Lindhardt & Ringhof
Als er erwacht, ist es noch dunkel im Zimmer; trotzdem kann er die Konturen des Wandschirms zwischen den Betten und die weiße Fläche der Decke gleich oberhalb des Fensters ahnen. Vorsichtig hebt er eine Hand vor sein Gesicht, die rechte natürlich. Er lässt sie gleich wieder sinken und schließt die Augen. Besser so, denkt er. Die linke Hand liegt eisig kalt auf seinem Bauch, wie eine tote Raubvogelkralle. Vielleicht wird er doch noch ein wenig schlafen können, hofft er.
Weil er hinter dem Wandschirm unruhigen Atem hört, fällt ihm plötzlich ein, wie achtlos eine von den jungen Neuen vor Kurzem war, als sie Hermansen gewaschen hat. Sie hatte den Wandschirm nicht richtig zurückgestellt, deshalb konnte er den abgemagerten weißen Körper sehen, der zitternd dastand und sich am Waschbecken festhielt, und als Hermansen einmal den Kopf hob und in den Spiegel starrte, sah er seinen ängstlichen, wässrigen Blick.
Wer wird zuerst sterben, Hermansen oder ich, überlegt er.
Ihm fällt ein, dass Frau Hermansen alle zwei Tage zu Besuch kommt. Wenn er es nicht selbst erlebt hätte, würde er niemals glauben, dass zwei Menschen über nichts so viel reden können. Aber das tun sie, er hört es ja. «Weißt du noch, Harald, dass heute Dienstag ist?» – «Nächste Woche lasse ich mich frisieren, Harald ...» Allerdings redet vor allem die Frau, Hermansen antwortet sozusagen immer mit nur einer Silbe.
Heute wird Annar kommen, denkt er.
Vor allem fehlen mir Annar und das Haus. Und mein eigenes Bett.
Noch vor wenigen Monaten war alles anders. Zu Weihnachten, über Neujahr ...
Obwohl das Wetter nicht das beste war, beschlossen wir, zu Silvester einen Skiausflug zu machen. Es war feuchtkalt und diesig, die Sicht so elend, dass ich nicht zum Gjevarvatn hinuntersehen konnte, und schon gar nicht hoch zum Rustfjell. Zuerst lief Annar die Hänge hinab, gefolgt von dem Hund, dann kam ich nach, viel vorsichtiger. Als ich unten war, spürte ich, wie sehr meine Waden zitterten, weil ich so heftig abgebremst hatte. Und ich war fast so außer Atem, als ob ich mich den Berg emporgequält hätte. «Geht’s gut?», fragte Annar. Ich nickte, und während Annar die Hundeleine an seinem Gürtel befestigte, merkte ich zum Glück, wie ich mich erholte und wie mein Atem sich beruhigte, und deshalb konnte ich meine Sorgen der letzten Tage verdrängen. Auf dem vereisten See hatte ein Schneemobil eine Fahrspur hinterlassen, also wagten wir die Überquerung. Wieder führte Annar an, mit langen, kräftigen Schritten, immer begleitet vom Flund. Als ich sah, wie Annar dahinjagte, lächelte ich nur und folgte in meinem eigenen Tempo. Außer uns war niemand zu sehen, keine Menschenseele, nur eine Krähe, die stumm und flügelschlagend im grauen Winterlicht quer über den See flog. Dieses Licht macht mich immer so ruhig, und ein Stück weiter vorn blieb ich dann stehen, ohne müde zu sein, nur um auf die Stille zu horchen, auf das gleichmäßige Sausen, das dort immer zu hören ist. Ich war schon so oft in dieser Landschaft gewesen, zu allen Jahreszeiten, dachte ich, in Mutters Landschaft. Natürlich gibt es in Telemark schönere Gegenden, großartigere, auch idyllischere, das weiß ich nur zu gut, aber diese hier ist eben zu meiner geworden. Gerade wegen der Stille, dachte ich, ohne Alpinanlage und Abfahrtsloipen voller lärmender Menschen.
