
Carl Hagenbeck
Von Tieren und Menschen
Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen
Hamburg, SEVERUS Verlag 2015
ISBN: 978-3-95801-968-3
SEVERUS Verlag, Hamburg, 2015
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Von Tieren und Menschen
Erlebnisse und Erfahrungen
Von
Carl Hagenbeck
Inhalt
„Erster Abschnitt“
„I. Jugenderinnerungen“
„II. Entwicklung des Tierhandels“
„III. Völkerschaustellungen“
„IV. Ich werde Zirkusdirektor und Dompteur“
„V. Erschaffung des Tierparadieses“
„Zweiter Abschnitt“
„I. Vom Einfangen wilder Tiere“
„II. Raubtiere in Gefangenschaft“
„III. Elefanten-Erinnerungen“
„IV. Schlangengeschichten“
„V. Kleine Abenteuer“
„VI. Dressur wilder Tiere“
„VII. Von Zucht und Akklimatisation“
„VIII. Kranke Tiere“
„IX. Stellinger Notizen“
„X. Menschenaffen“
„Dritter Abschnitt“
„I. Menschen“
„II. Kaiser Wilhelm II. in Stellingen“
Die Welt stand noch nicht im Zeichen des Verkehrs, als ich meine Knabenzeit verlebte. Vom Geräusch und Getriebe, das heute die Weltstadt Hamburg erfüllt, war noch wenig zu bemerken. Durch die Straßen des lustigen alten Hamburgs wandelten noch neben dem Ausrufer des Senats, der seine große Glocke schwang, die seltsamsten Originale, irgendwo in den Vorstädten fand fast in jeder Jahreszeit der fröhliche Trubel eines Jahrmarktes statt, und um die Weihnachtszeit wurden nahezu alle freien Plätze der Stadt dem berühmten „Hamburger Dom“ dienstbar gemacht, der inzwischen vieles von seiner Originalität verloren hat.
Wenn ich jetzt meinen Blick über die weiten Gründe des Stellinger Tierparkes schweifen lasse, mit seinen grünen Matten und ragenden künstlichen Gebirgsformationen, zwischen denen Tausende von Besuchern sich des Anblicks der lebenden Tierpanoramen erfreuen. dann will es mir fast wie ein Traum erscheinen, daß der alte Hamburger Dom mit dem Tierparadies von Stellingen durch ein festes Band verknüpft ist.
Deutlich sehe ich noch den mit verschneiten Buden bedeckten Großneumarkt vor mir, wie er sich zur Weihnachtszeit ausnahm. Die Hände in den Taschen, vor Kälte von einem Fuß auf den andern hüpfend, drängte sich das Jungenvolk vor den lockenden Auslagen mit Zuckerwerk, Spielsachen und duftendem Schmalzgebäck, aber mehr noch vor den mechanischen Theatern, Wachsfigurenkabinetts und Buden mit menschenfresserischen Wilden und seltenen Tieren. Auf dem alten „Dom“ konnte man noch allen Ernstes die Seejungfer und ähnliche Fabeltiere leibhaftig zu sehen bekommen. Vor den Buden gingen die Ausrufer hastig auf und ab, denn auch sie froren, und ließen laut ihre einladenden Stimmen erschallen. Einer von ihnen war der „Schauspieler“ Schwanenhals oder, wie er sich selbst nannte, Swonenhals, ein origineller Mensch, der sich für alle möglichen Dienstleistungen anwerben ließ. Jetzt also, an einem Winterabend des Jahres 1853, schritt Swonenhals auf dem Großneumarkt vor einer Schaubude auf und ab und rief immer wieder die denkwürdigen Worte in das staunende Publikum:
„Immer hereinspaziert, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen: das größte Schwein der Welt! So etwas muß man gesehen haben, das ist kolossal, das ist unglaublich. das ist noch nicht dagewesen! Das Riesenschwein, meine Herrschaften, persönlich hier in Augenschein zu nehmen. Erwachsene zahlen einen Schilling, Kinder die Hälfte!“
Diesen Text unterstützte ein mächtiges Schild, auf dem das Schwein so groß wie ein Nilpferd abgebildet war.
Was aber das Merkwürdigste an dieser Bude auf dem alten Hamburger Dom für mich ist, das ist die Tatsache, daß auch jenes primitive Unternehmen den Namen Hagenbeck trug, ja, daß diese oder eine andere ähnliche Schaustellung aus vergangener Zeit die Wurzel war, aus welcher das weitverzweigte Unternehmen, das jetzt in Stellingen zentralisiert ist, im Laufe eines halben Jahrhunderts emporwuchs.
Der Unternehmer, der das Riesenschwein auf dem Großneumarkt einem verehrlichen Publikum vorführte, war mein lieber Vater, der das Tier, das in der Tat neunhundert Pfund wog, von einem alten Tierarzt gekauft hatte. In jenen Jahren pflegte mein Vater die Domzeit nie vorübergehen zu lassen, ohne irgendeine seltene oder merkwürdige Erscheinung aus der Tierwelt auszustellen. Es kamen dabei freilich die ergötzlichsten, heute ganz unmöglich gewordenen Täuschungen vor, die man selbst in einem amerikanischen Groschenmuseum nicht mehr ungestraft wagen dürfte. Eines Tages wurde meinem Vater von dem Kapitän eines im Hamburger Hafen angekommenen Schiffes ein Vicunna-Lama angeboten, das sofort für sechzig Taler gekauft und zur öffentlichen Ausstellung bestimmt wurde. Alle Vorbereitungen wurden getroffen, und unter anderem auch ein großes Aushängeschild beim alten Maler Gehrts bestellt, aber – o weh! Ehe die neue Attraktion zur Schau gestellt werden konnte, segnete sie das Zeitliche. Das Lama ging ein. Was tun? Das teure Schild, das zwölf Taler gekostet hatte, in den Winkel stellen? Unmöglich. Zu dem Schild mußte in den Gefilden Hamburgs ein neues Vicunna erjagt werden. Mein Vater fand ein solches in Gestalt eines ganz gewöhnlichen Rehs, das er kaufte und nun ganz unverfroren als Lama den Besuchern zeigen ließ. Solche Scherze durfte man sich damals ohne weiteres erlauben; man war in der Zoologie noch nicht so gut bewandert wie heute, holte man doch seine Kenntnisse aus umherziehenden Menagerien, die sich noch ganz andere Unterschiebungen gestatteten.
