Er richtet den Geringen auf aus dem Staube
und erhöhet den Armen aus dem Kot.
Psalm 113,7
Wenn einem der Haupttreffer beschert ist, hört Ihr, Reb Scholem-Alejchem, so kommt er zu einem ganz von selbst ins Haus, wie es in den Psalmen heißt: ›Vorzusingen auf der Githith‹: – wenn man Glück hat, so kommt es von allen Seiten gelaufen; und es gehört gar kein Verstand und keine Tüchtigkeit dazu. Wenn man aber, Gott behüte, kein Glück hat, so kann man reden, bis man zerspringt, und es wird nützen wie der vorjährige Schnee. Wie sagt man doch: ›Es gibt keine Weisheit und keinen Rat gegen ein schlechtes Pferd.‹ Der Mensch arbeitet, der Mensch plagt sich ab, und ist nahe daran, auf alle Feinde Zions sei es gesagt, sich hinzulegen und zu sterben! Und plötzlich kommt, man weiß nicht woher, von allen Seiten lauter Glück und Erfolg, wie es im Buche Esther steht: ›Hilfe und Errettung kommen den Juden.‹ Ich brauche es Euch wohl nicht zu übersetzen, doch der Sinn dieser Stelle ist, daß der Mensch, solange seine Seele in ihm ist, Gottvertrauen haben muß. Das habe ich am eigenen Leibe erfahren, wie der Ewige mich geleitet hat und wie ich zu meinem jetzigen Beruf gekommen bin: denn wie komme ich dazu, Käse und Butter zu verkaufen, wo die Großmutter meiner Großmutter niemals mit Milchwaren gehandelt hat. Es lohnt sich wirklich, die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende anzuhören. Ich werde mich für eine Weile hier neben Euch ins Gras setzen, und mein Pferdchen soll inzwischen etwas kauen, wie wir es im Morgengebet sagen: ›Die Seele aller Lebenden preiset den Herrn.‹ Und das Pferdchen ist ja auch ein Geschöpf Gottes!
Kurz und gut, es war so um die Schwuoszeit herum, das heißt: ich will nicht lügen, es war eine oder zwei Wochen vor Schwuos, und vielleicht auch ein paar Wochen nach Schwuos. Vergeßt nicht, es ist schon – ich will es Euch ganz genau sagen – ein Jahr mit einem Mittwoch her, das heißt, es sind genau neun Jahre, vielleicht auch zehn und vielleicht auch etwas mehr. Ich war damals gar nicht der Tewje, wie Ihr mich jetzt seht; das heißt, eigentlich war ich derselbe Tewje, und doch ein anderer. Was heißt das? Nun, ich war damals ein siebenfacher Bettler. Die Wahrheit zu sagen, bin ich ja auch jetzt kein reicher Mann: was mir dazu fehlt, um so reich wie Brodskij zu sein, können wir uns beide wünschen, in diesem Sommer bis nach Ssukkos zu verdienen. Aber immerhin, im Vergleich mit damals bin ich heute ein reicher Mann, der ein eigenes Pferd und einen eigenen Wagen hat und auch, unberufen, ein paar Kühe, die sich melken lassen und von denen die eine bald kalben muß. Ich will nicht mit den Lippen sündigen: ich habe alle Tage frischen Käse und Butter und Sahne, und alles ist mit eigenen Händen erarbeitet, denn wir arbeiten alle, und niemand sitzt müßig: mein Weib, sie soll leben, melkt die Kühe, die Kinder schleppen die Milchkannen, machen Butter, und ich selbst, wie Ihr mich da seht, fahre jeden Morgen auf den Markt hinaus; gehe durch Bojberik von einer Sommerwohnung zur anderen und komme auch manchmal mit Menschen zusammen, sogar mit den vornehmsten Herren aus Jehupez. Und wenn man so unter Menschen kommt und mit Menschen spricht, so fühlt man, daß man auch selbst ein Mensch auf der Welt ist, und kein hinkender Schneider. Und vom Sabbat gar nicht zu reden: am Sabbat bin ich König. Da schaue ich in ein jüdisches Buch hinein, ich nehme den Wochenabschnitt durch, lese ein wenig im Targum, in den Psalmen, in den Sprüchen der Väter usw. Ihr schaut mich an, Reb Scholem-Alejchem, und denkt Euch wohl in Eurem Herzen: ›Dieser Tewje ist doch wirklich ein Mensch, welcher ...‹
Kurz und gut, was wollte ich erzählen? Ja, ich war also damals, mit Gottes Hilfe, ein elender Bettler, starb mit Weib und Kindern dreimal am Tage vor Hunger, arbeitete wie ein Pferd, schleppte Baumklötze aus dem Walde zur Bahn, ganze Wagenladungen Baumklötze, und bekam dafür, nehmt daran keinen Anstoß, dreißig Kopeken den Tag; und selbst diesen Verdienst hatte ich nicht alle Tage. Und mit diesem Geld mußte ich, unberufen, eine ganze Stube voll hungriger Mäuler aushalten, und, es sei zwischen den Menschen und dem Vieh wohl unterschieden, auch ein Pferd, das sich gar nicht darum kümmert, was Raschi dazu sagt, sondern den ganzen Tag ganz ohne Grund kauen will. Was tut aber Gott? Er ist doch, wie man sagt, ein Ernährer und Erhalter und regiert die Welt klug und weise. Und wie er sieht, daß ich mich wegen eines Bissens Brot so abquäle, sagt er zu mir: »Du meinst wohl, Tewje, daß du am Ende angelangt bist und daß der Himmel über dir eingestürzt ist? Nein, Tewje, du bist ein Narr! Bald wirst du sehen, daß Gott, wenn er will, dein Schicksal in einem Augenblick umwenden kann, so daß es bei dir in allen Winkeln leuchten wird!« Wie wir es auch am Rosch-Haschono im Gebet ›Unessane Tojkef‹ sagen: ›Im Himmel wird bestimmt, wer erhöht und wer erniedrigt werden soll‹, wer fahren und wer zu Fuß gehen wird. Die Hauptsache ist aber Gottvertrauen: der Jude muß hoffen und immer hoffen! Und wenn er dabei zugrunde geht? Nun, dazu sind wir ja eben Juden auf der Welt, und es steht geschrieben: ›Du hast uns erwählt vor allen Völkern‹, und nicht umsonst beneidet uns die ganze Welt ... Ja, warum sage ich das alles? Ich sage es, weil ich Euch erzählen will, wie Gott mich geleitet hat, was für Wunder und Zeichen er an mir getan hat, und Ihr könnt mir ruhig zuhören.
