Miia Pohjavirta musste ihren Polizeijob wegen ihrer Internetsucht an den Nagel hängen. Als Sonderpädagogin ist sie jetzt an ihre alte Schule zurückgekehrt. Es soll endlich Ruhe in ihr Leben einkehren. Aber am ersten Schultag nach den Ferien macht es schnell die Runde: Laura Anderson ist verschwunden. Ihre Eltern richten eine Facebook-Seite ein und lösen damit einen wahren Shitstorm aus. Von Satanskult, Drogen und Sadomaso-Spielen ist die Rede, jemand will Laura in Amsterdam gesichtet haben. Jeder hat seine eigene Theorie, wo Laura steckt, aber am meisten scheint Miias Bruder Niklas zu wissen, der als Psychologe an der Schule arbeitet. Schließlich wird Laura tot aufgefunden. Ein Unfall? Der Sommer, der für Miia so strahlend und hoffnungsvoll begann, wird zum düsteren Albtraum.
»Ein dunkler, psychologischer Thriller, ein fesselndes Beziehungsdrama in Zeiten des Internet.«
Uusimaa Newspaper, Finnland
»Wie soll man jetzt die Zeit bis zum Erscheinen des zweiten Bandes überbrücken? Ein Thriller, den man verschlingt.«
Ilona Magazine, Finnland
J. K. Johansson – das ist eine Gruppe von Autoren und professionellen Drehbuchschreibern für Film und TV. Lauras letzte Party ist Teil eins der »Palokaski-Trilogie«. Noras zweites Gesicht (st 4613) erscheint im September 2015, Venlas dunkles Geheimnis (st 4614) im November 2015.
Lauras
letzte
Party
Roman
Aus dem Finnischen
von Elina Kritzokat
Suhrkamp
Die finnische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Laura
bei Tammi Publishers, Helsinki
Umschlagabbildung: Sandra Samuelsson/EyeEm/Getty Images
Der Verlag dankt FILI – Finnish Literature Exchange für die Förderung der Übersetzung.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4590.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Copyright © J. K. Johansson and Tammi Publishers 2013.
Original edition published by Tammi Publishers.
German edition published by agreement with J. K. Johansson and Elina Ahlback Literary Agency, Helsinki, Finland.
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eISBN 978-3-518-74053-8
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Die Schule in Palokaski wirkte noch immer unglaublich groß. Miia hatte gedacht, sie wäre geschrumpft, wie alles andere aus ihrer Kindheit auch. Der wilde Urwald neben dem Schulhof, in dem sie in den Achtzigerjahren gespielt hatten, war heute ein lachhaft kleiner Park – doch das Schulgebäude kam der 37-Jährigen noch genauso groß und einschüchternd vor wie damals. Na ja, der Schulhof war kleiner. Und die Müllcontainer. Hatten sie wirklich geglaubt, dahinter vor den Blicken der Lehrer sicher zu sein, mit ihren heimlichen Zigaretten und Zungenküssen?
Die Schultür fiel genauso laut ins Schloss wie früher. Miia musste an das Chaos denken, das sofort entstand, sobald sich hier mehrere Hundert Schüler lärmend in die Pause drängten. Jetzt hallte die Tür in den leeren Gängen wider, ansonsten war nichts zu hören. Doch, ganz leise: das Geräusch eines Hubschraubers in der Ferne. Es war der letzte Tag der Schulferien – morgen würde sich das Gebäude mit lustlosen Jugendlichen füllen.
Miia steuerte direkt aufs Lehrerzimmer zu. Jedenfalls dorthin, wo es sich vor zwanzig Jahren befunden hatte. Hieß es überhaupt noch Lehrerzimmer? Gemeinschaftskunde hieß ja inzwischen auch Politik und Werken Technik.
Die Flure sahen anders aus. An den Wänden standen abschließbare Schränke mit Metalltüren, wie in amerikanischen Highschool-Serien. In Miias Jugend hatte man seine Bücher noch im Rucksack mitgeschleppt. Auch die Design-Deckenleuchten und die coolen Riesenkissen waren neu. Damals hockten sie sich einfach auf den kalten Boden oder auf die Holzbänke, die der Jahrgang über ihnen mit hässlichen Sitzkissen ausgestattet hatte.
Woher kam bloß das Geld für diese Anschaffungen? Angeblich konnten nicht mal Nachschlagewerke bezahlt werden, von neuen Lehrkräften ganz zu schweigen.
Miia war schon wieder durchgeschwitzt und verlangsamte ihren Schritt. Gleich zwei Mal hatte sie morgens geduscht, einmal nach dem Aufstehen und dann nochmal nach dem Kaffee. Der August war im ganzen Land elendig schwül. Die Schlagzeilen verkündeten den heißesten Sommer seit Jahrzehnten, dabei waren Miia auch die letzten Sommer schon außergewöhnlich warm vorgekommen. Bei diesen Temperaturen trug sie am liebsten eine kurze Jeans. Je knapper, desto besser. In diesem Punkt würden ihr die männlichen Jugendlichen der Palokaski-Schule garantiert zustimmen, denn ihre langen, schlanken Beine, für die sie sich kein einziges Mal im Fitnessstudio abgemüht hatte, erregten überall Aufsehen. Sogar bei Frauen. An diesem Morgen hatte Miia sich jedoch eingestehen müssen, dass eine knappe Hose zwar angenehm zu tragen war, aber auch ein ungünstiges Licht auf sie werfen konnte: Mal wieder so eine bemitleidenswerte Um-die-Vierzigjährige, deren einziges Vergnügen der wöchentliche Kneipenabend unter den anerkennenden Blicken männlicher Biertrinker war. Miia hatte statt der kurzen eine lange Jeans angezogen, dazu ein Top mit Blazer – auch auf die Gefahr hin, mittags von einem Hitzeschlag hingestreckt zu werden.
