
John Forster
Mein Freund Charles Dickens
(Charles Dickens’ Leben)
Erster Band
Forster, John: Mein Freund Charles Dickens (Charles Dickens‘ Leben). Erster Band
Hamburg, SEVERUS Verlag 2015
ISBN: 978-3-95801-966-9
SEVERUS Verlag, Hamburg, 2015
Lektorat: Liesa-Marie Schmidt
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John Forster
Mein Freund
Charles Dickens
(Charles Dickens‘ Leben)
Ins Deutsche übertragen von
Friedrich Althaus
Erster Band
1812–1842
Den Töchtern Charles Dickens‘
Meiner Patin Mary
und
Ihrer Schwester Kate
Ist dieses Buch gewidmet von ihrem Freunde
Und ihres Vaters Freund und Testamentsvollstrecker
John Forster
Inhalt
„Kindheit“
„Harte Erfahrungen im Knabenalter“
„Schultage und Eintritt ins Leben“
„Die Galerie der Berichterstatter und die Zeitungsliteratur“
„Erstes Buch und Entstehung Pickwick‘s“
„Er schreibt die Pickwick Papers“
„Zwischen Pickwick und Nickleby“
„Oliver Twist“
„Nicholas Nickleby“
„Während und nach Nickleby“
„Neue literarische Pläne“
„Der Raritätenladen“
„Devonshire Terrace und Broadstairs“
„Barnaby Rudge“
„Öffentliches Festmahl in Edinburgh“
„Abenteuer in den Hochlanden“
„Wieder in Broadstairs“
„Vorabend der Reise nach Amerika“
„Erste amerikanische Eindrücke“
„Philadelphia, Washington und der Süden“
„Kanalbootfahrten: auf dem Weg nach dem fernen Westen“#
„Der ferne Westen: nach dem Niagarafall“
„Niagara und Montreal“
Erstes Kapitel
Kindheit
1812–1822
Charles Dickens, der volkstümlichste Novellist unseres Jahrhunderts und einer der größten Humoristen, die England hervorgebracht hat, wurde Freitag den 7. Februar 1812 in Landport auf Portsea1 geboren.
Sein Vater, John Dickens, war damals, als Beamter in dem Zahlamt der Marine, in dem Dockyard von Portsmouth angestellt. Er war mit der Dame, welche später seine Frau wurde, Elisabeth Barrow, durch deren älteren Bruder, Thomas Barrow, der ebenfalls eine Anstellung in der Marineverwaltung hatte, bekannt geworden und hatte von ihr im Ganzen eine Familie von acht Kindern, von denen zwei in jugendlichem Alter starben. Auf das älteste, Fanny (geb. 1810), folgte Charles (in dem Taufregister von Portsea als Charles John Huffham einge-tragen, obgleich er, in den sehr seltenen Fällen, in welchen er sich mit diesem Namen zeichnete, denselben Huffam schrieb); dann ein anderer Sohn, namens Alfred, der jung starb; Letitia, geb. 1816; eine andere Tochter, Harriet, die ebenfalls jung starb; Frederick, geb. 1820; Alfred Lamert, geb. 1822, und Augustus, geb. 1827, von denen Allen jetzt nur noch die zweite Tochter am Leben ist.
Walter Scott erzählt in dem Fragment seiner Selbstbiographie, wo er von den gegen seine Lahmheit angewandten seltsamen Heilmitteln spricht, daß er sich erinnere, als noch nicht ganz dreijähriger Junge auf dem Fußboden des Wohnzimmers in dem Pachthause seines Großvaters gelegen zu haben, eingewickelt in ein Schafsfell, das noch warm von dem Leibe des Schafes kam. David Copperfield‘s Gedächtnis reicht noch weiter hinauf. Wir hören von ihm, daß er weit genug in die Ferne seiner Kindheit zurückschaut, um darin seine Mutter und deren Dienstmagd unterscheiden zu können, und zwar in verkleinerter Gestalt für sein Auge, weil sie sich auf den Boden niederbeugen oder knien, während er selbst mit schwankendem Schritt von der Einen zur andern geht. Er gibt zu, daß dies Einbildung sein möge, obgleich er der Ansicht ist, daß viele sehr junge Kinder eine ganz staunenswert scharfe und genaue Beobachtungsgabe besitzen und meint, daß die Erinnerung der meisten Menschen viel weiter in solche Zeiten zurückgehen könne, als manche glauben. Was er jedoch hinzufügt, ist sicherlich keine Einbildung. „Sollte es aus dem, was ich in dieser Erzählung niederlegen werde, hervorgehen, daß ich als Kind scharf beobachtete, oder daß ich als Mann eine lebendige Erinnerung an meine Kindheit habe, so mache ich unzweifelhaft auf diese beiden Charaktereigentümlichkeiten Anspruch.“ So anwendbar dies auf David Copperfield sein mochte, so einfach und ungekünstelt wahr war es von Charles Dickens.
Er erzählte mir oft, er erinnere sich des kleinen Gartens vor dem Hause in Portsea, das er verließ, als er zwei Jahre alt war und wo er, von dem Kindermädchen durch ein niedriges mit der Gartenfläche fast auf demselben Niveau liegendes Küchenfenster beobachtet, mit etwas zu essen in der Hand, in Begleitung seiner älteren Schwester umherlief. Eines Tages trug man ihn aus dem Garten hinaus, um ihm zu zeigen, wie die Soldaten exerzierten und ich entsinne mich, daß er, als wir zu der Zeit da er „Nickleby“ schrieb, zusammen in Portsmouth waren, die Gestalt des Paradeplatzes genau wieder erkannte, den er ein Vierteljahrhundert vorher an derselben Stelle als Kind gesehen hatte.