Die Anfänge des Tiergeschäfts, soweit es mit meinem Hause verknüpft ist, liegen indes noch weiter zurück. Was mich selbst betrifft, so kann ich behaupten, daß mein ganzes Leben, von der Wiege an, sich in unmittelbarer Verbindung mit der Tierwelt abgespielt hat, denn mein Vater betrieb in der Hamburger Vorstadt St. Pauli, wo ich am 10. Juni 1844 geboren bin, ein Fischgeschäft. Unmittelbar aus diesem erwuchs auch der Tierhandel. Doch darf man aus dem kleinen Domschwindel, der im lustigen alten Hamburg nichts bedeutete, keine falschen Schlüsse ziehen. Befand sich doch auf dem Dom die berühmte Bude „Hamburg bei Nacht“, in die man den Besucher gegen einen Schilling Entgelt vorne hineinließ, um ihn hinten einfach wieder hinauszulassen, auf die Straße: da hatte er Hamburg bei Nacht.
In meiner Erinnerung steht die Gestalt meines Vaters als die eines aufrechten, scharf umrissenen Charakters. Er war ein Mann von unerschütterlichen Grundsätzen und großen Gesichtspunkten. Dankerfüllt muß ich sagen, daß zu allem, was erreicht worden ist, er den Grundstein gelegt hat. In seinem Charakter paarte sich großer Lebensernst mit einer freundlichen Umgangsform. Sein Spruch war bei allen Gelegenheiten: Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land. Die praktische Nutzanwendung dieses Spruches ist mir als Knabe so oft begreiflich gemacht worden, daß er mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, und daß ich ihn, glaube ich, auf die Meinigen wieder vererbt habe. Hinter äußerer Strenge, die mein Vater in der Erziehung seiner Kinder beobachtete, verbarg sich eine große Herzensgüte. Der Stock spielte in der Erziehung keine Rolle, schon durch das Vorbild des Vaters, der ganz aus Tätigkeit, Pünktlichkeit und Sparsamkeit zusammengesetzt war, lernten wir Kinder in seinem Geiste zu leben.
Nur ein einziges Mal entsinne ich mich, Prügel bekommen zu haben: der Vater hatte mich rufen lassen, und ich war trotzdem nicht rechtzeitig zu Tisch gekommen. Seitdem gewöhnte ich mich an strenge Pünktlichkeit. Gab es zwischen den Kindern einmal einen Streit, so genügte ein lautes „Hallo, hallo!“ oder ein „Nana!“, und alles war still. Ganz besonders wurden wir zum Sparen angehalten; nichts, was irgendwie von Wert sein konnte, durfte verlorengehen. So wurden zum Beispiel die Nägel, die sich beim Öffnen der Kisten krumm bogen, wieder gerade geklopft und noch einmal verwendet. Als eine Art Talisman trug mein Vater das erste größere Geldstück, das er in seiner Jugend verdient hatte, stets in der Tasche, und als ein teures Vermächtnis ist dieses alte Geldstück jetzt mein ständiger Begleiter. Für die Arbeit, die wir Kinder schon frühzeitig im Geschäft leisten mußten, erhielten wir eine bestimmte Entlohnung, die jedes Kind eigenhändig in eine tönerne Sparbüchse stecken mußte. Zu Weihnachten wurden dann diese Spardosen zerschlagen und das Geld in Silber und auch Golddukaten umgewechselt. Die meinigen besitze ich heute noch.
Wir waren drei Knaben und vier Mädchen, wovon jetzt noch, außer mir, mein Bruder Wilhelm und meine Schwester, Frau Umlauff, am Leben sind. Meine Mutter starb im Frühling 1865. Durch eine zweite Ehe, welche mein Vater später wieder einging, besitze ich noch zwei Halbbrüder, John Hagenbeck in Colombo auf Ceylon und Gustav Hagenbeck in Hamburg.
Meine ganze arbeitsreiche Knabenzeit hat sich zwischen dem Fischgeschäft, das aus kleinen Anfängen zu großen Dimensionen erwuchs, und dem beginnenden Tierhandel abgespielt. In die Schule ging ich nur, wenn Zeit dazu vorhanden war, höchstens drei Monate im Jahre. Die Elementarweisheiten wurden mir in einer Mädchenschule, bei Mutter Feind in der Friedrichstraße auf St. Pauli, eingetrichtert. Erst von meinem zwölften Jahre ab erhielt der Schulbesuch mehr Regelmäßigkeit. Mein Vater verschloß sich keineswegs dem Segen der Bildung, und ein angemessenes Teil schien ihm durchaus notwendig, aber er stellte, ganz im heutigen amerikanischen Geiste, den frühzeitigen praktischen Erwerb ebenso hoch. Er pflegte zu sagen: „Pasters füllt je nich warden, aber reeken und schriben mutt je können!“1 Als später das aufblühende Geschäft Verbindung mit Frankreich und England anknüpfte, bewährte sich der weite Blick meines Vaters, und da hieß es: ,,Dat nützt nix, englisch und franzeusch mußt du ook noch leern.“2 In den wenigen noch übrigbleibenden Schuljahren wurde dann der Grund in den höheren Fächern und auch in Sprachen gelegt; allein in der Hauptsache blieb der Erwerb derjenigen Kenntnisse, die zu einer ausgebreiteten Geschäftsbetätigung nötig sind, jener hohen und höchsten Schule vorbehalten, die man praktisches Leben nennt.
Die Haupttätigkeit im Fischgeschäft fiel in den Sommer. Damals kamen noch massenhaft die jetzt brandteuren Störe auf den Markt, und mein Vater war einer der Hauptabnehmer. Er hatte sogar eine Anzahl von Fischern gegen festes Gehalt in seinem Dienst, die alles, was sich in ihren Netzen fing, abliefern mußten. Von März bis Juli zogen die Fische aus dem Meere elbaufwärts, um zu laichen und sich, freilich wider Willen, in langen, großen Netzen fangen zu lassen. Wir kauften und verarbeiteten in jeder Saison durchschnittlich 4 000–5 000 Störe. Unter Verarbeitung ist die Gewinnung des Kaviars und das Räuchern des Fleisches zu verstehen. Sicherlich ist es für den Leser, der nicht tief genug in die Tasche greifen kann, um die Bedürfnisse des Lebens zu decken, auch von Interesse, etwas über die damaligen Preise zu erfahren. Ein Pfund geräuchertes Störfleisch galt bereits als teuer, wenn es mit 4–5 Hamburger Schillingen, das sind 32–40 Pfennig nach heutigem Geld, bezahlt werden mußte. Jetzt kostet das Pfund Störfleisch 2,50 bis 3 Mark, also das Achtfache. Der Preis für einen gewöhnlichen Milchstör war 3–4 Mark kurant. Rogenstöre kosteten 10–12 Taler per Stück, je nach ihrer Größe. Alles dies weiß ich nicht nur vom Hörensagen, ich stand schon damals als zehnjähriger Junge mitten im Geschäft, und an manches Ereignis aus jener Zeit denke ich noch heute mit Vergnügen zurück. Wievielmal bin ich mit den Fischern hinausgezogen zum Fang und habe mit meinen Knabenhänden die mit harten Schuppen gepanzerten Kolosse aus den Netzen herausziehen helfen. Einmal fingen wir in der Nähe von Glückstadt ein Riesenexemplar, welches die stattliche Länge von dreizehn Fuß und eine entsprechende Stärke besaß. Die Beute entpuppte sich als ein Rogenstör, dem zweieinhalb Eimer Kaviar entnommen werden konnten. Der Rogen wurde damals mit 10–12 preußischen Talern per Eimer (15 Liter) bezahlt.
