Das Leben war an einem Sonntag zu Ende.
Nein.
Das ist keine Übertreibung, es war wirklich zu Ende.
Auf jeden Fall ihr normales Sibban-Leben, das zwölf Jahre lang gewährt hatte. Ein schönes, glückliches Leben war es gewesen, das begriff sie jetzt. Und sie hatte gedacht, es würde immer so weitergehen.
Ich hasse euch alle, ich will sterben!!!!!!
Das schrieb sie in ihr Tagebuch. Nicht an diesem Sonntag, sondern später. Als sie ernsthaft begriff, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war.
Niemals wieder.
Dieser Sonntag, als ihr Leben zu Ende war, das war der Tag, an dem sie und Lollo von den Pferden weggejagt wurden. Es war ein Tag, wie es ihn nie hätte geben dürfen. Und wenn es möglich gewesen wäre, wenn man einfach ein riesiges Kalenderblatt irgendwo vom Himmel hätte pflücken können und einen großen schwarzen Filzstift nehmen, dann hätte man den Tag durchstreichen und noch einmal von vorn anfangen können.
›Rücke vor bis Start!‹ Auch ohne viertausend Kronen einzukassieren.
Wenn nur alles so weiterlaufen würde wie bisher.
Eigentlich hatte er richtig gut angefangen, dieser Tag. Sibban wachte früh auf, es war noch still im Haus, sogar Mattias, ihr kleiner Bruder, schlief brav in seinem Gitterbett. Sie stand im Nachthemd davor und betrachtete ihn. Er wachte meistens früh auf und fing gleich an zu schreien, war nass und hungrig. Aber jetzt lag er mit seinem runden Kopf auf dem Kissen, der Schnuller bewegte sich auf und ab, und Mattias sah so schwer und schläfrig aus, dass sie ihn am liebsten gebissen hätte. Nicht fest, nur ganz leicht. So, dass seine Unterlippe sich vorschob. So, dass sie ihn hochheben und ihm die Tränen abwischen konnte. Denn wenn man jemanden wahnsinnig gern hat, dann ist es nicht so einfach, seine Liebe unter Kontrolle zu halten.
Sie hatte mit Lollo abgemacht, dass sie sich am Ausstellungsgelände treffen würden. Das lag auf dem Feld hinter dem Campingplatz, dort fand eine große Landwirtschaftsmesse statt. Am Freitag waren sie hingefahren und hatten vor dem Zaun gestanden. Dort konnten sie alle Geräusche der Kühe und Pferde hören und auch die fetten Widder, die in ihren Boxen blökten. Natürlich kostete es Geld, hineinzukommen. Aber Lollo konnte manchmal richtig cool sein, sie ging einfach zu einem Kontrolleur und sagte, sie seien Volontäre und dass sie sich drinnen um die Pferde kümmern müssten.
Volontäre, was für ein Wort!
Und der Kartenkontrolleur fragte nur kichernd:
»Ach wirklich? Und ihr habt keinen Ausweis dabei, oder?«
»Da ist irgendwas schief gelaufen«, nickte Lollo.
Genau in dem Moment war jemand hinter ihnen gekommen, ein Erwachsener, der den Kontrolleur fragte, ob er nicht wechseln könne, er selbst hatte nur einen Fünfhunderter. Worauf dieser ihnen zuwinkte:
»Rein mit euch, ist schon in Ordnung.«
Am Samstag gingen sie wieder hin, er erkannte sie und nickte.
»Habt ihr immer noch keinen Ausweis?«
»Den haben wir zu Hause vergessen«, erklärte Lollo ganz frech. Sie hatte manchmal diesen Blick, runde blaue Augen, kein Mensch konnte sich vorstellen, dass sie log.
Auf der Messe suchten sie sich beide ein Pferd. Jeweils einen Isländer. Die standen zusammen in einer Box und hießen Skrukka und Skessa, eben solche merkwürdigen Namen, wie isländische Pferde nun einmal haben. Sie sahen sich sehr ähnlich. Aus den Stammtafeln ging hervor, dass sie den gleichen Vater hatten. Biskup von Oddstadir. Sie waren braun mit heller Mähne, hellem Schweif und schmalen Blessen. Sibban kletterte zu ihnen hinein. Skessa kam sofort zu ihr und begann mit der Schnauze an ihrer Tasche zu knabbern. Also wurde sie Sibbans und Skrukka wurde Lollos Pferd.
