Zauber der Gezeiten

Susan Wiggs

Das Cottage am Willow Lake

 

Linda Lael Miller

Ein Liebhaber wie Tony

 

Cindy Gerard

Mit Charme und Champagner

 

Lori Wilde

Im süßen Rausch der Sinne

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Homecoming Season

Copyright © 2006 by Harlequin Books S.A.

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Used-To-Be Lovers

Copyright © 1988 by Linda Lael Miller

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Tempting The Tycoon

Copyright © 2003 by Cindy Gerard

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Intoxicating

Copyright © 2011 by Laurie Vanzura

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95649-443-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

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Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Susan Wiggs

Das Cottage

am Willow Lake

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Constanze Suhr

1. KAPITEL

Das weiße Papierhemd raschelte, als Miranda Sweeney auf dem Untersuchungstisch herumrutschte und die beiden Enden zusammenzog, um sich zu bedecken. „Einfach so? Es ist vorbei?“

Dr. Turabian ließ entschlossen den Metallrollcontainer zuschnappen. „Na ja, wenn Sie fünfundzwanzig Bestrahlungen, neun Monate Chemo und zwei Operationen als ‚einfach so‘ bezeichnen wollen, schon.“ Er nahm seine Brille ab und schob sie in die Brusttasche seines Arztkittels. „Die Testergebnisse könnten nicht besser sein. Alles ist so verlaufen, wie wir gehofft und geplant hatten. Bis auf die tägliche Einnahme Ihrer Immuntoxine müssen Sie nichts weiter tun.“

Miranda blinzelte überwältigt von dieser Information. „Ich bin … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Erwartete man von ihr eine bestimmte Reaktion? Vielen Dank, Doktor, ich liebe Sie?

„Sie brauchen auch nichts zu sagen. Ich denke, Sie werden herausfinden, dass gesund zu werden um vieles leichter ist, als krank zu sein.“ Er grinste. „Jetzt gehen Sie. Lassen Sie Ihr Haar wieder wachsen. Und in drei Monaten kommen Sie wieder und berichten mir, wie gut es Ihnen geht.“

Er ließ sie allein. Das Geräusch, mit dem die schwere Tür zum Behandlungsraum zufiel, klang wie ein Seufzer. Bevor Miranda sich anzog, musste sie immer wieder an das kurze Gespräch mit dem Arzt denken.

Sie sind durch.

Ich bin durch.

Steck die Gabel rein, sie ist durch.

Nach einem solchen Jahr konnte Miranda kaum glauben, dass es möglich war, mit einer Krebserkrankung jemals fertigzuwerden. Die Krankheit hätte auch dich fertigmachen können, sagte sie sich, und dann würdest du jetzt wie ein wächsernes Verbrechensopfer in einem Krimi auf dem Seziertisch liegen.

Hör auf damit, schalt sie sich. Endlich hatten ihr die Worte des Arztes einmal keine Gänsehaut eingejagt – keine Tabletten gegen Übelkeit oder Gels oder Vorsichtsmaßnahmen nach der Operation. Nichts dergleichen. Sein Rat war so einfach wie beängstigend. Zieh dich an, und mach mit deinem Leben weiter.

Sie riss sich das Papierhemd vom Körper und knüllte es zwischen den Händen zu einem kleinen festen Ball zusammen. Dann zielte sie damit auf den Abfallkorb. Da, nimm!

Als sie die Hand nach ihrem BH ausstreckte, der am Kleiderhaken hing, schoss ihr ein allzu vertrautes unangenehmes Ziehen durch den rechten Arm. Diese postoperativen Symptome schienen nie aufzuhören, obwohl ihr Arzt und der Chirurg beteuerten, dass dieses Prickeln und die Taubheit irgendwann verschwunden wären.

Dieses Irgendwann war nun angeblich eingetroffen.

Sie sagte sich, sie sollte eigentlich herzhaft lachen, in den Krankenhausfluren tanzen, jeden küssen, der ihr begegnete, und aus voller Kehle singen: Ich werde überleben! Unglücklicherweise fühlte sie sich überhaupt nicht danach. Vielleicht war die Information noch nicht ganz angekommen, denn im Moment kam sie sich einfach nur hohl und erschöpft vor, wie ein Opfer eines Schiffsunglücks, das an Land geschwommen war. Sie hatte überlebt, aber der Kampf gegen die Krankheit hatte alles aus ihr herausgesaugt. Er hatte sie vollkommen verändert. Und diese neue Frau, diese mutige Überlebende, wusste nicht so richtig, was sie mit sich anfangen sollte.

Sie drehte sich zum Spiegel um und betrachtete ihren Körper, der ihr immer noch fremd vorkam, als würde er nicht mehr ihr gehören. Vor einem Jahr war sie eine einigermaßen attraktive Achtunddreißigjährige gewesen, zufrieden mit ihrer 36er-Konfektionsgröße und – okay, sie konnte es ruhig zugeben – ziemlich stolz auf ihr langes kastanienbraunes Haar. Während der Behandlungsmonate hatte sie sich allerdings angewöhnt, jeden Blick in den Spiegel zu vermeiden. Trotz all der ernsthaften Beteuerungen ihrer Freunde, der Familie, des Behandlungsteams und der Selbsthilfegruppe hatte sie nie gelernt, sich mit dem abzufinden, was darin zu sehen war.

Einige würden sagen, sie habe ihre rechte Brust und ihr Kopfhaar verloren. Doch Miranda fand, dass die Bezeichnung „verloren“ nicht ganz zutraf. Sie wusste genau, wohin ihr Haar verschwunden war – verteilt auf den Kopfkissen, im Ausfluss der Dusche, in den Zinken ihres Kamms, überall auf den Autositzen und dem Sofa. Ausgefallenes Haar war ihr in ihrem Kielwasser überallhin gefolgt. Ihr Ehemann Jacob war sogar eines Nachts mit einer ihrer kastanienbraunen Haarsträhnen im Mund aufgewacht. Innerhalb von einigen wenigen Tagen hatte ihre Kopfhaut zu kribbeln begonnen. Dann hatte es gebrannt, und die Haare fielen aus. Verloren waren sie keinesfalls. Sie hatten sich nur von ihr gelöst. Sie hatte sie in einer Einkaufstüte gesammelt und in den Mülleimer geworfen.

Was das andere betraf, das sie „verloren“ hatte – ihre Brust –, nun, sie wusste ebenfalls verdammt gut, wohin diese verschwunden war. Während der Operation war das Gewebe sehr sorgfältig verpackt und ins Krankenhauslabor geschickt worden, damit es in der Pathologie analysiert werden konnte. Die Diagnose wurde von jemandem gefällt, den sie nie gesehen hatte, jemand, den sie auch nie kennenlernen würde. Jemand, der die Besiegelung ihres Schicksals ordentlich in ein Formular eingetragen hatte: invasives duktiles Karzinom im ersten Stadium, Tumorgröße 1,5 cm, Knoten 15 negativ.