Ich fand Annar bei der stillgelegten Hütte, wo wir immer eine Pause machen, er saß mit dem Hund vor der verwitterten grauen Holzwand. Auf den letzten Metern vom See zu ihm hoch sah ich, dass er telefonierte, aber als ich ihn erreicht hatte, hatte er das Telefon schon wieder im Rucksack verstaut. Der Hund sprang aus purer Wiedersehensfreude an mir hoch, ich musste ihn streicheln, sein Fell kraulen und mich von ihm im Gesicht lecken lassen, ehe ich mich auf das alte gelbliche Lammfell setzte, das Annar bereits ausgerollt hatte. «Wie war die Abfahrt?», fragte Annar. «Sehr gut», antwortete ich. «Deine nicht?» – «Doch», sagte er, «ich hatte nur das Gefühl, dass du so weit zurück warst.» Darauf gab ich keine Antwort, ich packte lieber die Thermoskanne mit dem heißen Kaffee aus. Als ich für uns beide eingegossen hatte, bot Annar Schokolade an. «Nimm mehr», sagte er, und das tat ich und gab auch dem Hund ein Stück. «Willst du, dass Caro fett wird?», fragte Annar übellaunig. Ich stellte mich taub und sagte: «Hier ist es doch schön, sogar bei diesem Wetter?» Vielleicht war das keine richtige Frage, denn Annar schwieg. Ich fuhr ihm rasch mit der Hand über den Rücken, versöhnlich, gewissermaßen. Danach starrte auch ich stumm vor mich hin, auf das andere Seeufer, in Richtung Langlim.
Auf dem Rückweg gingen wir zusammen, Annar vorweg in der Spur, langsamer jetzt, meinetwegen, das begriff ich immerhin. Die ganze Zeit konnte ich den Anblick seines geschmeidigen Körpers genießen, schließlich trägt er immer einen eng sitzenden Skianzug. Der Anblick seiner Hinterbacken und der muskulösen Oberschenkel schien mir neue Energie zu geben, denn auf dem Weg über das Eis musste ich nur eine einzige Ruhepause einlegen. Und dann sah ich unten am Ufer zwischen den Bäumen einen Elch.
Plötzlich steht die Nachtschwester da, er hat sie gar nicht kommen hören.
«Was ist los, Simon», flüstert sie, «tut es dir irgendwo weh?»
Mir tut es immer irgendwo weh, denkt er und spürt, wie sie die Decke höher über seine Brust zieht, obwohl ihm wirklich nicht kalt ist.
«Du hast geklingelt», sagt sie. «Macht dir irgendwas Sorgen?»
Er kann sich nicht erinnern, geklingelt zu haben, deshalb gibt er keine Antwort.
«Es ist erst halb sechs», sagt sie.
Gleich darauf ist sie verschwunden, und er hört, wie die Tür leise ins Schloss gleitet.
Ich hätte sie fragen können, ob heute nicht Sonntag ist, denkt er, sonntags kommt Annar doch immer.
Er merkt, dass er Durst hat, und er dreht den Kopf, bis er den Nachttisch als riesiges dunkles Viereck dicht neben seinem Kopfkissen ahnt. Aber den Arm nach dem Glas Wasser auszustrecken, das wagt er nicht.
Vor zwei Wochen hat Annar mir süße blaue Pflaumen mitgebracht. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. September. «Siehst du, womit die Ähnlichkeit haben?», fragte ich und hielt mir eine Pflaume vor den Mund. Und Annar wurde wirklich rot!
Ich bin ein unverbesserliches altes Schwein.