Als sein Vater durch seine Amtspflichten wieder von Portsmouth nach London geführt wurde, bezog die Familie eine Mietwohnung in Norfolk-Street, bei dem Middlesex-Hospital und auch das lebte in des Kindes Gedächtnis fort, daß sie Portsea im Schnee verlassen hatten. Nicht lange nachher änderten sie von Neuem ihren Wohnort, da der ältere Dickens in dem Dockyard in Chatham angestellt wurde. Das Haus, das er in Chatham bewohnte, ein gewöhnlich aussehendes Gebäude mit geweißter Front und einem kleinen Vorder- und Hintergarten, lag in St. Mary‘s Place, sonst auch der Brook genannt, und stieß an einen Betsaal der Baptisten, Providence-Chapel geheißen, in der ein gleich zu erwähnender Mr. Giles Pfarrer war. Charles war damals vier bis fünf Jahre alt2 und er blieb hier bis zu seinem neunten Jahre. Hier empfing er die dauerndsten Eindrücke seiner Jugend und die Umgebung, in welcher er starb, war dieselbe, die ihn zu Anfang seines Lebens am stärksten beeinflußt hatte.
Das Gadshill-Place genannte Haus steht auf dem höchsten Punkte der Landstraße zwischen Rochester und Gravesend. Oft waren wir zusammen daran vorbeigereist, viele Jahre ehe es seine Heimat wurde und nie ohne eine Anspielung auf das, was er mir sagte, als ich es zuerst in seiner Gesellschaft sah: daß es nämlich in seinen Kindheitserinnerungen immer eine hervorragende Stelle eingenommen. Denn als er, mit seinem Vater von Chatham kommend, es zuerst gesehen und mit Bewunderung daran emporgeblickt, habe man ihm versprochen, er könne selbst in diesem oder einem ähnlichen Hause wohnen, wenn er ein Mann werde und nur fleißig genug arbeiten wolle. Und eine lange Zeit war dies sein Ehrgeiz. Es ist dies eine gefällige Anekdote, die in authentischer Weise bestätigt wird durch den Anfang eines seiner Essays über das Reisen im Auslande, wo auf der Straße nach Canterbury eine Vision seines früheren Selbst seinen Weg kreuzt.
„So eben war die alte Landstraße und so frisch waren die Pferde und so schnell fuhr ich, daß wir die Mitte des Weges zwischen Gravesend und Rochester erreicht hatten und der breiter werdende Fluß die Schiffe mit weißen oder rauchschwarzen Segeln der See entgegenführte, als ich seitab am Wege einen sehr sonderbaren kleinen Jungen bemerkte.
„Holla!“ sagte ich zu dem sehr sonderbaren kleinen Jungen, „wo wohnst Du?“
„In Chatham“, sagt er.
„Was machst Du da?“ sage ich.
„Ich gehe in die Schule“, sagt er.
„Ich nahm ihn flugs zu mir in den Wagen und wir fuhren weiter. Hierauf sagt der sehr sonderbare kleine Junge: „Das ist Gads-Hill, wo wir jetzt hinkommen, wo Falstaff hinauszog, um die Reisenden auszuplündern und davon lief.“
„So weißt du etwas von Falstaff?“ sagte ich.
„Alles“, sagte der sehr kleine sonderbare Junge. „Ich bin alt (neun Jahre) und lese alle möglichen Bücher. Aber bitte, lassen Sie uns oben auf dem Hügel still halten und das Haus dort ansehen!“
„Du bewunderst das Haus?“ sagte ich.
„Bewundern!“ sagte der sehr kleine sonderbare Junge; „schon als ich nicht mehr als halb so alt war wie jetzt, war es ein Vergnügen für mich, wenn ich hingenommen wurde und das Haus ansehen durfte. Und nun ich neun bin, gehe ich allein hin, um es anzusehen. Und so lange ich mich erinnern kann, hat mein Vater, der sah, wie gern ich es mochte, oft zu mir gesagt: Wenn Du sehr große Ausdauer hast und sehr fleißig arbeitest, kannst Du vielleicht eines Tages darin wohnen. Aber das ist unmöglich!“ sagte der sehr sonderbare kleine Junge, indem er tief Atem holte und nun aus dem Fenster hinaus das Haus mit aller Macht anstarrte.
„Es überraschte mich nicht wenig, dies von dem sehr sonderbaren kleinen Jungen zu hören; denn zufälligerweise war dies Haus mein Haus und ich habe Ursache zu glauben, daß das, was er sagte, wahr ist.“
Der sonderbare kleine Junge war in der Tat er selbst. Er war ein sehr kleiner und sehr kränklicher Knabe. Er war heftigen Krampfanfällen unterworfen, die ihn zu jeder körperlichen Anstrengung unfähig machten. Er war nie ein guter kleiner Cricketspieler. Er zeichnete sich nie aus beim Knipfern, Kreiselwerfen oder Schwarzen Mann. Aber es machte ihm viel Vergnügen, den andern Jungen, meist Offizierssöhnen, bei diesen Spielen zuzusehen, während er selbst las, und er war immer überzeugt, daß jene frühe Kränklichkeit in einer Beziehung von unschätzbarem Nutzen für ihn gewesen sei, weil seine schwache Gesundheit ihm eine starke Neigung zum Lesen eingeflößt habe. Aus dem weitern Verlauf meiner Erzählung wird sich nicht ergeben, daß er seinen Eltern viel verdankte, oder daß er mehr war, als wie er sich in seinem ersten Briefe an Washington Irving beschreibt, „ein sehr kleiner und nicht eben zu freundlich behandelter Junge;“ aber man hat ihn oft sagen hören, daß sein erstes Verlangen nach Erkenntnis und seine erste Leidenschaft für Bücher durch seine Mutter in ihm erweckt wurden, die ihm nicht nur die Anfangsgründe des Englischen, sondern etwas später auch die des Lateinischen lehrte. Sie unterrichtete ihn eine lange Zeit regelmäßig jeden Tag und sie unterrichtete ihn seiner Meinung nach vortrefflich. Ich stellte in Bezug hierauf einmal eine Frage an ihn, die er in fast denselben Worten erwiderte, welche er fünf Jahre später David Copperfield in den Mund legte. „Ich erinnere mich dunkel, daß sie mir das Alphabet lehrte und wenn ich die fetten schwarzen Buchstaben in dem Lesebuch sehe, macht die verwirrende Neuheit ihrer Gestalt und die bequeme Gutmütigkeit des O und S mir immer noch denselben Eindruck wie ehemals.“