Sie konnte sich glücklich schätzen, da sie eine Kandidatin für eine TRAM-Flap-Brustrekonstruktion war, die gleich nach der Mastektomie folgte. Ein weiteres chirurgisches Team übernahm die Brustrekonstruktion und benutzte dafür Gewebe aus ihrem Unterbauch. Sie hatte sich bemüht, diese Rekonstruktion ihrer Brust leicht zu nehmen, glaubte, wenn sie keine große Sache daraus machte, würde es auch keine große Sache werden. Obwohl ihre Beraterin und die Selbsthilfegruppe sie dazu ermutigt hatten, sich einzugestehen, dass ein wichtiger, charakteristischer Teil von ihr verschwunden war, dass sich ihr Körper für immer verändert hatte, war sie dem ausgewichen. Sie behauptete, dass sie noch nie besonders stolz auf ihre Brüste gewesen wäre. Sie waren einfach … da gewesen. Größe 70 B. Und nach der Operation waren sie immer noch da gewesen, nur dass die rechte aus Zellgewebe ihres Unterbauchs geformt worden war, etwas, das sie gern abgegeben hatte. Und diese tätowierte Brustwarze war äußerst interessant. Wie viele Frauen konnten so etwas schon vorweisen?

Miranda wusste, sie sollte jetzt vor Erleichterung und Dankbarkeit in Tränen ausbrechen, aber sie wollte sich immer noch nicht im Spiegel betrachten. Die rekonstruierte Brust schien leicht schief geraten, und auch wenn die Farbe und Temperatur der Haut genauso war wie die ihrer anderen Brust, konnte sie dort nicht das Geringste spüren. Nichts, nada. Und ihr Bauchnabel war ein Stück zur Seite gerutscht.

Wenn es nach ihrer Selbsthilfegruppe ginge, müsste sie in den Spiegel blicken und dort eine Überlebende sehen. Eine erstaunliche Frau, deren Schönheit von innen heraus leuchtete. Eine Frau, die glücklich war, am Leben zu sein.

Miranda lehnte sich vor und sah genau hin. Wo war diese Frau?

Immer noch versteckt da drinnen, dachte sie. Ihre umwerfende Persönlichkeit wollte einfach nicht rauskommen und spielen.

Nach einer schmerzlichen Zeit, in der ihr Kopf kahl gewesen war, begann ihr Haar wieder zu sprießen. Ebenso ihre Augenbrauen und Wimpern. Unglücklicherweise sah dieser dünne Flaum von Härchen bisher nur komisch aus. Sie befürchtete, dass es in weißlichem Grau nachwuchs. Aber es war ihr richtiges neues Haar, das wie weiche Kükenfedern wirkte, als wäre sie gerade aus dem Ei geschlüpft. Ihr Teint war blass, und in ihren Augenwinkeln zeigten sich winzige Fältchen. Das Weiße in ihren Augen sah gelblich aus. Noch immer verbarg sie sich hinter Hüten, Schals und Perücken. Sie wollte nicht aussehen wie eine Krebspatientin, obwohl sie ja genau das war. Nein, stimmt nicht, sagte sie sich. Eine Krebsüberlebende, keine Patientin mehr.

Miranda wandte sich ab, nahm den BH und zog ihn an, schlüpfte in ihre Leinenkakihose und die Bluse. Es nervte sie, das Ziehen zu spüren, wenn sie sich ein Hemd über den Kopf streifte. So als wollte ihr Körper sie jedes Mal daran erinnern, dass man an ihr herumgeschnitten, genäht und sie verändert hatte und es nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Sie schlang sich den buttergelben Pullover über die Schultern und knotete die Ärmel locker zusammen. Es war inzwischen nicht mehr so kühl wie am Morgen. Mit Nachdruck setzte sie ihren Hut auf. Heute war es ein Sonnenhut aus Leinen, den sie mehr aus praktischen als dekorativen Gründen ausgewählt hatte.

Sie packte all ihr Zeug zusammen – Handtasche, Handy, Schlüssel – und lief durch den inzwischen vertrauten Klinikflur mit den blassen Wänden. Die waren mit besänftigenden Indianerkunstwerken geschmückt, und besänftigende New-Age-Musik erklang aus den Lautsprechern an der Decke. Wie immer eilten alle geschäftig mit Krankenakten über den Gang oder in einen der Untersuchungsräume. Und wie immer erhielt sie von jedem, dem sie begegnete, ein etwas zerstreutes, aber ehrliches, aufmunterndes Lächeln.

Das Wartezimmer war eine andere Geschichte. Die Patienten dort schienen jeden Kontakt zueinander zu vermeiden, während sie in Magazinen lasen oder die Nachrichten auf ihren Smartphones abriefen. Es sah fast so aus, als wollten sie die anderen im Raum auf keinen Fall ansehen, als fürchteten sie, etwas in deren Blick zu erkennen, was sie nichts anging – Hoffnung oder Verzweiflung oder eine Mischung von beidem.

Miranda wusste, dass niemand der dort Wartenden wissen konnte, dass sie die Praxis endgültig verließ. Sie würde in den nächsten drei Monaten nicht zurückkommen – und wenn, dann nur zu einer Routineuntersuchung. Trotzdem verspürte sie das merkwürdige Schuldgefühl einer Überlebenden, als sie den Raum zum letzten Mal durchquerte – vorbei an dem sprudelnden Tischspringbrunnen, der Grünpflanze, die seit ihrem ersten Besuch hier die doppelte Größe erreicht hatte, dem Zeitschriftenregal.

Sie trat ins strahlende Sonnenlicht eines warmen Spätsommernachmittags hinaus. Im ersten Moment war es so hell, dass Miranda sich blinzelnd umblickte, als hätte sie die Orientierung verloren. Sie zog ihre Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Die Welt wurde wieder sichtbar. Seattle war im September unvergleichlich schön, mit warmen, sonnigen Tagen, unglaublich klarem Himmel und kühlen Nächten, in denen bereits der Herbst in der Luft zu spüren war. Das heutige wunderbare Wetter reizte die normale Stadtbevölkerung dazu, draußen vor den Cafés zu sitzen, an kühlen Getränken zu nippen und das Gesicht in die Sonne zu halten.

Vom Krankenhaus hier oben auf dem First Hill – aufgrund der Mengen an Hospitälern und Ärztezentren in dieser Gegend auch als „Pillenberg“ bekannt – sah sie bis hinunter zum Hafen, über die geschäftige Innenstadt, die chaotischen Schnellstraßen und die charakteristische Spitze der Space Needle, die sich über der Elliott Bay erhob. Weiter in der Ferne bot sich die typische Aussicht von Seattle – der tiefblaue Puget Sound, durchzogen von üppig begrünten Inseln und Meerarmen, der Horizont von Bergketten umgrenzt, die aussahen wie mit einer blauweißen Sahnehaube auf der Spitze versehen. Egal ob man hier geboren war, so wie Miranda, oder neu zugezogen, der Puget Sound war für jeden ein atemberaubender Anblick.

