Richard Powers
Das Echo der Erinnerung
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié
und Gabriele Kempf-Allié
FISCHER E-Books
Wie kaum ein anderer ist Richard Powers der Gegenwart auf der Spur: Das Wissen unserer Zeit will er in Geschichten erfahrbar, die Verwerfungen emotional erlebbar machen. Er wurde 1957 geboren und lebt in den USA. Auf sein Romandebüt ›Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz‹ (1985) erschienen neun weitere Romane. Sie wurden Bestseller wie ›Der Klang der Zeit‹ und mehrfach preisgekrönt. 2006 erhielt er den National Book Award für ›Das Echo der Erinnerung‹, es folgte ›Das größere Glück‹. In der Reportage ›Das Buch Ich #9‹ beschreibt Richard Powers den Prozess, als neunter Mensch überhaupt sein Genom vollständig entschlüsseln zu lassen.
Manfred Allié, geboren 1955 in Marburg, studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft und übersetzt seit über dreißig Jahren Literatur. 2006 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. Neben Werken von Jane Austen, Joseph Conrad, Raymond Carver und Ralph Ellison und den Reisebeschreibungen von Patrick Leigh Fermor übertrug er unter anderem Romane von Richard Powers, Yann Martel, Reif Larsen und Patricia Highsmith.
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»Eine halbe Million Kraniche auf einem tausend Meilen langen Zug entlang einer Route, die sie von ihren Eltern erlernt hatten. Pünktlich wie ein Uhrwerk kamen sie jedes Frühjahr zu diesem winzigen Flecken des Flusses. Der Anblick war unglaublich und die Vorstellung davon verwegen. Das schien mir wie der Beginn zu einer Geschichte.«
Richard Powers
Kearney ist die geographische Mitte der USA - und die Mitte von Nirgendwo. In einer Winternacht überschlägt sich Mark mit dem Auto. Als er wieder ins Leben zurückfindet, hält er seine Schwester Karin für eine feindliche Doppelgängerin. Sie hingegen versucht alles, um ihm ein normales Leben zu ermöglichen.
Auf einer bewegenden Reise in das Innerste einer Familie macht uns Richard Powers mit dem größten Geschichtenerzähler bekannt: unserer Erinnerung. Sie schafft das Echo unseres Lebens, das uns trägt, umfängt und bisweilen grausam täuscht.
»Wir wüssten in der gegenwärtigen jungen europäischen Literatur schon Franzen und Eugenides nur wenige an die Seite zu stellen. Aber Powers geht über beide noch ein gutes Stück hinaus.«
Andreas Isenschmid, Neue Zürcher Zeitung
»Eines der eindringlichsten Bücher des Jahres.«
Birte Plöger, ELLE
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
›The Echo Maker‹ bei Farrar, Straus & Giroux, New York
© 2006 by Richard Powers
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2006 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Carl-Albrecht von Treuenfels
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403703-5
»Wer seine Seele finden will,
muss sie zuerst verlieren.« –
A. R. Lurija
In Wahrheit sind wir allesamt potenzielle Fossilien und tragen noch die Unfertigkeit in uns, die Roheit vergangener Daseinsformen. Die Merkmale einer Welt, in der lebendige Geschöpfe durch ihre Zeit trieben, von kaum größerer Stofflichkeit als der von Wolken.
Loren Eiseley, The Immense Journey (Die ungeheure Reise)
Kraniche landen in der Dämmerung. Sie schweben in lockeren Ketten vom Himmel. Zu Dutzenden streben sie aus allen Richtungen herbei und sinken mit der Dunkelheit herab. Hunderte von Grus canadensis rasten an dem noch halb gefrorenen Fluss. Sie sammeln sich auf den Inseln im seichten Wasser, wo sie grasen und unter Flügelschlagen ihre Trompetenrufe ertönen lassen: die Vorhut einer gewaltigen Wanderung. Von Minute zu Minute werden es mehr, und die Luft färbt sich rot von ihren Schreien.
Ein Hals reckt sich lang, die Beine baumeln herab. Flügel wölben sich nach vorn, ihre Spannweite so groß wie ein Mensch. Die Schwungfedern wie Finger gespreizt, legt er sich schräg in den Wind. Der blutrote Kopf macht eine Verbeugung, und die Flügel berühren sich – ein lang gewandeter Priester spendet den Segen. Die Schwanzfedern richten sich auf, und der Leib sackt nach unten, dem plötzlich näher kommenden Boden entgegen. Beine strampeln; mit den nach hinten abgewinkelten Knien sehen sie aus wie das gebrochene Fahrgestell eines Flugzeugs. Ein weiterer Vogel im Sinkflug findet strauchelnd einen Platz auf der dicht bevölkerten Landebahn an diesem wenige Meilen langen Ufer, wo der Fluss noch sauber und breit genug ist, dass er ihnen Sicherheit bietet.
Die Dunkelheit kommt früh, und so wird es noch einige Wochen lang bleiben. Der Himmel, eisblau hinter den Wipfeln der Weiden und Pappeln, flammt für kurze Zeit rosenrot auf, dann verglüht er zu Indigo. Ende Februar am Platte River; der kalte Nachtdunst hängt über dem Fluss und überzieht die Stoppelfelder des vergangenen Herbsts mit weißem Raureif. Die aufgeregten Vögel, groß wie Kinder, stehen dicht gedrängt, Flügel an Flügel, an diesem Abschnitt des Flusses, den die Erinnerung sie zu finden gelehrt hat.
Wie seit Urzeiten versammeln sie sich zum Ende des Winters hier am Ufer, bedecken wie ein Teppich das Sumpfland. In diesem Licht erinnern sie fast noch an Saurier: die ältesten Flugtiere der Erde, nur einen zaghaften Schritt entfernt vom Pterodaktylus. Als es endgültig dunkel wird, ist es wieder eine Welt der Anfänge, der gleiche Abend wie damals, als vor sechzig Millionen Jahren diese Wanderung begann.
Eine halbe Million Vögel – vier Fünftel aller Kanadakraniche auf der Erde – versammeln sich an diesem Fluss. Sie folgen dem Central Flyway, der Zugroute, die sich einer riesigen Eieruhr gleich über den gesamten Kontinent legt. Sie kommen aus Neumexiko, Texas und Mexiko, legen Tag für Tag Hunderte von Meilen zurück und haben noch Tausende vor sich, ehe sie ihre in der Erinnerung eingeprägten Nistplätze erreichen. Für einige Wochen beherbergt dieser Flussabschnitt den meilenlangen Vogelschwarm. Doch wenn der Frühling beginnt, erheben sie sich in die Lüfte und verschwinden, folgen ihrem inneren Kompass bis hinauf nach Saskatchewan, Alaska oder noch darüber hinaus.
Dieser Flug steht außerhalb der Zeit. Etwas lässt diese Vögel einer Route folgen, die schon Jahrhunderte alt war, als sie sie von ihren Eltern erlernten. Und jeder Kranich erinnert sich an den Weg, der noch in der Zukunft liegt.