Dann folgte die Kinderschule, eine Schule für Knaben und Mädchen, die er mit seiner Schwester Fanny besuchte und die sich in einer Rome-Lane genannten Straße befand. Als er im Mannesalter wieder nach Chatham kam und sich nach dieser Straße umsah, fand er, daß man sie vor „undenklichen Zeiten“ niedergerissen habe, um Raum für eine neue Straße zu schaffen; aber aus der Ferne der Zeiten stieg nichtsdestoweniger eine dunkle Vorstellung empor, daß die Schule über einem Färberladen gewesen sei, daß er eine Treppe dazu hinaufging, daß er sich dabei oft gegen die Knie gestoßen und daß er, indem er den Schmutz von einem sehr unsichern kleinen Schuh abzukratzen suchte, gewöhnlich mit seinem Bein über das Schabeisen kam.3 Andre ähnliche Kindheitserinnerungen sind ihm gelegentlich in seinen kleineren Schriften entschlüpft, deren Leser sich erinnern mögen, wie lebendig er Teile seiner Knabenzeit in seiner Phantasie über den Weihnachtsbaum neu belebt hat und kaum vergessen haben werden, was er in seiner gedankenvollen kleinen Abhandlung über „Ammenmärchen“ von den zweifelhaften Orten und Leuten sagt, mit denen Kinder bekannt werden, ehe sie sechs Jahre alt sind und zu denen sie allnächtlich von Dienstboten, unter deren Aufsicht sie stehen, gegen ihren Willen gezwungen werden, zurückzukehren. Und hat er nicht auch verständnisvoll erzählt, daß die Kindheit das was sie sieht übertreibt? Wie er meinte, die Hochstraße von Rochester müsse mindestens so breit sein als die Regent Street in London, und nachher fand, daß sie wenig mehr als eine Gasse war; wie die öffentliche Uhr darin, die er für die schönste Uhr in der Welt hielt, sich später als eine Uhr mit einem so kläglichen Mondgesicht herausstellte, als Menschenaugen je sahen, und wie er in dem Rathause, das ihm vormals als ein so herrliches Gebäude erschien, daß er sich darin das Modell vorstellte, wonach der Genius der Lampe den Palast für Aladdin gebaut, mit Schmerzen nichts als einen elenden kleinen Haufen von Ziegelsteinen, einer toll gewordenen kleinen Kapelle ähnlich, erkennen mußte. Allein doch nicht mit so großen Schmerzen, wenn die weisen Nachgedanken sich einstellten. „Ach, welches Recht hatte ich, mit der Stadt zu grollen, daß sie mir verändert schien, da ich selbst so verändert zu ihr zurückkehrte. Meine ganze frühe Lektüre, alle meine frühen Phantasien schlossen sich an diesen Platz an und ich nahm sie so voll unschuldiger Deutung und arglosem Glauben mit mir fort und brachte sie so entstellt und abgenutzt zurück, so viel weiser und so viel schlechter!“
Und hier will ich sogleich ausdrücklich bemerken, was schon angedeutet wurde, daß, gerade wie Fielding sich und seine Verhältnisse im Capitän Booth und Amalia beschrieb und immer beteuerte, daß er in seinen Büchern weiter nichts geschrieben, als was er im Leben gesehen, so dasselbe von Dickens mit ganz besonderer Beziehung auf David Copperfield gesagt werden kann. Man hat seit seinem Tode mancherlei Vermutungen angestellt über den Zusammenhang der Lebensgeschichte David Copperfield‘s mit seiner eigenen, und sich bemüht, die häufig wiederkehrende Darstellung des Gefängnislebens, das er, mit seinem Humor und seinem Pathos, mit so wunderbarer Lebenstreue geschildert hat, aus wirklichen Erfahrungen zu erklären und aus dem, was David in der Schule an Steerforth über die Geschichten erzählt, die er in seiner Kindheit gelesen, nachzuweisen, was sein eignes Genie besonders beeinflußt habe. In allen diesen Dingen ist nicht nur Wahrheit, sondern die Identität ging, wie sich gleich herausstellen wird, tiefer als irgendjemand gedacht hatte und umfaßte Erfahrungen, die in der Wirklichkeit nicht weniger außerordentlich waren, als sie in der Dichtung zu sein schienen.
Was für „Lektüre“ und „Phantasien“ er von Chatham mit fortnahm, kann diese Autorität uns sagen. Es ist eine der vielen Stellen in Copperfield, die wörtlich wahr sind und hier ist der Ort sie einzuschalten. „Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einem kleinen Zimmer im obern Stock gelassen, zu dem ich Zutritt hatte (denn es stieß an mein eigenes) und um das niemand sonst im Hause sich je bekümmerte. Aus diesem gesegneten kleinen Zimmer kamen Roderich Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Vicar von Wakefield, Don Quichotte, Gil Blas und Robinson Crusoe hervor, eine glorreiche Schar, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie hielten meine Phantasie lebendig und meine Hoffnung auf etwas jenseits jenes Ortes und jener Zeit – sie und die Arabischen Nächte und die „Erzählungen der Genien“ – und fügten mir kein Übel zu; denn was etwa Übles in ihnen war, war nicht für mich da; ich wußte nichts davon. Ich wundere mich jetzt, wie ich inmitten meines verworrenen Brütens über wichtigern Gegenständen Zeit fand, diese Bücher so zu lesen wie ich sie las. Es ist mir sonderbar, wie ich mich je in meinen kleinen Leiden (die für mich große Leiden waren) damit trösten konnte, daß ich meine Lieblings-Charaktere in denselben personifizierte ... Ich bin eine ganze Woche lang Tom Jones (ein kindlicher Tom Jones, ein harmloses Geschöpf) gewesen. Ich habe, wie ich wahrhaftig glaube, meine eigne Vorstellung von Roderich Random einen ganzen Monat lang in einem Zuge durchgeführt. Ich verschlang mit gierigem Behagen einige Bände Reisebeschreibungen – ich vergesse jetzt, welche – die in jenen Bücherbrettern waren; und ich erinnere mich, daß ich viele Tage lang in meiner Region unsres Hauses umherwanderte, bewaffnet mit dem Mittelstück aus einem alten Stiefelblock, als vollkommene Personifikation eines Capitäns der britischen Marine, der Gefahr läuft, von Wilden überfallen zu werden, und entschlossen ist, sein Leben so teuer als möglich zu verkaufen ... Wenn ich daran denke, so steigt vor meiner Seele immer das Bild eines Sommerabends auf; die Jungen spielen auf dem Kirchhof und ich sitze auf meinem Bette, wie auf Leben und Tod lesend. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche und jeder Fußbreit des Kirchhofs stand in meinem Geiste in einer gewissen Beziehung zu diesen Büchern und stellte einen in denselben berühmt gewordenen Ort dar. Ich habe Tom Pipes den Kirchturm hinauf klettern sehen; ich habe Strap belauscht, wie er mit seinem Ranzen auf dem Rücken an dem Gartentor ausruht, und ich weiß, daß Kommodor Trunnion seinen Club mit Mr. Pickle in der Gaststube unsrer kleinen Dorfkneipe hatte.“ Jedes Wort dieser persönlichen Erinnerung war als Tatsache niedergeschrieben, mehrere Jahre, ehe es seine Stelle in David Copperfield fand; die einzige Abänderung in der Dichtung bestand in der Auslassung des namens einer um jene Zeit veröffentlichten billigen Ausgabe der Novellendichter, mittelst deren sein Vater glücklicherweise der Besitzer eines so großen Haufens literarischer Schätze in seiner kleinen Büchersammlung geworden war.
