenblicklich die Stadt mit seiner Gegenwart beehrte, nicht länger innerhalb der Mauern Whastons zu weilen gedenke. Dann fügte er hinzu:

"Ich stehe vollständig zu Ihren Diensten," und damit wich er einige Schritte zurück, um den Zutritt zum Hause freizugeben.

Mr. Seth Stanfort hielt ihn jedoch durch einen Wink zurück.

"Ist es notwendig, fragte er, daß Miß Arcadia Walker und ich vom Pferde absteigen?"

John Proth dachte einen Augenblick nach.

"O, keineswegs, versicherte er. Man kann sich ebenso gut zu Pferde wie zu Fuß trauen lassen."

Es dürfte wohl schwierig sein, irgendwo, selbst in dem so originellen Amerika, einen gefälligeren, entgegenkommenderen Beamten zu finden.

"Gestatten Sie nur noch eine Frage," fuhr John Proth fort. "Sind auch schon alle gesetzlich vorgeschriebenen Formalitäten erledigt?"

"Ja gewiß," versicherte Seth Stanfort.

Damit übergab er dem Richter zwei große Kuverts mit den Erlaubnisscheinen, die nach Entrichtung der betreffenden Gebühren von den Gerichtsschreibereien in Boston und in Trenton ausgefertigt waren.

John Proth nahm die Papiere in Empfang, setzte seine Brille mit goldenem Gestell auf und durchlas aufmerksam die offiziellen und durch einen Stempel der Behörde beglaubigten Schriftstücke.

"Die Papiere sind in Ordnung, sagte er, und ich bin also bereit, Ihnen den Trauschein auszustellen."

Niemand wird sich wohl darüber wundern, daß die zu immer größerer Zahl angewachsenen Neugierigen sich um das Paar drängten, wie ebenso viele Zeugen einer feierlichen Verbindung, die unter Umständen vor sich ging, welche in jedem andern Lande als ganz außergewöhnlich erscheinen würden. Das genierte aber die beiden Verlobten nicht, ja es mißfiel ihnen nicht einmal.

John Proth trat wieder auf die ersten Stufen seiner Freitreppe zurück und sagte mit lauter, für alle verständlicher Stimme:

"Mister Seth Stanfort, es ist also Ihr ernster Wille, Miß Arcadia Walker zur Frau zu nehmen?"

"Ja."

"Und Sie, Miß Arcadia Walker, sind ebenso gewillt, den Mister Seth Stanfort zum Manne zu nehmen?"

"Ja."

Der Beamte sammelte sich einige Sekunden, dann verkündete er so ernsthaft, wie ein Photograph im Augenblicke der Objektivöffnung "Jetzt recht ruhig und freundlich!" sagt, mit nachdrücklicher Betonung:

"Im Namen des Gesetzes erkläre ich Sie, Mister Seth Stanfort aus Boston, und Sie, Miß Arcadia Walker aus Trenton, hiermit für ehelich verbunden!"

3

Die beiden jungen Gatten näherten sich ihm und ergriffen seine Hand. wie um den eben vollzogenen Akt noch zu besiegeln.

Gleichzeitig überreichten sie ihm aber jedes einen Fünfhundertdollarschein.

"Als Honorar," sagte dazu Seth Stanfort.

"Für die Armen der Stadt," sagte Mistreß Arcadia Stanfort.

Nachdem sich dann noch beide vor dem Richter verbeugt hatten, gaben sie ihren Pferden die Zügel und galoppierten in der Richtung nach der Wilcox-Vorstadt davon.

"Na ja, gut... gut!" rief Kate, die vor Verwunderung so gelähmt war, daß sie ausnahmsweise zehn Minuten lang ganz stumm dagestanden hatte.

"Was soll das heißen, Kate?" fragte Mr. John Proth.

Die alte Kate ließ ihren Schürzenzipfel fallen, den sie einen Augenblick wie ein gelernter Seiler zusammengedreht hatte.

"Ach... ich weiß nicht... ich meine nur, Herr Richter," gestand sie, "daß die beiden Leutchen da rechte Toren sind."