Ich fahre eines Tages im Sommer durch den Wald, ich fahre nach Hause, mit leerem Wagen. Ich halte den Kopf gesenkt, und die Welt ist mir wüst und finster. Mein Pferdchen, nebbich, bewegt kaum die Beine, will nicht schneller laufen, und wenn ich es auch totschlage. »Laß dich«, sage ich, »zusammen mit mir begraben! Auch du sollst einmal wissen, was ein Fasttag an einem langen Sommertag bedeutet, wenn du schon einmal bei Tewje als Pferd angestellt bist!« Ringsumher ist es still, jeder Peitschenknall hallt im Walde wider. Die Sonne geht gerade unter, der Tag liegt in den letzten Zügen; die Schatten der Bäume werden so lang wie der jüdische Golus; es wird dunkel, und trübe Gedanken ziehen mir durch den Kopf, Gestalten längst verstorbener Menschen tauchen vor mir auf und gemahnen mich an mein Heim. Ach und weh ist mir! In der Stube ist es finster, und meine Kinder, gesund sollen sie sein, sind nackt und barfuß und schauen nach ihrem unglücklichen Vater aus, ob er ihnen vielleicht ein frisches Brot mitbringt oder gar eine Semmel. Und sie, meine Alte, brummt, wie ein Weib eben brummen kann: »Kinder muß ich dir gebären, und gleich sieben Stück! Gott möchte mich für die sündigen Worte nicht strafen, aber erwürge deine Kinder oder wirf sie in den Fluß!« Wie glaubt Ihr: ist es angenehm, solche Worte zu hören? Man ist aber doch nur ein Mensch, ein Geschöpf aus Fleisch und Blut! Mit Worten kann man sich den Magen nicht vollstopfen, und wenn ich ein Stück Hering heruntergewürgt habe, will ich gerne einen Schluck Tee trinken. Und zum Tee braucht man ein Stück Zucker, und den Zucker hat Brodskij und nicht ich. »Ohne Brot«, pflegt mein Weib, sie soll leben, zu sagen, »kann man noch auskommen, und der Magen kann das verzeihen. Doch ohne Tee«, sagt sie, »bin ich am Morgen wie tot, denn das Kind«, sagt sie, »saugt aus mir in der Nacht alle Kräfte heraus!« Und man ist doch ein Jude und muß das Abendgebet verrichten. Das Gebet ist zwar, wie man sagt, keine Ziege und läuft einem nicht davon, aber beten muß man doch. Stellt Euch aber vor, was das für ein schönes Beten ist: gerade wie ich mich hinstelle, um das Gebet der Achtzehn Segenssprüche zu sprechen, brennt mir der Gaul, wohl vom Satan angestiftet, durch, und ich muß ihm nachlaufen, fest die Zügel anziehen und dabei singen: ›Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs!‹ Es ist wirklich ein schönes Beten! Und ich habe ausgerechnet an diesem Abend Lust, mit besonderer Inbrunst und recht schön zu beten, denn es scheint mir, daß das Gebet mir das Herz erleichtern kann ...
