Philip Raillon
SCHULE AUS,
NEUSEELAND RUFT
Work & Travel am schönsten Ende der Welt
IMPRESSUM
Schule aus, Neuseeland ruft
Work & Travel am schönsten Ende der Welt
Philip Raillon
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie.
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Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.
Redaktion und Lektorat: Andreas Walter
Satz und Layout: Serpil Sevim
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Bildnachweis:
S. 17: Maurice Reinhard; S. 81: Marcel Hainke; S. 121: Jeff Bryan; S. 168: Blake Hamilton; S. 170: Aljeandro Leiva; S. 173, S. 175 (oben): Jean Ravau; S. 187 Clemens Post; S. 189 (unten): AJ Hackett Bungy; S. 226, S. 227: Adam Prest; S. 254: Rafting New Zealand; S. 273, S. 283: Julius Reh; S. 330 (oben): Vanessa Gutthardt; S. 325 (unten), S. 330 (unten), S. 331, S. 332: Jonas Beyrer; U4: Jürgen Theobald.
ISBN: 978-3-944921-22-8
Hergestellt in Deutschland
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Cover
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
Reisevorbereitung
Am Anfang Australien
Erste Schritte im schönsten Land unseres Planeten
Top und Flop: Wwoofing in Little River und Waimate
Tekapo, Aoraki/Mount Cook und Twizel: Richtung Cromwell
Wwoofing in Cromwell
Sonne im Regenwald: Fiordland mal anders
Die Süd-Nord-Traverse in nur vier Tagen
Wald und Strand am Mittelpunkt des Landes: Golden Bay und Nelson
Regen, Meer, Sturm: Die einsame Westküste
Zwischen Reben und heiliger Erde
Freizeit in Cromwell
Wundersame Wochenendreisen
„Tschüss“ oder „Auf Wiedersehen“ – Abschied aus Cromwell
Die „Fjorde“ des südlichen Nordens
Von der Hauptstadt gen Norden
1200 Höhenmeter, zwanzig Kilometer, zehn Stunden
Wildes Wasser zwischen mächtigen Vulkanen
Verwunschener Regenwald und traumhafter See – Lake Waikaremoana
Schwefeldunst und prächtiges Farbenspiel: Rotorua
Bay of Plenty und gelber Qualm auf White Island
Weite Strände, blaues Meer: Coromandel
Auckland – Good Bye Eddie!
Vier Personen, fünf Tage, 1000 Kilometer: Northland
Zurück in den Alltag
Danke
„Für die Menschen, die mir offenherzig und engagiert geholfen haben.
Für diejenigen, die uns ohne eigenen Nutzen unterstützt haben und diese Reise zu dem gemacht haben, was sie war.
In Gedenken an meine Tante Andrea Hasler, verstorben im Juli 2013, und meine Großeltern, Inge und Arthur Raillon, die im April 2001 verstarben.
Sie prägten mich in meiner Kindheit und hätten das Erscheinen dieses Buches sicherlich gerne erlebt.“
Der letzte Schultag ist vorbei! Nie mehr das Pausengeschrei der jüngeren Schüler ertragen, nie mehr in den stickigen Klassenräumen vor sich hin fristen, nie mehr Hausaufgaben – endlich frei. Die große weite Welt steht mir offen, jetzt kann es losgehen!