Das Feld meiner Knabentätigkeit lag aber nicht auf dem Wasser. An manchem Tage habe ich auf dem Hamburger Hopfenmarkt, wo ja auch heute noch gemarktet wird, ganz selbständig für hundert und mehr Taler Fische eingekauft. Zu Hause waren meine Geschwister und ich beim Ausnehmen des Kaviars behilflich, auch mußten die drei ältesten den Kaviar nach Hamburg zur Ablieferung bringen und die Blasen der Störe verarbeiten, die als Hausenblasen zu verschiedenen chemischen Zwecken verwendet wurden.
Von Mitte Juli ab begannen die Aale den Stören die Herrschaft streitig zu machen. In dieser Zeit, bis etwa Ende September, erhielt mein Vater große Aalsendungen aus Jütland, zuweilen wöchentlich bis zu 10 000 Pfund, die in Säcken verpackt waren. Bei dem Reinigen und Verarbeiten dieser Fische mußten wir natürlich heran. Was nicht gleich frisch abging, wurde in Fässer gepackt und später geräuchert und versandt. Auch im Herbst und Winter konnten wir die Hände keineswegs in den Schoß legen. Jetzt kamen die kleinen Fische dran. Heringe und Sprotten waren auf Eisendrähte zu ziehen – mir kribbelt es noch in den Fingern, wenn ich an diese herrliche Arbeit zurückdenke. Man mußte die Fische nämlich aus einer eisigen Pökel, worin sie eingesalzen waren, herausnehmen und auf ebenso kalte Eisendrähte aufreihen. Da gab es manchmal verfrorene Hände, aber Spaß machte die Sache uns Kindern doch, es wurde sogar um die Wette gearbeitet, denn für jede zehn vollgezogenen Drähte erhielten wir einen Hamburger Schilling als Arbeitslohn.
Von diesen Ereignissen aus der Jugendzeit kann ich unmöglich scheiden, ohne zweier bekannter, ja berühmter Hamburger Originale zu gedenken, die seltsamerweise mit unserm Hause ebenso verwachsen sind wie der Hamburger Dom. Der eine war der alte „Aalweber“, einer unserer treuesten Kunden. Ich sehe ihn noch vor mir mit seiner hellen Jacke und roten Weste, einen hohen, weißen Filzhut auf dem Kopfe, am Arme aber den von einer Serviette bedeckten Korb mit geräucherten Aalen. Wer kannte Aalweber nicht? Morgens zog er mit einer Karre umher und hielt Bürsten feil, und zwar auf ganz besondere Art. Er sprach nämlich nur in Versen, die eine unendliche Länge hatten und eigentlich nie abrissen. Nachmittags zog Aalweber aber mit jenem Artikel durch die Straßen, der ihm seinen Spitznamen eingebracht hat. Damals gab es in Hamburg keinen Menschen, der nicht einmal am Lämmermarkt- oder Waisengrüntage vor Aalwebers Bude in der Kirchenallee zu St. Georg, da wo jetzt das „Deutsche Schauspielhaus“ steht, erschienen oder sonstwie zu dem Genuß Aalweberscher Aale gekommen wäre. Noch heute ist der Name dieses Originals nicht nur bei alten, sondern auch bei jüngeren Hamburgern, die ihn nie gesehen, lebendig. Wohl niemals hatte sich irgendein Straßenverkäufer größerer Beliebtheit und Volkstümlichkeit zu erfreuen. In einem in der Steinstraße gelegenen Theater brachte man sogar Aalweber, von einem jungen Schauspieler treffend dargestellt, auf die Bühne, und das Stück – es hieß „Gustav oder der Maskenball“ – hatte einen ungeheuren Zulauf.
Das andere Original, das Aalweber an Berühmtheit keineswegs nachsteht, war Dannenberg. Es wird mir schwer werden, diesen ganz seltsamen Menschen zu schildern, trotzdem ich ihn in meiner Knabenzeit so genau kennengelernt habe wie wenige. Dannenberg wohnte in der zweiten Etage unseres Hauses in der Petersenstraße, und ich hatte natürlich stets freien Eintritt bei ihm. Schön war der berühmte Mann gerade nicht, denn sein von einem schwarzen Backenbart umrahmtes Gesicht wurde durch eine eingesunkene Nase entstellt. In den Ohren trug er kleine Ringe, wie man es heute noch bei Seeleuten sieht. Dem unschönen Äußeren stand aber ein umso anständigeres Inneres gegenüber, und Dannenberg entfaltete eine unglaubliche Tätigkeit. Es gab keine Arbeit, die dieser Mann, der eigentlich von Beruf Schauspieler war, nicht angegriffen hatte – nota bene für Geld und gute Worte. Morgens sah man ihn als Ausrufer durch die Vorstadt ziehen und mit lauter Stimme allerhand Neuigkeiten ankündigen. Zuweilen, wenn er in städtischem Auftrage Auktionen ankündigte, trug er eine große Glocke in der Hand. Er begann seine öffentlichen Reden gewöhnlich mit den Worten: „Hört, Lüd!“ oder „Hört, ihr Hamburger und Einwohner!“, und dann ging‘s etwa in folgender Art weiter:
„Door is hüt morgen groote Akschoon of der lange Reeg bi Herrn Mittelstraß öber diverse Mobilien, Kleidungsstücken, Gold- un Sülbergeschirr, Koppergerät und sonstige wertvolle Gegenstänn. Wer da Lust to köpen hätt, dee koom klock tein, bring öber Geld mit!“3
Wenn ein Kind oder ein Hund sich verlaufen hatte, wenn irgendwo frisch eingetroffene Eßwaren angekommen waren, alles wurde von Dannenberg angekündigt. Gab es nichts auszurufen, dann sah man den Tätigen Holz zerkleinern, beim Umzug helfen und allerhand andere Verrichtungen besorgen.