"Ohne Zweifel, ehrsame Kate, ohne Zweifel," stimmte John Proth ihr bei, während er seine friedliche Gießkanne wieder zur Hand nahm. "Ist denn das etwa aber etwas so Wunderbares? Sind denn die, die sich verheiraten, nicht immer etwas närrische Leute?"

Zweites Kapitel



Das den Leser in das Haus Dean Forsyths einführt und ihn in Verbindung mit dessen Neffen Francis Gordon und seiner Haushälterin Mitz bringt


"Mitz... Mitz!"

"Mein Söhnchen?..."

"Was ist denn mit ihm los, mit meinem Onkel Dean?"

"Ja, das weiß ich auch nicht."

"Ist er etwa krank?"

"Jetzt wohl nicht; wenn das aber so fortgeht, wird er's sicher werden."

Diese Worte wurden zwischen einem jungen Mann von dreiundzwanzig und einer Frau von fünfundsechzig Jahren gewechselt, und zwar im Speisezimmer eines Hauses der Elisabethstraße in der schon oft genannten Stadt Whaston, wo eben eine der auch nach amerikanischem Muster originellsten Trauungen stattgefunden hatte.

Dieses Haus der Elisabethstraße gehörte dem Mr. Dean Forsyth. Mister Dean Forsyth zählte fünfundvierzig Jahre, was man ihm auch gut genug ansah. Ein mächtiger, auffallender Kopf, kleine Augen mit einer Brille mit sehr scharfen Gläsern, leicht gewölbte Schultern, ein kräftiger Hals, den in jeder Jahreszeit ein Halstuch, das bis zum Kinn hinausreichte, in doppelter Lage umhüllte, ein weiter, faltiger Oberrock, eine weiche Weste, deren unterste Knöpfe nie benutzt wurden, etwas zu kurze Beinkleider, die nicht bis auf die Schuhe reichten, eine auf halbergrautem, wirrem Haar tief im Nacken sitzende hohe Mütze, ein Gesicht mit tausend Falten, das mit dem fast allen Nordamerikanern gemeinsamen Spitzbart endete, ein reizbarer Charakter, der sich immer nur zwei Millimeter von der Marke "Zorn" entfernt hielt... das wäre etwa das Signalement dieses Mr. Dean Forsyth, von dem sein Neffe Francis Gordon und seine Haushälterin Mitz am Morgen des 21. März sprachen.

Francis Gordon, der seine Eltern schon sehr frühzeitig verloren hatte, war von Dean Forsyth, einem Bruder seiner Mutter, erzogen worden. Obgleich ihm von seinem Onkel später ein gewisses Vermögen zufallen sollte, hatte er nicht geglaubt, sich ernster Arbeit entziehen zu dürfen, und Mr. Forsyth war derselben Meinung gewesen. Der Neffe erwarb sich deshalb auf der berühmten Harward-Universität zuerst die allgemeine höhere Schulbildung und studierte dann die Rechte. Jetzt fungierte er als Advokat in Whaston und war als der schlagfertigste Verteidiger der Witwen und Waisen und als der beste Vermittler in kleinen Streitigkeiten bekannt. Er kannte die Gesetze des Landes gründlich und zeichnete sich durch eine fließende Sprechweise mit eindringlicher, überzeugender Stimme aus. Alle seine Kollegen, die jungen wie die alten, schätzten ihn aufrichtig, und er hatte sich überhaupt nie einen Feind gemacht. Von ansehnlichem Äußern, mit vollen kastanienbraunen Haaren und schönen schwarzen Augen, von elegantem Auftreten, geistvoll ohne Bosheit, dienstwillig ohne sich vorzudrängen, nicht ungeschickt in allen Arten des Sports, dem die amerikanische Gentry so leidenschaftlich zu huldigen pflegt... dabei war's ja kein Wunder, daß er unter den vornehmen jungen Männern der Stadt mit zu den ersten gehörte. Warum hätte er es da nicht wagen können, sein Herz der reizenden Jenny Hudelson, der Tochter des Doktor Hudelson und dessen Gattin, einer geborenen Flora Clarish, zuzuwenden?