Das Lehrerzimmer befand sich noch am gleichen Ort wie früher. Sie wollte schon aus alter Gewohnheit anklopfen, als ihr wieder einfiel, dass sie nun selber Lehrerin war. Miia drückte die Klinke runter, und die Tür zu allen Geheimnissen öffnete sich. Sie lachte bei der Feststellung, dass sie noch immer davon ausging, hier auf abgründige Intrigen zu stoßen. Erst recht, als sie sah, dass das Zimmer leer war. Niemand erwartete sie. Wo steckten die Kollegen bloß? Hatte sie sich im Datum geirrt?
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, sich für die Stelle an ihrer alten Schule zu bewerben. Miia lief der Schweiß den Rücken hinunter, sie sehnte sich nach einer dritten Dusche.
Die letzten Jahre hatte Miia als Coach bei der Polizei in Helsinki gearbeitet und dort die Einheit für Ermittlung in sozialen Netzwerken begründet. In dieser Funktion war sie so oft im Fernsehen gewesen, dass sie einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte, im Guten wie im Schlechten. Als sogenannte Internet-Spionin der gesamten Nation hatte sie sich nicht nur beliebt gemacht, und so kamen auf zehn anerkennende Schulterklopfer mindestens zwei Beschimpfungen oder sogar Morddrohungen, und natürlich setzten sich gerade die in Miias Kopf fest. Es wurde immer schwieriger, ihr Privatleben vor der Arbeit zu schützen. Darüber hinaus vermisste sie den echten Kontakt zu Jugendlichen. Als sie hörte, dass an ihrer alten Schule die Stelle der Sonderpädagogin neu ausgeschrieben wurde, hatte sie sich sofort beworben. Sie rechnete sich gute Chancen aus, immerhin hatte sie gleich zwei passable Uni-Abschlüsse.
In der Luft hing der Duft von Kaffee. Auf dem Tisch lag eine riesige Bäckertüte mit frischen Hörnchen, die Miia daran erinnerte, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte.
»Hallo?«, fragte sie zaghaft.
Niemand antwortete.
Miia wusste, dass hinter dem Lehrerzimmer noch das große Konferenzzimmer und das Büro der Direktorin lagen. Sie überlegte, ob sie zuerst nach ihren Kollegen schauen oder erst frühstücken sollte. Die zweite Option war verführerisch, allerdings wusste sie nicht, ob die Hörnchen vielleicht für später reserviert waren. Andererseits waren es so viele, dass es auf eins mehr oder weniger auch nicht ankam. Miia hatte sich gerade eins geangelt, als die Tür aufflog.
»Sieh an, du bist sogar vor mir hier! Schöne Grüße von Mama, sie hat irgendwas für dich an unsere Adresse geschickt, kannst du dir jederzeit abholen.«
Der Mann, der gerade atemlos seinen Fahrradhelm absetzte, war ihr kleiner Bruder Nikke, der in Palokaski als Schulpsychologe arbeitete.
»Okay, danke. Aber sag mal, weißt du, wo die anderen stecken?«
»Wir sind garantiert nicht die Ersten, komm, wir schauen mal nach.«
Nikke marschierte Richtung Konferenzzimmer, Miia ging hinter ihm her. Sie hielt das Hörnchen in der Hand und kam sich ziemlich blöd vor.
Das Konferenzzimmer war voll. Miia spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihre Kollegen sahen erholt und gebräunt aus, doch das Stimmengewirr war gedämpft und drehte sich eindeutig nicht um Urlaubsanekdoten. Die Direktorin, eine gestandene Frau kurz vor der Pensionierung, sah mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster.
»Waren eure Ferien so mies, oder was ist hier los?«, versuchte Nikke zu scherzen.
Einige Kollegen grüßten ihn freundlich, eine jüngere Frau fiel ihm sogar um den Hals. Miia wusste, dass ihr Bruder im Kollegium geschätzt wurde. Und dass seine Tür auch den Erwachsenen offenstand, auch wenn das ursprünglich nicht zur Stellenbeschreibung gehörte. Miia war stolz auf ihren beliebten Bruder.
»Ich habe meine Schwester mitgebracht. Sie war zu schüchtern, um gleich ins Konferenzzimmer zu platzen. Darf ich vorstellen – das ist Miia.«
»Hallo allerseits!« Miia versteckte das Hörnchen hinter ihrem Rücken und versuchte zu lächeln. »Schön, hier gleich alle auf einmal zu sehen. Ein paar kenne ich ja sogar noch von früher.«
»Herzlich willkommen, liebe Miia!« Die Direktorin lächelte breit und umarmte sie fest.