Eine besondere Aushilfestellung hatte Dannenberg bei meinem Vater. Natürlich mußte er auch hier zunächst den Ausrufer spielen, und alle St. Paulianer erinnern sich gewiß noch seiner großartigen Anpreisungen: „Hört, Lüd! Frisch gerökerte warme Neesen! Bi Hogenbeck in de Peter stroot giwt dat acht dicke, fette, warme Neesen för eenen Schilling.“ Zu anderen Zeiten hatte dieser Mann für alles uns drei älteste Kinder zu beaufsichtigen.
Die Glanzzeit Dannenbergs begann aber erst nachmittags, denn nun verwandelte sich der Ausrufer und Hilfsarbeiter in den Theaterdirektor, dessen problematischer Ruhm selbst in die Annalen der Hamburger Theatergeschichte Eingang gefunden hat. Wenn Dannenberg, als Ritter der Vorzeit verkleidet, im blanken Harnisch, den Helm auf dem Haupte und das gewaltige Schwert an der Seite, die versunkene Nase durch rote Schminke verdeckt, vor seinem Elysium-Theater auf St. Pauli stand, war er nicht wiederzuerkennen. Man entdeckte den St. Paulianer Ausrufer in ihm erst wieder, wenn er den Mund öffnete und das Publikum, diesmal in gewähltem Hochdeutsch, seine Stimme immer drohender erhebend, zum Besuch der großen Tragödie einlud. „Entree erster Platz vier, zweiter Platz zwei und letzter Platz, ich schäme mich fast, es zu sagen, nur einen Schilling.“ Mehr als einmal habe ich als Galeriebesucher den Aufführungen beigewohnt und die heitersten Szenen miterlebt. Mitten in die hochtrabendsten Reiterszenen sausten zuweilen vom hohen Olymp herab faule Äpfel und Eier auf die Bühne, und dann mußte erst einer der Schauspieler, während die Vorstellung unterbrochen wurde, im Laufschritt nach der Galerie eilen, um die Übeltäter an die Luft zu setzen. Das war also Dannenberg. Wer sich für seine Persönlichkeit und sein Theater näher interessiert, der findet eine gute Charakteristik und die heitersten Episoden in Borcherdts Werk „Das lustige alte Hamburg“ verzeichnet.
Der Beginn der Verwandlung des Fischgeschäftes, das doch gewissermaßen nur eine Nahrungsmittelhandlung war, in ein Tiergeschäft fällt in das Sturmjahr 1848. Anfang März fingen die Fischer, die in diesem Jahre schon sehr früh zum Störfang ausgezogen waren, sechs Seehunde in ihren Netzen. Da die Fischer verpflichtet waren, den ganzen Fang an meinen Vater abzuliefern, überbrachten sie ihm natürlich auch diese Seehunde. Zu dem, was nun folgte, kann man wirklich sagen: kleine Ursachen. große Wirkungen. Mein Vater kam nämlich auf die glückliche Idee, die Tiere gegen Entgelt sehen zu lassen, und stellte sie zu diesem Zwecke in zwei großen Holzbottichen auf dem Spielbudenplatz in St. Pauli gegen einen Schilling (acht Pfennig) Eintrittsgeld aus. Mit dieser Schaustellung wurde ein ganz gutes Geschäft gemacht. Sie war die erste ihrer Art für meinen Vater, da es sich diesmal nicht um Haustiere handelte, und man kann wohl sagen, daß sich aus ihr das ganze Tiergeschäft entwickelt hat. Von einem Berliner Geschäftsfreunde wurde es meinem Vater nahegelegt, die Seehunde auch in Berlin zu zeigen – für den modernen Menschen eine sonderbare Idee, Seehunde nach der Reichshauptstadt zu bringen, um sie dort als große Seltenheit auszustellen. Damals handelte es sich aber wirklich um eine Seltenheit, und die Seehunde wurden also schleunigst in Krolls Garten untergebracht. Trotz der politischen Gärung war das Geschäft gar nicht schlecht. Als aber die revolutionäre Bewegung täglich zunahm, begann es meinem Vater in Berlin ungemütlich zu werden. Er verkaufte also die berühmten sechs Seehunde an einen Berliner Unternehmer und reiste wieder nach Hamburg zurück. Dieser Unternehmer hatte beklagenswerterweise ein sehr schlechtes Gedächtnis, er ging nämlich mit den Seehunden in die Weite und vergaß ganz, die Rechnung zu bezahlen. Das war der Anfang des Tierhandels. Er war nicht so schlecht, wie es vielleicht aussieht, denn mein Vater hatte nicht nur nichts verloren, sondern durch die Schaustellungen in Hamburg und Berlin noch ein Sümmchen übrigbehalten.
Man muß nun nicht glauben, daß der Gewinn bei den Schaustellungen und Tierankäufen, die jetzt folgten, allein eine Rolle spielte, es kam bei meinem Vater eine angeborene Liebe für die Tiere hinzu, das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Ein Tiergeschäft, sei es klein oder groß, ist ohne Liebe für die Tierwelt gar nicht denkbar. Mein Vater war ein ganz besonders ausgesprochener Tierfreund, das erhellt schon daraus, daß er sich stets Ziegen, eine Kuh, einen Affen, einen sprechenden Papagei, Hühner, Gänse und allerlei sonstiges Viehzeug hielt.
In den großen Räumlichkeiten, die zum Aufbewahren der Räucherwaren dienten, stolzierten außerdem ein Paar Pfauen. Die Menagerie war eigentlich schon fertig, noch ehe jemand an ein Geschäft mit Tieren dachte.
Von meinem Vater muß die Liebe zur Tierwelt sicherlich durch Vererbung auf mich übergegangen sein. Wenigstens hat sich die Tierneigung bei mir schon in frühester Jugend und recht drastisch geäußert. Als zweijähriger Knirps brachte ich eines Tages in meiner Schürze zum Schrecken meiner guten Mutter acht lebendige junge Ratten ins Haus, die mir natürlich sofort abgenommen wurden. Resultat: ein fürchterliches Geschrei, das erst verstummte, als mein Vater auf den glücklichen Gedanken kam, mir statt der verschwundenen Ratten ein Paar junge Meerschweinchen zum Spielen zu geben, denn auch von diesen Viechern hielt er sich eine ganze Zucht zu seinem besonderen Vergnügen. Etwas später erhielt ich einen lebendigen Maulwurf geschenkt. Als Burg für den neuen Einwohner wurde eine große Tonne voll Sand hergerichtet. Die Hauptfrage war aber auch hier die Magenfrage. Allabendlich pilgerte ich mit meinen älteren Geschwistern zum Heiligengeistfeld, um Regenwürmer zu suchen, und hiermit hielten wir den Maulwurf auch über zwei Monate am Leben. Wahrscheinlich hätte er noch länger gelebt, wenn er nicht einem Unfall zum Opfer gefallen wäre. Während eines schweren Gewitterregens vergaßen wir, die Tonne zuzudecken, und so ertrank der arme Kerl in seiner eigenen Burg. Dies war die erste kleine Lehre, die ich bezüglich der Behandlung von Tieren empfing. Der Unfall ging meinem Kinderherzen sehr nahe, und wenn auch unbewußt, habe ich wohl aus ihm die Lehre zu größerer Vorsicht gezogen.