Das gewöhnliche Resultat erfolgte. Das Kind fing selbst zu schreiben an und erwarb in seinem kindischen Kreise Ruhm durch eine Tragödie namens Misnar, Sultan von Indien, die sich auf eine der „Erzählungen der Genien“ (ohne Zweifel in sehr wörtlicher Weise) gründete. Doch war dies nicht seine einzige Auszeichnung. Er besaß ein solches Geschick im Erzählen von Geschichten aus dem Stegreif und trug kleine komische Lieder so vortrefflich vor, daß man ihn zu Hause und anderswo, der wirksameren Entfaltung seiner Talente willen, auf Stühle und Tische zu heben pflegte, und als er mir dies während einer der Dreikönigstags-Gesellschaften an dem Geburtstage seines ältesten Sohnes zuerst erzählte, sagte er, er erinnere sich nie daran, ohne daß seine schrille kleine Kinderstimme ihm wieder in den Ohren klinge und erröte zu denken, wie unausstehlich er für viele harmlose erwachsene Leute gewesen sein müsse, die aufgefordert wurden, ihn zu bewundern.
Sein Hauptbeförderer in diesen Dingen war ein junger Mann von Talent, namens James Lamert, viel älter als er selbst, Stiefsohn seiner Tante und daher eine Art Vetter und der große Gönner und Freund seiner Kindertage. Mary, die älteste Tochter Charles Barrow‘s, der selbst ein Lieutenant in der Kriegsflotte war, war in erster Ehe mit einem Kommodor der Kriegsflotte, namens Allen, verheiratet gewesen; nachdem dieser bei Rio Janeiro ertrunken war, hatte sie sich zu ihrer Schwester, der Frau des Beamten im Zahlamt der Marine, nach Chatham begeben, wo sie sich später in zweiter Ehe mit Dr. Lamert, einem Militärarzt, verheiratete, dessen Sohn James, auch nachdem er in das Kadettenhaus nach Sandhurst geschickt war, Chatham noch von Zeit zu Zeit besuchte. Er hatte eine Neigung für theatralische Aufführungen, und da der zweite Mann seiner Stiefmutter sein Quartier in dem Artilleriehospital in Chatham, einem weitläufigen, sonst damals fast unbewohnten Gebäude hatte, fehlte es nicht an Räumlichkeiten, wo er seine Darstellungen veranstalten konnte. Der Stabsarzt selbst nahm daran Teil und man wird sein Porträt im Pickwick wiederfinden.
Von Lamert wurde Dickens, wie ich ihn oft habe sagen hören, in sehr zartem Alter in‘s Theater genommen. Er konnte indes kaum jünger gewesen sein, als Charles Lamb, der sich erinnerte, mit sechs Jahren den Artaxerxes gesehen zu haben, und ganz gewiß nicht jünger als Sir Walter Scott, der erst vier Jahre alt war, als er Shakespeare‘s Wie ihr wollt in dem Theater in Bath aufführen sah und sich erinnerte, laut ausgerufen zu haben: Sind sie nicht Brüder? als der Anfang des Kampfes zwischen Orlando und Oliver ihm ein Ärgernis gab. Aber jedenfalls war er alt genug, um sich zu entsinnen, wie sein Herz vor Schrecken klopfte, als der böse König Richard, gegen den tugendhaften Richmond auf Leben und Tod kämpfend, sich an die Loge, in der er saß, zurückzog und dagegen stieß; und spätere Besuche in demselben Heiligtum enthüllten ihm, wie er uns erzählt, viele wundersame Geheimnisse, „worunter nicht die am wenigsten furchtbaren waren, daß die Hexen im Macbeth eine schreckenerregende Ähnlichkeit hatten mit den Thanen und andern eigentlichen Bewohnern Schottlands und daß der gute König Duncan nicht in seinem Grabe ruhen konnte, sondern beständig daraus hervorkam und unter einem andern Namen wieder erschien.“
Während der beiden letzten Jahre von Dickens Aufenthalt in Chatham wurde er in eine Schule geschickt, welcher der bereits genannte junge Baptistenprediger, Mr. William Giles, vorstand. Sein Bild aus dieser Zeit steht klar vor meiner Seele, als das eines gefühlvollen, nachdenklichen, schwächlichen kleinen Jungen, mit ungewöhnlicher Kenntnis und Phantasie für ein solches Kind und mit einer gefährlichen Art von umherschweifendem Verstand, den ein Lehrer zum Guten oder Bösen, zu Glück oder Elend wenden konnte, je nachdem er ihn leitete. Übrigens scheint der Einfluß von Mr. Giles, so weit er eben ging, ein vorteilhafter gewesen zu sein. Charles selbst empfand es in spätern Jahren nicht ohne Dankbarkeit, daß dieser erste seiner Lehrer in seiner ziemlich liebeleeren Kindheit ihn für einen Knaben von Talent erklärt hatte, und als sein alter Lehrer ihm um die Zeit, als ungefähr die Hälfte der Pickwickier veröffentlicht war, eine silberne Schnupftabaksdose schickte, mit der bewundernden Inschrift „An den unvergleichlichen Boz“, erinnerte ihn dies an das viel köstlichere Lob, das er bei seinem ersten Jahresexamen in Mr. Giles‘ Schule davon getragen, als seine Deklamation eines Stückes aus dem Humourist‘s Miscellany, über Doktor Bolus, ihm, falls seine jugendliche Eitelkeit ihn nicht täuschte, ein doppeltes Dacapo errungen. Eine Gewohnheit (die einzige schlechte, die Mr. Giles ihm beibrachte), eine Zeit lang in äußerst mäßigen Dosen den „Irish Blackguard“ genannten Schnupftabak zu gebrauchen, war das Resultat dieses Geschenks seines alten Lehrers; aber er gab sie nach einigen Jahren auf und kehrte seitdem nie wieder dazu zurück.