Eine Autohupe ertönte, und Miranda wich erschrocken auf den Bürgersteig zurück. Sie war so von der Aussicht fasziniert gewesen, dass sie gar nicht auf die Ampel geachtet hatte. Sie wartete pflichtschuldigst auf das kleine grüne Männchen, das ihr anzeigte, wann es sicher war, weiterzugehen. Das wäre eine unglaubliche Ironie des Schicksals, sich von einem Bäckereilieferwagen umfahren zu lassen, nachdem man eine schwere Krankheit wie Krebs bekämpft hatte.

Miranda lief den halben Block bis zur Bushaltestelle und studierte die Abfahrtzeiten. Der Bus, mit dem sie nach Queen Anne kam, wo sie wohnte, würde erst in einer halben Stunde kommen.

Sie setzte sich auf eine Bank, zog ihr Handy hervor und wählte Jacobs Nummer.

„Hallo, du Umwerfende“, begrüßte ihr Mann sie.

„Ich wette, das sagst du zu allen Frauen.“

„Nur wenn ich deinen speziellen Klingelton vernehme, Schatz.“

„Du hast deine Fahrstimme“, bemerkte sie.

„Was ist das genau?“

Sie lächelte. „Ich kann immer genau hören, wann du unterwegs bist. Dann hast du deine Fahrstimme.“

Er lachte. „Was gibt es denn?“

„Ich komme gerade von Dr. Turabian.“

„Geht es dir gut?“ Das war natürlich seine automatische Reaktion in letzter Zeit. Jacob hatte diese ganze Krebsgeschichte einen Höllenschrecken eingejagt. Fairerweise musste man sagen, dass ein Mann in seinem Alter nicht gerade damit rechnete, eine junge Frau im Kampf gegen eine lebensbedrohende Krankheit zu begleiten. Jacob schien sogar im Umgang mit ihr verängstigt, wagte kaum, sie zu berühren, als befürchtete er, sie dabei zu verletzen. Anfangs hatte er Miranda zu allen Arztterminen begleitet – zu den Tests, den Behandlungen, den folgenden Untersuchungen. Er war wunderbar gewesen und hatte seine Panik immer zu verbergen versucht. Doch für Miranda bedeutete es nur noch mehr Stress, ihn bei seinen schmerzlichen Anstrengungen zu beobachten. Irgendwann fand sie es einfacher, allein zu gehen oder eine ihrer Freundinnen mitzunehmen. Zuerst hatte Jacob sich dagegen gesträubt – Ich begleite dich, daran kannst du mich nicht hindern –, aber schließlich hatte er ihren Wunsch mit einem fast verschämt erleichterten Gesichtsausdruck akzeptiert.

„Es war mein letzter Behandlungstag“, erinnerte sie ihn. „Alles verlief wie erhofft. Die Werte waren in Ordnung, alles zu Dr. Turabians Zufriedenheit.“ Sie holte tief Atem. Die Luft war so kühl und frisch, dass es fast wehtat. „Ich bin durch.“

„Was heißt das, ‚du bist durch‘?“

„Na durch, durch und fertig.“ Sie lachte auf, und ihr eigenes Lachen klang in ihren Ohren fremd, so als würde eine Tür mit rostigen Angeln geöffnet. „Er will mich erst in drei Monaten wieder sehen. Das ist alles ziemlich merkwürdig. Ich weiß gar nicht, was ich mit mir anfangen soll. Als könnte ich mich überhaupt nicht daran erinnern, was ich vor meiner Krankheit gemacht habe.“

„Na ja.“ Jacob klang ebenfalls leicht verwirrt. Als hätte er Angst, das Falsche zu sagen. „Wie fühlst du dich denn?“

Sie wusste, was er tatsächlich fragen wollte. „Wann kannst du wieder arbeiten?“ Die Freistellung von ihrem Job hatte definitiv eine schmerzliche finanzielle Einbuße für sie bedeutet. Obwohl sie eine leichte Verärgerung verspürte, konnte sie es ihm nicht übel nehmen. Während dieser ganzen Tortur hatte er die Familie über Wasser gehalten, zwischen Job und zusätzlicher Hausarbeit jongliert, damit sie sich auf ihre Behandlung konzentrieren konnte. Die hatte ihr so viel Kraft genommen, dass sie gar nichts anderes mehr tun konnte. Aufgrund seiner Arbeit im Getränkeverkauf an große Supermarktketten war er ständig unterwegs. Er verdiente lediglich eine Provision und bekam kein Grundgehalt, sodass jeder Verkauf zählte. Und ihr Bankkonto konnte weiß Gott alle Einzahlungen gebrauchen. Die Raten für ihr Haus hatten sie unter der Voraussetzung eingeplant, dass sie ein Doppelverdienerhaushalt waren.

„Mir geht es gut, denke ich.“ Eigentlich fühlte sie sich, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich und überquerte gerade die Ziellinie, ohne dass irgendjemand dabei war, der es beobachtete. Die Welt war noch immer dieselbe. Der Verkehr rollte wie üblich über den Berg, Boote und Lastkähne durchquerten den Sund, Fußgänger kamen vorbei, ohne zu ahnen, dass sie gerade ihre Krebstherapie beendet hatte und noch lebte, sodass sie jedem davon erzählen konnte.

„Das ist gut“, sagte Jacob. „Ich bin so froh.“

Sie beobachtete eine Taube, die auf dem Bürgersteig herumtrappelte und mit dem Schnabel Brotkrümel aufpickte. „Ich auch. Ich lasse dich jetzt lieber in Ruhe. Sehen wir uns heute Abend?“

„Ich versuche, nicht zu spät zu kommen. Ich liebe dich, Schatz.“

„Ich liebe dich auch.“ Sie steckte das Handy zurück in die Tasche und dachte über die Angewohnheit nach, sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern, etwas, das sie inzwischen gedankenlos taten. Nachdem sie von der Diagnose erfahren hatte, war es für sie obligatorisch gewesen, ihrem Mann und den Kindern jedes Mal „Ich liebe dich“ zu sagen, wenn sie sich verabschiedeten. Angesichts ihrer eigenen Sterblichkeit war ihr schmerzlich klar geworden, dass jeder Abschied für immer sein könnte. Obwohl ihre Prognose gut gewesen war, wollte sie sichergehen, dass jeder in ihrer Familie täglich ihr „Ich liebe dich“ hörte. Im Laufe der Zeit hatte sich allerdings durch die Gewohnheit und ständige Wiederholung der Sinn der Worte verflüchtigt. Heute schien das „Ich liebe dich“ nichts weiter zu bedeuten als „Bis später“.

Während sie in ihrer Tasche nach der Busfahrkarte kramte, fand sie eine Notiz, die sie selbst auf ein Stück Papier geschrieben hatte. In ihrer Selbsthilfegruppe hatten einige darauf geschworen, dass man sich Leitsätze und positive Gedanken aufschreiben und in der Hosen- oder Handtasche aufbewahren sollte, wo man immer ab und zu darauf stieß. Miranda erkannte zwar ihre Handschrift sofort, konnte sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, es jemals aufgeschrieben zu haben. Auf dem Zettel stand: „Du kannst den heutigen Tag nicht zurückholen. Also sieh zu, dass du das Beste daraus machst.“

Ein weiser Spruch, sicher, aber daraus ging nicht wirklich hervor, was das Beste sein sollte. Hieß es, sich mit Freunden und der Familie zu beschäftigen? Fremden zu helfen? Ein richtig gutes Kunstwerk zu kreieren? Sie hätte sich deutlicher ausdrücken sollen. Sie faltete den Zettel zusammen und schob ihn ins Portemonnaie zurück.