Ich laufe also dem Wagen nach und spreche dabei das Gebet der Achtzehn Segenssprüche recht laut mit der richtigen Melodie, wie man es in der Schule – sie sei vom Walde wohl unterschieden! – vor dem Vorbeterpult singt: »Er versorgt alle Lebewesen«, singe ich, »mit Gnade und bewährt seine Treue den im Staube Liegenden« und sogar denen, die unter der Erde liegen und aus Lehm Beugel backen. Ach, denke ich mir, liege ich nicht tief in der Erde? Ach, geht es mir schlecht! Und nicht wie jenen Leuten, den Reichen von Jehupez, die den ganzen Sommer in Bojberik sitzen, gut essen und trinken, und in allem Guten baden. Ach, du Schöpfer der Welt, womit habe ich das verdient? Ich bin doch der gleiche Mensch wie die anderen Juden! Gott, habe doch ein Einsehen! »Sieh unser Elend«, singe ich weiter, »schau nur, wie wir uns abplagen, und nimm dich der armen Menschen an«, denn wer soll sich ihrer annehmen, wenn nicht du? »Heile uns, daß wir genesen, und schicke uns nur die Arznei, denn die Wunden haben wir schon von selbst ... Segne uns dieses Jahr mit allen Arten seines Ertrages«, das heißt mit Korn und Weizen und Gerste, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, was ich das brauche! Und was geht es mein Pferdchen an – es sei von mir wohl unterschieden! –, ob der Hafer teuer oder billig wird? So oder so – es bekommt doch niemals Hafer zu sehen! Aber Gott darf man mit solchen Fragen nicht kommen; am allerwenigsten darf es der Jude. Er muß alles als gut hinnehmen und zu allem sagen: »Auch dies ist zu meinem Besten, denn so will es wohl Gott. Und den Lästerern«, singe ich weiter, »sei keine Hoffnung, denn Gott zerbricht die Feinde und vernichtet die Übermütigen ... Die Aristokraten, die da sagen, es gäbe keinen Gott auf der Welt, werden schön aussehen, wenn sie ins Jenseits kommen; dort werden sie es mit Zinseszinsen auskosten, denn Gott ist ein guter Zahler und läßt mit sich nicht spaßen. Man darf ihn nur anflehen und zu ihm schreien: ›Barmherziger Vater, höre unsere Stimmen, schone uns und erbarme dich unser‹, erbarme dich meines Weibes und meiner Kinder, denn sie haben, nebbich, Hunger. Bewillige deinem Volk Israel«, singe ich, »wie einst den Tempel, und die Priester und die Leviten ...« Und plötzlich – halt! Das Pferdchen ist stehen geblieben.
Ich spreche schnell die Achtzehn Segenssprüche zu Ende, hebe die Augen und sehe: zwei Gestalten kommen mir aus dem Walde entgegen. Sie sehen merkwürdig aus und sind gar sonderbar gekleidet. Mein erster Gedanke ist: ›Räuber!‹ Ich sage mir aber sofort: »Pfui, Tewje, bist du ein Narr! Du fährst schon seit so vielen Jahren im Walde herum, bei Tag und bei Nacht, und hast doch noch niemals einen Räuber gesehen. Was fallen dir plötzlich heute Räuber ein? – Hui!« sage ich zum Pferdchen und ziehe ihm ein paar über, als ob das Ganze mich gar nicht anginge.
»Reb Jude! Hört doch, Reb Vetter!« schreit zu mir das eine der beiden Geschöpfe und winkt mir mit einem Tuche. »Bleibt doch einen Augenblick stehen, wartet ein Weilchen! Rennt nicht davon! Es wird Euch, Gott bewahre, gar nichts geschehen!«
›Aha! Ein böser Geist!‹ denke ich mir und sage gleich darauf zu mir selbst: »Rindvieh in Gestalt eines Pferdes! Was fallen dir plötzlich böse Geister und Teufel ein?« Ich lasse mein Pferdchen halten und sehe mir die beiden Geschöpfe genauer an: es sind zwei Frauenzimmer. Die eine, die ältere, hat ein seidenes Tuch auf dem Kopfe, die andere ist jünger und trägt eine Perücke.
Beide haben feuerrote Gesichter und sind verschwitzt.