Auch heute Abend kreisen sie wieder über dem verzweigten Wasserlauf. Noch für eine Stunde ertönen ihre Rufe, bis der Himmel sich leert. Die Vögel schlagen nervös mit den Flügeln, unruhig von der Wanderung. Einige zupfen bereifte Halme aus dem Boden und schleudern sie in die Luft. Sie sind so gereizt, dass sie anfangen zu kämpfen. Doch schließlich kommen sie zur Ruhe und schlafen, auf einem Bein stehend und immer noch wachsam, die meisten im Wasser, einige wenige weiter oben auf den Stoppelfeldern.
Quietschende Bremsen, das Kreischen von Metall auf Asphalt, ein erstickter Schrei, dann ein zweiter wecken den Schwarm. Der Truck fliegt im hohen Bogen durch die Luft und bohrt sich in das Feld. Ein Schwall von Erde prasselt auf die Vögel nieder. Sie schrecken auf und schlagen mit den Flügeln. Der Teppich erhebt sich verstört in die Lüfte, kreist über dem Fluss und landet wieder. Schreie wie von Kreaturen, scheinbar doppelt so groß wie sie, sind meilenweit zu hören, doch schließlich verhallen sie.
Als der Morgen anbricht, hat es diese Laute nie gegeben. Wieder herrscht nur das Hier und Jetzt, das geflochtene Band des Flusses, ein Festmahl aus verstreuten Körnern, das diese Vögel nach Norden tragen wird, bis über den Polarkreis hinaus. Beim ersten Lichtstrahl erwachen die lebenden Fossilien wieder zum Leben, noch unsicher auf den Beinen schmecken sie die frostige Luft, springen in die Höhe, die Schnäbel gen Himmel gereckt, die Kehle weit aufgerissen. Und als hätte die Nacht nichts genommen, vergessen die Kraniche alles außer diesem Moment in der Morgendämmerung und beginnen zu tanzen. Einen Tanz, der älter ist als der Fluss.
Ihr Bruder brauchte sie. Der Gedanke rettete Karin in dieser feindlichen Nacht. Sie fuhr wie in Trance in einem weiten Bogen, vom Siouxland erst südwärts auf dem Nebraska-Highway 77, dann in Richtung Westen auf der Nummer 30, die dem Verlauf des Platte River folgt. Die direkte Route über kleinere Straßen war in ihrem Zustand unmöglich. Immer noch verstört von dem Anruf um zwei Uhr morgens, der sie wie ein Messerstich getroffen hatte: Karin Schluter? Hier ist das Samariter-Hospital in Kearney. Ihr Bruder hatte einen Unfall.
Mehr wollte der Pfleger am Telefon nicht sagen. Nur dass Mark auf der North Line Road von der Straße abgekommen und, im Führerhaus eingeklemmt, fast erfroren wäre, bis die Sanitäter eintrafen und ihn befreiten. Nach dem Auflegen konnte sie lange Zeit ihre Finger nicht spüren, bis sie merkte, dass sie sie gegen die Wangen presste. Ihr Gesicht war taub, so als hätte sie selbst da draußen gelegen, in der eiskalten Februarnacht.
Mit steifen, blau angelaufenen Händen umklammerte sie das Steuer und schlitterte durch die Reservate. Erst das Winnebago-Reservat, dann das Hügelland der Omaha. Die Bäume am Rand der holprigen Straße duckten sich unter der Last des Schnees. Winnebago Junction, das Powwow-Areal, das Stammesgericht und die freiwillige Feuerwehr, die Tankstelle, wo sie ihr steuerfreies Benzin kaufte, das handgemalte Holzschild mit der Aufschrift »Indianisches Kunsthandwerk«, die Highschool, die sich Home of the Indians nannte und wo sie freiwillig unterrichtet hatte, vor ihrer verzweifelten Flucht: all das schien ihr abweisend und feindselig. Auf dem langen, leeren Stück östlich von Rosalie stapfte ein einzelner Mann, so alt wie ihr Bruder, in einem viel zu dünnen Mantel und einer Baseballmütze durch die Schneewehen am Straßenrand. Er drehte sich um und sah sie mürrisch an, als sie vorüberfuhr, als wolle er den Eindringling vertreiben.
Die Mittellinie – eine Wundnaht auf dunklem Asphalt – sog sie hinab in die verschneite Finsternis. Es war unbegreiflich: Ein routinierter Fahrer wie Mark war von einer schnurgeraden Landstraße abgekommen, die er wie seine Westentasche kannte. Wie konnte man mitten in Nebraska von der Straße abkommen? Das war gerade so, als würde man von einem Schaukelpferd abgeworfen. Sie dachte an das Datum: 20.2.02. Hatte es eine Bedeutung? Sie schlug mit der flachen Hand auf das Steuer, und der Wagen schlingerte. Ihr Bruder hatte einen Unfall. Genau genommen nahm er schon seit langem jede falsche Abzweigung, die man im Leben nur nehmen konnte, und stets aus der falschen Richtung. Anrufe zu den unmöglichsten Zeiten, soweit sie überhaupt zurückdenken konnte. Aber nie so einer.
Sie schaltete das Radio an, um nicht einzuschlafen, und landete bei einer schwachsinnigen Sendung mit Höreranrufen zu der Frage, wie man seine Haustiere am besten vor terroristischen Giftanschlägen auf das Wasser schützen könne. In der Dunkelheit krochen die knisternden Stimmen in sie hinein und flüsterten ihr zu: Du bist allein auf einer einsamen Straße, nur eine halbe Meile von deinem eigenen Verhängnis.
Was für ein warmherziges Kind Mark gewesen war, wie rührend er sich um seine Regenwurmklinik gekümmert hatte, wie er seine Spielsachen verkauft hatte, um die Farm zu retten, wie er sich als Achtjähriger zwischen ihre Eltern geworfen hatte, in jener entsetzlichen Nacht vor neunzehn Jahren, als Cappy mit einem Stück Stromkabel auf Joan losgegangen war. Das war das Bild, das sie von ihm hatte, nun wo sie unaufhaltsam in die Finsternis stürzte. Das war die Wurzel all seines Missgeschicks: Er nahm zu viel Anteil.
Hinter Grand Island, zweihundert Meilen von Sioux entfernt, sah sie den Platte River in der pfirsichfarbenen Dämmerung. Die ersten Strahlen der Morgensonne blitzten auf den schlammbraunen Fluten, und das beruhigte sie. Dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit, tanzende, perlweiße Wellen mit roten Schaumkronen. Selbst sie glaubte anfangs, die Fahrt auf dem Highway hätte sie hypnotisiert. Ein Teppich aus riesigen Vögeln erstreckte sich bis zu den Baumreihen in der Ferne. Sie hatte sie in jedem Frühjahr gesehen, seit mehr als dreißig Jahren, und doch hätte sie bei dem Anblick beinahe das Steuer herumgerissen und wäre dem Beispiel ihres Bruders gefolgt.
Er hatte gewartet, bis die Vögel zurückkamen. Schon im Oktober, als sie auf dem gleichen Weg zur Beerdigung ihrer Mutter gefahren war, war er in einem desolaten Zustand. Damals war er mit seinen Kumpels aus der Fleischfabrik in den neunten Kreis der Nintendohölle hinabgestiegen und hatte zum flüssigen Frühstück das erste Sechserpack Bier angebrochen, um dann in volltrunkenem Zustand zur Schicht zu fahren. Lieb gewonnene Traditionen, Rabbit; bin ich der Familienehre schuldig. Damals hatte sie nicht die Kraft, ihm gut zuzureden. Er hätte ohnehin nicht auf sie gehört, selbst wenn sie es versucht hätte. Aber er hatte den Winter überstanden, hatte sich sogar ein wenig aufgerafft. Und jetzt das.