Es war auf dem die Schule umgebenden Spielplatz, wo er, einer seiner jugendlichen Erinnerungen zufolge, zur Zeit der Heuernte, durch seine Landsleute, die siegreichen Briten (einem Jungen aus dem anstoßenden Hause und seinen beiden Vettern), aus dem Kerker von Seringapatam, einem ungeheuern Gebäude (von Heuhaufen) befreit und mit Entzücken von seiner Braut (Miss Green) erkannt wurde, die den ganzen Weg von England (aus dem zweiten Hause in der Reihe) herübergekommen war, um ihn loszukaufen und zu heiraten. Es war, wie er selbst berichtet hat, ebenfalls auf diesem Spielplatz, wo er zuerst im Vertrauen von Einem, dessen Vater „im Staatsdienst stand“ und in hohen Kreisen angesehen war, von dem Dasein einer schrecklichen Räuberbande hörte, genannt die Radikalen, deren Grundsätze waren: daß der Prinz-Regent ein Corset trage, daß niemand einen Anspruch auf Besoldung habe und daß man die Armee und die Flotte beseitigen müsse – Gräuel, vor denen er in seinem Bett zitterte, nachdem er darum gebetet, daß die Radikalen schleunig gefangen genommen und gehängt werden möchten. Auch war es nicht die geringste unter den Enttäuschungen eines Besuchs, den er später dem Schauplatz seines Knabenalters abstattete, daß er seinen Spielplatz durch eine Eisenbahnstation verschlungen fand. Derselbe war, samt seinen zwei schönen Hagedornbäumen, dahin und wo die Hecke, der Rasen und alle die Butterblumen und Maßlieben geblüht hatten, war nichts als die steinigste aller rüttelnden Straßen.
Dickens war nicht viel mehr als neun Jahre alt, als sein Vater von Chatham nach London zurückberufen wurde und er seinen guten Lehrer und den alten Ort, der ihm durch Erinnerungen, woran er sein ganzes späteres Leben hindurch hing, lieb geworden war, verlassen mußte. Hier war es, wo er nicht nur die berühmten Bücher kennen gelernt hatte, die David Copperfield ausdrücklich nennt: Roderich Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, den Vicar von Wakefield, Don Quichotte, Gil Blas, Robinson Crusoe, Tausend und Eine Nacht und die Erzählungen der Genien, sondern auch die Zeitschriften Spectator, Idler, Tatler, Citizen of the World und Mrs. Juchbald‘s Sammlung von Possen. Auch diese letzteren waren in der kleinen Bibliothek gewesen, zu der er Zutritt hatte, und seine früheste Erinnerung hinsichtlich derselben war, nicht daß er sie zum ersten, zweiten oder drittenmal, sondern daß er sie in Chatham immer wieder und wieder gelesen habe. Sie waren eine Schar von Freunden für ihn, als er keinen einzigen Freund hatte, und ich hörte ihn oft sagen, als er den Ort verlassen, sei ihm gewesen, als verlasse er diese Freunde und alles, was seinem kränkelnden kleinen Leben Gestalt und Sonnenschein verliehen, auch. Dort lag die Geburtsstätte seiner Phantasie und er wußte kaum, wie viel das geschäftig wechselnde Leben des Ortes ihm Wert war, ehe er die niedersinkende Wolke erblickte, die seine Bilder auf immer vor ihm verbergen sollte. Das Ein- und Ausziehen der schmucken glänzenden Regimenter, das beständige Exerzieren und Feuern, die Aufeinanderfolge von Schein-Belagerungen und Schein-Verteidigungen, die von seinem Vetter im Hospital veranstalteten Schauspiele, die Yacht des Marinezahlamts, in der er mit seinem Vater nach Sheerneß gesegelt war und die aus dem Medway ausfahrenden Schiffe mit ihren fernen Visionen vom Meere – alles das sollte er verlieren. Nie mehr sollte er den Spielen der Knaben zusehen, oder sehen, wie sie die Schein-Belagerungen und Schein-Verteidigungen noch einmal wieder durchkämpften. Er sollte in der Stage-Coach Kommodor nach London fahren und die Kentischen Wälder und Felder, der Park und der Landsitz von Cobham, die Kathedrale und das Schloß von Rochester, das ganze wunderbare Märchen, mit Einschluß des rotwangigen kleinen Kindes, für das er eine leidenschaftliche Liebe empfunden, sollte wie ein Traum verschwinden. „Am Vorabend „unsrer Abreise,“ erzählte er mir, „kam mein guter Lehrer zwischen den Kisten und Kasten hereingehuscht, um mir Goldsmith‘s Biene zum Andenken mitzugeben; – die ich auch, um seinet- und um ihretwillen lange behielt.“ Noch später besann er sich auf die Fahrt in der Stage-Coach und bemerkte in einer seiner veröffentlichten Schriften, er habe nie, in allen dazwischen liegenden Jahren, den Geruch des feuchten Strohes vergessen, in das er eingepackt gewesen und wie Wild franko befördert worden sei. „Es war kein Passagier außer mir in der Kutsche und ich verzehrte meine Butterbröte in Einsamkeit und Trübsinn und der Regen strömte die ganze Zeit nieder und das Leben kam mir schmutziger vor als ich erwartet hatte.“
Die frühsten Eindrücke, die er in London empfing und behielt, bezogen sich auf die Geldverlegenheiten seines Vaters, und damals hörte er zuerst von der „Urkunde“ reden, welche in Wahrheit die Krise in den Verhältnissen seines Vaters bezeichnete, die in der Dichtung denjenigen Mr. Micawber‘s zugeschrieben wird. Später erfuhr er, daß es ein Vergleich mit Gläubigern gewesen war, obgleich er sich bewußt war, es in dieser frühern Zeit mit Pergamenten von weit dämonischerer Art verwechselt zu haben. Eine Folge des furchtbaren Dokuments zeigte sich bald in notgedrungenen Einschränkungen. Die Familie mußte ihren Wohnsitz in einem Hause in Bayham Street, in Camden Town, aufschlagen.