So denken wohl viele, wenn sie ihre Schulzeit beendet haben – also werden Reiseführer gewälzt, die Koffer gepackt und in die verschiedensten Länder der Welt gereist. Denn unsere Erde war wohl gefühlt noch nie so klein wie im 21. Jahrhundert. Was sind Entfernungen schon mit dem Flugzeug? Die Preise sind nicht günstig, aber mit ein wenig gutem Wille stemmbar. Und doch begrenzen sich die allermeisten von uns Schulabgängern auf eine Reise von wenigen Wochen. Warum? Für ein Jahr auf eigene Faust ins Ausland – das trauen sich meist wenn überhaupt diejenigen, die nicht wissen, was als nächstes kommen soll. Ausbildung oder Studium? Welche Fachrichtung, welcher Ort? Vor diesen Fragen stehen viele, aber den Mut in ein Work & Travel-Abenteuer zu starten, haben dann doch nur wenige. Einige andere sind in der glücklichen Situation, bereits einen Plan für den weiteren Weg zu haben – also nichts wie zur Uni. Die Karriere kann schließlich nicht warten. Nach der ersten Euphorie sind die Hörsäle dann doch wieder stickig, die Klausuren stressig und die Kurzurlaube mehr oder weniger öde. Egal, schließlich ist uns während der Schulzeit oft genug erklärt worden, wie wichtig es doch ist, dass es schnell weitergeht! Karriere eben. Ich selbst zählte auch zu Letzterem: Nach dem Abitur für einige Wochen Reisen, vielleicht Asien, vielleicht Europa. Und dann ab zur Uni, Jura soll es schließlich werden.
Im Nachhinein ist mir klar, was für ein Glück ich hatte, dass meine Freundin, Maria Gleichmann, vorschlug, mit ihr Work & Travel zu machen. Zunächst war ich überrascht, und zugegebenermaßen war mir auch etwas mulmig zumute: Was wird aus meinen Schulzeit-Freunden in Witten? Schaffe ich so etwas überhaupt finanziell? Mehrere Monate ohne meine Familie? Was ist mit meiner doch so wichtigen Karriere? Und was ist, wenn ich im Ausland keinen Job finde? Oder Maria und ich uns im Ausland nicht verstehen? Einen längeren Aufenthalt als Auslandssemester oder nach dem Studium gerne, aber nach dem Abi …?
Ich habe es letztlich gewagt, habe mich überwunden. Aus der ursprünglichen Idee, einige Wochen zu reisen, wurden 181 Tage, sechs Monate – die meiste Zeit davon in Neuseeland. Dem Land, von dem ich vorher eigentlich überhaupt keine Notiz genommen hatte. Ich kann nur sagen: Es hat sich gelohnt! Was habe ich alles erlebt? Wie viele lehrreiche Erfahrungen habe ich gesammelt? Wie viele Menschen habe ich kennen und schätzen gelernt? Das alles steht auf den folgenden Seiten – auf Seiten, die ein Beispiel für ein erfolgreiches Work & Travel-Erlebnis in einem der (vielleicht sogar dem) schönsten Land dieser Welt sind. Auf Seiten, die euch, liebe Leser, dazu aufmuntern sollen, das Gleiche zu wagen: Geht raus in die Welt, nutzt die Zeit nach Schule (, Ausbildung oder Studium) und entdeckt fremde Länder, Kulturen und vor allem euch selbst – es lohnt sich bestimmt!
Ach ja, fast hätte ich es vergessen, da war ja noch etwas: Nach meiner Rückkehr habe ich mich natürlich an meine „Karriere“ gemacht … Jura ist es geworden. Seitdem frage ich mich immer wieder vor allem eines: Warum hast du den Hörsaal nur ein halbes Jahr lang warten lassen und nicht länger? Naja, das Auslandssemester kommt bestimmt. Und ich weiß jetzt für mich persönlich, dass es Wichtigeres gibt als nur Karriere. Lebensfreude! Aber das findet ihr am besten selbst raus. Und jetzt: Viel Spaß beim Lesen meines Reiseabenteuers.