In einem Kasten vor der Box lagen Bürsten, Schabeisen und Hufkratzer. M. Johansson stand auf dem Kasten, mit blauer Farbe in zierlichen Buchstaben geschrieben. Sie fingen an, die Pferde zu striegeln. Den Tieren gefiel das, sie standen still und genossen es. Dann flochten sie ihnen die Mähne, nicht den Pony, der war ganz luftig und schön so, aber die Halsmähne. Am zweiten Tag befestigten sie die Zöpfe mit Haargummis, die sie von zu Hause mitgebracht hatten.
Die ganze Zeit gingen Leute vorbei. Sie blieben stehen, schauten zu und manchmal fragten sie nach den merkwürdigen Namen. Was sie bedeuteten und so.
Sibban wünschte sich schon seit vielen Jahren ein Pferd.
Aber das ging ja nicht.
Das sei unmöglich, sagte Mama. Wie sollten sie sich das leisten können?
Der Freitag und der Samstag waren gute Tage gewesen. Sie war mit Lollo auf der Messe herumgelaufen, hatte sogar ganz vergessen etwas zu essen. Wenn man etwas richtig Schönes machte, merkte man gar nicht, dass man hungrig war. Das war dann irgendwie nicht so wichtig.
Und Lollo?
Sie hatte Lollo nichts angemerkt. Die schien haargenau wie immer zu sein.
Ja. Der Freitag und der Samstag waren schöne Tage gewesen.
Aber dann kam der Sonntag.
Wie gesagt, es fing ganz gut an. Auf jeden Fall solange sie zu Hause war. Sie schlang ihre Sonntagsration Sauermilch mit Flakes in sich. Immer noch schliefen alle und niemand hörte, wie sie sich die Treppe hinunterschlich. Sie hatten abgemacht sich am üblichen Platz beim Eingang zu treffen, aber als Sibban keuchend den Hügel hinaufkam, war Lollo noch gar nicht aufgetaucht. Sibban lief herum und suchte auf dem Boden nach Geld. Die Leute passten nicht auf, an solchen Plätzen konnte man oft einiges finden. Sowohl Zehner als auch Fünfer.
An diesem Tag war ein anderer Kontrolleur da, ein Kerl mit Bart und einem albernen Käppi, auf dem »Supra« stand. Sie dachte an supa, saufen. So sah er auch aus, wie ein Säufer.
Schließlich kam Lollo doch noch und Sibban merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Aber sie sagte nichts, so etwas ging oft von allein vorüber, man musste es nicht unnötig aufbauschen. Lollo stellte ihr Fahrrad ab und schloss es am Ständer an.
»Bist du noch nicht reingegangen?«, fragte Lollo und in ihrer Stimme war ein kalter, fremder Ton.
»Nein, ich habe auf dich gewartet.«
Sie gingen zum Eingang, Lollo ging wie immer voran.
Der Kontrolleur hielt sie auf.
»Und wo wollt ihr denn bitte schön hin?«
»Wir müssen uns um unsere Pferde kümmern«, sagte Lollo.
»Die Ausweise!«
Da drehte Lollo sich zu Sibban um und zog die Augenbrauen hoch.
»Sibylla!«, sagte sie herausfordernd. »Du hast sie doch.«
Das brannte im Gesicht wie eine Ohrfeige.
»Was?«, fragte sie dumm.
Lollo sah sie an, ihre Augen waren eisblau und nichts von der vertrauten Lollo war darin zu sehen.
Der Kontrolleur wedelte mit seinen fetten Wurstfingern.
»Verschwindet vom Eingang! Sonst können die anderen Leute nicht durchkommen.«
Da war nichts zu machen.