Es fing ausgerechnet am Heiligen Abend an. Beim Essen. Wir hatten die Vorspeise verzehrt, den Graved Lachs, die Schweinerippen, und nun waren wir beim Dessert angekommen. Ich wollte gerade aufstehen, um die Puddingschüsselchen zu holen und die Multebeercreme aus dem Kühlschrank zu nehmen, als ich in der Brust einen schmerzhaften Druck verspürte, deshalb blieb ich sitzen. Annars Gesicht strahlte mir im Licht der Kerzenleuchter entgegen, die wir auf beide Seiten des Tisches gestellt hatten. Er sieht ja so elegant aus mit weißem Hemd und Fliege, dachte ich, als Annar sein Glas hob, um mir ein weiteres Mal zuzuprosten. «Was ist los?», fragte er und ließ das Glas sinken. «Bist du krank?» Ich musste mich vorbeugen, so weh tat es. Annar sprang auf und lief um den Tisch herum, um mich wieder aufzurichten. «Warte einen Moment», konnte ich hervorbringen. So saß ich dann da, vornübergebeugt und die Augen geschlossen, für vielleicht zwei Minuten. Ich spürte Annars Hände auf meiner Schulter, wie sie mich massierten. «Wo tut es weh, Simon», hörte ich ihn fragen, «soll ich einen Arzt holen?» Ich hatte auch im linken Arm Schmerzen, und im Nacken merkte ich eine seltsame Wärme, als ob sich dort alles zusammenzog, aber weil Annar den Arzt erwähnt hatte, riss ich mich zusammen und setzte mich gerade hin. «Du schwitzt», sagte Annar, nahm meine Serviette und wischte mir die Wange ab. Ich legte den Kopf in den Nacken und lächelte, glücklich, weil Annar da war, weil Weihnachten war. «Binde dir den Schlips auf», sagte Annar und tat es für mich. Ich schaffte es, das Jackett abzustreifen und über die Stuhllehne zu hängen. «Es geht schon besser», sagte ich, «das war nur ein plötzlicher Schmerz in der Brust.» – «Im Herzen?», fragte Annar. «Vielleicht», antwortete ich und schaute weg, zum Weihnachtsbaum vor dem Fenster im Kaminzimmer. «Ich soll also keinen Arzt für dich holen?», fragte Annar, bereits erleichtert. Ich schüttelte den Kopf, und weil mein Hals sich zusammenzuschnüren schien und weil ich deshalb nur mit Mühe atmen konnte, streckte ich die Hand nach dem Aquavitglas aus und leerte es. Als Annar sich gesetzt hatte, konnte ich einen Scherz machen. «Da hast du sicher gedacht, jetzt wärst du mich endlich los!» Annar gab keine Antwort, er packte nur mein rechtes Handgelenk. So saßen wir eine Weile da und hielten einander fest, die Hände auf der weißen Tischdecke, neben meinem fettigen Teller. «Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt», sagte Annar, «du musst doch an dein Alter denken.» Und ich schwieg. So war es immer, wenn er mich an mein Alter erinnerte, an die siebzehn Jahre, die uns trennten. Statt aufzustehen, wie ich es vorgehabt hatte, bat ich Annar darum. «Nimm die olivgrünen Murano-Schälchen», sagte ich und spürte, wie wichtig es mir vorkam, alles so zu machen, wie wir es immer gemacht hatten, den Heiligabendritualen zu folgen und das Dessert nicht zu überspringen. Ich hörte die Sängerknaben, die hellen Knabensoprane, auf einer CD, die wir immer einlegen, wenn wir uns zu Tisch setzen, schon seit vielen Jahren. Ich nahm die Düfte im Haus wahr, Räucherstäbchen und Weihnachtsessen, Tannennadeln und die Dekoration auf dem Tisch mit den silbernen Hyazinthenzwiebeln, sogar den Geruch des brennenden Birkenholzes im Kamin. Wenn ich jetzt sterben müsste, dachte ich, und dann wusste ich, dass ich mich davor gefürchtet hatte, als plötzlich der Schmerz gekommen war, davor, das alles hier verlassen zu müssen.
«Wie fühlst du dich jetzt?», fragte Annar, als er sich setzte. «Fast normal», sagte ich. Mein linker Arm tat nicht mehr weh, und der Schmerz in der Brust war nicht schlimmer als die Nachwehen eines heftigen Sodbrennens. Nur mein Nacken fühlte sich seltsam an, noch immer steif, bis in den Hinterkopf hinein. «Greif zu», sagte ich und schob ihm die Schüssel mit der Multecreme hin. «Nein, du zuerst», widersprach Annar, «du hast die Beeren gepflückt.» Ich bediente mich und dachte an den wunderschönen Herbsttag, ich war barfuß durch das Moor unterhalb der Hütte gegangen, zusammen mit dem Hund, und hatte Beeren gepflückt. Solche Tage im Gebirge, mit Sonne und klarer Herbstluft, sind ein Geschenk, dachte ich, mit Multebeeren in einem blanken Aluminiumeimer, so