Philip Raillon
Zunächst müssen wir uns für ein Ziel entscheiden. Eine Weltreise mit vorherigem Geldverdienen in Deutschland ist keine Option, da Maria ihr Englisch verbessern und lieber lange Zeit im selben Land bleiben möchte. Kanada steht ganz oben auf der Liste, allerdings hören wir schon bald, dass Work & Travel dort noch nicht allzu tief in der Gesellschaft integriert ist und es daher schwer ist, wie ein Wanderarbeiter zu reisen. Außerdem ist es in unserer angepeilten Reisezeit – von August bis Februar, denn zum Sommersemester soll es für mich dann endlich an die Uni gehen – dort bitterkalt. In Australien wollen wir beide nur ungern die gesamte Zeit verbringen, da dort viele deutsche Jugendliche ihre Work & Travel-Erfahrungen machen, es sehr heiß wird und das Land gigantisch ist. Maria drängt von vorneherein auf einen anderen Staat: Neuseeland. Im Gegensatz zu mir hatte sie schon viel von den beiden Inseln gehört. Ihre Schwester und ihr Cousin waren bereits während der Schulzeit dort und hatten entsprechend berichtet. Wir entscheiden uns also, den Großteil der Reise im Kiwi-Staat zu verbringen. Lediglich zwei Wochen wollen wir vorab im Flächenland Australien stoppen, und auf dem Rückflug bleiben wir einige Nächte in Bangkok. Zur Sicherheit buchen wir Flüge, die wir auch getrennt voneinander stornieren oder umbuchen können – man weiß ja nie. Die Gefahr, dass wir die Reise zwar zu zweit beginnen, aber allein beenden, wird uns vor allem von unseren Freunden immer wieder vor Augen gehalten. Doch wir selbst gehen optimistisch an die Sache und merken schon bald, dass unsere Vorstellungen eigentlich nahezu identisch sind.
Der Erwerb des neuseeländischen Working-Holiday-Visums ist für deutsche Staatsbürger dank bilateraler Abkommen keine große Hürde. Wenn man einmal die Fragen zum Vorstrafenregister und zu Krankheiten beantwortet hat, sendet man die Onlinebewerbung ab, zahlt die 165 Dollar per Kreditkarte und kann sich nach dem Ausdrucken der nötigen Zettel für die Einreise theoretisch schon auf den Weg machen. Wenn man dann allerdings nicht sofort das Visum ausdruckt und seine Internet-Zugangsdaten vergisst, so wie ich, der kann dann kostengünstig schon einmal seine Englischkenntnisse testen. In einem längeren Gespräch mit der entsprechenden Behörde in Neuseeland musste ich meine Zugangsdaten erfragen, aber selbst die Callcenter-Kiwis sind schon freundlich. Die Vorfreude steigt!
Der Rucksack ist für Backpacker unerlässlich. Natürlich muss auch ich einen haben – überraschenderweise erweist er sich im Laufe der Monate tatsächlich noch als nützlich. Nachdem ich mehrere getestet habe, entscheide ich mich für einen schwarz-grauen 70-Liter-Rucksack, damit ich wenigstens annähernd alle Klamotten mitnehmen kann. Außerdem gibt es im Trekking-Laden gleich noch neue Wanderschuhe, Camping-Handtücher, eine Taschenlampe und einen neuen Schlafsack. „Wir sind ja hauptsächlich im Sommer unterwegs – da reichen acht Grad als Optimal-Temperatur des Schlafsacks“ sage ich damals noch zu meinen Eltern – denkste …!
Mit auf die Reise nehme ich auch eine gute Mischung aus Funktionskleidung, Arbeitsklamotten und Straßenoutfit – wobei klar ist, dass diese Kleidungsstücke in den nächsten Monaten verschlissen werden. Nichtsdestotrotz habe ich im Laufe der Zeit alle Pullis, T-Shirts und Hosen gut gebrauchen können. Gemäß dem Zwiebel-Prinzip habe ich gerade in den ersten, kalten Wochen vieles übereinander getragen.
Natürlich darf neben wichtigen Dokumenten, dem Taschenmesser und einigen nützlichen Kleinigkeiten (Wäscheleine, Klebeband, …) auch das technische Equipment nicht fehlen: Obwohl ich bei Abreise von diesem Buchprojekt noch nichts weiß, packe ich meine Kamera, ein Stativ und meinen Laptop ein.