Vor ihr tauchte Kearney auf: die weitläufigen Randbezirke, das neue Einkaufszentrum am Stadtrand, die schmierigen Schnellrestaurants an der Second Street, die alte Hauptstraße. Die ganze Stadt kam ihr plötzlich vor wie eine überdimensionale Raststätte an der Interstate 80. Der vertraute Anblick erfüllte sie mit einer seltsam unpassenden Ruhe. Zuhause.
Sie fand das Krankenhaus so wie die Vögel den Platte River. Sie sprach mit dem Unfallchirurgen und bemühte sich nach Kräften, ihn zu verstehen. Er sagte mehrfach ziemlich ernst, stabil und Glück gehabt. Er sah jung aus, so jung, dass er ohne weiteres früher am Abend mit Mark gefeiert haben könnte. Sie hätte am liebsten gefragt, ob sie sein Diplom von der medizinischen Hochschule sehen könne. Stattdessen erkundigte sie sich, was genau er mit »ziemlich ernst« meine, und nickte höflich zu seiner unverständlichen Antwort. Sie fragte nach der Bedeutung von »Glück«, und der Unfallchirurg erwiderte: »Glück, dass er noch am Leben ist.«
Die Feuerwehr hatte ihn mit einem Schweißbrenner aus dem Führerhaus geschnitten. Er hätte womöglich die ganze Nacht direkt neben der Landstraße in seinem Sarg gelegen und wäre, durch die Windschutzscheibe gepresst, erfroren oder verblutet, wenn es nicht einen anonymen Anruf von einer Tankstelle am Stadtrand gegeben hätte.
Sie ließen sie zu ihm. Eine Schwester wollte sie auf den Anblick vorbereiten, aber sie hörte nicht zu. Sie stand vor einem Nest aus Kabeln und Monitoren. Auf dem Bett lag ein weiß bandagiertes Bündel. Ein Gesicht schwamm in dem Schlauchgewirr, geschwollen und in allen Regenbogenfarben, über und über mit Schürfwunden bedeckt. In seinen zerschundenen Lippen und Wangen steckten noch Glaskörner. An einer Stelle hatte man ihm das verfilzte Haar abrasiert, und aus der kahl rasierten Kopfhaut sprossen Drähte. Die Stirn sah aus, als hätte er damit auf einem glühenden Grillrost gelegen. Ihr Bruder, im dünnen taubenblauen Krankenhausnachthemd, rang nach Luft.
Sie hörte sich wie von ferne seinen Namen rufen. »Mark?« Er öffnete die Augen, harte Plastikaugen, wie die Puppenaugen ihrer Kindheit. Nichts rührte sich, nicht einmal die Lider. Nichts, bis er lautlos pumpend die Lippen bewegte. Sie beugte sich vor zwischen Apparate und Schläuche. Durch das Surren der Monitore hörte sie ein Zischen aus seinen Lippen. Ein Windhauch in einem reifen Weizenfeld.
Sein Gesicht zeigte Zeichen des Erkennens. Aber aus seinem Mund kam nichts als ein dünner Speichelfaden. Die Augen flehten angsterfüllt. Er wollte etwas von ihr, Leben oder Tod. »Alles in Ordnung; ich bin da«, sagte sie. Doch ihr Versuch, ihn zu beschwichtigen, verschlechterte seinen Zustand nur noch weiter. Er wurde unruhig, und genau das hatten die Schwestern verboten. Sie wandte den Blick ab und sah irgendwohin, nur nicht in seine Tieraugen. Das Zimmer brannte sich tief in ihre Erinnerung ein: der geschlossene Vorhang, die beiden Wagen mit bedrohlich aussehenden elektronischen Geräten, die limonadengelbe Wand, der Rolltisch neben seinem Bett.
Sie unternahm einen neuen Versuch. »Markie, ich bin’s, Karin. Alles wird gut.« Indem sie es aussprach, schuf sie eine Art Wahrheit. Ein Stöhnen drang über seine versiegelten Lippen. Seine Hand, an der ein Infusionsschlauch baumelte, hob sich und packte sie am Handgelenk. Diese Zielsicherheit erstaunte sie. Der Griff war kraftlos und dennoch unentrinnbar, und er zog sie hinunter in das Labyrinth aus Schläuchen. Seine Finger flatterten wild, als könne sie in diesem Bruchteil einer Sekunde verhindern, dass sein Wagen die Böschung hinunterstürzte.
Die Schwester schickte sie nach draußen. Karin Schluter saß im Wartezimmer der Unfallstation, einem gläsernen Terrarium am Ende eines langen Korridors, wo es nach Desinfektionsmitteln, Angst und uralten medizinischen Zeitschriften roch. Farmer und Farmersfrauen in dunklen Sweatshirts und Overalls saßen mit gesenkten Köpfen neben ihr auf den ringsum aufgereihten orangefarbenen Polsterstühlen. Sie sah sie taxierend an: Vater mit Herzinfarkt, Ehemann mit Jagdunfall, Kind mit Überdosis. Auf dem Fernsehbildschirm in der Ecke flimmerten tonlose Bilder von einer kahlen Berglandschaft mit versprengten Guerillakämpfern. Afghanistan, Winter 2002. Nach einer Weile entdeckte sie einen Blutstropfen an ihrem rechten Zeigefinger, wo sie die Nagelhaut durchgebissen hatte. Sie merkte, wie sie aufstand, die Toilette ansteuerte und sich dort übergab.
Später aß sie etwas Warmes, Klebriges aus der Krankenhauskantine. Irgendwann fand sie sich in einem jener halbfertigen Betontreppenhäuser, die man eigentlich nur zu Gesicht bekommt, wenn das Gebäude in Flammen steht, und telefonierte mit Sioux City, mit der großen Firma für Computer und Heimelektronik, wo sie in der Kundenbetreuung arbeitete. Sie stand da und strich den zerknitterten Bouclérock glatt, als könnte ihr Abteilungsleiter sie durch die Leitung hindurch sehen. Sie erzählte ihm so vage wie möglich von dem Unfall. Ein bemerkenswert nüchterner Bericht: dreißig Jahre Routine im Vertuschen von Familiengeheimnissen. Sie bat um zwei Tage Urlaub. Er bot ihr drei. Zuerst wollte sie protestieren, dann nahm sie dankbar an.
Wieder zurück im Wartezimmer sah sie acht Männer mittleren Alters in Flanellhemden; sie standen im Kreis und starrten auf den Fußboden. Ein Raunen drang aus ihrer Mitte, Wind, der an den Fliegenfenstern eines einsamen Farmhauses rüttelt. Das Murmeln schwoll in Wellen an und ab. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie es einordnen konnte: ein Gebetszirkel; sie beteten für ein anderes Opfer, das unmittelbar nach Mark eingeliefert worden war. Ein improvisierter Gottesdienst der Pfingstler, der das übernahm, was Skalpelle, Medikamente und Laser nicht zu leisten vermochten. Die Gabe der Zungenrede kam über den Kreis von Männern, es klang wie das Stimmengewirr bei einem Familientreffen. Zuhause: der Ort, dem man niemals entrinnt, nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen.