Einige Jahre später passierte mir ein weit eigenartigeres Unglück. Ich war bereits ein zwölfjähriger Junge und war mir infolge meiner beinahe selbständigen Tätigkeit in dem schon mehr und mehr erblühenden Tiergeschäft über mein eigenes Tun und Lassen völlig klar. Wir hatten auf unserm großen Hof ein halbes Dutzend Enten laufen, deren Gefieder sehr schmutzig geworden war. Da es den Tieren an Badegelegenheit fehlte, kam ich auf den Gedanken, ihnen diese zu verschaffen. Ich pumpte also ein leeres Seehundsbassin halb voll Wasser, ergriff meine Enten und setzte sie eine nach der andern ins Bad, wo sie sich lustig zu tummeln begannen. Ein Weilchen sah ich dem lebhaften Treiben mit Vergnügen zu, dann begab ich mich in unsere Wohnung in der Petersenstraße zum Mittagessen. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich nach etwa zweieinhalb Stunden zurückkehrte und keine Enten mehr vorfand, weder auf dem Wasser noch im Hofe. Mit Hilfe eines alten Wärters wurde das ganze Grundstück abgesucht – ohne Erfolg. Da verstieg sich der Wärter zu dem für mich damals sehr merkwürdigen Ausspruch: „Vielleicht sind die Enten ertrunken.“ Ich war der Ansicht, das könne überhaupt gar nicht möglich sein, als wir aber das Bassin untersuchten, fanden wir die sechs Enten still am Boden liegen. Sie waren wirklich – ertrunken. Wegen des starrenden Schmutzes hatte das Gefieder nicht genügend durch die natürlichen Quellen des Körpers eingefettet werden können und vermochte also das Wasser nicht abzuhalten. Das Gefieder sog sich dadurch ganz voll Wasser, und seine Schwere zog die Tiere in die Tiefe. Man hätte sie zunächst nur in ganz seichtes Wasser setzen dürfen. Nun kann man sich wohl denken, daß ich für diesen Streich von meinem Vater nicht gerade gelobt wurde, es hatte aber doch für mich sein Gutes, indem es mir eine Lehre für die Zukunft war.
Mit dem Seehundsgeschäft war der Stein ins Rollen gekommen. In den nächsten Jahren wurde mit Erfolg auf neue Seehunde gefahndet, die mein Vater aber nicht mehr selbst ausstellte, sondern an reisende Schausteller weiter verkaufte. Von diesen wurden die unschuldigen Tiere auf Messen und Märkten als „Seejungfern“ oder gar als „Walrosse“ vorgeführt – unter dem taten es diese Leute nicht. Im Juli 1852 wurde ein ausgewachsener Eisbär angeboten, den Kapitän Main mit seinem Schiff „Der junge Gustav“ aus Grönland nach Hamburg gebracht hatte. Für ein solches Ungetüm fand sich damals, als erst drei zoologische Gärten existierten, so leicht kein Käufer. Kühnheit und Unternehmungsgeist gehörten dazu, in diesen Eisbären sozusagen Geld hineinzustecken. Mein Vater scheute sich indes nicht, dies zu tun, und erstand den Eisbären nach langem Handeln für 350 preußische Taler. Zufällig gelangten um dieselbe Zeit eine gestreifte Hyäne sowie einige andere zu Schiff angekommene Tiere und Vögel in seinen Besitz, und diese ganze Menagerie wurde alsbald auf dem Spielbudenplatz zu St. Pauli in dem damaligen Hühnermärderschen Museum gegen vier Schilling Eintritt ausgestellt. Nun muß man nicht denken, daß einfach, sagen wir, eine Anzeige in die Zeitung gesetzt und auf das Publikum gewartet wurde. I wo! Ein Ausrufer wurde vor die Tür gestellt, und was für einer! Der damals sehr bekannte Ausrufer Barmbecker wurde in einen roten Frackanzug gesteckt, wie ihn die dänischen Postbeamten als Uniform trugen; in die Hand bekam er ein riesiges Sprachrohr, und mit Hilfe dieses Instrumentes mußte er es in die staunende Menge hineintuten, daß hier der Rieseneisbär aus Grönland gegen nur vier Schilling Eintrittsgeld zu besichtigen sei. Solche Reklame mußte man zu jener Zeit machen, denn der Spielbudenplatz mit dem schon gekennzeichneten Mattler-Theater und seinem Direktor Dannenberg, mit seinen Karussells und Schaubuden verlangte starke Wirkungen.
An diese Schaustellungen schlossen sich dann alljährlich die Vorführungen auf dem Hamburger Dom an, die fast alle eines komischen Beigeschmacks nicht entbehrten. Im Herbst des Jahres 1858 entsprang aus einem Wagen einer Menagerie der auf dem Transport nach Harburg befindliche Löwe „Prinz“, ein prächtiges, ausgewachsenes Tier. Die erste Tat, die der Flüchtling vollführte, war die, daß er dem Pferde, welches den Wagen zog, an den Hals sprang und sich in seiner Gurgel festbiß. Ein kaltblütiger Knecht, der den Wagen begleitete, der später unter dem Ehrentitel „Der Löwe von Hamburg“ bekannt gewordene Heinrich Rundshagen, warf dem Raubtier eine Schlinge um den Hals und erdrosselte es. Merkwürdigerweise zeigte man später nicht nur den ausgestopften Löwen für Geld, sondern auch Rundshagen, dem sein Heldentum zu Kopf gestiegen war, ließ sich für Geld sehen. In dem Dezember also, der auf diese weltbewegende Begebenheit folgte, ersann mein Vater eine ganz großartige Schaustellung, die heute natürlich keine Katze anlocken würde. In Gesellschaft mit dem alten Schuster Baum, auch einem Original des alten St. Pauli, wurde eine Nachahmung des Löwenrittes hergestellt und in einer Bude gegen einen Schilling Eintritt gezeigt. Das Kunstwerk bestand aus einer alten ausgestopften Löwenhaut, die am Nacken eines noch älteren ausgestopften Schimmels befestigt wurde. Beide Tiere entstammten dem Hühnermärderschen Museum, nur die Stellung wurde etwas umgeändert. Die Blutspuren am Nacken des armen Schimmels stellte man durch aufgetropften Siegellack her. Dieses Unternehmen erwies sich als außerordentlich gewinnbringend, dem Publikum gruselte vor Entsetzen, und der Löwenritt war wohl das beste Weihnachtsgeschäft, das mein Vater auf dem Dom bis dahin gemacht hatte.