Bayham Street war damals so ziemlich der ärmste Teil der Londoner Vorstädte und das Haus war eine elende kleine Wohnung, mit einem kläglichen kleinen Hintergarten, der an einen schmutzigen Hof stieß. Das war kein Ort, neue Bekanntschaften zu machen: es gab keine Knaben in der Nähe, mit denen er hoffen konnte, irgendwie befreundet zu werden. Eine Waschfrau wohnte in dem anstoßenden Hause und ein Polizist auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Wieder und wieder hat er hiervon mit mir gesprochen und wie er sofort in einen von allen andern Knaben seines Alters geschiedenen Zustand der Einsamkeit zu verfallen und zu Hause in eine verwahrloste Lage zu versinken schien, die ihm immer ganz unerklärlich gewesen war. „Wenn ich,“ sagte er bei einer Veranlassung sehr bitter, „in der kleinen Hinter-Dachkammer an alles dachte was ich verloren, indem ich Chatham verlor – was würde ich nicht gegeben haben (hätte ich etwas zu geben gehabt), in irgendeine andre Schule geschickt und irgendwo in irgendetwas unterrichtet zu werden!“ Er war schon in einer andern Schule, ohne es zu wissen. Die ihm aufgezwungene Selbsterziehung lehrte ihn, vorläufig noch unbewußt, eben das, was ihm für die Zukunft, die ihm bevorstand, am wichtigsten war, zu wissen.
Daß er, von den frühesten Anfängen dieses Lebens in Bayham Street an, seine ersten Eindrücke jener kämpfenden Armut empfing, die nirgends lebendiger hervortritt, als in den geringeren Straßen einer gewöhnlichen Londoner Vorstadt und die seine frühesten Schriften mit einem originellen Humor und einem ungesuchten Pathos bereicherten, denen dieselben viel von ihrer raschen Popularität verdankten, kann nicht bezweifelt werden. „Ich verstand sie damals“, hat er oft zu mir gesagt, „sicherlich ebenso gut als jetzt.“ Aber er war sich noch nicht bewußt, daß er sie so verstand, oder was für einen Einfluß dies Verständnis schon damals auf sein Leben ausübte. Es scheint fast zuviel, von einem neun- oder zehnjährigen Kinde zu behaupten, daß seine Beobachtung so scharf und richtig gewesen, oder daß er ebenso viel intuitive Einsicht in den Charakter und die Schwächen der erwachsenen Leute seiner Umgebung besessen habe, als zu der Zeit, da dieselbe durchdringende und wunderbare Fähigkeit ihn unter den Menschen berühmt machte. Aber so wie ich ihn kannte, konnte ich nicht umhin, der von ihm unveränderlich wiederholten Behauptung: er habe nie Ursache gehabt, etwas in dem, was während seiner Knabenzeit sein geheimer Eindruck über irgendeine Person gewesen, zu ändern oder zu bessern, wenn er als erwachsener Mann in spätern Jahren Gelegenheit zur Prüfung gehabt habe, vollkommenen Glauben beizumessen.
Wie es kam, daß ein Kind von solcher Anlage in das Elend und die Verwahrlosung der Zeit, von der ich jetzt reden werde, versank, war ein Problem, worüber wir oft unsre Gedanken austauschten, und bei einer Gelegenheit entwarf er mir ein Charakterbild seines Vaters, das, da ich es hier ganz in den von ihm gebrauchten Worten wiedergeben kann, die beste Vorrede zu Mitteilungen sein wird, hinsichtlich deren mir keine Wahl bleibt. „Ich weiß, daß mein Vater ein so warmherziger und edler Mensch ist, als irgendeiner, der je in der Welt lebte. Sein ganzes Benehmen gegen seine Frau, seine Kinder und seine Freunde, soweit ich mich desselben erinnere, ist über alles Lob erhaben. Bei mir hat er, wenn ich als Kind krank war, Nacht und Tag, unermüdet und geduldig, viele Tage und Nächte gewacht. Er unternahm nie ein Geschäft, einen Auftrag oder eine Verantwortlichkeit, ohne sie eifrig, gewissenhaft, pünktlich, ehrenhaft zu erfüllen. Er war immer unermüdlich fleißig. Er war in seiner Weise stolz auf mich und bewunderte meinen komischen Gesang sehr. Aber bei der Leichtigkeit seines Temperaments und dem Mangel an Geldmitteln schien er um diese Zeit jeden Gedanken an meine Erziehung völlig verloren und sich der Vorstellung, daß ich irgendwelche Ansprüche an ihn habe, völlig entschlagen zu haben. So sank ich dazu herab, daß ich morgens seine und meine Stiefel putzte und mich bei den Geschäften des kleinen Hauses nützlich machte und nach meinen jüngern Brüdern und Schwestern sah (es waren unser jetzt im ganzen sechs) und die kläglichen Bestellungen ausrichtete, die bei unsrer kläglichen Lebensweise auszurichten waren.“
Der schon erwähnte Vetter, James Lamert, der vor kurzem seine Erziehung in Sandhurst beendet hatte und auf sein Offizierspatent wartete, wohnte damals bei der Familie in Bayham Street und hatte weder seinen Geschmack für die Bühne, noch seinen dahin schlagenden Erfindungsgeist verloren. Von Mitleid für den einsamen Knaben erfüllt, verfertigte und malte er ein kleines Theater für ihn. Es war die einzige poetische Wirklichkeit seines damaligen Lebens; aber es konnte ihm nicht ersetzen, was er am schmerzlichsten entbehrte, den Verkehr mit Knaben von seinem eigenen Alter, mit denen er an den Vorteilen einer Schule hätte teilnehmen und um die Preise derselben kämpfen können. Seine Schwester Fanny wurde um diese Zeit als Schülerin in die königliche Musik-Akademie aufgenommen und er erzählte mir, welch‘ ein Stoß durch‘s Herz es für ihn war, als er, im Gedanken an seine eigene verwahrloste Lage, sie unter den tränenvollen guten Wünschen sämtlicher Hausbewohner fortgehen sah, um ihre Erziehung anzufangen.