Stabil. Glück. Diese Wörter hielten Karin aufrecht bis zum Mittag. Doch als der Unfallchirurg das nächste Mal mit ihr sprach, hörte es sich anders an: zerebrales Ödem. Etwas hatte den Druck im Schädel ihres Bruders in die Höhe getrieben. Die Krankenschwestern versuchten, seinen Körper zu kühlen. Der Arzt sprach von einem Ventilator und ventrikulärer Drainage. Keine Rede mehr von Glück und Stabilität.
Als sie Mark das nächste Mal sehen durfte, erkannte sie ihn nicht mehr. Die Person, zu der man sie diesmal brachte, lag im Koma, das eingefallene Gesicht eines Fremden. Seine Augen öffneten sich nicht, als sie seinen Namen rief. Seine Arme hingen reglos, selbst wenn sie sie drückte.
Krankenhausangestellte kamen und redeten auf sie ein. Sie behandelten sie, als hätte sie einen Hirnschaden. Sie versuchte etwas aus ihnen herauszubekommen. Marks Blutalkoholwert hatte knapp unter dem Grenzwert für Nebraska gelegen – drei oder vier Bier in den Stunden, bevor er im Graben gelandet war. Sonst keine auffälligen Werte. Der Truck war nicht mehr zu retten.
Zwei Polizisten nahmen sie auf dem Flur beiseite und stellten ihr Fragen. Sie sagte ihnen, was sie wusste, nämlich nichts. Eine Stunde später überlegte sie, ob das Gespräch nur in ihrer Einbildung stattgefunden hatte. Später am Nachmittag setzte sich ein fünfzigjähriger Mann im blauen Arbeitshemd im Wartezimmer neben sie. Sie zwang sich, ihn anzusehen und zu lächeln. Unmöglich, selbst hier in dieser Stadt: ein Kundenbetreuerlächeln im Wartezimmer der Unfallstation.
»Sie sollten sich einen Anwalt nehmen«, sagte der Mann.
Sie blickte wieder zu ihm hin und schüttelte den Kopf. Schlafentzug.
»Sie gehören doch zu dem Burschen, der seinen Truck zu Schrott gefahren hat? Ich hab’s im Telegraph gelesen. Sie sollten sich wirklich einen Anwalt nehmen.«
Sie schüttelte noch einmal den Kopf. »Sind Sie Anwalt?«
Der Mann sträubte sich. »Gott bewahre. Nur ein Rat unter Freunden.«
Sie suchte nach der Zeitung und las den knappen Unfallbericht immer wieder, bis er ihr vor den Augen verschwamm. Sie saß in dem Glaskasten, so lange sie konnte, dann wanderte sie durch die Gänge der Station und setzte sich wieder. Stündlich flehte sie die Schwestern an, sie zu ihm zu lassen. Jedes Mal wurde ihre Bitte abgeschlagen. Hin und wieder döste sie auf ihrem aprikotfarbenen Plastikstuhl für fünf Minuten ein. Mark erschien in ihren Träumen, wie Büffelgras nach einem Präriefeuer. Ein Kind, das aus Mitleid immer die schlechtesten Spieler in seine Mannschaft wählte. Ein Erwachsener, der nur anrief, wenn er vom Alkohol in rührseliger Stimmung war. Ihre Augen brannten und ihr Mund war trocken und geschwollen. Sie musterte sich im Spiegel auf der Toilette: verquollen und schwankend, die roten Haare ein zerzauster Perlenvorhang. Aber trotz allem immer noch ansehnlich.
»Sein Zustand hat sich verschlechtert«, erklärte der Arzt. Er sprach von B-Wellen und Quecksilbersäulen, Gehirnlappen und Hirnkammern und Hämatomen. Schließlich verstand Karin, was er meinte. Mark musste operiert werden.
Sie schnitten ihm die Luftröhre auf und trieben einen Bolzen in seinen Schädel. Die Krankenschwestern antworteten nicht mehr auf Karins Fragen. Stunden später bat sie mit ihrer besten Kundenbetreuerstimme erneut darum, dass sie ihn sehen dürfe. Sie sagten, er sei zu geschwächt von dem Eingriff. Die Schwestern boten an, ihr etwas zu geben, und Karin brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie Beruhigungsmittel meinten.
»Nein, danke«, sagte sie. »Mit geht es gut.«
»Gehen Sie eine Weile nach Hause«, sagte der Unfallchirurg. »Ärztliche Anweisung. Sie brauchen Ruhe.«
»Andere schlafen auch auf dem Boden im Wartezimmer. Ich kann einen Schlafsack holen und wiederkommen.«
»Im Augenblick können Sie nichts tun«, versicherte ihr der Arzt. Aber das war nicht möglich; nicht in der Welt, aus der sie kam.
Sie versprach sich auszuruhen, wenn sie sie vorher zu Mark ließen, nur für einen Augenblick. Sie stimmten zu. Seine Augen waren noch immer geschlossen, und er reagierte auf nichts.
Dann sah sie den Zettel. Er lag auf dem Nachttisch. Keiner konnte ihr sagen, wie er dorthin gekommen war. Ein Bote war unbemerkt ins Zimmer geschlüpft, als Karin vor der Tür warten musste. Die Schrift war dünn und krakelig: die Schrift eines Einwanderers aus dem vorigen Jahrhundert.
Ich bin Niemand aber
Heute Nacht auf der North Line Road
Führte GOTT mich zu dir
damit Du Leben kannst
und jemand anderen zurückholen.
Ein Schwarm von flammenden Vögeln. Sterne stürzen herab wie Geschosse. Glutrote Punkte werden Fleisch, nisten sich ein, Körperteil, Körper nur zum Teil.
Es dauert eine Ewigkeit: nichts, was man messen kann.
Ein Schwarm von glühenden Schlacken. Wenn der graue Schmerz sich lichtet, bleibt nur noch Wasser, immer. Flach und endlos, träger als jede Flüssigkeit. Am Ende nichts als ein zeitloses Fließen, niederstes Dasein, unergründlich. Ein Etwas, die Kälte selbst, kann sie nicht spüren.
Der Körper, ein seichtes Gewässer, fällt pro Meile um einen Zoll. Ein Torso so lang wie die Welt. Vereist von Anfang bis Ende. Große Schleifen, vom Alter gekrümmt, schleppende, lang gezogene Mäander halten den Strom so lange wie möglich auf und zögern den einen langen Absturz hinaus, den er doch bereits vollzieht.
Nicht einmal ein Fluss, nicht einmal nass, braun, träge, westwärts, kein Jetzt oder Später, nur dann und wann steigend. Ein Gesicht taucht auf, ein tonloser Schrei. Eine weiße Säule, lichtumflutet. Dann schallendes, nacktes Entsetzen in der Luft, ein Flattern und Fallen, überallhin, nur nicht ins Ziel.
Ein wortloser Laut sagt dennoch: Komm. Komm mit. Versuch’s mit dem Tod.