Während einer anderen Domzeit kam wieder einmal das beliebte Riesenschwein dran. Dieses Mal war es ein großer Eber der englischen Yorkshire-Rasse, die bekanntlich nur schwach mit Borsten versehen ist. Dadurch kam einer der Arbeiter meines Vaters auf die originelle Idee, das Tier als eine ganz besondere Merkwürdigkeit, nämlich als nacktes Riesenschwein, zu zeigen. Zu diesem Zwecke wurde der Eber rasiert, doch ging die Sache nicht so leicht, wie man sich‘s vorstellt, und das Schwein wurde infolgedessen auf das jämmerlichste geschunden. Auf dem Schilde, welches oberhalb der Bude angebracht war, befand sich natürlich ein Porträt des guten Schweines, etwa doppelt so groß, als es in Wirklichkeit war, und darunter folgender Vers:
„Oft sah man schon ein großes Schwein,
Doch niemals diesesgleichen;
Drum tret‘ ein jeder hier herein.
Die Größe zu vergleichen.“
Ganz langsam begann nun, neben der Fischhandlung, das Tiergeschäft sich zu entwickeln. Auf kleine Geschäfte folgten größere, und die meisten waren mit Reisen verbunden, an denen ich schon als Knabe teilnahm. Von da ab hat sich mein halbes Leben sozusagen auf der Walz abgespielt, ich habe mündliche Verhandlung der Schreiberei stets vorgezogen, auch damit die schönsten Erfolge erzielt; kurz, ehe sich‘s jemand versah, saß ich schon auf der Eisenbahn oder dem Dampfschiff. Seit meiner Knabenzeit hat sich, wie ich glaube, diese Eigenschaft nicht im mindesten verändert.
Meine erste Geschäftsreise machte ich als elfjähriger Junge in Begleitung meines Vaters nach Bremerhaven; hier hatte ein Ship-Chandler einige Tiere zu verkaufen. Damals mußte man noch, um mit der Eisenbahn von Hamburg nach Bremen zu gelangen, einen Umweg über Hannover machen; eine Fahrt nach Bremerhaven, die wir heute gar nicht mehr in Rechnung ziehen, bedeutete damals also wirklich eine Reise. Der Tiervorrat bestand aus einem großen Waschbären, zwei amerikanischen Opossums, einigen Affen und Papageien, die eingekauft und mit dem Dampfboot zunächst nach Bremen gebracht wurden; von hier aus sollten sie den Weg nach Hamburg auf dem Deck der „Diligence“ zurücklegen. Die Menagerie sollte also in luftiger Höhe auf dem Dache der Postkutsche die Reise machen, ein Wagnis, das denn auch nicht unbestraft blieb. Nachdem die Postkutsche die ganze Nacht hindurchgerasselt war, entdeckte man am Morgen in Harburg, daß einer der Kasten leer sei. Der Waschbär hatte sich während der Nacht zwischen den Holzstäben hindurchgenagt und das Weite gesucht. Nie werde ich das Gesicht meines Vaters vergessen, als er, sich hinter den Ohren kratzend, mit verlorenen Blicken den leeren Kasten ansah. Der Waschbär war und blieb indes verschwunden, und man durfte nicht einmal Lärm schlagen, weil einem sonst ein ganzer Rattenschwanz von Prozessen hätte an den Hals geworfen werden können; denn würde der flüchtige Gesell nicht bald erlegt, dann standen für die Hofbesitzer und ihr Geflügel böse Tage in Aussicht. Wirklich hat sich der Waschbär auch noch volle zwei Jahre in der Lüneburger Heide umhergetrieben, bis man das seltene Wild erlegte. Wir erfuhren dies aus der Zeitung, verhielten uns aber natürlich mäuschenstill, und niemand, außer meinem Vater, dem Postillion und mir, erfuhr jemals, wie der Waschbär in die Heide gelangt war.
An ähnlichen Episoden, die sich aber meistens im Hause abspielten, war überhaupt kein Mangel. Mitten aus dem schönsten Schlummer wurden wir einmal von einem Nachtwächter aufgerüttelt, der uns schreckensbleich mitteilte, daß beim Millerntor in der Nähe des Stadtgrabens ein großer Seehund umherrutsche. Sogleich machte mein Vater sich auf den Weg, und ich als erster Assistent des Tiergeschäfts war natürlich auch dabei. Das Glück kam uns zu Hilfe. Wir konnten den Flüchtling eben noch erwischen, als er gerade die steile Wallböschung, die zum Wasser des Stadtgrabens führt, hinabrutschen wollte. Es war keine schwere Arbeit, das Tier in einem unserer Seehundsnetze zu verwickeln und nach unserm Quartier am Spielbudenplatz zurückzubringen. Wäre der Seehund aber erst in das Wasser gelangt, so hätte sich das Einfangen viel schwieriger gestaltet. Ein anderes Mal, ebenfalls des Nachts, wurden wir von unserem alten Wärter mit der Meldung überrascht, daß eine gestreifte Hyäne, die am Abend vorher eingepackt worden war und am nächsten Morgen verschickt werden sollte, ausgebrochen sei. Mein Vater bekam keinen geringen Schreck, denn wir hatten damals noch keine Erfahrung in dem Umgang mit solchen Raubtieren. Zur Hilfe wurden ich und meine älteste Schwester mitgenommen, denn der Wärter war schon ein alter Mann, hoch in den Siebzigern, auf den man nicht rechnen konnte, und dann ging‘s nach dem Spielbudenplatz. Als wir die Menagerie betreten hatten, meine Schwester mit einer Lampe, mein Vater und ich jeder mit einem Seehundsnetz bewaffnet, suchten wir mit aller Vorsicht den Raum ab und fanden die Hyäne endlich in einer Ecke unter einem großen Affenkasten versteckt. Nach der Art ihres Geschlechts begrüßte sie uns mit einem greulichen Geheul, einen Angriff wagte sie jedoch nicht. Mit langen Knüppeln brachten wir das Tier endlich unter dem Kasten heraus. In dem Augenblick, als es sich voll Wut auf meinen Vater stürzen wollte, warf dieser ihm mit großem Geschick das Seehundsnetz über den Kopf, und im Nu hatte die Bestie sich in den Maschen verwickelt. Innerhalb weniger Minuten brachten wir das gefangene Tier nunmehr in einen leeren Raubtierkasten hinein. Das ganze Abenteuer spielte sich aber durchaus nicht so rasch ab, wie ich es hier erzählt habe, denn erst gegen acht Uhr in der Frühe kehrten wir in unser Heim zurück.