Die Umgebung der Bushaltestelle war nicht sehr aufregend – Lorbeerbüsche, Astern und Stiefmütterchen. Die Pflanzen waren winterfest und beständig, wenn auch ein bisschen langweilig. Miranda liebte das Gärtnern, aber sie war dabei ziemlich anspruchsvoll geworden. Eins der Dinge, die sie sich während der Behandlung fest vorgenommen hatte, war, dass sie mit der Gartenarbeit wieder anfangen würde.

In der Ferne glitten die Fährboote vor dem blauen Hintergrund durch den Puget Sound auf dem Weg zwischen den Inseln Richtung Westen. Ein Tourist flog mit dem Fallschirm über Elliott Bay, und Miranda verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln. Was für eine wundervolle Sache, hoch über dem glitzernden Wasser zu schweben, darüber der große Schirm in Regenbogenfarben, der sich wie eine bunte Blüte vor dem endlos blauen Himmel ausbreitete. Von Weitem war der am Motorboot befestigte Haltestrick des Parasailing-Schirms unsichtbar, sodass es tatsächlich wirkte, als würde die Person frei fliegen.

Miranda hatte so etwas noch nie gemacht. Vielleicht sollte sie es irgendwann mal probieren. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, dann auf den Fahrplan. Vielleicht sollte sie es jetzt sofort versuchen.

Ach, komm, du verpasst deinen Bus, sagte sie sich.

Es wird immer ein anderer Bus kommen. Aber du wirst den heutigen Tag nicht noch einmal erleben, wie eine weise Frau mal aufgeschrieben hatte.

Miranda stand auf, schob sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und ging los. Da der Weg bergab führte, war es nicht anstrengend. Sie hatte wohl die perfekte Geschwindigkeit gewählt, denn jede Fußgängerampel schaltete gerade auf Grün, wenn sie sich näherte. Es war ein Gefühl, als würde die ganze Innenstadt sie dazu ermuntern weiterzugehen.

Als sie einen Fußgängerüberweg zum Hafen überquerte, musste sie wie üblich an einer Anzahl von Obdachlosen vorbeigehen. Wie alle anderen Passanten wandte sie den Blick ab. Doch auch ohne hinzusehen, hatte sie das Bild genau vor Augen – vor sich hin dämmernde Menschen in zerlumpter Kleidung, all ihre Besitztümer in einem Einkaufswagen oder einem Rucksack verstaut. Die meisten von ihnen hatten vor sich einen alten Becher für Kleingeld stehen, einige mit ungelenker Handschrift ein Blatt mit „Für übriges Kleingeld“ oder einfach „Gottes Segen“ beschrieben.

Miranda hielt den Blick wie immer geradeaus gerichtet. Wenn man so tat, als würde man sie nicht sehen, waren sie auch nicht richtig da. Doch das funktionierte bei ihr nicht, und sie verspürte das gleiche Schuldgefühl wie jeder andere angesichts dieser Menschen. Sie sagte sich, dass es Unterkünfte gab, bei denen Obdachlose Hilfe suchen konnten, sie mussten nur dorthin gehen. Und natürlich wusste jeder, dass man ihnen kein Geld geben sollte. Das gaben sie dann nur für Bier aus.

Na und? ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Und wenn sie das bisschen Geld nun für Bier ausgaben? Das war vielleicht alles, was sie noch davon abhielt, zum Ende des Piers zu laufen und sich vom Sund verschlucken zu lassen.

Sie ging langsamer und zog ihre Brieftasche heraus. Da waren fünf Obdachlose in regelmäßigen Abständen voneinander auf der Brücke verteilt wie Wachposten. Sie hatte nicht viel Bargeld dabei, aber sie gab alles weg, jeden Cent, und versuchte, die Münzen gerecht auf die fünf zu verteilen. Zwei von ihnen flüsterten ein Dankeschön, während die anderen nur nickten, als wären sie zu erschöpft, um zu sprechen. Aber das war Miranda egal. Sie tat dies hier nicht, um Dank zu ernten.

Als sich in ihrer Brieftasche kein Bargeld mehr befand, steckte sie sie in die hintere Hosentasche und ging weiter Richtung Hafen. Unten am Alaska Way, einer geschäftigen Straße entlang der Küste, von der viele Piers abgingen, traf sie auf eine weitere Obdachlose, die auf einer Obstkiste saß und ein Schild hielt, auf dem „Keine Wohnung, brauche Hilfe“ stand.

Miranda zögerte kurz, dann schaute sie die Frau an. „Ich habe mein ganzes Bargeld unter den Leuten auf der Marion-Street-Brücke verteilt“, gestand sie.

„Ist schon okay. Dann haben Sie heute einen guten Tag.“

Miranda nahm den buttergelben Sweater von den Schultern. „Können Sie den gebrauchen?“ Es war ein Designerstück von Nordstrom aus feinmaschiger Sea-Island-Baumwolle. Der Pullover war ein Geschenk von ihrer Schwiegermutter gewesen, die glaubte, dass kein Problem so groß war, dass man es nicht mit einem Sweater von Nordstrom lösen könnte.

„Sicher doch, Lady, wenn Sie sich davon trennen können.“

„Das macht mir nichts aus.“ Sie reichte der Frau den Pullover.

„Oh, der ist aber weich. Danke.“ Die schwielige Hand der Frau zitterte, als sie mit den Fingern über den Stoff strich.

„Nichts zu danken.“ Spontan öffnete sie ihre Handtasche und nahm alle persönlichen Gegenstände heraus – Handy, Schlüssel, eine Pillendose – und verteilte sie in ihren Hosentaschen. Übrig blieben nur die üblichen Dinge – eine Packung Taschentücher, ein Kamm, ein Lippenstift, ein Taschenrechner, eine winzige Taschenlampe.

„Die können Sie vielleicht auch gebrauchen“, sagte sie.

Bei dem Angebot runzelte die Frau die Stirn. „Das ist eine schöne Tasche“, sagte sie etwas misstrauisch.

Sie hatte einen guten Geschmack. Das war ein weiteres Geschenk ihrer Schwiegermutter gewesen, von Dooney & Bourke, das sie sicher ein paar Hundert Dollar gekostet hatte.

„Ich habe noch so eine zu Hause.“

„Sie sind aber nicht von der Mission, oder?“, erkundigte sich die Obdachlose. „Mit denen hab ich’s schon probiert, aber das funktioniert nicht.“

„Ich bin nicht von der Mission, sondern einfach nur … hier vorbeigekommen.“

Die Frau sah immer noch etwas skeptisch aus.