»Nun sind wir also vollzählig«, fuhr sie fort und wies Miia einen freien Stuhl zu. »Miia Pohjavirta fängt bei uns in diesem Schuljahr als Sonderpädagogin an. Einigen aus unserer Runde dürfte sie noch von früher gut bekannt sein. Ein erfolgreicher Spross unserer Schule!«
Miia blickte in die Runde. Viele Gesichter waren ihr fremd. Mattila erkannte sie, außerdem eine Biolehrerin, den Russischlehrer, den Religionslehrer und die Handarbeitslehrerin. Was denen jetzt wohl durch den Kopf ging? Immerhin, alle nickten ihr freundlich zu. Ob sie, wie die Direktorin, stolz waren auf die einstige Schülerin? Oder lag in den gealterten Gesichtern auch eine Spur Verbitterung über den eigenen jahrzehntelangen Trott, an den Miias plötzliches Auftauchen sie jetzt erinnerte? Oder Herablassung, Zweifel daran, ob sie der neuen Aufgabe gewachsen war? Womöglich überlegten einige auch, wieso sie hierher zurückwollte.
Die Direktorin setzte sich an den Kopf des Tisches.
»Bei aller Freude darüber, Miia in unserem Kreis begrüßen zu dürfen, gibt es heute leider – wie einige schon wissen – auch traurige Nachrichten. Der Vater von Laura Anderson hat mich heute früh angerufen. Laura wird seit Samstagabend vermisst.«
Nikke, der links von Miia saß, sog geräuschvoll Luft ein. Miia kannte diesen Laut. So atmete ihr Bruder nur, wenn etwas Unangenehmes auf ihn zukam.
Die Direktorin fuhr fort: »Die Schüler waren am Samstag in einer großen Gruppe am Badestrand. Dort haben sie wie jedes Jahr die Sommerferien mit einer kleinen Party verabschiedet. Seitdem ist Laura nicht nach Hause gekommen. Dass sie allein schwimmen gehen wollte, ist nicht bekannt. Trotzdem wurde das Wasserareal rund um den Badestrand gründlich abgesucht.« Die Direktorin hielt inne, versuchte ihre Worte abzuschwächen. »Nur routinehalber, Hinweise hat man keine gefunden. Und natürlich glauben und hoffen wir, dass Laura schon bald gesund und munter wieder auftaucht. Vielleicht hat sie sich nur irgendwo auf einen Übernachtungsbesuch einquartiert.«
Miia verstand nun, wieso die Stimmung im Raum so verhalten war. Wahrscheinlich hatten die meisten bereits von der Sache gewusst – so was sprach sich in einer Kleinstadt schnell rum –, womöglich sogar bei der Suche nach dem Mädchen geholfen.
Das Hörnchen lag noch immer in Miias Hand. Sie hätte es gern irgendwo abgelegt.
Der offizielle Teil der Lehrerversammlung war vorbei, Miias Kollegen standen noch in kleinen Grüppchen beisammen. Einige stellten Vermutungen über Laura an, andere berichteten von ihren Urlaubsreisen. Miia verfolgte leicht irritiert, wie ihr Bruder jedem einzelnen Kollegen eine individuell zugeschnittene Version seiner Lappland-Tour servierte. Soweit sie wusste, war Nikke seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr in Lappland gewesen, geschweige denn, dass er einen selbstgeangelten Fisch verspeist hätte. Für das Lehrerkollegium von Palokaski schienen seine allsommerlichen Angeltouren jedoch legendär zu sein. Nikke schaute ein paar Mal zu Miia, als wollte er sagen: Du hältst jetzt besser die Klappe. Doch es wäre ihr sowieso nicht in den Sinn gekommen, sich in Nikkes Geschichten einzumischen – immerhin lockerten sie die angespannte Stimmung ein wenig auf.
»Komm, Miia, ich zeige dir deine alte Schule und dein neues Zimmer«, sagte die Direktorin. Miia erhob sich hektisch von ihrem Stuhl.
»Immer mit der Ruhe, Schwesterherz. Du musst garantiert nicht nachsitzen, auch wenn du mal nicht gleich parierst.« Nikke grinste, stand aber ebenfalls auf. Einträchtig folgten sie der Direktorin auf den Flur. »Läuft doch«, sagte Nikke und kniff Miia in die Wange.
Die Direktorin führte sie zügig durch das Gebäude. Da Miia die Räume noch von früher kannte, waren sie schnell damit fertig. Umso mehr Zeit blieb für das Gespräch über den Verhaltenskodex, der an dieser Schule das Miteinander regelte. Miia sah sich kurz zu ihrem Bruder um, der hinter ihnen herschlurfte. Er war seltsam stumm und hielt den Kopf gesenkt.
»Diese Werte also sind unsere Richtlinie, und jeder hier im Haus sollte sie so verinnerlichen, dass er oder sie entsprechend handeln kann – auch dann noch, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird.« Die Direktorin musterte Miia und Nikke wie eine Lehrerin, die genau wusste, dass ihre Schüler unaufmerksam waren, und deshalb bereits einen unangekündigten Test plante.