reif, dass ich mir gleich die Finger ablecken musste. Ich konnte mich an alles so deutlich erinnern, an den Hund, der mit flatternden Ohren loslief, wann immer ich mich aufrichtete und mich umschaute, deshalb fragte ich: «Wo ist Caro?» – «Caro?», wiederholte Annar, überrascht von meiner Frage. Weil der Hund seinen Namen gehört hatte, stand er plötzlich in der Wohnzimmertür und sah uns an. Der sieht so schön aus, dachte ich, ein prachtvoller irischer Setter. Ich winkte Caro zu mir, und er stellte sich neben meinen Stuhl, legte mir die Schnauze auf den Oberschenkel und schaute aus warmen braunen Hundeaugen zu mir hoch. Später, als wir die Mahlzeit beendet hatten und vor dem Kamin saßen, verspürte ich plötzlich ein leichtes Unbehagen. Ich dachte, es liege daran, dass ich zu viel gegessen hatte, und deshalb nickte ich, als Annar Kaffee kochen wollte, und dachte, der könnte doch belebend wirken. «Auch einen Cognac?», fragte Annar. «Ja, danke», sagte ich, aber als Annar in der Küche verschwunden war, bereute ich das und wusste, ich hätte den Branntwein ablehnen sollen. Trotzdem rief ich nicht hinter Annar her, dass ich mir die Sache anders überlegt hätte. Ich tat es nicht, weil ich wollte, dass alles so wäre wie immer am Heiligen Abend, auch Kaffee und Cognac gleich nach dem Essen. Ich stand auf und legte ein Holzscheit in den Kamin, dann zog ich eine neue CD aus dem Regal, Händels Klaviersuiten. Als ich an der Stereoanlage stand, fühlte ich mich für einen Moment schwindlig, deshalb ging ich sicherheitshalber zu meinem Sessel zurück. Der Schweiß trat mir wieder auf die Stirn, und weil ich glaubte, das werde helfen, öffnete ich noch einen Knopf an meinem Hemd. In diesem Moment brachte Annar die Kaffeetassen und die Schale mit dem Mandelkranz. «Ist dir heiß?», fragte Annar. «Sollen wir ein wenig lüften?» – «Gern», antwortete ich, obwohl ich wusste, dass nicht die Wärme im Haus an meinem Schweiß schuld war.
Und als ich ein Stück Mandelkranz aus der Schale nahm, glitt es mir aus der Hand, ehe ich hineinbeißen konnte. Verwirrt sah ich zu, wie es auf dem Boden zerbrach, ich begriff nicht, wie ich es hatte verlieren können, und gleich war der Hund da und verschlang die Brocken. Annar starrte mich fragend an, und ich brachte es nicht über mich, mir noch ein Stück Gebäck zu nehmen, ich erhob mich und sagte: «Caro, wollen wir ein wenig frische Luft schnappen?» Der Hund wedelte mit dem Schwanz und lief vor mir her in die Diele, und als ich hinterherging, hatte ich das Gefühl, mich in einem Traum zu bewegen. Ich musste einige Sekunden warten, ehe ich mich bücken und Caros Halsband fassen konnte. Dann öffnete ich die Tür und spürte die kühle Luft im Gesicht. Ich befestigte die Leine am Halsband, und als der Hund vor mir hersprang, blieb ich stehen und schaute hinter ihm her. In der Luft wirbelten einige leichte Schneeflocken. Über der Stadt lag ein gelblicher Lichtschein. Plötzlich verspürte ich eine Art Wehmut, ohne zu begreifen, warum, denn alles war mir so vertraut: die Aussicht von der Treppe, auf das Neonlicht der Tankstelle, den geschlossenen Imbiss und die Autowerkstatt. Von der Autobahn her hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen, wenn auch nicht so deutlich wie an anderen Abenden.
Er begreift, dass er ein wenig geschlafen hat, denn als er die Augen öffnet, ahnt er die Wand hinter dem Fußende des Bettes, und im Spiegel über dem Waschbecken sieht er das Fenster, obwohl die Vorhänge geschlossen sind.
Ich habe etwas geträumt, denkt er, etwas Weißes.
Er würde gern Wasser lassen, beschließt aber, bis zur Morgenwäsche durchzuhalten, oder bis die Nachtschwester noch einmal hereinschaut. Als er sich mühsam auf die Seite gedreht hat, weiß er, dass das nicht gehen wird, er kann es nicht schaffen, und deshalb muss er an der Leine ziehen.
Zum Glück ist an seinem Geruchssinn nichts auszusetzen, denn er kann den Duft der Chrysanthemen in der Vase auf dem Nachttisch riechen, als er nun wartet. Diese Blumen hat Annar bei seinem letzten Besuch mitgebracht, einen kleinen Strauß.
«Was ist los, Simon?», fragt die Nachtschwester.
«Ist heute Sonntag?», antwortet er.
«Ja», sagt sie. «Das weißt du doch.»
Dann kommt Annar, denkt er, weil Sonntag ist.