Miranda hörte das Horn der Fähre, eine Seemöwe kreischte. Im Nacken spürte sie die leichte Brise, die sanft am Rand ihres Sonnenhuts zupfte. Automatisch hielt sie den Hut fest, damit er nicht wegflog. Doch statt ihn fester auf den Kopf zu drücken, umfasste sie die Krempe.

Tief einatmen, sagte sie sich, dann zog sie den Hut vom Kopf. Jetzt hatte sie sich vor der Welt entblößt. Jeder, der sie ansah, würde wissen, dass sie eine Krebspatientin war. Auch nach so langer Zeit fühlte sie sich unsicher. Sie wollte jedem, der ihr zuhörte, erklären, dass sie mehr als eine Patientin war. Eine Ehefrau, Mutter, Mitarbeiterin, Freundin. Doch wenn einem das Haar ausfiel, die Fingernägel brachen und die Wimpern verschwanden, sahen die Leute nichts anderes mehr. Nur eine Krebspatientin.

Eine Überlebende, korrigierte sie sich in Gedanken, während sie der Frau den Hut reichte. Heute war sie eine Krebsüberlebende.

Die Obdachlose nahm ihn und schenkte Miranda ein kleines Lächeln. „Jetzt haben Sie einen schönen Tag.“

Als Miranda sich von ihr entfernte, verspürte sie ein merkwürdig leichtes Gefühl, so befreit, als würde sie bereits schweben. Sie hoffte inbrünstig, dass die Parasailing-Firma auch Kreditkarten annahm.

Natürlich tat sie das. Jeder nahm Kreditkarten. Wahrscheinlich auch die Obdachlosen.

Miranda hatte gerade ihr ganzes Geld weggegeben, doch das reichte ihr noch lange nicht. Aus einer unbekümmerten Laune heraus buchte sie einen Parasailingflug über Elliott Bay. Der Mann, der ihr in die Ausrüstung half, gab ihr kurz Instruktionen. „Da brauchen Sie gar nichts zu tun. Einfach nur entspannen und den Wind den Rest machen lassen. Sie können sogar Ihre Straßenkleidung anbehalten. Sie werden garantiert nicht nass.“

Die alte Miranda, die Miranda, die ihrer eigenen Sterblichkeit nie in die Augen geblickt hatte, wäre vollkommen verängstigt gewesen. Doch jetzt empfand sie angesichts des Risikos und der Gefahr nichts Besonderes. Sie fragte sich, ob ihr rechter Arm mit der Ausrüstung schmerzen würde, beschloss aber, sich nicht darum zu kümmern. Sie hatte in letzter Zeit Schlimmeres ertragen.

„Klingt gut.“ Sie biss die Zähne zusammen, als er ihr die Riemen unter der Brust befestigte. Ob er wusste, dass die eine rekonstruiert war? Und warum zum Teufel war das wichtig? Sei doch nicht albern! schalt sie sich.

Der Mann und sein Partner lenkten das Boot in die Bucht hinaus, das neben den Fähren und Lastkähnen winzig wirkte. Miranda positionierte sich unter deren Anleitung auf der Plattform, wartete, bis der Fallschirm sich im Wind aufblähte und stieg. Dann ließen die Männer sie vom hinteren Teil des Boots hinunter. In der ersten Sekunde ging sie ein bisschen in die Tiefe und streifte die Wasseroberfläche mit ihren nackten Füßen. Sie sog scharf die Luft ein und machte sich auf die Eiseskälte des Puget Sound gefasst. Dann riss der Wind den Schirm in die Höhe, der schnell in die Lüfte stieg, wie ein Drachen an der Schnur.

Nachdem sie kurz verblüfft aufgekeucht hatte, verstummte Miranda und ließ sich einfach hängen, ohne einen Ton von sich zu geben. Während ihrer Krebsbehandlung hatte sie gelernt, alles gleichmütig und schweigend zu ertragen. Sie war absolut still gewesen, als Radiologen und Onkologen sie untersucht hatten. Still, als die Chirurgen sie begutachteten und ihr mit Markern Linien auf die Haut zeichneten. Still, während sie auf dem Bestrahlungstisch lag und das gefährliche Licht auf ihren Körper gerichtet war. Still, während die Maschine die unsichtbaren Strahlen in ihre Haut brannte, die mit Bläschen und Rissen reagierte.

Sie konnte gut stillhalten. Und jetzt war sie bereit, alles hinter sich und sich vom Wind wegtragen zu lassen.

Sie sah das, was die Seemöwen sahen: die dunklen, mysteriösen Gebilde unter Wasser, Gruppen von Seelöwen, die sich auf Navigationsbojen sonnten, Containerschiffe und Segelboote, das Glitzern des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche. Sie spürte den kühlen Wind in ihrem Haar – oder dem, was da heranwuchs. Es wurde von der Brise wie ein Federkleid zerzaust.

Dann lachte sie laut und wünschte, Jacob und die Kinder könnten sie jetzt sehen, schwebend wie ein Drachen an der Schnur über der Stadt mit den hohen skelettartigen orangefarbenen Kränen in den Werften; ein krasser Gegensatz zu dem Hintergrund der wunderbaren Szenerie des Mount Rainier. Vielleicht würde sie das Zehndollarfoto kaufen, das die beiden im Boot von ihr beim Aufstieg gemacht hatten. Wie oft bekam man schon ein Foto von sich in der Luft schwebend? Dennoch war der Gedanke, ein Foto für Jacob und die Kids mit nach Hause zu nehmen, ein bisschen deprimierend. Sie hatte dieses wahnsinnige Erlebnis allein gehabt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas mit der Familie zusammen unternommen hatten.

Sie zeigte den beiden im Boot das Okay-Zeichen mit den Daumen, als die sie gekonnt wieder an Deck zogen und mit ihr zum Dock zurückfuhren. An Land druckte einer der beiden das Foto von seiner Digitalkamera aus und reichte es ihr. Sie griff in ihre Hosentasche, um das Portemonnaie herauszuziehen.

„Das geht aufs Haus“, sagte er.

Sie schob die Brieftasche wieder zurück. „Danke.“

Die Leute waren immer besonders nett zu Krebspatienten, hatte sie festgestellt. Sie warfen einen Blick auf den kahlen Kopf, die gesplitterten Nägel, die bleiche, aufgequollene Haut und bekamen es mit der Angst zu tun. Gnade Gott, dass mir das passiert. Nett zu Krebsopfern zu sein war für sie vielleicht wie eine Art Schutzimpfung. So hatte sie selbst auch gedacht, bevor sie Mitglied im Krebsklub geworden war. Inzwischen hatte sie gelernt, diese Freundlichkeit in welcher Form auch immer zu akzeptieren, sowohl von Freunden als auch von Fremden.

Miranda bedankte sich noch einmal bei dem Mann. Sie würde das Foto aufbewahren, um es hervorzuholen und sich diesen merkwürdigen Moment noch einmal anzusehen – ein Bild von sich selbst frei in der Höhe schwebend, allein vor dem blauen Himmel.