Sie gingen am Zaun entlang und der war lang, das Ausstellungsgelände war groß. Alle möglichen Messen und Ausstellungen wurden hier abgehalten. Einmal hatte eine Süßwarenmesse stattgefunden, die hatten sie mit Lollos Eltern besucht und dort so viele Süßigkeiten essen dürfen, wie sie wollten. Sibban hatte bestimmt ein Kilo Lakritz gegessen.
In der Nacht wurde ihr übel und sie spuckte das ganze Bett voll. Spuckte schwarz. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder Lakritz sehen mochte.
Während sie am Zaun entlanggingen, sagten sie nichts. Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Sibban wünschte, dass Lollo sich ihr kichernd zuwenden würde oder eine dumme Bemerkung über den Kontrolleur fallen ließe. So etwas in der Richtung, wie blöd und unmöglich er doch war.
Aber das tat sie nicht.
Schließlich musste Sibban etwas sagen. Die Worte füllten ihren Mund, sie schmeckten schlecht auf der Zunge.
»Verdammt, wie kommen wir jetzt rein?«, hörte sie ihre eigene Stimme.
Normalerweise fluchten sie nicht, Lollo und sie. Wenn eine von ihnen es doch tat, musste sie eine Krone in eine bestimmte Dose legen. Von dem Geld kauften sie sich Rubbellose. Wenn man Glück hatte, konnte man eine Million gewinnen. Sie wollten sich von dem Geld ein Pferd kaufen.
Sibban fluchte. Ja, sie tat es ganz bewusst.
Lollo fuhr sich mit den Fingern durch ihr dichtes Haar.
Zuckte mit den Schultern.
»Scheiße, das weiß ich doch nicht.«
Sie gingen weiter. Wind war aufgekommen. Sibban dachte, dass sie lieber einen Pullover hätte anziehen sollen, nicht nur die Jacke. Sie hob die Hände vor den Mund und hauchte darauf. Ihre Hände waren so steif, dass die Gelenke richtig schmerzten. Plötzlich entdeckten sie ein Loch im Zaun. Sie sahen es beide gleichzeitig und beiden war klar, dass jemand das Loch dort gemacht hatte, um hineinzugelangen ohne zu bezahlen. Genau wie sie.
Es war kein Problem, durch das Loch zu kommen. Man legte sich nur auf den Rücken und rollte einmal herum. Als Sibban sich aufrichtete, hörte sie einen Ratsch. Ihre Jacke hatte sich festgehakt, ein langer Riss war entstanden. Aber in dem Moment interessierte sie das nicht.
Sie waren drinnen, Lollo und sie.
Die Pferde erkannten sie wieder, das war offensichtlich. Skessa warf ihren schönen Kopf und schnaubte leise. Sibban wurde es ganz warm ums Herz.
Dann fiel ihr ein, dass das der letzte Tag war. Bald würde M. Johansson kommen und die beiden Pferde zu einem Transporter führen, sie zu sich nach Hause fahren und sie würden sie nie wieder sehen. Sie holte den Hufkratzer heraus und hob Skessas Huf. Er war ganz sauber, es gab nichts herauszukratzen, aber sie stocherte doch ein bisschen darin herum, einfach so.
Während sie vorgebeugt dastand und Skessas linken Hinterhuf hochhielt, kam Jessica Leander mit ihrer Cousine vorbei. Jessica Leander ging in ihre Klasse. Sibban mochte sie nicht. Sie war eingebildet und hochnäsig, musste immer alles bestimmen. Jetzt beugte sie sich in die Box hinein. Sie hatte sich geschminkt, ihre Augen waren schwarz umrahmt, ihr Mund rot verschmiert.
»Hallo!«, sagte sie in dieser arroganten Art, die typisch für sie war.
Sibban nickte nur kurz. Zu ihrer Verwunderung hörte sie, wie Lollo den Gruß richtig fröhlich erwiderte.
»Mein Gott, was für schöne Pferde!«, rief Jessica Leanders Cousine aus.
»Dürft ihr euch um sie kümmern?«, fragte Jessica.