Doch indem die Zeit vorrückte, rückte nichtsdestoweniger unbewußt auch seine Erziehung, unter dem strengsten und mächtigsten aller Lehrer, vor und vernachlässigt und elend wie er war, gelang es ihm allmählich, alle Träumereien, das ganze träumerische Wesen und die ganze Romantik, womit er Chatham bekleidet hatte, auf London zu übertragen. Am obern Ende von Bayham Street standen damals (und standen noch, als ich vor fast siebenundzwanzig Jahren die Straße wieder mit ihm besuchte) einige Armenhäuser, und dorthin zu gehen und von dieser Stelle aus über die Erdhaufen und Felder die Kuppel der Paulskirche durch den Rauch aufdämmern zu sehen, war, wie er mir erzählte, ein Vergnügen für ihn, das ihm für Stunden unbestimmten Nachdenkens Nahrung bot. Ein Spaziergang in die wirkliche Stadt, besonders in die Nähe von Covent Garden und des Strand, erfüllte ihn mit wahrhaftem Entzücken. Aber die mächtigste Anziehungskraft übte der abstoßende Distrikt von St. Giles auf ihn aus. Wenn er nur die Personen, die mit ihm spazieren gingen, bewegen konnte, ihn durch Seven-Dials4 zu führen, war er außer sich vor Freude. „Großer Gott!“ rief er oft aus, „was für wilde Visionen von Ausgeburten der Schlechtigkeit, des Mangels und des Bettlertums stiegen aus diesem Ort in meinem Geiste empor!“ Er war, was der Leser nicht vergessen darf, diese ganze Zeit über noch beständigen Krankheitsanfällen unterworfen und aus diesem Grunde selbst für sein Alter ein sehr kleiner Knabe.
Wir nähern uns jetzt einem Teil seines Knabenalters, den er, als die Tage des Ruhms und des Glücks für ihn kamen, wie eine schmerzliche Last in seinem Gedächtnis fühlte, bis er sie lindern konnte, indem er sie mit einem Freunde teilte, und ein Zufall, den ich sogleich erwähnen werde, führte diese Enthüllung herbei. Vorher muß ich aber noch eine Zwischenzeit von einigen Monaten beschreiben, über die ich nach Unterredungen und Briefen, welche in Folge jener Enthüllung zwischen uns gewechselt wurden und die bereits für diese Blätter von Nutzen gewesen sind, einige allgemeine und flüchtige Notizen mitteilen kann. Ich bin es mir selbst schuldig zu bemerken, daß der Gebrauch, den ich jetzt davon mache, damals beabsichtigt wurde; denn obschon ich lange vor seinem Tode aufgehört hatte, es für wahrscheinlich zu halten, daß ich ihn überleben würde, um über ihn zu schreiben, so hatte er doch den zu jener Zeit entschieden ausgedrückten Wunsch nie widerrufen, noch mir das Vertrauen entzogen, welches er mir nicht bloß damals, sondern bis an seinen Tod schenkte und wodurch ich in den Stand gesetzt werden sollte, jenen Wunsch zu erfüllen.5 Er hatte selbst in der Tat die Erfüllung erleichtert, indem er in „David Copperfield“ den Schleier teilweise lüftete.
Die Besuche, die er von Bayham Street aus machte, galten besonders zwei Verwandten und Freunden der Familie, dem ältern Bruder seiner Mutter und seinem Taufvater. Der letztere, ein Takelmeister und Mast-, Ruder- und Blockverfertiger, wohnte in der Nähe der Themse, in wohlhabenden Verhältnissen, und erwies sich freundlich gegen sein Patenkind. Es war immer ein großes Vergnügen für ihn, dorthin zu gehen, und das Bild Londons bei Nacht auf seinem Rückwege erweckte ihm stets Freude und Staunen. Dort kam auch sein Talent für das Singen komischer Lieder so sehr zur Anerkennung, daß einer der Gäste seines Taufvaters, ein ehrlicher Schiffsbauer, den Knaben für ein „kleines Wunder“ erklärte. Die Besuche bei seinem unverheirateten Onkel, der wie sein Vater bei der Marineverwaltung angestellt war, führten ihn nicht so weit von Hause. Mr. Thomas Barrow, das älteste Mitglied der Familie seiner Mutter, hatte sich das Bein durch einen Fall gebrochen und bewohnte, während er auf dem Krankenbette lag, den obern Teil des Hauses eines würdigen alten Herrn, der eben damals gestorben war, eines Buchhändlers, namens Manson, Vater des Teilhabers in der berühmten Firma Christie und Manson, dessen Witwe um diese Zeit das Geschäft weiterführte. Durch die Erscheinung des Knaben angezogen, liehen diese guten Leute ihm Bücher zu seiner Unterhaltung, unter andern Miss Porter‘s Scottish Chiefs, Holbein‘s Totentanz und George Colman‘s Broad Brins (Grimaçen). Dies letztere gefiel ihm sehr und eine Beschreibung des Covent-Garden-Markts in dem „der Ältere Bruder“ betitelten Abschnitt brachte einen so lebhaften Eindruck auf ihn hervor, daß er sich auf eigne Hand nach dem Covent-Garden-Markt schlich, um ihn mit dem Buche zu vergleichen. Er erinnerte sich, als er mir dies erzählte, daß er den Geruch der welken Kohlblätter eingesogen habe, als wäre derselbe der Lebensatem der komischen Dichtung. Und in der Tat hatte er nicht ganz Unrecht, wie die komische Dichtung damals und einige Zeit nachher war. Es war ihm selbst vorbehalten, ihr ein reineres und frischeres Leben einzuhauchen. Vorher sollten noch manche Jahre vergehen, aber er fing bereits an, den Versuch zu machen.