Am Ende nur noch Wasser. Seichtes Wasser breitet sich überall aus. Wasser, das Nichts ist und doch ins Nichts stürzt.
Sie nahm sich ein Zimmer in einem der Motels für Kranichtouristen direkt an der Interstate. Es sah aus, als sei es gerade von der Ladefläche eines Lastwagens gekippt. Das Zimmer war sündhaft teuer. Aber es war nah am Krankenhaus, und das allein zählte. Sie blieb eine Nacht, danach musste sie sich eine andere Bleibe suchen. Als unmittelbare Verwandte hätte sie im Gästehaus des Hospitals wohnen können, einer Unterkunft, die teils mit dem Kleingeld aus den Taschen des weltweit größten Fastfood-Riesen finanziert wurde. Das Clownshaus hatten sie und Mark es getauft, damals vor vier Jahren, als ihr Vater unheilbar an Schlaflosigkeit litt. Der Mann war erst nach vierzig Tagen gestorben, und am Ende, als er schließlich einwilligte, ins Krankenhaus zu gehen, übernachtete ihre Mutter manchmal im Clownshaus, um in seiner Nähe zu sein. Karin konnte den Gedanken daran nicht ertragen, nicht jetzt. Lieber fuhr sie zu Marks Haus, auch wenn es eine halbe Stunde entfernt lag.
Sie machte sich auf den Weg nach Farview, wo Mark nur Monate nach dem Tod ihres Vaters von seinem Anteil aus dem spärlichen Erbe ein Fertighaus gekauft hatte. Sie verfuhr sich und musste den Walter-Brennan-Darsteller an der Texaco-Tankstelle nach dem Weg zur Siedlung River Run fragen. Typisch. Sie hatte nie gewollt, dass Mark dorthin zog. Aber nach Cappys Tod hörte Mark auf niemanden.
Schließlich fand sie das Homestar-Haus, Marks ganzen Stolz. Er hatte es gekauft, ein Jahr nachdem er als Wartungs- und Reparaturtechniker bei der Fleischwarenfabrik in Lexington angefangen hatte. An dem Tag, an dem er den Scheck für die Anzahlung ausstellte, lief Mark durch die Stadt und feierte, als hätte er sich gerade verlobt.
Ein frischer Hundehaufen erwartete sie gleich hinter der Haustür. Blackie kauerte in der Wohnzimmerecke und winselte schuldbewusst. Karin ließ die arme Hündin nach draußen und fütterte sie. In dem handtuchgroßen Garten fing der Border Collie, Hütehund, der er war, sofort an, alles zusammenzutreiben – Eichhörnchen, Schneeflocken, Zaunpfähle –, nur um den Menschen zu zeigen, dass er ihrer Liebe nach wie vor wert war.
Die Heizung war aus. Allein die Tatsache, dass Mark grundsätzlich nie einen Wasserhahn ganz zudrehte, hatte verhindert, dass die Leitungen platzten. Sie beförderte den Kothaufen in den frostigen Garten. Die Hündin pirschte sich heran, bereit, mit ihr Freundschaft zu schließen, aber erst, wenn sie wusste, wo Mark geblieben war. Karin setzte sich auf die Treppe und drückte das Gesicht an das eiskalte Geländer.
Fröstelnd kehrte sie zurück ins Haus. Wenigstens hier konnte sie alles für ihn in Ordnung bringen, den seit Wochen überfälligen Putz erledigen. In dem Raum, den ihr Bruder als »Familienzimmer« bezeichnete, ordnete sie die Magazine für Liebhaber von Lastwagen und nacktem Fleisch zu fein säuberlichen Stapeln. Sie sammelte umherliegende CDs ein und verstaute sie hinter der getäfelten Bar, die Mark – mit mäßigem Erfolg – selbst eingebaut hatte. Im Schlafzimmer hatte sich ein Poster mit einem Mädchen im schwarzen Lederbikini, das sich auf der Motorhaube eines Lastwagens räkelte, halb von der Wand gelöst. Angewidert riss sie es herunter. Erst als sie die Fetzen in Händen hielt, begriff sie, was sie getan hatte. Sie holte einen Hammer aus der Abstellkammer und versuchte, das Poster wieder aufzuhängen, aber es war zu stark beschädigt. Sie warf es in den Mülleimer und verfluchte sich dafür.
Das Badezimmer hatte etwas von einem Chemieexperiment in der Highschool. Mark besaß keinerlei Putzmittel außer Rohrreiniger und Seife mit Lederaroma. Sie suchte in der Küche nach Essig oder Ammoniak, aber das Aggressivste, was sie dort fand, war Old Style-Bier. Unter der Spüle entdeckte sie in einem Eimer mit Putzlappen eine Dose Scheuerpulver, in der es beim Anheben seltsam polterte. Sie drehte den Deckel, und er sprang auf. In der Dose war ein Röhrchen mit Pillen.
Sie hockte sich auf den Küchenfußboden und weinte. Vielleicht sollte sie doch lieber zurück nach Sioux City fahren, den Schaden so gering wie möglich halten und wieder ihr eigenes Leben leben. Sie nahm die Tabletten in die Hand und ließ sie durch die Finger gleiten. Puppenküchenutensilien und Miniatursportgeräte: weiße Tellerchen, rote Hanteln, winzige violette Untertassen mit unleserlichen Aufschriften. Vor wem versteckte er sie da unten, wenn nicht vor sich selbst? Die vorherrschende Form kannte sie wohl: Ecstasy. Sie hatte es auch einmal probiert, vor zwei Jahren in Boulder. Hatte sich einen Abend lang eins gefühlt mit ihren Freunden und wildfremde Menschen umarmt. Benommen hielt sie eine Pille zwischen den Fingern und leckte daran. Dann zog sie die Zunge hastig zurück und beförderte den ganzen Vorrat in den Ausguss. Sie ließ die kläffende Blackie zurück ins Haus. Der Hund beschnüffelte ihre Waden, er wollte Aufmerksamkeit. »Ist schon in Ordnung«, versprach sie. »Bald ist alles wieder so wie früher.«
Dann nahm sie sich das Schlafzimmer vor, ein Museum voll mit Kuhzähnen, bunten Mineralien und Hunderten von exotischen Kronkorken in selbst gebastelten Rahmen. Sie inspizierte den Wandschrank. Neben den überwiegend dunklen Jeans und Cordhosen hingen drei Paar fettverschmierte Latzhosen mit dem Logo IBP an einem Haken über den schmutzstarrenden Arbeitsstiefeln, die er Tag für Tag trug, wenn er zum Schlachthof fuhr. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken: Es gab ein paar Dinge, die sie tags zuvor hätte erledigen müssen. Sie rief in der Fabrik an. Iowa Beef Processors: Weltgrößter Lieferant von la Rind- und Schweinefleischprodukten. Sie landete bei einer automatischen Ansage. Dann noch eine. Dann muntere Musik, dann eine muntere Zwitscherstimme, dann eine knurrige Person, die sie hartnäckig mit Ma’am anredete. Ma’am. Irgendwie hatte sie sich im Laufe des Telefonats offenbar in ihre eigene Mutter verwandelt. Ein Sachbearbeiter in der Personalabteilung half ihr beim Ausfüllen von Marks Krankmeldung. In der Stunde, die sie für all das benötigte, fühlte sie sich erleichtert, weil sie etwas Nützliches tun konnte. Die Freude darüber versetzte ihr einen Stich.