»Ja«, sagte Lollo. »Das dürfen wir.«
»Und wem gehören die?«
»Einem, der heißt Johansson. Mein Vater kennt ihn.«
Jessica Leander öffnete ihren knallroten Mund und machte ihn gar nicht wieder zu. Dann fragte sie, ob Lollo nicht mit diesem Johansson reden könnte und fragen, ob sie sich nicht auch um ein Pferd kümmern dürfte.
»Mal sehen«, sagte Lollo.
Mach, dass sie gehen, dachte Sibban. Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann sorge dafür, dass sie gehen!
Es war nervig, dass sie hier herumhingen, sie störten. Aber das war nur die Ruhe vor dem Sturm.
Tatsächlich gingen Jessica Leander und ihre Cousine nach einer Weile. Sie waren nicht mehr da, als M. Johansson kam. Und das war in gewisser Weise eine Erleichterung.
Sie hatten sich in die Box gesetzt. Sibban massierte Skessas Bein, sie hatte im Fernsehen gesehen, wie man das macht, und dem Pferd gefiel das, das merkte sie. Während sie dasaß, die Stirn an den warmen Pferdebauch gedrückt, hörte sie ein Geräusch. Es war die Boxentür, die quietschend aufging. Eine Frau stand in den Hobelspänen. Sie trug eine enge Reithose und glänzende Stiefel. Sie war genauso geschminkt wie Jessica Leander. Und sie war wütend.
»Was macht ihr denn hier?«, rief sie so laut, dass beide Pferde erschraken und die Ohren nach hinten drehten.
Sibban fuhr hoch. In ihrem Nacken wurde es heiß und begann zu jucken, genau so ein unangenehmes Gefühl, wie sie es auch ab und zu in der Schule verspürte, wenn Anita Persson, ihre Klassenlehrerin, vertreten wurde.
Die Frau packte sie beim Arm. Das tat weh. Sie schüttelte Sibban und starrte sie aus kleinen blassen Augen an.
»Ich habe doch gesagt, dass niemand Unbefugtes zu den Pferden gehen darf. Ich habe sogar dafür bezahlt!«
»Na und, wir haben uns nur ein bisschen um sie gekümmert«, sagte Lollo.
Sibban schluckte und räusperte sich. Die Tränen schnürten ihr den Hals ab.
»Meine Pferde brauchen keine Extrapflege«, fauchte die Frau und ließ sie los. »Haut ab! Verschwindet!«
Es hatten sich einige Leute vor der Box versammelt. Sie starrten die Mädchen an, als diese aus der Box kletterten. Jemand kicherte. Sibban versuchte ihren Blicken auszuweichen. Ihr Gesicht war heiß und brannte.
Sie liefen eine Weile herum und schauten sich die anderen Tiere an, die Hühner und ihre kleinen gelben Küken, die Ziegen und die Papageien. Auf einer Bahn gab es einen Weitsprungwettkampf für Kaninchen. Das sah albern aus.
Nicht ein Wort wechselten sie miteinander. Das kam von dem Schock, wie Sibban später einsah. Sie hatte sie zu Tode erschreckt, die Alte.
M. Johansson, dachte sie. M. steht für Monster. Die armen Pferde Skessa und Skrukka, deren Besitzer das Monster Johansson ist!
Sie sahen die Pferde nie wieder. Und wenn Lollo schon vorher sauer war, so wurde sie kaum fröhlicher durch die Begegnung mit Monster Johansson.
Sie schlüpften durch den Haupteingang hinaus. Der Kontrolleur sah sie mit großen Augen an, als er sie entdeckte.
»Scheiß drauf«, zischte Sibban.
Sie zog ihren Fahrradschlüssel hervor.
»Ja«, sagte sie, »und was machen wir jetzt?«
»Nun ja ... ich muss nach Hause«, erwiderte Lollo, und sie sagte es ganz schnell, mit harter, rauer Stimme.
»Nach Hause? Wieso musst du denn nach Hause?«
»Meine Tante und mein Onkel kommen.«
Und da fing es ernsthaft an.
Oder besser gesagt, es hörte auf.
Das sichere, normale Sibban-Leben.