«Hast du deshalb geklingelt?», fragt die Nachtschwester und will schon wieder gehen.
«Nein», sagt er eilig, «du musst mir die Flasche geben.»
Sie knipst die Lampe über dem Bett an, und das Licht ist so grell, dass er die Augen zukneifen muss. Weil er das tut, kann er die Urinflasche nicht selbst entgegennehmen, und dann merkt er, wie die Schwester eilig die Decke hebt und sein Glied packt wie einen Wurm. Als er wieder hinschauen kann, kehrt sie ihm den Rücken zu.
«Fertig», sagt er und spürt, wie gut es tut, wenn die Blase leer ist.
«Jetzt musst du schlafen, Simon», sagt die Nachtschwester, als er ihr die Flasche reicht.
Er bittet sie, das Licht zu löschen, und als sie an der Tür steht, glaubt er, sie nicht auch noch um einen Schluck Wasser bitten zu dürfen, ehe sie verschwindet. Hermansen wimmert, das hört er jetzt.
Er hätte gern gewusst, was Hermansen träumt, wenn er im Schlaf so sehr stöhnt. Träumt er von einem Schäferstündchen mit seiner Frau oder von einer köstlichen Sahnetorte? Vielleicht gibt es da für ihn ja kaum einen Unterschied. Er hat nämlich gehört, dass Hermansen früher Konditor war, auch wenn es ihm schwerfällt, das zu glauben. Denn ab und zu, wenn sie ein seltenes Mal zum Nachmittagskaffee ein wirklich leckeres Stück Kuchen bekommen und nicht nur trockenen Sandkuchen, dann hat er versucht, Hermansen zu beobachten. Hat der eine andere Art zu essen, hat er sich gefragt, aber jedes Mal wird er enttäuscht, es ist nämlich unmöglich, irgendeinen Unterschied zwischen Hermansen und den anderen zu entdecken, und zu den anderen gehört auch er selbst. Hermansen bohrt den Teelöffel mit derselben Gier in das Kuchenstück und führt ihn ebenso zitternd zum Mund wie die anderen. Und er kaut und schmatzt hemmungslos. Er hätte geglaubt, er würde feststellen können, ob Hermansen wirklich die Qualität eines Kuchens bewertet, ob zum Beispiel ein deutliches Lächeln über sein Gesicht gleitet, wenn er auf dem Tisch eine köstliche Marzipantorte sieht, oder ob Hermansen sich vorbeugt, um sich in den Anblick der Verzierungen auf der Torte zu vertiefen, eine Sahneborte um den Rand, rote Marzipanrosen oder eine elegante Aufschrift in Karamell. Aber nein! Nie hat er gesehen, dass Hermansen zuerst die Füllung gekostet hätte, ehe er sich über den eigentlichen Kuchen hermachte. Hermansen müsste doch ganz andere Voraussetzungen haben, um eine reichhaltige Nusscreme zu bewerten ...
Dann fällt ihm ein, was er eben geträumt hat: Er stand in einem großen weißen Zimmer, ohne zu wissen, wo er war. Denn es waren weder seine eigenen Räumlichkeiten im alten Haus noch die seiner Eltern. Plötzlich fror er, und dann stand er in einer kalten Schneelandschaft. Kein Haus, keine Bäume. Kaum auch nur irgendwelche Umrisse. Nur die bläulichen Schatten des Schnees in dem vielen Weiß.
Ob Träume wirklich eine Bedeutung haben?, fragt er sich.
Ich habe solche Angst davor, mein Gedächtnis zu verlieren. Im Grunde habe ich jetzt Angst vor allem. Dass die Wörter verschwinden. Wörter für ganz normale Dinge. Zutaten heißt das, woraus eine Mahlzeit besteht. Zwiebeln und Tomaten, in Streifen geschnittenes Schweinefleisch. Solche Alltagsdinge. Ein Regenschirm, zum Beispiel. Wann habe ich zuletzt einen Regenschirm benutzt? Wann habe ich eine Glühbirne berührt? Oder einen Schraubenzieher. Aber diese Alltagsworte vergesse ich. Die lieben alten Dinge dagegen sind in meiner Erinnerung festgenagelt. Ich kann sie wie auf Knopfdruck aufrufen: eine barocke Truhe, ein Schöpflöffel, ein Jugendstil-Zuckerstreuer, ein norwegisches Bierhuhn.