Sie telefonierte mit ihrem eigenen Betrieb in Sioux. Es war eine große Firma, der drittgrößte Computerversand des Landes. Damals in der Anfangszeit, als überall Computerfirmen wie Pilze aus dem Boden schossen, hatte diese Firma sich aus der Masse ihrer nahezu austauschbaren Konkurrenten herausgehoben, weil sie in ihrer Werbung Herden von schwarzbunten Rindern zeigte. Mark hatte sich köstlich amüsiert, als sie aus Colorado nach Nebraska zurückkehrte und eine Stelle bei dieser Firma annahm. Du arbeitest jetzt also in der Kundenbetreuung bei dieser Kuh-puter-Kompanie? Sie konnte es nicht erklären. Nach Jahren des, wenn man so sagen wollte, beruflichen Aufstiegs – erst Telefonistin in Chicago, dann Anzeigenverkäuferin für Trendmagazine in Los Angeles, schließlich Chefassistentin und zu guter Letzt Firmensprecherin für zwei Internetunternehmer in Boulder, die mit einer virtuellen Welt, in der Nutzer sich ein wohlhabendes Alter Ego aufbauen konnten, Millionen verdienen wollten und sich stattdessen am Ende gegenseitig verklagten – war sie ziemlich unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Mittlerweile über dreißig, hatte sie weder Zeit noch Stolz genug, um sie für ehrgeizige Projekte aufs Spiel zu setzen. Sie hatte nichts gegen ehrliche Knochenarbeit für eine sichere, grundsolide Firma. Wenn ihre Bestimmung im Bereich der Kundenbetreuung lag, würde sie das Menschenmögliche tun, um die Kunden professionell zu betreuen. Tatsächlich hatte sie ein verborgenes Talent für den Umgang mit Beschwerden bei sich entdeckt. Nach zwei E-Mails und einem fünfzehnminütigen Telefonat hatte sie einen Kunden, der die Firma am liebsten mit einem Molotowcocktail in die Luft gejagt hätte, davon überzeugt, dass sie und die vielen tausend Angestellten nichts sehnlicher wünschten als seine lebenslange Freundschaft und Wertschätzung.
Sie konnte es weder ihrem Bruder noch sonst jemandem begreiflich machen: Status und Anerkennung waren nicht von Belang. Was für sie zählte, war einzig und allein Professionalität. Jetzt endlich gaukelte das Leben ihr nichts mehr vor. Sie hatte einen Job und leistete gute Arbeit, sie besaß eine Einzimmer-Neubauwohnung in South Sioux, nicht weit vom Fluss, und es gab sogar so etwas wie eine wechselseitige Anziehung zwischen ihr und einem befreundeten Warmblüter in der Technikabteilung, die binnen ein oder zwei Monaten zu einer festen Beziehung zu mutieren drohte. Und jetzt das. Ein Anruf, und die Wirklichkeit hatte sie wieder eingeholt.
Egal. In Sioux wurde sie nicht gebraucht. Der eine Mensch, der sie wirklich brauchte, lag hier im Krankenhaus, auf einer düsteren Insel, und hatte außer ihr niemanden, der sich um ihn kümmerte.
Sie sprach mit ihrem Abteilungsleiter, strich sich die Haare glatt, als er den Hörer abnahm. Er sah nach, wie viele Urlaubstage ihr zur Verfügung standen, und sagte, sie könne vom kommenden Montag an noch eine weitere Woche bleiben. Sie deutete vorsichtig an, dass sie nicht wisse, ob das ausreichen würde. Das müsse es, erwiderte er. Sie bedankte sich, bat nochmals um Verzeihung, legte auf und stürzte sich wieder auf den Hausputz.
Mit nichts als Geschirrspülmittel und Papierhandtüchern gelang es ihr, Marks Haus wieder bewohnbar zu machen. Sie betrachtete sich im Badezimmerspiegel, als sie die Zahnpastaspritzer wegpolierte: eine einunddreißigjährige berufsmäßige Beschwichtigerin mit dreieinhalb Pfund zu viel und roten Haaren, vierzig Zentimeter zu lang für ihr Alter, eine Frau, die verzweifelt nach etwas suchte, das sie in Ordnung bringen konnte. Sie konnte es schaffen. Bald würde Mark wiederkommen und den Spiegel ungeniert aufs Neue mit Zahnpasta bespritzen. Sie würde ins Land der Kuhcomputer zurückkehren, wo man ihre Arbeit zu schätzen wusste und wo nur Fremde sie um Hilfe baten. Sie strich die trockene Wangenhaut zu den Ohren zurück und atmete langsamer. Dann polierte sie Wanne und Waschbecken und ging zum Auto, um nachzusehen, was sie im Rucksack hatte: zwei Pullover, ein Paar Twillhosen und drei Garnituren Unterwäsche. Sie fuhr zu den Fabrikläden in Kearney und kaufte einen Pullover, zwei Paar Jeans und etwas Feuchtigkeitscreme. Selbst das kam ihr vor, als fordere sie das Schicksal heraus.
Ich bin Niemand aber Heute Nacht auf der North Line Road … Sie fragte alle auf der Unfallstation nach dem Zettel. Offensichtlich war er einfach auf dem Nachttisch aufgetaucht, kurz nach Marks Einlieferung. Eine mittelamerikanische Nonne mit einem kunstvollen, türkis-besetzten Kruzifix um den Hals beteuerte, außer Karin und dem Pflegepersonal sei in den ersten sechsunddreißig Stunden niemand bei ihm gewesen. Sie zeigte Papiere, die dies bewiesen. Die Krankenschwester versuchte, den lästigen Zettel zu konfiszieren, aber Karin gab ihn nicht aus der Hand. Sie wollte ihn Mark zeigen, wenn er wieder zu sich kam.
Er wurde aus der Unfallstation in ein Zimmer verlegt, wo sie neben seinem Bett sitzen konnte. Er lag flach ausgestreckt auf dem Rücken, eine leblose Gliederpuppe. Zwei Tage später öffnete er die Augen für eine halbe Minute, nur um sie gleich wieder zu schließen. Aber am Abend, als die Dämmerung kam, öffnete er sie erneut. Im Verlauf des nächsten Tages zählte sie sechs weitere Male, die er die Augen aufschlug. Und jedes Mal sah er aus, als erwache er mitten in einem Horrorfilm.
Sein Gesicht zeigte Bewegung, wie eine Karnevalsmaske aus Gummi. Sein matter Blick blieb an ihr hängen. Sie saß neben dem Bett, unsicher auf dem Geröll am Rand eines abgrundtiefen Steinbruchs. »Was ist, Mark? Sag es mir. Ich bin hier.«
Sie flehte die Krankenschwestern an, ihr etwas zu tun zu geben, egal was, Hauptsache, es half. Sie zeigten ihr spezielle Nylonsocken und Basketballstiefel, die sie Mark alle paar Stunden an- und wieder ausziehen sollte. Sie tat es alle vierzig Minuten und massierte zudem seine Füße. Es rege den Blutkreislauf an und verhindere die Entstehung von Blutgerinnseln. Sie saß am Bett und drückte und knetete. Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie ihr altes 4H-Gelöbnis aus der Highschool flüsterte:
mein Hirn für klareres Denken,
mein Herz für mehr Charakterstärke,
meine Hände für die Unterstützung der Armen,
und meine Hilfe für ein besseres Leben …
Als sei sie wieder in der Schule, mit Mark als ihrem Vorzeigeprojekt.