»Guten Abend! Willkommen!« sage ich zu ihnen sehr laut und tue so, als ob es mir lustig zumute wäre. »Was ist euer Begehr? Wenn ihr etwas kaufen wollt, so werdet ihr bei mir nichts finden, höchstens Bauchweh, auf die Köpfe meiner Feinde sei es gesagt! Oder eine volle Woche Herzkrämpfe, oder etwas Kopfweh, trockene Schmerzen, nasse Plagen, heisere Wehen?« ... »Beruhigt Euch!« sagen sie mir. »Sieh nur, wie er sich ins Zeug legt! Wenn man so einem Juden auch nur ein einziges Wort sagt, ist man seines Lebens nicht mehr sicher! Wir wollen«, sagen sie, »gar nichts kaufen. Wir wollen Euch nur fragen, ob Ihr uns vielleicht sagen könnt, wo der Weg nach Bojberik ist?«
»Nach Bojberik?« sage ich und fange zu lachen an. »Es ist genau so«, sage ich, »wie wenn ihr mich fragen würdet, ob ich weiß, daß ich Tewje heiße.«
»So?« sagen sie. »Ihr heißt Tewje? Guten Abend, Reb Tewje! Wir verstehen gar nicht«, sagen sie, »warum Ihr lacht! Wir sind hier fremd, wir sind aus Jehupez und wohnen in Bojberik in der Sommerfrische. Wir sind«, sagen sie, »für einen Augenblick ausgegangen, um ein wenig spazieren zu gehen, und irren jetzt in diesem Wald seit heute früh herum. Wir haben uns verirrt und können den Weg nicht finden. Da hörten wir«, sagen sie, »daß jemand im Walde singt, und wir glaubten anfangs, es sei, Gott behüte, ein Räuber. Als wir aber«, sagen sie, »sahen, daß Ihr ein Jude seid, wurde es uns etwas leichter zumute. Versteht Ihr es jetzt?«
»Ha-ha-ha! Ein schöner Räuber!« sage ich. »Habt ihr einmal die Geschichte vom jüdischen Räuber gehört«, sage ich, »der einen Wanderer überfiel und ihn um eine Prise Tabak bat? Wenn ihr wollt«, sage ich, »kann ich euch die Geschichte erzählen.«
»Die Geschichte«, sagen sie, »wollen wir lieber ein andermal hören. Jetzt zeigt uns lieber den Weg nach Bojberik!«
»Nach Bojberik?« sage ich. »Herr Gott! Das ist ja der richtige Weg nach Bojberik! Ihr mögt wollen oder nicht«, sage ich, »ihr müßt auf diesem Wege nach Bojberik kommen!«
»Warum habt Ihr bisher geschwiegen?«
»Sollte ich denn schreien?«
»Wenn es sich so verhält«, sagen sie, »so wißt Ihr vielleicht auch, wie weit es noch nach Bojberik ist?«
»Nach Bojberik«, sage ich, »ist es nicht weit, es sind nur einige Werst. Das heißt«, sage ich, »es sind fünf bis sechs Werst, oder sieben, oder vielleicht auch volle acht.«
»Acht Werst!« schrien beide Weiber zugleich. Sie rangen die Hände und fingen beinahe zu weinen an. »Herr Gott, was redet Ihr? Wißt Ihr auch, was Ihr redet? Es ist doch keine Kleinigkeit – acht Werst!«
»Nun«, sage ich, »was soll ich dagegen machen? Wenn das von mir abhinge, hätte ich den Weg ein wenig kürzer gemacht. Der Mensch«, sage ich, »muß auf der Welt alles ausprobieren. Es kommt vor«, sage ich, »daß man sich durch den Schmutz bergauf schleppen muß, und es ist kurz vor Sabbatanbruch, der Regen peitscht ins Gesicht, die Hände zittern, das Herz ist matt, und da bricht auch noch eine Achse ...«
»Ihr redet wie ein Verrückter«, sagen sie. »Ihr seid wohl gar nicht recht bei Sinnen! Was erzählt Ihr uns für lange Geschichten, Märchen aus Tausendundeiner Nacht? Wir haben keine Kraft mehr, die Beine zu bewegen, wir haben heute den ganzen Tag außer einem Glas Kaffee und einer Buttersemmel nichts im Munde gehabt, und da kommt Ihr und erzählt uns solche Geschichten!«
»Wenn es sich so verhält«, sage ich, »so ist es was anderes. Wie sagt man doch: Kein Tanz geht vor dem Essen. Ich weiß ganz gut, wie der Hunger schmeckt, und ihr braucht es mir nicht zu erklären. Es ist wohl möglich«, sage ich, »daß ich Kaffee und Buttersemmel seit einem Jahre nicht mehr gesehen habe ...« Und wie ich das sage, sehe ich vor mir ein Glas heißen Kaffee mit Milch, und eine frische Buttersemmel, und noch andere gute Sachen ... »Unglücksmensch!« sage ich zu mir, »bist du denn mit Kaffee und Buttersemmeln großgezogen worden? Bist du krank, ein Stück Schwarzbrot mit Hering zu essen?« Doch der böse Trieb, nicht gedacht soll seiner werden, hält mir wie zum Trotz den Kaffee und die Buttersemmel vor die Nase, und ich spüre den Geruch vom Kaffee und den Geschmack der Buttersemmel, der frischen, wohlschmeckenden Buttersemmel, die die Seele erquickt!