Sie musste einen Geldautomaten suchen. Miranda lief vom Hafen bergauf und nahm die Harbor Steps. Von dort ging sie Richtung Pike Place Market. Auf der Treppe kam sie nur langsam voran, noch etwas, das sie an ihrer Krankheit frustrierte. Noch vor einem Jahr war sie eine viel beschäftigte, tatkräftige Frau mit beschwingtem Schritt gewesen, der alles gelang – sie hatte zwei großartige Kinder, einen liebevollen Ehemann, einen soliden, wenn auch langweiligen Job. Sie war stolz darauf gewesen, wie viel sie an einem einzigen Tag schaffte. Innerhalb von einer Stunde kam sie aus einem Firmenkonferenzraum zum Fußballfeld und dann gleich danach nach Hause, um das Abendessen zu kochen.

Nun brachte eine dumme Treppe sie außer Atem.

Das würde ab sofort anders werden, beschloss sie.

Miranda straffte die Schultern und hob das Kinn. Heute war ein großer Tag. Sie sollte das gebührend würdigen.

Auf dem Pike Place Market voller Marktbesucher, Touristen, Küchenchefs, Musiker und Lieferanten kaufte sie die Zutaten für ein Festessen – frischen Spargel aus der Region und Morcheln, gelbe Kartoffeln und weißen Wildlachs, laut dem redseligen Fischverkäufer in einem schmierigen gelben Kittel frisch vom Boot. Und Garnelen als Vorspeise.

Sie stellte sich vor, wie sie mit ihrer Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch saß. Sie hatten einen Grund zum Feiern. Dies war ein ganz besonderer Tag.

Als sie mit ihren Paketen vom Markt kam, blieb sie an einer Reihe von Blumenständen von Großhändlern stehen. Große verzinkte Stahleimer mit Dahlien, Phlox, Rosen in allen denkbaren Schattierungen. Dieser Farbenrausch war wie eine kleine Feier.

Miranda ging das Herz auf, und sie atmete den Duft der Pflanzen tief ein. Blumen waren lange ihre Leidenschaft gewesen. Sie besaß großes Talent im Kultivieren und Arrangieren von Blumen. Dieses Hobby, so wie alles andere in ihrem Leben, war während ihrer Krankheit ins Abseits gerückt. Erst als sie den Blumenstand sah, wurde ihr klar, wie sehr sie diese Beschäftigung vermisst hatte.

Sie bestellte beim Verkäufer eine Auswahl – Gerbera, Chrysanthemen, duftende Schafgarbe, violetten Strandflieder, Goldrutenastern, Hypericum-Beeren und Eukalyptus. Das sollte ihr Gewinnerstrauß werden, beschloss sie – eine farbenfrohe, elegante Bestätigung, dass sie ihre Behandlung überstanden hatte und bereit war, mit ihrem Leben weiterzumachen.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle jonglierte sie mit ihren Paketen und wählte Jacobs Nummer erneut.

„Ich war beim Parasailing.“

„Was?“

Er hatte wieder seine Fahrstimme. Mit den Verkehrsgeräuschen im Hintergrund wurde ihr klar, dass es wohl nicht der richtige Moment war, um es zu erklären. „Ich mache heute etwas ganz Besonderes zum Abendessen“, sagte sie.

„Ich wollte dich ins Restaurant einladen“, erwiderte er.

„Das ist lieb von dir, aber ich hatte gerade Lust, selbst etwas zusammenzustellen, und das ist wahrscheinlich für die Kinder sowieso besser. Andrew hat Fußballtraining bis halb fünf, und Valeries Job im Theater geht um acht los. Also … um halb sieben?“

Er zögerte. Sie hörte aus diesem Zögern eine Menge Zweifel heraus. Inzwischen konnte sie sein Schweigen weitaus besser deuten als seine Worte.

„Du kommst heute später nach Hause“, sagte sie.

„Ich kann ein paar Sachen verschieben …“

„Gute Idee.“ Normalerweise passte sie sich den Anforderungen seines Jobs an, aber heute wollte sie ihn bei sich haben. „Ruf mich später an, und sag mir, welche Zeit dir recht ist.“

„Ich werde nicht zu spät kommen“, versprach er.

„Ruf mich einfach an. Bis später.“

Mein Mann ist wundervoll, sagte sie sich. Im vergangenen Jahr hatte er sich immer und immer wieder bewiesen. Eines der größten Opfer, das er gebracht hatte, war, sein Arbeitspensum zu vergrößern, als sie sich von ihrem Job bei Urban Ice, einem Lieferanten von losem Eis für Großbetriebe, freistellen ließ. In manchen Wochen hatte Jacob achtzig Stunden absolviert, sich niemals beschwert und immer getan, was getan werden musste. Trotz ihrer Gesundheitsvorsorge wurden nicht alle medizinischen Behandlungen wie die Mastektomie von der Versicherung abgedeckt. Dazu gehörte die Brustrekonstruktion, was Miranda für eine grausame Ironie hielt. Innerhalb von Stunden nach der Diagnose hatten sie bereits ihren Eigenanteil erreicht. Das Geld der Krankenversicherung deckte nicht die Hypotheken, dafür war ihr Einkommen eingeplant. Auch die Lebensmittel waren nicht darin enthalten, Haushaltskosten oder Schulkleidung für Kinder. Und ganz sicher kein Gleitflug oder die zwanzig Dollar für die Schnittblumen, die sie gerade gekauft hatte.

2. KAPITEL

Miranda stieg an der Ecke aus dem Bus und ging den halben Block bis zu ihrem Haus. Sie liebte die Wohngegend, ein Ort reich an Historie mit einer bunten gemischten Nachbarschaft. Die Queen Anne lag auf dem höchsten Berg von Seattle und bot den besten Blick über die Stadt und den Sund. Hier standen moderne Apartmenthäuser und dazwischen alte Villen, die vor langer Zeit für Holz- und Eisenbahnbarone errichtet worden waren. Die abwechslungsreiche Sweeney’s Street verströmte eine heimelige Atmosphäre. Bungalows aus der Arts-and-Crafts-Ära wurden durch Gärten aufgelockert, die auf den winzigsten Fleckchen Erde gediehen, Steingärten und Betonstufen führten hinauf zu einladend begrünten Veranden.

Sie und Jacob hatten ihr Haus sofort geliebt, als sie es vor sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hatten. Es gab sogar genug Platz für einen Garten und ein Gewächshaus im hinteren Teil des Grundstücks, etwas, von dem Miranda schon immer geträumt hatte. Sie wand sich innerlich, als sie an den Zustand ihres Gartens dachte. Er war das Erste, was sie nach der Diagnose vernachlässigt hatte.

Sie freute sich, ihr normales Leben wieder aufzunehmen, ihr Haus in Ordnung zu halten, in ihrem Garten zu pflanzen, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Dieses Haus war das absolute Limit dessen, was sie sich leisten konnten. Als Miranda sich von der Arbeit hatte freistellen lassen, hatte sie Jacob vorgeschlagen, es zu verkaufen und sich eine preiswertere Bleibe zu suchen. Davon hatte er jedoch nichts wissen wollen. Sie nahm an, dass der Verkauf des Hauses für ihn bedeutet hätte, sich einzugestehen, dass sie nicht wieder gesund werden und jemals wieder arbeiten würde. Doch das hätte er niemals zugegeben.