Erfreulicherweise greifen mir meine Eltern bei Fragen wie der Krankenversicherung unter die Arme. Die nötigen 4000 Dollar Absicherung muss ich aber dennoch größtenteils allein auf mein Konto bringen. Einen nötigen Kontoauszug, der die 4000 Dollar (etwa 2400 Euro) bestätigt, soll man bei der Einreise bei sich haben. Hatte ich auch – interessiert hat sich dafür allerdings niemand.
Noch wichtiger als all diese Dinge war aber die wirkliche Vorbereitung. So haben wir uns schon in Deutschland mit einigem technischen Wissen für einen späteren Autokauf gewappnet, haben bereits die Auto- und Job-Internetseiten durchforstet und erste Kontakte nach Neuseeland geknüpft: Bei uns stellte sich heraus, dass im Familien- und Freundeskreis eigentlich immer jemand schon mal am anderen Ende der Welt in Neuseeland war. Insgesamt haben wir auf diesem Wege vier Familien in der Ferne ausfindig machen können und nach einigen Mails hatten wir so schon die ersten Anlaufpunkte. Gerade für die innere Ruhe sind solche festen Kontakte von Vorteil – und geben ganz davon ab auch einen Eindruck, was einen erwartet: freundliche und offene Menschen.
In den letzten Tagen, bevor es losgeht, steigt die Spannung: Geld wechseln, Rucksack packen, Freunde ein letztes Mal treffen. Noch einmal die besten Gerichte der persönlichen Lieblingsspeisekarte durchgehen. Von Maria sehe ich in diesen Tagen wenig. Wir machen uns rar – absichtlich. Schließlich dürfen und wollen wir die nächsten sechs Monate zusammen verbringen.
Ich schleppe meinen Rucksack die Treppe hinunter, greife meine Jacke und stürme zum Auto. Meine Mutter und mein Bruder warten schon, Vater kommt hinterher geeilt. Wir sind spät dran – in drei Stunden geht der Flug. Alles dabei? Nichts vergessen? Hoffentlich nicht. Auf Richtung Düsseldorf International Airport, von wo aus am Abend des 13. August 2013 unser Flieger zunächst Richtung Australien startet.
Am Flughafen treffen wir eine nervöse Maria samt Familie. Ich bin – vermeintlich cool – relativ gelassen. Wir schnüren unsere Rucksackriemen zusammen und checken ein. Fünfundvierzig Minuten noch, bis wir im Sicherheitsbereich verschwinden müssen. Mir gehen die oberflächlichen Gespräche und die gutgemeinten Tipps schnell auf den Geist. Letztlich kommt der Moment des Abschieds ja doch – wir sagen unseren Familien „Tschüss! Bis in sechs Monaten“, gehen durch die Sicherheitskontrolle und zeigen unsere quasi druckfrischen Reisepässe.
Unser Emirates-Flieger startet bei Sonnenuntergang um 21 Uhr nach Dubai.
Nach 26 Stunden Reise mit einem kurzen Zwischenstopp im arabischen Emirat klappt die Boeing ihr Fahrwerk aus und setzt auf australischem Boden in Sydney auf. Es ist frühmorgens, meinem Gefühl nach eher spätabends. Der Jetlag hat mich schon jetzt voll im Griff – eines der unangenehmsten Gefühle. Wir wanken im Halbschlaf durch den Flughafen und gehen zum Bahnsteig. Immerhin ist unseren Rucksäcken nichts passiert. Die Fahrt mit dem Zug ist in Australien teuer, sehr teuer sogar. Maria und ich wollen zum Circular Quay, direkt am Hafen zwischen Opera House und Harbour Bridge, wo wir uns mit einem meiner Freunde treffen. Maurice kommt auch aus Witten, ist aber momentan bei Verwandtschaft in Sydney. Die Sonne blendet, der Himmel strahlt tief blau und es sind knapp zwanzig Grad. Willkommen im australischen Winter. Wir treffen Maurice am Fährableger – groß ist die Freude: Wie oft hatten Maurice und ich davon geredet, uns in Sydney zu treffen? Endlich hat es geklappt. Wir sitzen auf der Mauer am Hafen, in meiner Erinnerung sind kaum Menschen unterwegs und das in der Woche an einem Vormittag. Wir steigen auf die Personenfähre Richtung Manly, einem sehr entspannten Stadtteils Sydneys. Der Wind weht uns durch die Haare, der Dieselmotor schleudert seinen Qualm gen Ozonloch über uns. Ganz dicht fahren wir an den weißen Bögen des Opernhauses vorbei, die Harbour Bridge schwingt sich über den Hafeneingang rechts von uns. Wie oft habe ich diese Bauwerke auf Fotos und in Filmen gesehen? Jetzt bin ich so nah dran und geistig doch so weit weg: in meiner benommenen Übermüdungs-Welt.