»Wißt Ihr was, Reb Tewje?« sagen zu mir beide Weiber. »Es wäre vielleicht gar nicht so dumm, wenn wir, wie wir hier stehen, zu Euch in den Wagen steigen und Ihr die Mühe auf Euch nehmt und uns, mit Verlaub zu sagen, nach Hause, nach Bojberik bringt? Was werdet Ihr dazu sagen?«
»Der Vorschlag ist jetzt ebenso angebracht«, sage ich, »wie der Vers, daß das Leben einem zerbrochenen Topf gleicht: ich komme aus Bojberik, und ihr wollt nach Bojberik! Wie kommt die Katze über das Wasser?«
»Nun, was ist denn dabei?« sagen sie. »Wißt Ihr denn nicht, was man in einem solchen Falle tut? Ein gelehrter Mann findet Rat: er wendet den Wagen und fährt zurück. Habt nur keine Angst, Reb Tewje«, sagen sie, »Ihr könnt sicher sein: wenn Ihr uns, so Gott will, wohlbehalten nach Hause bringt, wünschen wir uns soviel Kränke, wieviel Ihr an der Sache draufzahlt!« ›Sie reden auf Aramäisch‹, denke ich mir, ›es ist keine gewöhnliche Menschensprache!‹ Und es kommen mir in den Sinn Gespenster, Hexen, böse Geister, die Cholera. ›Narr, Sohn eines Spechts!‹ denke ich mir. ›Was stehst du wie ein Pflock da? Spring in den Wagen, zeige deinem Pferde die Peitsche und entflieh!‹ Doch gegen meinen Willen, es ist wohl ein Werk des Teufels, kommen mir aus dem Munde die Worte: »Steigt in den Wagen!«
Als die Weiber dies hörten, ließen sie sich nicht lange bitten und sprangen schnell in den Wagen. Ich setzte mich auf den Bock, wendete den Wagen um und zog dem Pferdchen ein paar über: eins, zwei, drei vorwärts! Aber es hört auf mich wie auf den gestrigen Tag! Es will sich nicht vom Fleck rühren, und wenn ich es auch in Stücke schneide. ›So‹, denke ich mir, ›nun verstehe ich schon, was es für Weiber sind ... Der Teufel hat mich verführt, mitten im Walde zu halten und mich mit den Weibern in Gespräche einzulassen!‹ ... Stellt Euch nur vor: einerseits bin ich im Walde, und es ist so unheimlich still, und die Nacht bricht an, und andererseits habe ich diese beiden Geschöpfe, sozusagen Weibsbilder, bei mir ... Meine Einbildungskraft ist so recht im Zuge und spielt auf allen Saiten, und mir fällt die Geschichte von dem Fuhrmann ein, der einmal ganz allein durch den Wald fuhr und auf der Landstraße einen Sack Hafer liegen sah. Als der Fuhrmann den Sack Hafer sah, war er nicht faul, sprang vom Wagen, lud sich den Sack Hafer auf den Buckel, nahm alle seine Kräfte zusammen, schleppte den Sack Hafer zum Wagen und fuhr weiter. Wie er eine Werst gefahren ist, sieht er sich nach dem Sack Hafer um: weg ist der Sack, weg ist der Hafer, eine Ziege liegt in seinem Wagen, eine Ziege mit einem Bärtchen. Er will sie anrühren, da zeigt sie ihm die Zunge, die eine Elle lang ist, lacht wild auf und verschwindet ...
»Warum fahrt Ihr noch nicht?« sagen zu mir die Weiber.
»Warum ich noch nicht fahre? Ihr seht doch«, sage ich, »warum: mein Pferdchen will nicht, es ist nicht in der Stimmung.«
»Zieht ihm doch ein paar mit der Peitsche über«, sagen sie. »Ihr habt doch eine Peitsche!«
»Ich danke euch«, sage ich, »für den Rat, es ist gut, daß ihr mich daran erinnert habt. Leider hat aber mein Pferd vor solchen Dingen keine Angst. Es ist die Peitsche schon so gewohnt wie ich die Armut«, sage ich zu ihnen wie im Scherz, während ich wie im Fieber zittere.
Kurz und gut, was soll ich Euch lange damit aufhalten, ich ließ meine ganze Erbitterung an dem Pferdchen aus. Ich schlug es so lange, bis es mit Gottes Hilfe die Beine rührte. ›Und sie zogen aus von Raphidim ...‹ So fuhren wir durch den Wald auf dem Wege nach Bojberik. Und wie wir so fahren, kommt mir ein neuer Gedanke in den Sinn: ›Ach, Tewje, bist du ein Esel! Die Fallsucht komme über dich! Du warst ein Bettler und bleibst ein Bettler. Was heißt das? Da schickt dir Gott eine solche Begegnung, wie man sie einmal in hundert Jahren erlebt. Warum machst du nicht im voraus aus, was du dafür zu bekommen hast? Von welchem Gesichtspunkte du die Sache auch betrachtest, vom Gesichtspunkte des Gewissens oder der Menschlichkeit, des göttlichen oder des menschlichen Gesetzes, oder ich weiß selbst nicht von welchem Gesichtspunkte, so ist es wirklich kein Verbrechen, wenn du bei einer solchen Gelegenheit etwas verdienst. Warum sollst du den Knochen nicht ablecken, wenn du ihn gefunden hast? Laß dein Pferd halten, du Rindvieh, und sage ihnen soundso, wie Jakob zu Laban gesagt hat: ›Es geht um Rahel, deine jüngere Tochter!‹ Habt ihr bei euch soundso viel, so ist es gut; und wenn nicht, so nehmt es mir nicht übel und steigt aus dem Wagen!‹ Gleich darauf sage ich mir aber: ›Du bist doch wirklich ein Rindvieh, Tewje! Weißt du denn nicht, daß man das Fell des Bären im Walde noch nicht verkaufen darf?‹
»Warum fahrt Ihr nicht ein wenig schneller?« sagen die Weiber und stoßen mich in den Rücken.
»Habt ihr denn«, sage ich, »keine Zeit? Übereilung«, sage ich, »führt zu nichts Gutem!« Ich schaue meine Fahrgäste an: sie sehen wirklich wie Weibsbilder aus; die eine hat ein seidenes Tuch auf dem Kopfe, und die andere eine Perücke; so sitzen sie da, schauen einander an und tuscheln miteinander.