Sein Onkel ließ sich von einem äußerst seltsamen alten Barbier aus der Nachbarschaft rasieren, der nie müde wurde, die Ereignisse des letzten großen Krieges zu besprechen und besonders Napoleon‘s Missgriffe zu enthüllen und dessen ganzes Leben nach einem von ihm selbst entworfenen Plane umzugestalten. Der Knabe entwarf eine Beschreibung dieses alten Barbiers, hatte aber nie den Mut, sie jemandem zu zeigen. Ungefähr um dieselbe Zeit entwarf er, nach dem Muster der Haushälterin des Kanonikus in Gil Blas, eine Skizze einer tauben alten Frau, die ihnen in Bayham Street aufwartete und mit Wallnußbrühe schmackhafte Ragouts bereitete. Auch diese Skizze ließ er niemanden sehen, obgleich er sie selbst für äußerst geistreich hielt.
Inzwischen gingen die Dinge in Bayham Street schlecht; die Besuche des armen Knaben bei seinem Onkel, während der letztere noch durch seinen Unfall an‘s Haus gefesselt war, wurden durch einen neuen Fieberanfall unterbrochen und nach seiner Genesung hatte die geheimnisvolle „Urkunde“ wieder die Oberhand gewonnen. Seines Vaters Geldmittel waren so gering und alle seine Auskunftsmittel so vollständig erschöpft, daß ein Versuch gemacht werden sollte, ob seine Mutter nicht helfen könne. Die Zeit sei für sie gekommen, sich zu bemühen, sagte sie, und „sie müsse etwas tun“. Es hieß, der Taufvater an der Themse habe Verbindungen mit Indien. Die Leute in Indien schickten ihre Kinder immer nach England, um dort erzogen zu werden. Sie wollte eine Schule einrichten. Dadurch würden sie alle reich werden. Und dann, dachte der kranke Knabe, „könnte vielleicht sogar ich selbst zur Schule gehen“.
musadominus
Dies alles ist nur das Vorspiel zu dem, was jetzt erzählt werden soll.
1 Portsea ist die Insel am Eingang des Hafens von Portsmouth, auf der die gleichnamige Stadt (Portsea) sowie Portsmouth und dessen Vorstädte liegen. – D.Übers
2 ‚Ich muß diesen Brief abbrechen, denn man spielt im Drawing-Room Masaniello und mir ist ungefähr zu Mute, wie damals, als ich einige Meilen von hier als kleines Kind lebte und jemand (ich möchte wissen, wer und welchen Weg sie ging, als sie starb) mir den Abendchoral vorsummte und ich auf meinem Kopfkissen weinte – entweder in dem reuigen Bewußtsein, einem Andern etwas zu Leide getan zu haben, oder weil irgendein Andrer im Laufe des Tages meine Gefühle verletzt hatte.‘ Brief von Dickens an Forster, aus Gadshill, 24.Sept. 1857.
3 „Die Vorsteherin der Anstalt hat keinen Platz in unserm Gedächtnis, aber auf einer ewigen Türmatte, in einem ewigen langen und engen Gang, sitzt ein feister Mops, mit persönlicher Gereiztheit gegen uns, der über die Zeit triumphiert. Das Bellen dieses unheilvollen Mopses, eine Art strahlenförmige Manier, die er hatte, nach unsern unverteidigten Beinen zu schnappen, das gespenstische Grinsen seiner feuchten schwarzen Schnauze und weißen Zähne und die Unverschämtheit seines feisten, wie ein Hirtenstab gekrümmten Schwanzes, leben und blühen alle. Aus einer sonst unerklärlichen Ideenverbindung dieses Hundes mit einer Fiedel schließen wir, daß er von französischer Abkunft und sein Name Fidèle war. Er gehörte einem Frauenzimmer, das vorzugsweise eine Hinterstube im Parterre bewohnte und deren Leben uns unter Schnüffeln und dem Tragen eines blauen Castorhuts dahingegangen zu sein scheint.“ (Reprinted Pieces.
4 Den Mittelpunkt des Distrikts von St. Giles
5 Der Leser wird mir verzeihen, wenn ich eine Stelle aus einem Briefe vom 22. April 1848 anführe. „Ich verlange nichts Besseres für meinen Ruhm, wenn meine persönliche Staubigkeit sich dem Einfluß meiner Ordnungsliebe entzogen haben wird, als einen solchen Biographen und einen solchen Kritiker.“ „Du kennst mich besser,“ schrieb er, denselben Gegenstand wieder aufnehmend, am 6. Juli 1862, „als irgendein anderer Mensch mich kennt, oder je kennen wird.“ In einer Stelle meines Tagebuchs finde ich, während des Zwischenraums zwischen diesen Jahren, einige Worte, die nicht allein die Zeit bezeichnen, als ich das autobiographische Fragment, welches den Hauptinhalt des zweiten Kapitels bilden wird, zuerst in zusammenhängender Form sah, sondern auch seine eignen Empfindungen darüber ausdrücken, nachdem er es geschrieben. „20. Januar 1849. Die Schilderung mag keinen solchen Eindruck auf andere hervorbringen, als die Wirklichkeit auf ihn hervorbrachte. Sehr wahrscheinlich mag sie nie das Licht erblicken. Kein Wunsch. Bleibt John Forster oder andern überlassen.“ Das erste Heft von „David Copperfield“ erschien fünf Jahre nach diesem Datum, aber obgleich ich, schon ehe er sein autobiographisches Fragment in das elfte Kapitel jenes Romans verwob, wußte, daß er die Absicht, dasselbe unter seinem eignen Namen zu vollenden, aufgegeben habe, so wurde doch das „kein Wunsch“ und das mir überlassene Dafürhalten später in keiner Weise modifiziert. Was an derselben Stelle folgt, bezieht sich auf das Manuskript des Fragments. „Kein Ausstreichen, wie beim Schreiben von Romanen, sondern grade vorwärts, wie beim Schreiben von gewöhnlichen Briefen.“