Eine Woche haben wir in Sydney, verbringen diese Zeit mit Maurice, einer weiteren Bekannten aus Witten, Leonie, und zwei guten Freundinnen von Maria, Sophia und Marie. Alle vier sind zufällig zurzeit auch am anderen Ende der Welt, so dass es sich anbietet, die Stadt der goldenen Strände gemeinsam zu erkunden. Am ersten Tag sind wir um elf Uhr im Zentrum verabredet. Maria und ich dürfen bei Bekannten schlafen, die in einem nördlichen Vorort wohnen: Newport ist etwa anderthalb Stunden Busfahrt von der Innenstadt entfernt. An unserem ersten Tag klingeln unsere Freunde uns per Handy um 13 Uhr aus den Federn – wir haben komplett verschlafen. Sydney ist groß, eine Weltstadt und bietet neben häufig gutem Wetter (wir sehen in diesen Tagen keine Wolke) wunderbare Strände. Ein Hingucker sind natürlich die bekannten Sehenswürdigkeiten: Harbour Bridge, Opera House und Diamond Harbour. Auch der botanische Garten, die Einkaufsmöglichkeiten und Manly sowie Bondy Beach sind einen Besuch wert. Allerdings muss ich sagen, dass mich die Metropole des Flächenstaates kaum begeistert. Es fehlt die Historie in der Stadt, sie scheint (wohl auch wegen des meist sonnigen Wetters) stets gut gelaunt, aber dafür wirkt alles nur oberflächlich. Genauso wie die Australier selbst: unsere Bekannten, die sind natürlich offen, herzlich und geben uns das Gefühl, willkommen zu sein. Anders ist es mit dem Rest von Sydney. „Hallo! Wie geht’s?“, fragen die Kassierer an der Kasse – natürlich interessiert es niemanden. Auch in den Gesprächen habe ich nicht den Eindruck, als sei mein Gegenüber wirklich an uns interessiert. Eine oberflächliche Freundlichkeit, die ein Stück weit typisch ist für den englischsprachigen Raum und an die ich mich hier noch gewöhnen muss. Trotzdem finde ich, dass die Neuseeländer herzlicher und bemühter sind. Oberflächlichkeit eine Erscheinung der Großstadt Sydney oder des Landes Australien? Um das zu bewerten, war ich nicht lange genug in dem Staat, aber ich bin froh, dass wir nach einer Woche zum Flughafen fahren. Ziel: Alice Springs.