»Ist es noch weit?« fragen sie mich.
»Näher als von hier«, sage ich, »ist es ganz gewiß nicht. Bald«, sage ich, »geht es bergauf, dann bergab, und dann«, sage ich, »geht es wieder bergauf und wieder bergab, und erst dann«, sage ich, »kommt der große Berg. Den müssen wir hinauf und wieder hinunter, und von dort geht schon ein ebener Weg bis nach Bojberik ...«
»Ein Unglücksmensch!« sagt die eine zu der anderen. »Die Cholera!« sagt die andere.
»Ein Sieb voller Elend!« sagt wieder die erste.
»Mir scheint, er ist einfach verrückt!« sagt wieder die andere. ›Natürlich bin ich verrückt‹, denke ich mir, ›wenn ich mich so an der Nase herumführen lasse! ...‹
»Wo soll ich euch abwerfen, meine werten Damen?« sage ich zu ihnen.
»Was heißt«, sagen sie, »abwerfen? Was wollt Ihr damit sagen?«
»Es ist nur so ein Ausdruck«, sage ich, »aus der Fuhrmannssprache! In gewöhnlicher Menschensprache heißt das: wo soll ich euch hinbringen, wenn wir«, sage ich, »mit Gottes Hilfe, heil und gesund und wenn der Herr uns am Leben erhält, nach Bojberik kommen? Es heißt ja: lieber zweimal fragen als einmal irregehen!«
»Ach so, das wollt Ihr wissen! Ihr werdet«, sagen sie, »so gut sein und uns zu der grünen Villa bringen, die am Flusse jenseits des Waldes steht. Kennt Ihr sie?«
»Warum soll ich sie nicht kennen?« sage ich. »Ich bin doch in Bojberik wie zu Hause. Ich möchte so viele Tausende verdienen«, sage ich, »wieviel Bauklötze ich schon hingebracht habe. Bei der grünen Villa«, sage ich, »habe ich erst im vorigen Sommer zwei Kubikklafter Brennholz abgeladen. Damals wohnte dort ein reicher Mann aus Jehupez, ein Millionär, ein Mann, der vielleicht hunderttausend oder gar zweihunderttausend Rubel hat!«
»Er wohnt auch heuer da«, sagen die beiden Weiber. Sie schauen einander wieder an, tuscheln und lachen.
»Halt!« sage ich; »wenn die Schmerzen der Schwangerschaft wirklich so groß sind, so darf ich doch annehmen, daß ihr in irgendwelcher Beziehung zu ihm steht. Es wäre vielleicht gar nicht so dumm«, sage ich, »wenn ihr euch bemühen wolltet, bei ihm ein Wörtchen für mich einzulegen, daß er mir Arbeit oder eine Stelle verschafft, oder ich weiß selbst nicht was. Ich kenne«, sage ich, »einen jungen Mann, Jßroel heißt er und wohnte nicht weit von unserem Städtchen. Ein großer Taugenichts war er, aber er machte, kein Mensch weiß, wie, seinen Weg. Heute ist er ein einflußreicher Mensch, verdient vielleicht zwanzig Rubel die Woche und vielleicht gar vierzig, – was weiß ich? Andere Leute haben Glück! Was wäre, zum Beispiel, aus dem Schwiegersohne unseres Schächters geworden, wenn er nicht nach Jehupez gekommen wäre? Allerdings ging es ihm dort in den ersten paar Jahren sehr schlecht, und er starb beinahe vor Hunger. Aber jetzt – auf mich sei es gesagt, wenn er nur keinen Schaden davon hat! Er ist schon soweit, daß er Geld nach Hause schickt und sein Weib mit den Kindern zu sich nach Jehupez kommen lassen will. Er hat aber kein Wohnrecht in Jehupez. Werdet ihr doch fragen: also wie wohnt er dort? Nun, er quält sich eben ab ... Ich sage ja immer«, sage ich, »wenn man lebt, kann man manches erleben. Da ist ja auch schon«, sage ich, »der Fluß und da ist die grüne Villa!« So sage ich und fahre nobel und mit großem Gepolter vor die Villa, so daß die Deichsel beinahe in die Veranda hineinstößt.