Unterstützung der Armen: ihr Leben lang hatte sie sich darum bemüht, bewaffnet mit nichts als einem Bachelorgrad in Soziologie von der University of Nebraska in Kearney. Hilfslehrerin im Winnebago-Reservat, freiwillige Helferin in den Suppenküchen für Obdachlose in Los Angeles, Bürohilfe in einer Kanzlei für kostenlose Rechtsberatung in Chicago. Wegen eines jungen Mannes, der es ihr angetan hatte, war sie in Boulder sogar eine Zeit lang zu Demonstrationen gegen die Globalisierung gegangen und hatte lautstark mitprotestiert, auch wenn ihr Eifer das tief sitzende Gefühl der Lächerlichkeit nicht übertönen konnte. Sie wäre für immer zu Hause geblieben und hätte sich für das Wohl der Familie eingesetzt, wenn ihre Familie es denn zugelassen hätte. Jetzt lag das letzte Familienmitglied reglos vor ihr, unfähig, sich gegen ihre Unterstützung zu wehren.
Der Arzt zapfte die Flüssigkeit im Gehirn ihres Bruders ab. Ungeheuerlich, aber es funktionierte. Der Druck in seinem Schädel sank. Die Zysten und Flüssigkeitsansammlungen bildeten sich zurück. Sein Gehirn hatte jetzt wieder den Platz, den es brauchte. Sie sagte es ihm. »Jetzt musst du nur noch gesund werden.«
Stunden vergingen wie im Flug. Doch die Tage zogen sich endlos. Sie saß an seinem Bett, kühlte seinen Körper mit speziellen Kühldecken, zog ihm die Schuhe an und aus. Und dabei redete sie unablässig auf ihn ein. Nie gab es ein Anzeichen, dass er sie hörte, aber sie sprach trotzdem weiter. Seine Trommelfelle mussten doch vibrieren, die Nerven dahinter kribbeln. »Ich habe dir ein paar Rosen aus dem Bio-Supermarkt mitgebracht. Sind sie nicht wunderschön? Sie duften sogar. Die Schwester wechselt gerade wieder die Beutel am Tropf, Markie. Keine Sorge, ich bin noch da. Du musst unbedingt aufstehen und die Kraniche sehen, bevor sie weiterziehen. Es ist einfach unbeschreiblich. So viele wie in diesem Jahr habe ich noch nie gesehen. Sie fallen in Schwärmen in die Stadt ein. Ein paar sind auf dem Dach von McDonald’s gelandet. Sie führen etwas im Schilde. Mann, Mark. Deine Füße stinken vielleicht. Wie uralter Roquefort.«
Riech an meinen Füßen. Ihre Standardstrafe für jede Art von Vergehen, seit er kräftiger war als sie. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit roch sie seine Körperausdünstungen. Roquefort und Erbrochenes. Wie das wilde Katzenbaby, das sie unter der Veranda gefunden hatten, als sie neun war. Süßsauer, wie der Schimmelpilz auf der feuchten Brotscheibe, die Mark für ein Biologieexperiment in der fünften Klasse in einem verschlossenen Gefäß über der Lüftung des Heizkessels vergessen hatte. »Sobald du nach Hause kommst, lassen wir dir ein schönes Schaumbad ein.«
Sie erzählte ihm von dem Strom von Besuchern am Bett des Komapatienten nebenan: Frauen in weiten Kleidern, Männer in weißen Hemden und schwarzen Hosen, wie die Mormonen in den sechziger Jahren. Er lauschte all ihren Geschichten, versteinert, reglos selbst die winzigen Muskeln in seinem Gesicht.
In der zweiten Woche betrat ein älterer Mann das Krankenzimmer; er trug einen Steppmantel, in dem er aussah wie ein blauglänzendes Michelin-Männchen. Er trat an das Bett von Marks bewusstlosem Zimmergenossen und brüllte. »Gilbert. Junge? Hörst du mich. Wach sofort auf. Wir haben keine Zeit für solchen Unsinn. Es reicht jetzt, verstehst du. Wir müssen wieder nach Hause.« Eine Krankenschwester kam nachsehen, was los war, und schaffte den aufgebrachten Mann nach draußen. Danach redete Karin nicht mehr mit Mark. Er schien es nicht zu bemerken.
Dr. Hayes sagte, am fünfzehnten Tag falle die Entscheidung. Bei neun Zehnteln aller Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, die wieder aus dem Koma erwachten, geschehe es bis zu diesem Zeitpunkt. »Die Augenaktivität gibt Anlass zur Hoffnung«, sagte er. »Sein Reptiliengehirn ist durchaus aktiv.«
»Er hat ein Reptiliengehirn?«
Dr. Hayes lächelte; er erinnerte sie an die Ärzte in alten Gesundheits-Lehrfilmen. »Wir alle habe das. Ein Indiz für den weiten Weg, den wir zurückgelegt haben.«
Er stammte eindeutig nicht aus der Gegend. Die meisten Einheimischen hatten keinen weiten Weg zurückgelegt. Karins Eltern hielten die Lehre von der Evolution für kommunistische Propaganda. Sogar Mark hegte Zweifel. Wenn Millionen von Arten sich ständig weiterentwickeln, wieso sind wir dann die einzig intelligente?
Der Arzt erklärte, was er meinte: »Das Gehirn ist eine faszinierende Konstruktion. Aber es kann seine Vergangenheit nicht leugnen. Es kann nur das bereits Vorhandene erweitern.«
Sie dachte an die verunstalteten alten Häuser in Kearney, prachtvolle Holzgebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, in den dreißiger Jahren entstellt durch Backsteinanbauten und später in den Siebzigern nochmals erweitert, diesmal mit Spanplatten und Aluminium. »Was … was macht sein Reptiliengehirn? Was sind das für Aktivitäten?«
Dr. Hayes bombardierte sie mit Begriffen: Medulla, Pons, Mittelhirn, Cerebellum. Sie notierte die Wörter in ihrem winzigen Notizbuch, um sie später nachzuschlagen. Aus dem Munde des Neurologen klang es, als sei das Hirn eine klapprigere Konstruktion als die Spielzeugautos, die Mark seinerzeit aus alten Brettern und abgesägten Spülmittelflaschen zusammengezimmert hatte.