»So, und dies hier ist dein Zimmer, Miia.«
Sie standen vor einem sterilen Raum mit Glaswand. »Mach es dir ein bisschen gemütlicher. Dein Bruder hat sein Zimmer gleich nebenan in eine richtige Kuschelecke verwandelt«, fügte sie hinzu. »Hier sind deine Schlüssel. Der ist für die Außentür, das ist der Generalschlüssel, und der hier ist für dein Zimmer.«
Die Direktorin reichte Miia einen Schlüsselbund und kramte einen Zettel aus ihrer Tasche. »Quittierst du bitte kurz den Empfang? Danke.«
Miia kritzelte ihre Unterschrift auf das knittrige Papier.
»Jetzt muss ich zurück in mein Büro und die Stundenpläne überprüfen. Du kannst mich jederzeit ansprechen, und sicher auch deinen Bruder Niklas, wenn du Fragen hast. Von mir aus könnt ihr für heute Schluss machen und nach Hause gehen. Der Trubel geht früh genug wieder los ...«
Die Direktorin ließ ihr energisches Lächeln aufblitzen und eilte zurück Richtung Lehrerzimmer. Ihre Absätze knallten wie kleine Schüsse.
Nikke schloss die Tür zu seinem Zimmer auf. Neugierig spähte Miia hinein. Ihr Bruder hatte in der Tat Wert auf die Einrichtung gelegt: An den Fenstern hingen leuchtende Marimekko-Vorhänge mit grafischem Retromuster, auf dem Boden lag ein weicher Wollteppich, es gab keinen Schreibtisch, aber ein Sofa, auf dem etliche Papierstapel lagen. An der Wand gegenüber der Tür stand ein gut gefülltes Bücherregal, daneben hingen eine akustische Gitarre, eine E-Gitarre und eine Ukulele. In der Ecke wartete ein großer Gymnastikball, vor dem Sofa luden zwei Riesenkissen zum Lümmeln ein. Einziger Stilbruch waren die vertrockneten Blumen auf der Fensterbank. Neben der Tür hingen zwei grelle Kunstwerke, die zu genauerer Betrachtung aufforderten.
»Die sind von Schülern«, erklärte Nikke. Er schaltete einen Ventilator ein, und schon wurde Miia von kühler Luft umweht.
»Sieht ganz anders aus als bei euch zu Hause«, stellte sie fest und ließ sich auf ein Kissen plumpsen. Der Ventilator war eine Wohltat – am liebsten hätte sie sich auch gleich noch die Klamotten vom Leib gerissen. »Du hast dein kreatives Potential also lieber in deine Büro-Einrichtung gesteckt.«
»Na ja, rate mal, wieso.«
Miia kannte den Grund, hatte jedoch keine Lust, mit Nikke über Suski zu lästern.
»Tauschen wir die Zimmer? Ich geb dir fünf Euro«, scherzte sie.
»Für zehn bin ich dabei.«
»Geht klar.«
»Aber den Ventilator behalte ich.«
»Genau den will ich haben! Ohne den gibt’s auch kein Geld.«
»Tja, dann wird wohl nichts aus unserem Tausch ...«
Nikke grinste.
Unwirsch stand Miia auf und ging zur Tür.
»So was hast du dir also auch besorgt.« Sie öffnete und schloss die Jalousie an der gläsernen Wand zum Flur.
»Würdest du etwa wollen, dass jeder mitkriegt, wenn du beim Psychologen sitzt?«
Wohl kaum, dachte Miia. Allerdings war sie noch nie bei einem gewesen – dabei hatte man ihr das durchaus angeraten. Nicht, weil sie ein Alkoholproblem oder eine depressive Veranlagung hätte, sondern aus einem anderen Grund.
Miia betrat ihr neues Reich und überlegte, wie sie es einrichten konnte. Ganz oben auf der Liste stand der Ventilator. Sie öffnete das Fenster, doch von draußen drang nur noch heißere Luft herein.
In Zimmer stand kein Computer. Miia überlegte, ob sie die Direktorin um einen Laptop bitten sollte. Als sie das letzte Mal an einer Schule gearbeitet hatte, als Schwangerschaftsvertretung für eine Klassenlehrerin, musste sie sich mit dem alten Computer im Lehrerzimmer zufriedengeben. Im Grunde wäre es besser, wenn es auch dieses Mal so liefe. Das Leben wurde leichter, wenn man nicht ständig dem Reiz der Versuchung ausgesetzt war. Irgendwann später würde sie sich natürlich wieder an die sozialen Netzwerke und ihre permanente Verfügbarkeit gewöhnen müssen.
Miia setzte sich auf den Bürostuhl und tastete nach dem Hebel unter der Sitzfläche; der Stuhl war viel zu niedrig eingestellt. Sie drückte und zerrte, doch nichts geschah. Genervt stand sie wieder auf und trat ans Fenster. Ihr bot sich ein perfekter Blick auf die Rückseite der Müllcontainer.
Da steckte Nikke den Kopf durch die Tür.