Sie war dankbar für seine standhafte Weigerung gewesen, sich von dem Haus, das sie so liebte, zu trennen. Doch zu Anfang des kommenden Jahres würde ihre Hypothekenrate wieder angepasst werden, und die Kosten würden explodieren. Sie erschauerte, als sie an die Summe dachte, die sie dann jeden Monat aufbringen mussten.

Aber nicht heute, ermahnte sie sich. Heute würde sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte und eingetreten war, schaute sie sich im Haus um. Aus irgendeinem Grund sah sie es mit neuen Augen. Nichts hatte sich verändert, trotzdem fühlte sie sich hier wie eine Fremde. Die Stille wurde nur durch das rhythmische Ticken der Uhr in der Diele unterbrochen. Vier Uhr nachmittags. Ihr blieb noch reichlich Zeit, um das Dinner auf den Tisch zu bringen.

Im vergangenen Jahr hatte sie gelernt, die Dinge einfach zu halten. Wenn sie überhaupt die Mühe auf sich genommen hatte, etwas zu kochen – was selten vorgekommen war –, hatte sie es meist vermieden, sich komplizierte Gerichte vorzunehmen.

„Was habe ich denn mit mir angefangen?“, fragte sie sich laut.

Dann nahm sie die Blumen, die sie gekauft hatte, suchte ein paar Vasen und Schalen heraus, griff nach der Blumenschere und machte sich an die Arbeit. Sie hatte fast vergessen, wie tröstlich und befriedigend es war, Blumen zu arrangieren, etwas, das sie von ihrer Großmutter gelernt hatte.

In ihrer Selbsthilfegruppe hatten alle immer wieder betont, wie wichtig es wäre, während der Behandlung die Dinge zu tun, die man gern tat. Für Miranda bestand das Problem darin, überhaupt etwas genießen zu können, wenn ihr nach der Chemotherapie übel war und sie nur noch wie ein Fötus zusammengerollt dalag. Oder wenn sie sich fast die Haut hätte abziehen wollen, die nach den Verbrennungen durch Bestrahlung brannte. An manchen Tagen hatte sie nichts anderes tun können, als sich von einem Moment zum nächsten zu schleppen.

Es ist vorbei, erinnerte sie sich. Du bist durch.

„Mom?“

Miranda hätte fast die Schüssel fallen lassen, die sie in der Hand hielt. „Andrew. Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.“

Ihr elfjähriger Sohn warf seinen Rucksack auf die Bank an der Hintertür. „Ich wollte leise sein.“

„Das ist dir wirklich gut gelungen. Du bist ja ein geborener Superspion.“

Er setzte sich und schnürte seine Fußballschuhe auf. Sie beobachtete ihn mit einer Mischung aus unglaublicher Liebe und schmerzlichem Bedauern. Vor nicht allzu langer Zeit war er normalerweise mit lautem Gepolter nach Hause gekommen und hatte gerufen: „Ich bin da! Ich bin am Verhungern!“

Eins der Medikamente, die sie hatte nehmen müssen, verursachte Kopfschmerzen und ließ sie hypersensibel auf laute Geräusche reagieren. Deshalb hatte sie ihn gebeten, nicht zu trampeln und nicht zu schreien. Es schien, als wäre die ganze Familie ein Jahr lang auf Zehenspitzen durchs Haus gelaufen und hätte sich nur flüsternd verständigt.

„Wie geht es dir denn, Kumpel?“, erkundigte sie sich und stieg auf die Trittleiter, um eine Salatschüssel herunterzuholen. Eine weitere Einschränkung – postoperativ: Sie konnte ihren Arm nur bis auf Schulterhöhe anheben. Das war vor Monaten gewesen, aber ein leicht unangenehmes Gefühl gab es immer noch. Sie hatte sich angewöhnt, einen Hocker zu benutzen, jemanden um Hilfe zu bitten oder das Ganze von vornherein sein zu lassen.

„Okay.“ Er stellte seine mit Grasflecken übersäten Sportschuhe beiseite und schenkte ihr ein kurzes Lächeln, bevor er aufstand.

Ihr zog sich das Herz zusammen vor Liebe. Wie groß er im Verlauf des vergangenen Jahres geworden war! Wie hübsch! Wenn sie sein Gesicht genau betrachtete, konnte sie immer noch ihren kleinen Jungen darin erkennen. Seine Haut war babyweich mit einer Menge Sommersprossen auf der Nase. Die Wangen zeigten noch immer eine kindliche Rundlichkeit, die aber bald verschwunden sein würde. Während des Wachstums würde sein Gesicht länger, schmaler und reifer werden.

Komm zurück, hätte sie am liebsten zu dem kleinen Jungen gesagt. Ich bin noch nicht bereit, dich gehen zu lassen. Es tat weh, dass sie so viel versäumt hatte, während sie krank gewesen war. Es tat weh, so viele Fußballspiele und Schultreffen verpasst zu haben oder einfach nur Spaziergänge in den Park oder Runden von Minigolf und Paintball am Wochenende.

Sie wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und ging um den Küchentresen herum, um ihn fest zu umarmen. Er reagierte angespannt und zurückhaltend, der Junge, der ihr sonst so stürmisch in die Arme gefallen war und sich liebevoll an sie geklammert hatte. Eines Tages hatten sie ihm die Mutter weggenommen, und die Frau, die zurückkam, hatte keine Haare mehr gehabt, ein aufgedunsenes Gesicht und Schläuche in der Brust. Sie war so empfindlich und schwach gewesen wie eine alte Frau und hatte nach Radiacare-Gel gerochen. Für lange Zeit war es das Ende von stürmischen Umarmungen gewesen.

Sie küsste ihn auf den Kopf. Er duftete so … golden. Wie ein Spätsommersonnenstrahl, frisches Gras und nach dem merkwürdig unschuldig riechenden Jungenschweiß. „Bald wirst du größer sein als ich“, sagte sie, als sie ihn wieder losließ. „Wahrscheinlich schon nächste Woche.“

„Nee.“ Er ging zum Spülbecken, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.

Sie bemerkte, wie er sich in der Küche umschaute, in jede Ecke sah, nur nicht zu ihr. Das war noch so eine Angewohnheit, die er im Laufe der Zeit entwickelt hatte – und nicht nur Andrew. Ihre beiden Kinder hatten sich abgewöhnt, sie anzusehen. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Es war beängstigend, ihre Mutter so krank zu sehen. Sie war keine von diesen Krebspatientinnen gewesen, wie man sie in den Filmen im Abendprogramm sehen konnte. Die mit Fortschreiten der Krankheit immer zarter und schöner wurden. Sie hatte ein fleckiges, geschwollenes Gesicht bekommen und Schatten unter den Augen. Als ihr das Haar ausfiel, entblößte es einen Schädel, der merkwürdig durchfurcht statt glatt war. Andrew war knapp zehn Jahre alt gewesen, als die Diagnose gestellt worden war. Es hatte ihn erschreckt, wie radikal seine Mutter sich verändert hatte, und er hatte sich angewöhnt, nicht hinzusehen.