Ein anderes Abenteuer, das mir aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben ist, verlief nicht so glimpflich. Aus einem großen Affenkäfig sollte eine Anzahl Paviane vermittelst eines Sack-Keschers herausgefangen werden. Mein Vater hatte, im Käfig stehend, gerade ein Exemplar im Kescher und wollte es herausbringen, als auf das Geschrei des Gefangenen sämtliche anderen Paviane, etwa ein Dutzend, meinen Vater anfielen und ihn jämmerlich zerkratzten und zerbissen. Es gelang ihm, freilich blutüberströmt, den Käfig zu verlassen. Außer einer Menge offener Biß- und Kratzwunden zeigte der Körper da, wo ihn die Kleider beschützt hatten, unzählige blaue Flecken. Nach diesem Unfall wurden die Affen stets vermittelst eines sogenannten Umsetzkastens, in den man sie mit Früchten hineinlockte, eingefangen.
An diese kleinen Abenteuer mögen sich noch zwei Bärengeschichten anschließen, womit ich allerdings der Zeit etwas vorgreife, denn sie fanden erst einige Jahre später, 1863, am Spielbudenplatz statt. Ein gewisser Herr Klimek, Proviantmeister der Hamburg-Amerika-Paketfahrt-Aktien-Gesellschaft, brachte aus New-York fünf große dressierte Bären mit. Es waren zwei Grislybären, zwei Zimmetbären und ein schwarzer Baribal. Alle stammten aus dem Besitze des in Amerika damals überall populären „Grisly-Adams“, eines alten Trappers, der sie jung gefangen und dressiert hatte und dann mit ihnen jahrelang in den Vereinigten Staaten umhergezogen war. Nach dem Tode des Trappers kamen die Tiere zur Versteigerung und auf diese Weise in den Besitz des Proviantmeisters. Da andere Käufer sich nicht fanden, kauften wir die Tiere zu einem ziemlich niedrigen Preise. Die Tiere wurden auf unserem Hofplatz in Käfigen untergebracht. Eines Nachts brach einer der Grisly-Bären, zum Glück ein blinder, aus seinem Käfig aus und machte sich‘s auf dessen Dach bequem. Das Unheil wurde uns durch einen in der Nähe wohnenden Schuhmacher verkündet, der von dem Getöse aufgewacht war, mit entsetzten Augen gesehen hatte, daß der Bär los sei, und uns die Mitteilung mit noch größerem Entsetzen, ganz außer Atem vom schnellen Laufen, überbrachte. Natürlich machten wir uns eilends auf den Weg. Es war noch nichts passiert, der Bär lag gemächlich auf seinem Kasten. Meinem Vater kam nun der glückliche Einfall, ein halbes Schwarzbrot auf eine Futtergabel zu stecken und mit diesem Köder, dem der Bär schnuppernd folgte, das Tier wieder in seinen Käfig hineinzulocken.
Dieser Ausbruch fand also ein gutes Ende. Wenige Tage später aber kam ich selbst an dem nämlichen Platz zu meinem ersten Bärenabenteuer. Mir fiel die Aufgabe zu, einen russischen Bären, übrigens ein 1–1½jähriges Tier, zur Reise zu „verpacken“. Zuerst mühte ich mich stundenlang ab, das Tier vermittelst eines Umsetzkastens in seinen Reisekäfig zu locken, doch Meister Petz verspürte nicht die geringste Neigung zu einem Wohnungswechsel. Die Zeit drängte. Wollte ich das Tier noch rechtzeitig zur Bahn schaffen, so mußte gehandelt werden. Ich sperrte den Hof ab, öffnete das Gitter des Käfigs und warf dem Bären kleine Stücke Zucker vor. Das half. Mein Bär kam aus seinem Kasten heraus und fraß im Weiterschreiten ein Stück Zucker nach dem andern auf. Als er sich eben wieder nach einem Stück bückte, packte ich ihn mit der einen Hand im Genick, griff mit der anderen in den tiefen Pelz des Rückens und wollte den Bären auf diese Weise mit Gewalt in den Käfig drängen. Ich hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und es kam zu einem regelrechten Duell. Der Bär war weit stärker, als ich geglaubt hatte; er sträubte sich in der ersten Überraschung, drehte sich dann aber um und brachte es fertig, mich mit seinen Vordertatzen zu packen. Im nächsten Augenblick war der schönste Ringkampf im Gange. Mit seinen scharfen Krallen riß mir der Bär die Kleider buchstäblich in Fetzen vom Leibe herunter, wütend biß und kratzte das Tier um sich, im Nu waren nicht mehr meine Kleider, sondern meine eigene kostbare Haut mit im Spiel. Ich empfing die ersten ernstlichen Wunden. Der Wärter, den ich zur Unterstützung rief, warf nur einen Blick auf die kämpfende Gruppe und suchte mutig das Weite, anstatt mir zur Hilfe zu eilen. Ich ließ indes nicht locker. Mit Einsetzung aller meiner Kräfte warf ich mich auf das wütende Tier und zeigte ihm endlich den Meister. Es gelang mir, es in seinen Käfig hineinzuzwängen und noch rechtzeitig zur Bahn zu bringen. Der ungeschliffene braune Flegel hatte mich fast ausgezogen, mir einen starken Biß in die rechte Hand und eine ganze Anzahl weiterer Biß- und Kratzwunden an anderen Körperteilen beigebracht, doch erwiesen sich die Wunden glücklicherweise als ungefährlich. Für die Folge aber habe ich auf diese Weise nicht wieder Bären aus einem Käfig in den andern zu „locken“ versucht.