»Und was ist mit den höheren …? Was kommt nach dem Reptil – so eine Art Vogel?«
»Das Nächsthöhere ist das Säugetiergehirn.«
Ihre Lippen bewegten sich, während er sprach, wie um ihm zu helfen. Sie konnte nichts dagegen tun. »Und bei meinem Bruder?«
Dr. Hayes zögerte. »Das ist schwerer zu sagen. Wir konnten keine Schädigung feststellen. Es ist aktiv. Reguliert Prozesse im Körper. Hippocampus und Amygdala sind anscheinend intakt; allerdings gibt es auffällige Aktivitäten in der Amygdala, wo manche negativen Empfindungen ihren Ursprung haben, Angst beispielsweise.«
»Wollen Sie damit sagen, dass mein Bruder Angst hat?« Ungeduldig winkte sie ab, als der Arzt sie beruhigen wollte. Mark hatte Gefühle. Angst oder was auch immer: es spielte keine Rolle. »Was ist mit seinem … menschlichen Gehirn? Dem Teil, der über dem Säugetiergehirn steht?«
»Er ist dabei, das Puzzle wieder zusammenzusetzen. Sein präfrontaler Kortex versucht, die verschiedenen Aktivitäten so zu synchronisieren, dass er wieder das Bewusstsein erlangt.«
Sie bat Dr. Hayes um alles, was er ihr an Informationsmaterial geben konnte. Sie markierte sämtliche Stellen, die irgendwie Erfolg versprechend klangen, mit grünem Filzstift. Das Gehirn ist unsere größte Herausforderung. Je mehr wir darüber erfahren, desto mehr erkennen wir, wie viel es darüber zu erfahren gibt. Bei ihrer nächsten Begegnung mit Dr. Hayes war sie gerüstet.
»Haben Sie die neueren Behandlungsmethoden für Kopfverletzungen in Erwägung gezogen?« Sie wühlte in ihrer Schultertasche nach dem kleinen Notizbuch. »Neuroprotektive Substanzen? Cerestat? Polyethylenglykol-gekoppelte Superoxid-Dismutase?«
»Alle Achtung. Ich bin beeindruckt. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«
Sie versuchte, so kompetent auszusehen, wie sie sich ihn wünschte.
Dr. Hayes legte die Hände aneinander und berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen. »Die Entwicklung auf diesem Gebiet geht rasend schnell voran. Die Versuche mit PEG-SOD wurden eingestellt, nachdem eine zweite Versuchsreihe in Phase III zu schlechten Ergebnissen geführt hat. Und ich glaube, Cerestat ist nicht das Richtige für Sie.«
»Doktor Hayes.« Ihre Kundenbetreuerstimme. »Mein Bruder hat Mühe, die Augen aufzumachen. Sie sagen, er hat womöglich Angst. Wir versuchen alles, was Sie ihm geben können.«
»Die Untersuchungen zu Cerestat – Abtiganel – wurden eingestellt. Ein Fünftel aller Patienten, die damit behandelt wurden, sind gestorben.«
»Aber Sie haben doch sicher noch andere Medikamente?« Sie blickte wieder in ihr Notizbuch, zitternd vor Erregung. Jeden Augenblick würden sich ihre Hände in Tauben verwandeln und davonflattern.
»Die meisten sind noch im Frühstadium der Erprobung. Sie müssten an einem klinischen Versuch teilnehmen.«
»Tun wir das nicht längst? Ich meine …« Sie machte eine Handbewegung in Richtung auf das Zimmer ihres Bruders. Im Hinterkopf hörte sie die Radiowerbung: Das Samariter-Hospital … die größte medizinische Einrichtung zwischen Lincoln und Denver.
»Sie müssten ihn in eine andere Klinik verlegen lassen. Eine Klinik, in der diese Studien durchgeführt werden.«
Sie sah den Mann an. Mit der richtigen Kleidung und der richtigen Frisur hätte er als Experte für medizinische Fragen im Frühstücksfernsehen auftreten können. Wenn er sie überhaupt wahrnahm, dann nur als unnötige Komplikation. Wahrscheinlich fand er sie einfach nur erbärmlich, in jeder erdenklichen Hinsicht. Etwas in ihrem Reptiliengehirn hasste ihn.
Steigt auf aus überfluteten Feldern. Eine Welle, eine Bewegung im Schilf. Neuer Schmerz, dann nichts.
Wenn das Empfinden wiederkehrt, droht er zu ertrinken. Vater lehrt ihn schwimmen. Strömung in den Gliedern. Vier Jahre alt, und sein Vater hält ihn über Wasser. Er fliegt, flattert, fällt. Sein Vater packt ihn am Bein, zieht ihn hinunter. Hält ihn unter der Oberfläche, eine starre Hand drückt seinen Kopf unter Wasser, bis keine Luftblasen mehr kommen. Der Fluss will dich schnappen, Junge. Sei gewappnet.
Aber es gibt kein Schnappen, kein Gewappnetsein. Es gibt nur Ertrinken.
Dann eine Pyramide aus Licht, glühende Diamanten, rotierende Sternenfelder. Sein Körper zwängt sich durch neonhelle Dreiecke, ein Tunnel, der aufwärts führt. Das Wasser über ihm, seine Lungen brennen, dann schießt er hinauf, an die Luft.
Wo Mund war, nur noch glatte Haut. Undurchdringliches verschließt diese Öffnung. Haus umgebaut; Fenster übertapeziert. Tür nicht mehr Tür. Muskeln zerren an den Lippen, aber nichts, was sich öffnen ließe. Nur noch Drähte, wo einst Wörter waren. Das Gesicht ein Zerrbild, in die eigenen Augen gestürzt. An ein Metallbett gefesselt, die Hölle, der er nicht entrinnen kann. Die kleinste Bewegung ein Schmerz, schlimmer als der Tod. Vielleicht ist der Tod schon vorüber. Gänzlich vorüber, nach einem Ab und Auf seines Lebens. Wer will schon leben nach so einem Fall?
Ein Raum voller Maschinen, der unerreichbare Ort. Etwas löst sich von ihm. Leute kommen und verschwinden, zu schnell. Gesichter nähern sich seinem mundlosen Gesicht, bedrängen ihn mit Wörtern. Er kaut sie und antworten mit Keuchen und Zischen. Jemand sagt, sei geduldig, aber nicht zu ihm. Sei geduldig, ein geduldiger Patient muss seine Krankheit erdulden.
Kann sein, dass Tage vergehen. Wer weiß. Die Zeit schlägt mit gebrochenen Flügeln. Stimmen kommen und gehen, aber eine ist fast immer da. Ein Gesicht, fast das seine. So nah, es will etwas von ihm, zumindest will es Wörter. Das Gesicht einer Sie, nass von Tränen. Nichts, was sie ist, wird sagen, was geschehen ist.
Ein Wunsch versucht sich aus ihm zu befreien. Der Wunsch zu sagen, stärker als der Wunsch zu sein. Wenn er einen Mund hätte, käme alles heraus. Dann wüsste diese Sie, was geschehen ist, wüsste, dass sein Tod nicht das war, was er scheint.
Druck füllt ihn aus, wie zusammengepresste Flüssigkeit. Sein Kopf: unsäglicher Druck, längst begraben. Lebenssaft strömt aus seinem Innenohr. Blut aus seinen durchbohrten Augen. Tödlicher Druck, obwohl schon so viel aus ihm herausgeflossen ist. Ein Schwarm von Gedanken, Millionen, mehr als sein Gehirn zu fassen vermag.
Ein Gesicht schwebt über ihm, spricht glühende Wörter. Sagt Mark, geh nicht