»Darf ich reinkommen?« Er hielt ihr eine seiner vertrockneten Blumen entgegen. »Herzlich willkommen im neuen Zuhause!«
»Deine vertrockneten Pflanzen kannst du gern behalten.«
»Aber das ist die perfekte Schulpflanze: Schläft in den Ferien und wacht mit einer anständigen Dusche sofort wieder auf. Ehrlich, mit ein bisschen Wasser erholt die sich über Nacht!«
Nikke stellte die Blume auf die Fensterbank und machte sich an Miias Bürostuhl zu schaffen. Mit einem beherzten Ruck hatte er den Sitz höher gestellt.
»Wie hast du das denn hingekriegt?«
»Magic hands.«
»Soso. Sag mal, hast du das verschwundene Mädchen eigentlich gut gekannt?«
Nikke atmete wieder geräuschvoll ein, genau wie vorhin. Miia wurde hellhörig.
»Ich wusste es! Sie ist deine Patientin.«
»Klientin. Von Patienten redet man heute nicht mehr.«
»Egal. Jedenfalls liege ich mit meiner Vermutung richtig.«
»Laura ist nicht der Typ Mensch, der einfach so abhaut.«
»Dann glaubst du also, dass ihr etwas zugestoßen ist?«
Nikke schwieg einen Moment.
»Laura ist eine sehr gute Schülerin. Und eine talentierte Klavierspielerin. Eher still, man könnte sie sogar für schüchtern halten. Kommt aber mit allen gut aus.«
»Wieso ist sie dann in deine Sprechstunde gekommen?«
Nikke gab keine Antwort.
»Sag mir einfach, was du weißt. Ich bin jetzt nicht mehr nur deine Schwester, sondern deine direkte Kollegin, insofern gilt das mit der Schweigepflicht nicht mehr. Außerdem werden wir sicher noch öfter Fälle haben, die sich überschneiden. Klienten, meine ich.«
»Das mit der Schweigepflicht gilt sehr wohl, liebes Schwesterherz, auch innerhalb des Kollegiums. Aber weil du es bist, nur so viel: Auch wenn man es Laura auf den ersten Blick nicht ansieht, sie hat was ungeheuer Zielstrebiges. Sie weiß, was sie will. Jedenfalls hat sie sich nach außen so präsentiert. Manchmal kann sie wegen Kleinigkeiten ausrasten. Allerdings glaube ich nicht, dass sie mir immer die wahren Gründe dafür anvertraut hat.«
Nikke verstummte erneut. Miia starrte aus dem Fenster. Sie hörte ein Auto näher kommen und halten, kurz darauf eine Tür zuschlagen. Sehen konnte sie das Fahrzeug nicht.
»Im letzten Schuljahr hat Laura sich ziemlich verändert«, fuhr Nikke fort. »Alle anderen natürlich auch, aber bei Laura war es extremer ...«
Miia sah ihren Bruder fragend an.
»Die Pubertät eben«, antwortete er. »Komm, da kennst du dich doch aus. Ärger mit den Eltern, hormongesteuerte unsinnige Aktionen und so weiter.«
»Das klingt jetzt aber ziemlich vage.«
»Laura ist ein klassischer Fall. Hat sich von heute auf morgen die ellenlangen Zöpfe abgeschnitten und ihre Augen dick mit schwarzem Kajal umrandet. Angeblich haben ihre strengen Eltern sie in letzter Zeit ziemlich tyrannisiert. Vor allem der Vater. Aus Rache hat sie mit den Klavierstunden aufgehört und nicht mehr für die Schule gelernt.«
»Aber da würde es doch gut ins Bild passen, wenn sie die Schnauze voll hat und abhaut!«
»Theoretisch ja. Aber Laura hat das alles wie aus weiter Ferne betrachtet. Sie ist enorm reflektiert und weiß ganz genau, dass das alles nur eine Phase ist, die irgendwann vorübergeht. Dass das Leben schon bald wieder anders aussehen kann.«
Miia beobachtete ihren Bruder. Ganz langsam drehte er sich auf dem Bürostuhl im Kreis.
Dann klopfte es an der Tür, Miia öffnete.
Vor ihr stand ein Mann Anfang sechzig, unrasiert, zerstrubbelt, in einem alten Trenchcoat. Sein Blick war warm und sein Lächeln freundlich; er konnte ebenso als Penner durchgehen wie als Spitzenwissenschaftler.
»Korhonen!«, stieß Miia überrascht aus.
Kommissar Korhonen war ein alter Bekannter aus ihrer Zeit bei der Polizei. Er hatte mehrere Ermittlungen geleitet, zu denen Miia Informationen aus den sozialen Netzwerken beigesteuert hatte.
»Tag, Miia. Manchmal sieht man sich schneller wieder als gedacht.«
»Ja, traurig. Auch wenn ich mich freue, dich zu sehen – besser, es hätte den Grund dafür nicht gegeben.« Miia schüttelte ihm die Hand.