„Wir essen heute Abend zusammen“, kündigte sie an. „Wir vier.“

„Okay“, erwiderte er.

„Ich habe gute Neuigkeiten.“

Das ließ ihn erstaunt aufblicken. Er war es anscheinend so gewohnt, von ihr immer nur schlechte Nachrichten zu hören, dass dies eine Überraschung darstellte. Seine Schwester Valerie hatte sich irgendwann überhaupt nicht mehr erkundigt, wie es ihr ging. „Heute hat mir Dr. Turabian gesagt, dass ich durch bin. Keine weiteren Behandlungen mehr.“

„Hey, das ist cool, Mom. Du bist geheilt.“

Sie lächelte ihn an. Das Wort „geheilt“ war ein bisschen heikel. Ihre Ärzte und das Behandlungsteam tendierten eher dazu, „krebsfrei“ zu sagen oder Werte und Messungen aus den Laboren wiederzugeben. Aber sie würde nun bei Andrew keine Haarspalterei betreiben.

„Rate mal, was ich heute gemacht habe“, sagte sie.

„Was denn?“

„Ich war in der Elliott Bay zum Parasailing.“

Endlich sah er sie an. Sah sie richtig an. Und in seinem Blick stand die Frage, ob sie den Verstand verloren hätte. „Echt?“

„Echt. Das war unglaublich. Du hättest mich sehen sollen. Es sah aus, als wenn ich der Schwanz von einem Drachen wäre.“ Sie holte das Foto heraus und zeigte es ihm.

„Das bist du?“ Er studierte die winzige am Himmel hängende Figur auf dem Bild. „Cool.“

Er schien nicht besonders aufgeregt. Vielleicht beeindruckt, aber nicht aufgeregt. Das erinnerte Miranda daran, dass ihr Sohn es lieber hatte, wenn die Dinge vorhersehbar waren. Herkömmlich. Es machte keinen Unterschied, dass sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden. Trotz aller sozialen Fortschritte in dieser Welt wünschten sich kleine Jungs ihre Mütter konventionell und unauffällig. Sie sollten in der Küche Kekse backen, Stöckelschuhe tragen und eine gerüschte Schürze. Woher nehmen sie nur diese Vorstellungen? fragte sie sich. Andrew hatte nie ein Fünfzigerjahre-Hausmütterchen gehabt. Sie besaß noch nicht mal eine Schürze. Auf welchem Planeten gab es solche Frauen?

Sie zerzauste ihm das Haar. „Keine Angst, ich werde nicht verrückt. Nach meinem Arzttermin hatte ich beschlossen, ein bisschen zu feiern, und wollte etwas Ungewöhnliches machen.“

„Okay.“

Er machte sich auf den Weg zum Arbeitszimmer, und sie hörte kurz darauf das Geräusch des angeschalteten Computers. In letzter Zeit war Andrew von einem ziemlich aufwendig gestalteten PC-Spiel besessen, das sich Adventure Island nannte. Seine Leidenschaft für dieses Spiel hatte sich im vergangenen Jahr entwickelt. Miranda verstand nicht alle Einzelheiten, aber soweit sie das sagen konnte, erlaubte ihm das Programm, seine eigene Welt am Computer zu erschaffen und mit Personen seiner Vorstellung zu besetzen.

Miranda erkannte ganz klar die Motivation hinter dieser Handlung. Andrew hatte sich einen Raum erschaffen, den er vollkommen unter Kontrolle hatte. Seine Welt war ein idyllischer Ort, wo jeder Junge ein Haustier hatte, Väter früh genug von der Arbeit kamen, um im Garten Ball zu spielen, und wo die Mütter nicht den ganzen Tag schliefen oder sich übergaben oder weinten und in die Notaufnahme gebracht werden mussten, weil sie hohes Fieber bekamen. In Andrews perfekter Welt banden sich die Mütter bunte Schürzen um ihre Barbiepuppenkörper, sangen fröhliche Lieder, halfen bei den Hausarbeiten und backten Kekse.

Träum weiter, Junge, dachte sie und stellte im Radio ihren geliebten Oldiesender ein. „Ain’t No Mountain High Enough“ wurde gerade gespielt, und sie stimmte mit ein, sang laut und schleuderte den Salat, während sie sich im Rhythmus wiegte. Früher hätte Andrew vielleicht mitgemacht. Er mochte Oldies auch und konnte ganz gut singen.

Unglücklicherweise war es zu spät, um ihn von seinem virtuellen Utopia wegzureißen. Obwohl sie mit der Radiomusik mitträllerte, verspürte Miranda einen leichten Stich des Bedauerns. Bevor er diesem Spiel verfallen war, hatte ihr Sohn viel mehr Zeit mit ihr verbracht, mit seinen Freunden und vor allem mit seiner besten Freundin der Welt, der Familienhündin Gretel.

Die große liebevolle Bernhardinerhündin war im selben Jahr geboren wie Andrew, und sie waren zusammen aufgewachsen. An Andrews erstem Tag im Kindergarten hatte Gretel sich unter seinem Bett verkrochen und sich geweigert hervorzukommen, bis er nach Hause zurückgekehrt war. Zusammen hatten sie endlos lange gespielt – Fangen und Gretels Lieblingsspiel: Retten. Andrew hatte so getan, als hätte er sich verlaufen und wäre verletzt, und sie schleppte ihn in Sicherheit. Es war eine der perfektesten Freundschaften des Lebens – ein kleiner Junge und sein treuer Hund.

Eine Schicksalswendung von unglaublicher Grausamkeit brachte es mit sich, dass Gretel vor ein paar Monaten gestorben war. An Krebs.

Miranda und Jacob hatten versucht, Andrew zu erklären, dass es einfach nur ein schmerzhafter Zufall war, dass zehn Jahre für Gretel als eine Bernhardinerhündin ein hohes Alter waren und dass an Krebs zu erkranken nicht immer bedeutete, daran zu sterben. Andrew hatte gesagt, er würde es verstehen, doch manchmal glaubte Miranda, dass er das nur behauptet hatte, damit sie und Jacob nicht mehr darüber redeten. Sie hatte ihm vorgeschlagen, einen neuen Welpen zu holen, aber das hatte Andrew nur wütend gemacht.

„Warum soll ich denn einen neuen Hund haben, wenn der auch stirbt?“

„Denk an all die Liebe, die Gretel in dein Leben gebracht hat“, war Mirandas Antwort gewesen.

„Ich weiß nur, wie sehr ich sie vermisse.“

Miranda hatte das Thema nicht weiterverfolgt. Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie befürchtet, dass ein junger Hund mehr Zeit und Energie erforderte, als sie aufbringen konnte. Sie hatte sich gesagt, dass sie mit Andrew noch einmal darüber reden würde, wenn es ihr besser ginge. Bald, dachte sie. Bald würden sie in einem Familienmeeting darüber sprechen müssen.