Wie man uns sah, gab es gleich Freude und Jubel, einen Lärm und ein Geschrei: »Gott, da ist ja die Großmutter! ... Die Mutter! ... Tante! ... Da seid ihr ja endlich! Gratuliere! ... Gott, wo seid ihr gewesen? Den ganzen Tag waren wir ohne Kopf ... Überallhin haben wir Reiter ausgeschickt ... Wir glaubten schon, Wölfe hätten euch zerrissen ... Oder, Gott bewahre, Räuber hätten euch überfallen ... Was ist denn passiert?«
»Es ist etwas sehr Schönes passiert: wir haben uns im Walde verirrt, haben uns vielleicht zehn Werst vom Hause entfernt ... Plötzlich sehen wir einen Juden ...« – »Was für einen Juden?« – »Einen Unglücksmenschen mit einem Pferd und einem Wagen. ... Mit Mühe und Not ließ er sich bewegen, uns mitzunehmen! ... Es war entsetzlich!« – »Ganz allein, ohne Begleitung?« – »Das war eine Geschichte, man muß Gott danken ...« Kurz und gut, man brachte auf die Veranda Lampen, deckte den Tisch und schleppte Samowars herbei, Teekannen, Zucker, Eingemachtes, feines Gebäck, frisches Buttergebäck und allerlei Speisen, die teuersten Gerichte, fette Suppen, Braten, Gänsernes, die besten Weine und die feinsten Liköre. Ich stehe abseits und sehe zu, wie die Reichen von Jehupez, unberufen, essen und trinken. ›Man soll seine letzte Habe versetzen‹, denke ich mir, ›und ein reicher Mann werden! Mir scheint, daß das, was hier vom Tische fällt, meinen Kindern für eine ganze Woche bis zum Sabbat genügen würde. Lieber Gott! Es heißt ja, daß du ein guter und großer Gott bist, – warum bekommt dann der eine alles, und der andere nichts? Warum gibst du dem einen Buttersemmeln und dem anderen nichts als Plagen?‹ Und dann sage ich mir wieder: ›Bist doch ein großer Narr, Tewje! Willst du ihn vielleicht belehren, wie er die Welt regieren soll? Wenn er es einmal so haben will, so muß es wohl so sein. Denn wenn es anders sein müßte, so wäre es eben anders. Und warum ist es nicht anders? Nun, weil wir Knechte waren bei Pharao in Ägypten; dazu sind wir ja auch Juden; der Jude muß Glauben und Gottvertrauen haben; erstens muß er glauben, daß es einen Gott auf der Welt gibt; und zweitens muß er auf Den hoffen, der da ewig lebt, daß Er ihm, so Gott will, hilft ...‹
»Halt! Wo ist der Jude?« höre ich plötzlich jemand sagen. »Ist der Unglücksmensch schon weggefahren?«
»Gott behüte!« melde ich mich aus meinem Winkel. »Meint Ihr, daß ich so einfach wegfahren werde, ohne mich zu verabschieden? Friede sei mit Euch!« sage ich. »Guten Abend wünsche ich Euch allen, die ihr da versammelt seid! Wohl bekomm es Euch!«
»Kommt doch her«, sagt man mir. »Was steht Ihr dort im Finstern? Laßt Euch wenigstens anschauen, wir wollen wissen, wie Ihr ausschaut. Wollt Ihr vielleicht einen Schluck Branntwein?«
»Einen Schluck Branntwein? Ach«, sage ich, »wer wird einen Schluck Branntwein ausschlagen? Es steht ja geschrieben: ›Der eine soll leben, und der andere sterben ...‹und Raschi übersetzt es so: ›Gott ist Gott, und Branntwein ist Branntwein.‹ Ihr sollt leben!« sage ich und trinke mein Glas aus. »Gebe Gott«, sage ich, »daß Ihr immer reich bleibt und viel Freude erlebt! Juden«, sage ich, »sollen immer Juden bleiben. Gott gebe Ihnen aber«, sage ich, »Gesundheit und Kraft, um alle Plagen und Leiden zu ertragen!«
»Wie heißt Ihr?« fragt mich der Hausherr selbst, ein stattlicher Mann, mit einem Käppchen auf dem Kopfe. »Wo seid Ihr her? Wo wohnt Ihr, was ist Euer Geschäft, seid Ihr verheiratet, habt Ihr Kinder und wieviel?«
»Kinder?« sage ich. »Ich kann mich nicht beklagen! Wenn jedes meiner Kinder«, sage ich, »wirklich eine Million wert ist, wie es mir meine Golde einreden will, so bin ich reicher als der reichste Mann von Jehupez. Leider«, sage ich, »ist aber arm nicht reich, und verschieden nicht gleich, wie es auch geschrieben steht: ›Der da unterscheidet zwischen heilig und alltäglich.‹ – Wenn einer das Geld hat, so geht es ihm gut. Geld haben aber die Brodskij's, und ich habe Töchter. Und wenn man hat Töchter«, sage ich, »so vergeht das Gelächter. Aber es macht nichts, Gott ist doch der Vater. Er regiert uns, das heißt, er sitzt oben, und wir quälen uns unten. Man rackert sich ab und schleppt Baumklötze – hat man denn die Wahl? Das ganze Unglück kommt vom Essen. Wie meine Großmutter, sie ruhe in Frieden, zu sagen pflegte: ›Wenn das Maul in der Erde läge, könnte sich der Kopf in Gold kleiden!‹ ... Nehmt es mir nicht übel«, sage ich, »es gibt nichts Geraderes als eine schiefe Leiter, und nichts Schieferes als ein gerades Wort; besonders«, sage ich, »wenn man einen Schluck Branntwein auf den nüchternen Magen genommen hat.«
»Gebt doch dem Mann etwas zu essen!« sagt der Hausherr, und im Augenblick trägt man mir zahllose Gerichte auf: Fisch und Fleisch, und Braten, und Gänsernes, und Hühner, und Lebern ohne Zahl.