Niemand kann ermessen, und es läßt sich auch gar nicht schildern, mit wie vielen kleinen und großen Schwierigkeiten das beginnende Tiergeschäft auf Jahre hinaus zu kämpfen hatte. Alles, was wir heute in bezug auf den Tiertransport und die Tierbehandlung wissen, mußte damals erst in der Praxis ausprobiert und mit Fehlschlägen und Opfern bezahlt werden. Auch Erfahrungen erhält man nicht umsonst; gerade diese muß man im Leben vielleicht am teuersten bezahlen. Der Mangel an Erfahrung hatte nun leider nicht nur solche kleine Abenteuer und Unfälle im Gefolge, sondern bildete auch für das Geschäft in seiner Gesamtheit einen schwer zu überwindenen Hemmschuh. So gewichtig war dieser, daß mein Vater im Jahre 1858, ein Jahr vor meiner Konfirmation, allen Ernstes auf den Gedanken kam, die Tierhandlung wieder an den Nagel zu hängen und sich auf das Fischgeschäft, das ja inzwischen seinen Fortgang genommen hatte, allein zu beschränken, obgleich das Tiergeschäft bereits größere Dimensionen angenommen hatte. Schon im vorhergehenden Jahre wurden einzelne, für die damalige Zeit wirklich bedeutende Tiergeschäfte unternommen. So reiste mein Vater auf die schriftliche Anzeige eines befreundeten Wiener Vogelhändlers, daß ein Afrikaforscher mit vielen Tieren aus dem ägyptischen Sudan eingetroffen sei, schleunigst nach Wien. Er fand fünf Löwen, zwei Leoparden, drei Jagdleoparden, einige Hyänen, Antilopen und Gazellen sowie eine Anzahl von Affen vor, die er zu einem verhältnismäßig billigen Preise kaufte, weil keine Konkurrenz vorhanden war. Nach einem sechstägigen, mit vielen Schwierigkeiten verbundenen Eisenbahntransport kamen die Tiere in Hamburg an und wechselten sehr bald den Besitzer. Die Raubtiere fanden ihre Liebhaber in verschiedenen Menageriebesitzern; die Antilopen, Gazellen und Affen dagegen sowie auch ein paar Jagdleoparden fanden Unterkunft im Zoologischen Garten zu Amsterdam.
Trotz derartiger Geschäfte mußte mein Vater bei einem allgemeinen Überschlag feststellen, daß er das Geld, das die Fischhandlung einbrachte, im Tiergeschäft größtenteils wieder zusetzte, denn infolge des Mangels an Erfahrung in der Behandlung der Tiere gingen viele zugrunde. Die Zukunft des ganzen Tiergeschäfts stand also auf der Wippe. Aus diesen Gedanken heraus fragte mich denn eines Tages mein Vater, ob ich das Tiergeschäft oder die Fischhandlung zu meinem späteren Beruf wählen wolle. Dafür setzte er mir in väterlicher Weise seine Erfahrungen auseinander und gab mir den Rat, mich dem Fischgeschäft zuzuwenden. Ich bin aber sicher, er tat dies mit schwerem Herzen und nur deshalb, um mir Enttäuschungen zu ersparen. Wie er selbst, war ich aber schon viel zu sehr mit dem Tiergeschäft verwachsen und liebte den Umgang mit unseren Tieren, der mir zur Gewohnheit geworden war, schon viel zu sehr, um auch nur dem leisesten Gedanken an eine Aufgabe des Tiergeschäfts Raum geben zu können. Ich entschied mich also kurzerhand für die Fortführung des Tiergeschäfts und fand, da ich der Liebling meines Vaters war, seine Zustimmung, allerdings unter der Bedingung, daß er bei einem eventuellen späteren Verluste nicht mehr als 2 000 Mark kurant zuzuzahlen brauche. Ich müsse also jetzt selbst zusehen, meinte er, wie ich weiterkäme und den Tierhandel in die Höhe bringe. An Vertrauen zu mir, obgleich ich noch ein Knabe war, fehlte es meinem Vater nicht, und mir nicht an Feuereifer, selbständig zu arbeiten. Damit hatte ich übrigens schon begonnen, und zwar mit Glück. Im Jahre 1857 machte ich ein etwas absonderliches, aber nicht schlechtes Geschäft. Die Absonderlichkeit mag man meiner 13jährigen Jugendhaftigkeit zugute halten. Im Hamburger Hafen kaufte ich von dem Schiffsjungen eines kleinen Schoners, der von Zentralamerika zurückgekommen war, 280 große – Käfer, die in drei Zigarettenkästen verpackt waren. Den Jungen machte ich mit zweieinhalb Hamburger Schillingen für das Stück, das sind zwanzig Pfennig nach unserem Geld, überglücklich. Als ich aber meinem Vater diesen Einkauf zeigte, war er durchaus nicht sehr erbaut davon und sagte: „Nun, was du an diesen Kakerlaken verdienst, das kannst du für dich behalten.“ In diesem Fall hatte sich mein Vater aber doch getäuscht. Zunächst zeigte ich die Sammlung dem Bäckermeister Dörries, der ein großer Kenner von Käfern und Schmetterlingen war, und dieser meinte, ich müsse mindestens 1–2 Mark für jeden Käfer erzielen können, wenn ich die Sammlung dem Naturalienhändler Breitrück verkaufte. Dieser Breitrück besaß damals das größte Muschel- und Naturaliengeschäft in Deutschland. Kurz, ich verkaufte meine drei Kisten voll Käfer wirklich an Breitrück und erhielt nicht weniger als 100 Taler. Breitrück fuhr übrigens bei diesem Geschäft nicht schlecht, denn er gab die Sammlung für einen weit höheren Preis an den Londoner Tierhändler Jamrach weiter.
Mit dem eigentlichen Tierhandel wußte ich ja übrigens schon als 14jähriger Junge gründlich Bescheid, da ich meinen Vater auf den meisten Reisen begleitet hatte. Nachdem ich also im März 1859, 15jährig, die Schule verlassen hatte, ward es Ernst. Ich widmete mich ganz dem Tierhandel, während mein Vater nur noch dem Fischgeschäft vorstand. Seine Neigung aber gehörte nach wie vor dem Tiergeschäft, und sein Rat blieb maßgebend. Niemals war ich froher, als wenn ich mir durch ein glücklich beendigtes Geschäft das Lob meines Vaters verdient hatte. Bis an sein Lebensende blieb er der gütigste Berater und rastlose Mitarbeiter. Und wie er den Grundstein zu dem Geschäft gelegt hat, so hat er auch den Grundstein zur Tätigkeit, zur Beharrlichkeit und zum Maßhalten gelegt und die Liebe zur Tierwelt in unsere Herzen gepflanzt, so daß alle Erfolge einer späteren Zeit dennoch auf ihn zurückgehen, der nun längst unter dem Rasen schlummert.
1Pastoren sollt ihr nicht werden, aber rechnen und schreiben müßt ihr können!
2Das nützt nichts, englisch und französisch mußt du auch noch lernen
3Hört, Leute, es ist heute morgen große Auktion auf der Langenreihe bei Herrn M. über . . . Wer Lust zu kaufen hat, der komme Schlag zehn Uhr, bringe aber Geld mit.“