»Schöner hätte ich es nicht sagen können.«
Miia sah ihrem alten Kollegen in die wachen Augen und spürte, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Korhonen zählte zu den wenigen Menschen, die ihr nie auf den Geist gingen. Auch wenn er manchmal etwas sonderbar wirkte – als Polizist war er absolute A-Klasse, und als Freund sogar Triple AAA. Erst vor wenigen Monaten hatten sie in enger Zusammenarbeit einen online agierenden Pädophilenring hochgehen lassen.
»Ich fürchte, ich weiß, was hier alles auf dich zukommt. Bist du ganz allein gekommen?«
»Lehtola ist heute krank. Und erstmal stehen ja nur Routineverhöre an.«
»Alles klar. Das ist übrigens mein Bruder, Niklas Pohjavirta. Er arbeitet hier als Schulpsychologe.«
Nikke stand auf und reichte dem Kommissar die Hand.
»Sie habe ich gesucht.« Korhonen warf Miia einen entschuldigenden Blick zu. »Können wir uns irgendwohin zurückziehen? Wir sollten uns ein bisschen über Laura Anderson unterhalten.«
»Geht ihr von einem Verbrechen aus?«, fragte Miia. Korhonens Blick sagte ihr, dass sie das nichts mehr anging.
»Nein. Aber Laura Anderson wird schon zwei Tage lang vermisst, da müssen wir der Sache nachgehen«, erwiderte Korhonen.
»Eben. Können wir uns nicht auch noch kurz unterhalten? Ich hab mich schließlich schon ein bisschen wegen Laura umgehört.«
»Ach je, das hätte ich mir denken können. Sofort wieder mittendrin. Dabei hat man dich hier als Pädagogin eingestellt.«
»Aber wir können doch trotzdem unsere Informationen austauschen.«
»Hm. Du gehörst hier jetzt zu den Lehrern, und darauf solltest du dich konzentrieren. Und du weißt doch selbst: Statistisch gesehen gehen diese kleinen Teenagerausflüge fast immer gut aus. Nur ein paar Prozent enden unerfreulich.« Korhonen sah Miia nachdrücklich an.
»Aber wenn sich der Fall ungünstig entwickelt, hab ich hier eine optimale Position. Ich bin mittendrin im Schulgeschehen und kann den Freundeskreis von Laura unter die Lupe nehmen«, widersprach Miia.
Korhonens Blick wurde weich. »Du arbeitest nicht mehr für uns.«
Auch wenn dieser Hinweis keine Überraschung für Miia war, er gefiel ihr nicht.
»Ja ja, lieber Korhonen. Ich bin jetzt Lehrerin.«
Korhonen hob seine Hand wie zu einer tröstenden Geste, ließ sie aber wieder fallen. »Ich sag ja nicht, dass es von Nachteil ist, dich hier in der Schule zu haben.«
»Aha. Du weißt, dass ich gut darin bin, Augen und Ohren offen zu halten.«
»Daran habe ich nie zu zweifeln gewagt.« Korhonen lächelte und ging zur Tür. »Allerdings glaube ich, dass der Fall schnell erledigt sein wird und es eine einfache Erklärung für Lauras Verschwinden gibt. Wir hören bestimmt bald von ihr. Oder man findet sie irgendwo am Strand ... Na ja, hoffen wir mal, dass sie lebendig zurückkehrt.«
Miia blieb allein im Zimmer. Mit einem Schlag war die Hitze wieder da. Als hätte Korhonens Anwesenheit das Zimmer angenehm runtergekühlt. Er trug seinen Trenchcoat sogar jetzt im Hochsommer. Korhonen war eben cool, im wahrsten Sinne des Wortes. Miia war es nicht. Gleich morgen würde sie sich einen Ventilator besorgen. Irgendwie gelang es ihr, die Sitzfläche ihres Bürostuhls wieder runtersausen zu lassen. Sie stand auf, holte von der Damentoilette auf dem Flur etwas Wasser und begoss die Pflanze auf ihrer Fensterbank – vielleicht geschah ja doch ein Wunder, und die von Nikke angepriesene Wiederbelebungsmaßnahme funktionierte. Dann nahm sie ihre Tasche, machte das Licht aus und ging.
Im Lehrerzimmer war niemand mehr zu sehen. Das Zimmer der Direktorin war leer. Auf dem Parkplatz stand mutterseelenallein Korhonens VW. Miia war oft genug mit ihrem ehemaligen Kollegen mitgefahren um zu wissen, dass es in seinem Auto aussah wie auf einer Müllkippe.
Auf dem Heimweg brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel, es gab kaum Schatteninseln. Miia krempelte sich die Jeans ein Stück hoch. Was gäbe sie um einen Tag am Strand. Und noch ein paar Tage Ferien. Morgen begann der Alltag, und sie fühlte sich alles andere als bereit dafür. Das gute Gefühl vom Morgen hatte sich komplett verflüchtigt. Ach, das ist nur Müdigkeit, sagte sie sich. Schließlich hatte sie wegen der Hitze schon mehrere Nächte schlecht geschlafen. Und der Tag heute war anstrengend gewesen; völlig anders, als sie erwartet hatte.