Am zweiten Weihnachtstag kam Inger mit dieser Freundin zu Besuch.
Wie hieß die Freundin noch gleich? War das nicht irgendein Name mit S?
Ich weiß noch, dass sie über die Hinrichtung Saddam Husseins im Irak diskutierten, als ich den Nachtisch servierte. «Das war nur richtig so», sagte Inger. «Der Mann hatte doch einen Völkermord begangen.» – «Genau», stimmte Annar zu. Da musste ich ihn ansehen, sein freundliches Gesicht, jetzt so verbissen und verkniffen, als er das sagte. «Egal», sagte die Freundin, «wir haben nicht das Recht, einen anderen Menschen zu töten.» Ihre Worte, so ruhig und entschieden, brachten die beiden anderen zur Besinnung. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich nun Vanilleeis und duftende flambierte Multebeeren servierte.
Anne, so hieß sie, die Freundin.
Und nach dem Essen, als wir alle vier vor dem Kamin saßen, fragte Anne mich, wie ich dazu gekommen sei, mich für Antiquitäten zu interessieren. «Ach, das ist eine lange Geschichte», antwortete ich. «Ich hatte einen Onkel in dieser Branche.» Dann musste ich mich korrigieren und erklären, dass Onkel Gustav eher einen Trödelladen hatte als ein Antiquitätengeschäft, ganz anders als Annar und ich. «Ich habe Onkel Gustav beerbt», erzählte ich.
Annar war mir zum ersten Mal wirklich aufgefallen, als ... Es war ein feuchtkalter Morgen gleich nach Ostern 1966, mit Regen und Wind in der Luft. Als ich aus dem Lieferwagen stieg, sah ich, dass Annars Mutter Wäsche auf die Leine hängte. Ich musste sie natürlich begrüßen, und ich ging zum Lattenzaun, um eine Runde zu plaudern. Als wir dort standen, mit dem Zaun zwischen uns, schaute ich zufällig an dem Mietshaus hoch, in dem sie wohnte. Dabei sah ich Annar in einem Fenster im ersten Stock. Weil ich den Eindruck hatte, Annar sei splitternackt, geriet ich in ziemliche Verwirrung. Natürlich konnte ich seinen Körper nur von den Hüften aufwärts sehen, oder eigentlich nicht einmal das. Ich glaube nicht, dass seine Mutter meine Verwirrung bemerkt hatte, denn ich ließ meinen Blick sofort zu ihr weiterwandern. Als sie sich über den Wäschekorb bückte, musste ich natürlich doch zu ihrem Fenster hochblicken und nachsehen, ob Annar noch dort stand. Und das tat er. Annar starrte auf uns herab, trotzig, fand ich, herausfordernd. Hätte der Junge jetzt nicht in der Schule sein müssen, überlegte ich und zog meine Taschenuhr heraus. An der Leine wehten Bettwäsche und Handtücher. Und Annars Unterhosen. Als ich zu Lieferwagen und Schuppen schlenderte, wusste ich, dass Annar mich im Auge behielt. Und das gab meinem Körper eine seltsame Unruhe.
Dann ist er wieder eingenickt.
Es ist heller geworden. Alles ist deutlicher, wenn auch mit vagen, verschleierten Konturen. In der Ecke der neue Schlafrock, den Annar ihm gekauft hat, er liegt über der Stuhllehne. Die Handtücher beim Waschbecken. Die Druckgrafik an der Wand.
Hermansen hustet. Vom Fenster her, das auf Kipp steht, hört er Vogelzwitschern. Um diese Jahreszeit gibt es nur Spatzen.. Unten auf der Straße ein Auto.
Manchmal, wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht, kann er so früh am Morgen eine Lokomotive heulen hören. Das sind die Nachtzüge, die die Stadt erreichen. Außerdem Flugzeugdröhnen bei Tag und bei Nacht.
Warum rede ich nicht häufiger mit Hermansen, überlegt er und dreht sich auf den Rücken. Vermutlich, weil Hermansen diesen leeren Blick schon hatte, als er gekommen ist. Anfangs hat er es immerhin versucht. Er hielt es nicht für möglich, sich zusammen mit einem anderen Menschen in einem Zimmer aufzuhalten, ohne dass einer von beiden etwas sagte. Zuerst hatte er Hermansen seine ganze Krankheitsgeschichte erzählen wollen. Aber als Hermansen keine Antwort gab, verstummte auch er.