Die „Tiger Air“-Maschine fliegt über roten Staub, ausgetrocknete Seen und geht dann in den Landeanflug. Unter uns ist noch immer nichts außer wenigen Büschen und einigen Hügel- oder Felsformationen. Aus dem Nichts erscheint die kurze Landebahn – willkommen in Alice Springs. Der Flughafen ist eigentlich kein Flughafen, hat aber seinen eigenen Charme. Mit einem teuren Bus fährt uns ein Aborigine in die Stadt, verfährt sich einige Male und setzt uns nach über einer Stunde bei der Autovermietung ab. Von zu Hause aus hatten wir uns einen Van der Firma „Wicked Camper“ gemietet, die – so dachten wir – das einzige Unternehmen ist, das auch an unter 21-Jährige verleiht. Im Internet hatten wir viel Schlechtes über die Wicked-Flotte gelesen: nicht laufende Motoren, schlechte Ausstattung und viele Kommentare zum Aussehen der Wagen. Denn Wicked wirbt damit, jedes Fahrzeug sei anders und mit coolen Sprüchen lackiert. Einige dieser Sprüche sind, laut Internetaussagen, so „cool“, dass Campingplatz-Besitzer Backpacker wegen ihrer obszönen Wagen nicht bei sich schlafen lassen. Dementsprechend froh sind wir, als wir von dem jungen, sehr entspannten Wicked-Mann die Schlüssel für einen Toyota ausgehändigt bekommen, auf dessen Flanken nur ein „Stoned Again“ (Schon wieder bekifft) und ein „This mashine kills fascists“ (Dieser Wagen tötet Faschisten) prangt.
Die sechs Tage mit dem Van durchs Outback sollen ein Erlebnis sein, sind aber gleichzeitig auch ein Test für unsere geplante Reise mit dem Van durch Neuseeland. Was braucht man? Worauf muss man achten? Das Outback zum Versuchsgebiet zu erklären ist sicherlich kühn: Nach Alice Springs gibt es kaum noch Einkaufsmöglichkeiten und nur wenige Tankstellen. Wir decken uns mit dem Nötigsten im örtlichen Coles-Markt ein. Drei Liter Kühleis knallen wir in unsere Kühlbox. Überall sieht man die Aborigines. Viele der Vorurteile bewahrheiten sich: Sie sitzen neben der Straße, trinken Alkohol und sehen häufig sehr abgerissen aus. An der Tankstelle kauft man „Opal Fuel“, einen besonderen Treibstoff, der geruchsneutral ist – sonst würden die Ureinwohner an ihm schnüffeln. Genauso ist es schwer, Klebstoff und Feuerzeuggas zu kaufen. All das würde missbraucht werden. Die Sonne neigt sich schon dem Horizont entgegen, als wir endlich losfahren. Voller Konzentration verlassen wir Alice Springs. Es ist merkwürdig, auf der „falschen“, auf der linken, Straßenseite zu fahren. Zum Glück ist der Verkehr hier nicht stark, und sobald wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen haben, sehen wir kaum noch ein Auto.
Wir fahren nach Westen. Zwar ist der Boden rot und sandig, aber es stehen Büsche und Bäume am Rand – teils sind sogar Wiesen zu erahnen. Das ist doch nicht das Outback? Doch, ist es, aber in der Tat sind die MacDonnell Ranges, die um Alice Springs herum liegen, von oben betrachtet eine kleine, grüne Oase in der trockenen Wüstenlandschaft des Outbacks. Mehrere Wasserlöcher liegen still in kleinen, teils sehr schmalen Schluchten. Der West MacDonnell National Park gefällt uns sofort. Ellery Creek Big Hole steht auf einem verwitterten Schild am Straßenrand – ein Wasserloch in einer der vielen Gorges (Schluchten). Hier befindet sich auch einer der Campingplätze. Wir biegen ab. Der Asphalt endet plötzlich, vor uns liegt eine rote Sandpiste. Laut Mietvertrag von Wicked dürfen wir diese unbefestigten Straßen nicht befahren. Egal, wir wagen uns trotzdem vor. Die Sonne geht unter, als wir uns eine der kleinen Nischen nahe dem Wasserloch aussuchen. Neben uns campen zwei Australier, die jeweils mit dem Fahrrad durch das Land fahren. Einer sei seit elf Jahren unterwegs, sagen sie. Respekt, vielleicht haben sie aber auch einfach zu viel Sonne abbekommen. Wir kochen auf unserem kleinen Gasherd einige Nudeln, als ein Mädchen vorbeikommt. „Ihr seid doch auch Deutsche? Wenn ihr Lust habt, könnt ihr später an unser Feuer kommen“, sagt sie. Luisa und Julius, ein deutsches Pärchen, kommen aus Bamberg und reisen seit einigen Wochen durch Australien. In wenigen Tagen fliegen sie auch für einige Monate nach Neuseeland. Wir quatschen den ganzen Abend, lauschen ihren Backpacker-Erlebnissen und sind begeistert. Auf jeden Fall wollen wir uns im Kiwi-Land Neuseeland wieder treffen. Die Kälte legt sich über das Outback, es ist nur wenige Grad über Null, als wir zu unserem Van zurückgehen. Im Schein des Vollmonds sehe ich einige Dingos um das Toilettenhäuschen schleichen – unheimlich. Die ersten wilden Tiere im wilden Australien, schnell in den kalten Van.