Am Morgen war sie zu sehr in Eile gewesen, um sich an den vertrauten Ecken ihrer Kindheit zu freuen. Auch jetzt konnte sie nicht gerade behaupten, von Nostalgie überwältigt zu werden, fand aber Palokaski trotzdem zu schön, um weiter deprimierenden Gedanken nachzuhängen. Endlich entspannte sie sich ein wenig. Als sie an einer Eisbude vorbeikam, gönnte sie sich zwei Kugeln Zitroneneis und setzte sich in den Schatten.
Palokaski war früher die Sommerfrische der Bürger Helsinkis gewesen. In den Sechzigerjahren verdrängten mehrstöckige Wohnhäuser und Einkaufszentren die Kühe von den Wiesen. Auf den Meergrundstücken durften nur hübsche Einfamilienhäuser gebaut werden. In den Siebzigerjahren zogen etliche junge Familien nach Palokaski, die sich nach frischer Luft und ausreichend Platz sehnten; unter ihnen auch die Pohjavirtas, Miias Eltern. Zuerst trugen sie ihre Umzugskisten in eins der Mehrfamilienhäuser. Später, als Miias Vater die Karriereleiter raufkletterte und eine Führungsposition bekam, waren sie alle fünf in ein eigenes Haus am Meer gezogen. Das Grundstück lag zwar nicht direkt am Wasser, aber von einer Ecke im Garten konnte man doch ein paar Wellen sehen.
Miia hegte bis heute warme Kindheitserinnerungen. Palokaski hatte etwas von einem Paradies gehabt, immer war jemand zum Spielen da, und die Umgebung hatte sich stets ihren Vorstellungen gefügt, war mal Fischerdorf, mal Ronja-Räubertochter-Zauberwald, mal Seeräuberschiff. Es gab genug Platz für ihre Höhlen, Kaufmannsläden und Schneeburgen, und Verstecke in Gebüschen und Felsspalten gab es mehr, als sie je nutzen konnten. Überall in der Nachbarschaft war man willkommen, und einen Grund zum Angsthaben lieferte höchstens die eigene Phantasie.
Als Miia mit dem Eis fertig war, machte sie einen Abstecher Richtung Supermarkt. Früher hatte es hier für alles einen Extraladen gegeben; Spielzeug, Papierwaren, Glas und Porzellan, Angelzubehör, Brot, Süßigkeiten, Blumen. Während der Rezession in den Neunzigerjahren gingen die kleinen Läden allesamt wie über Nacht ein. An ihre Stelle traten Billigbier-Kneipen und leerstehende Mieträume. Heute gab es nur noch einen Supermarkt und ein Bürgeramt. Hier bewegten sich mittlerweile ausschließlich sozial schwächere Leute; die Reicheren fuhren mit ihren Jeeps anderswo einkaufen. Eine Filiale der staatlichen Alkoholkette Alko wäre hier sicher gut angekommen, doch der nächste Alko befand sich in einem riesigen Shoppingcenter nahe der Autobahn. Nur ein kleiner Kiosk war noch am Leben.
Miia ging spontan zum Kiosk hinüber, dabei wollte sie gar nichts kaufen. Immerhin hatte er eine gute Klimaanlage. Sie wanderte am Zeitungsregal entlang und entdeckte den Namen Tiina Ojantaus auf dem Cover der Gloria. Wer interessierte sich bloß für diese reiche Tusse? Dann sah sie, dass der Aufmacher der Zeitschrift ›Neue Strategien bei ungewollter Kinderlosigkeit‹ lautete. Nikke und Suski mühten sich schon jahrelang ohne Erfolg ab. Miia beschloss, die Gloria für Suski zu kaufen.
Miias neues Zuhause, eine Zweizimmerwohnung in einem Reihenhaus, lag in dem ›Grenzland‹ genannten schmalen Gürtel, der vorwiegend von Mittelklasse-Bürgern bewohnt wurde. Als nach der Rezession die Einkommensschere weiter auseinanderging, entstanden am Meer immer prunkvollere Villen samt Alarmanlagen und hohen Mauern, während die Mehrfamilienhäuser aus den Siebzigerjahren nach einer Renovierung lechzten. Inzwischen konnte Palokaski leider als Negativbeispiel für diese Entwicklung herhalten. Und die Unterschiede spitzten sich immer weiter zu, da die Regel ›gleich und gleich gesellt sich gern‹ in Palokaski keine Ausnahme machte. Es war, als gäbe es zwei Palokaskis, ein armes und ein reiches. Dazwischen der schmale Streifen, den eine Mittelschicht bewohnte, die wenig Einfluss hatte auf die unaufhaltsame Entwicklung.
Zu Hause angekommen, beglückwünschte Miia sich dazu, dass sie am Morgen die Fenster offen gelassen hatte – wenigstens Durchzug. Schnell zerrte sie sich die verschwitzten Klamotten vom Leib und tauschte sie gegen eine Shorts und ein ärmelloses Top. Die Wohnung sah aus, als würde sie schon länger darin leben. Der Umzug von Helsinki nach Palokaski war ihr leichtgefallen, sie besaß wenig Möbel. Für die neue Wohnung hatte sie sich noch ein paar Stücke von Ikea geholt und die schwedischen Zusammenschraubtests erfolgreich bestanden. Die Kleidersäcke und Umzugskisten mit Büchern hatte sie mit Suskis Hilfe an einem einzigen Abend ausgepackt. Ihre neue Bleibe war gemütlich.