»Wollt Ihr nicht etwas essen?« sagt man zu mir. »Geht, wascht Euch die Hände!«
»Einen Kranken fragt man, einem Gesunden gibt man! Aber ich danke schön! Einen Schluck Branntwein kann ich noch nehmen; aber ich werde mich doch nicht hier hinsetzen und ein solches Mahl verzehren, wenn Weib und Kinder, sie sollen gesund sein, zu Hause fasten ... Wenn ihr aber so gut sein wollt ...«
Sie verstanden mich im Nu, und ein jeder packte mir in den Wagen, was er nur schleppen konnte: der eine – ein Brot, der andere – Fische, der dritte – Braten, der vierte – ein Viertel Gans, der fünfte – Tee und Zucker, der sechste – einen Topf Schmalz, der siebente – einen Topf Eingemachtes.
»Das alles werdet Ihr Eurem Weib und Euren Kindern als Geschenk mitbringen«, sagen sie. »Und jetzt sagt uns, was verlangt Ihr für Eure Mühe und dafür, daß Ihr zwei Seelen aus einer Gefahr gerettet habt?«
»Was heißt«, sage ich, »was ich verlange? So viel ihr mir geben werdet, so viel werde ich nehmen. Wir werden uns schon einigen, wie man sagt, einen Rubel herauf, einen Rubel herunter. Ein ausgetretener Schuh kann nicht noch mehr ausgetreten werden ...«
»Nein«, sagen sie, »wir wollen Eure Ansicht hören, Reb Tewje, habt nur keine Angst, man wird Euch, Gott behüte, nicht köpfen!«
›Was soll ich da tun?‹ denke ich mir. ›Es ist doch wirklich nicht gut: verlange ich einen Rubel, so wird es mich vielleicht später reuen, daß ich nicht zwei verlangt habe. Und verlange ich zwei, so werden sie mich vielleicht für verrückt halten. Womit habe ich auch zwei Rubel verdient?‹
»Drei Rubel!!!« ... sage ich plötzlich ohne Überlegung. Alle fangen plötzlich zu lachen an, so daß ich vor Scham in die Erde versinken möchte.
»Nehmt es mir nicht übel«, sage ich, »ich habe es mir nicht überlegt. Ein Pferd hat vier Beine und kann stolpern; um so mehr der Mensch, der nur eine Zunge hat.« ...
Nun lachten sie noch lauter, sie kugeln sich einfach vor Lachen. »Genug schon zu lachen!« sagt der Hausherr und holt aus dem Busen eine große Brieftasche heraus. Und er nimmt aus der Brieftasche – nun, wieviel meint Ihr? – ratet einmal! – einen ganzen feuerroten Zehnrubelschein – so wahr wir beide gesund sein sollen! –, und er sagt zu mir: »Das gebe ich. Und ihr, Kinder, gebt dem Mann aus eurer Tasche, soviel jeder will!«
Kurz und gut, was soll ich lange erzählen, es flogen auf den Tisch Fünfrubelscheine, Dreirubelscheine, Einrubelscheine, – Hände und Füße zitterten mir, ich meinte, ich müßte gleich in Ohnmacht fallen.
»Nun, was steht Ihr so da?« sagt zu mir der Hausherr. »Nehmt doch die paar Rubel und fahrt nach Hause zu Weib und Kindern.«
»Gott gebe euch«, sage ich, »das Zehnfache und das Hundertfache von dem, was ihr mir gegeben habt. Und ihr sollt alles Gute erleben und recht viel Freude!« Und ich scharre das Geld mit beiden Händen zusammen und stopfe es mir, ohne zu zählen, in die Taschen.
»Gute Nacht!« sage ich. »Bleibt gesund und erlebt recht viel Freude an Euren Kindern und Eurer ganzen Familie!« Wie ich aber schon zum Wagen gehen will, sagt zu mir die Hausfrau, das ist die ältere Frau mit dem seidenen Tuch:
»Wartet eine Weile, Reb Tewje; von mir bekommt Ihr noch ein Extrageschenk. Ich schicke es Euch morgen zu: ich habe«, sagt sie, »eine braune Kuh; sie war früher einmal eine wertvolle Kuh und gab jeden Tag vierundzwanzig Glas Milch. Heuer hat sie wohl ein böser Blick getroffen, und sie läßt sich nicht mehr melken, das heißt, melken läßt sie sich wohl, aber sie gibt keine Milch mehr.« ...
»Lange leben sollt Ihr«, sage ich, »und nie im Leben Kummer erfahren! Bei mir wird sich Eure Kuh sowohl melken lassen wie auch Milch geben. Meine Alte ist, unberufen, eine gute Hausfrau und kann aus Nichts Nudeln machen und aus der hohlen Hand einen Brei kochen ... Nehmt's mir nicht übel«, sage ich, »wenn ich ein Wort zu viel gesagt habe. Ich wünsche euch allen gute Nacht und alles Gute, und bleibt gesund«, sage ich.
Ich gehe aus dem Hause und schaue nach dem Pferd – ach und weh ist mir! Ein Unglück ist mir geschehen! Ich schaue nach allen Seiten – das Pferd ist verschwunden!