Miia öffnete den Kühlschrank. Leer. Die Gitterstäbe der Einlegeböden schienen mit der Kühlung mitzusurren, das Licht um Entschuldigung zu bitten. Warum hatte sie statt einer Zeitschrift nicht etwas zu Essen gekauft? Miia suchte kurz nach ihrem Handy, ging die Pizzerias von Palokaski durch und bestellte zwei große Thunfischpizzas und zwei Cola light.
Dann legte sie die Beine hoch, nahm ihren Laptop auf den Schoß und klappte ihn bewusst ruhig und konzentriert auf. Einmal täglich durfte sie Facebook und die anderen sozialen Medien checken. So hatte sie es mit sich selbst vereinbart. Ein kompletter Verzicht wäre zu radikal gewesen, wahrscheinlich sogar unmöglich. Einmal am Tag, das musste sein. Ihre Abhängigkeit hatte sie sich inzwischen eingestanden.
Sie schaute kurz in ihr E-Mail-Postfach und loggte sich dann bei Facebook ein, überflog die Timeline und stellte fest, dass sich bei keinem ihrer Freunde Wichtiges getan hatte. Die Urlaubsfotos wirkten schon beinahe veraltet; Miia hatte keine Lust, sich durch die Fülle von Sonnenuntergängen und See-Ansichten zu klicken. Nein, hier verpasst sie nichts, und das fühlte sich gut an. Auch ohne ständig ihr Handy zu checken, war ihr nichts entgangen.
Die rote Figur links oben zeigte an, dass sechs neue Freundschaftsanfragen auf Miia warteten. Zwei kamen von Kollegen an der Schule, die restlichen vier von Schülern. Miia kannte niemanden, akzeptierte aber alle. Schon von Berufs wegen hatte sie mehrere Tausend ›Freunde‹, die sie nicht persönlich kannte. Sie hatte schon öfter überlegt, sich für die echten Freunde einen Account unter anderem Namen zuzulegen, dies aber noch nicht in die Tat umgesetzt.
Miia schrieb ein kurzes Status-Update: Palokaski, mon amour! Zurück im Zentrum der Welt! Der erste Arbeitstag ist geschafft – aber ich bin nicht geschafft ;-) Nach wenigen Sekunden hatte sie ein paar Likes. Wenn sie nachher den PC ausschaltete, stünde ihr das Schwerste bevor: erst morgen wieder nachzuschauen, ob sie weitere Likes oder Kommentare erhalten hatte.
Jetzt las Miia die Nachrichten; es waren ziemlich viele. Der Großteil stammte von Freunden und Bekannten, aber ein paar kamen auch von Wildfremden und bezogen sich auf ihre alte Arbeit. Solche Anfragen würden noch eine ganze Weile eintrudeln.
Miia las zerstreut, ihre Augenlider wurden schwer. Sie war müde und hungrig. Wo blieb der Pizzabote? Sie wollte gerade den Laptop runterfahren, als ihr eine neue Nachricht ins Auge stach. Absender: Johanna Malkamäki. Auch das ein unbekannter Name. Johanna schrieb, dass sie mit Miia über Laura Anderson sprechen wollte. Miia klickte sich auf Johannas Facebookseite. Johanna war Schülerin am Gymnasium Palokaski und hatte zuletzt am Samstag etwas Neues auf ihrer Seite geschrieben – an dem Tag, an dem Laura verschwunden war. Miia durchsuchte Johannas Freundesliste nach Laura, um sich auf deren Seite umzusehen, doch das ging nur, wenn man zu Lauras Freunden zählte.
Gerade als Miia eine Antwort an Johanna schreiben wollte, klingelte es. Der Lieferservice. Endlich was zu essen. Für die zwei Riesenpizzas würde sie nicht lange brauchen.
Als sie die Tür öffnete, hörte sie von irgendwoher ein lautes Rattern und Dröhnen. Ein Hubschrauber mit dem orangefarbenen Streifen des Grenzschutzes flog dicht über die Tannen und kam auf ihr Reihenhaus zu. Miia spürte das Dröhnen tief in der Brust. Der Hubschrauber flog über sie hinweg und schwenkte Richtung Meer. Auch wenn der Lärm verebbte, blieb ein bedrückendes Gefühl zurück.
»Du isst mal wieder ziemlich laut.«
Nikke blickte erst zu Suski, die ihm gegenübersaß, dann auf sein Toastbrot.
»Sorry.«
Suski verdrehte genervt die Augen und wandte sich wieder den neuesten Nachrichten in der Helsingin Sanomat zu.
Nikke überlegte. Musste ein Fazer-Toastbrot in Eins-a-Qualität nicht ordentlich knuspern und krachen? Und durfte man bei einem fruchtigen Apfelsinensaft von Valio oder dem Kaffee von Paulig nicht auch mal schlürfen? Er hielt es dennoch für klüger, den Rest seines Toasts so leise wie möglich zu essen.
Dann stand er auf, wischte die Krümel vom Artek-Tisch auf den Teller aus Keramik und ging zur Geschirrspülmaschine.