Der Einstieg ins Campingleben ist gemeistert. Wir schauen uns noch weitere Wasserlöcher der West MacDonnell Ranges an. Eines ist schöner als das andere – trotz des unglaublich kalten Wassers springe ich in eines hinein. Ich kann mich im Wasser kaum bewegen, die Beine schmerzen, so niedrig ist die Temperatur. Doch immerhin bin ich frisch gewaschen. Von Alice Springs zum Uluru sind es über den legendären Stuart Highway knapp 500 Kilometer – durch Sand, Staub und lebensfeindliche Umgebung. Am Rand stehen Kühe der gigantischen Farmen. Immer wieder liegen verrostete Wagen am Straßenrand, teils bis zu fünfzig Meter weit von der Straße ab. Pannenfahrzeuge? Diebesgut? Ein Zug kommt uns entgegen. Genaugenommen ein Road Train, einer der langen Lkw, die Sprit und Lebensmittel zu den Orten Australiens bringen. Mit drei Anhängern und bis zu 100 Meter Länge sind sie die einzige Versorgungsmöglichkeit und gleichzeitig eine echte Gefahr. Vor allem bei Nacht bremsen die Trucks für nichts und niemanden. Vor uns liegen zehn Kilometer schnurgerader Asphalt, der am Rand aufbröckelt.
Es ist spannend, im Outback zu fahren. Dort, wo man die anderen Fahrzeuge lässig mit dem Heben von zwei Fingern grüßt. Dort, wo die Sonne den Van erhitzt. Dort, wo man 250 Kilometer fährt, ohne auch nur die Chance zu haben abzubiegen. Irgendwann wird selbst diese surreale Umgebung langweilig. Wir fahren 90, dann 100. Irgendwann arbeite ich mich an die Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h heran. Wir verlassen den Stuart Highway und widmen uns dem Lasseter Highway, der die Ost-West-Verbindung zum Uluru, dem Ayers Rock, darstellt. Und dann sehen wir ihn. Groß liegt der rote Fels im platten Land. Wahnsinn! Er müsste noch über 100 Kilometer weit weg sein und doch sehen wir ihn schon aus der Ferne. Bei einem Aussichtspunkt halten wir an, machen etliche Bilder. Die Stimmung ist wieder oben, alle Müdigkeit der letzten Stunden Fahrt sind vergessen. Mit neuem Elan geht es wieder auf die Piste – unser Ziel, bei Sonnenuntergang am Berg zu sein, scheint plötzlich wieder möglich. Immer weiter und weiter geht die Straße. Den großen Berg sehen wir schon längst nicht mehr, da geht uns ein Licht auf: Was wir sahen, ist nicht der Uluru, sondern eines der am häufigsten irrtümlich fotografierten Objekte der Welt. Der Mount Conner! Bis zum eigentlichen Ziel sind es tatsächlich noch viele Kilometer hin. Endlich erreichen wir den Uluru-Kata Tjuta National Park, wo neben dem Uluru auch die Olgas (Kata Tjuta) liegen. Wir sind überrascht, als wir gebeten werden, jeweils 25 Dollar für den Eintritt zu bezahlen – damit hatten wir nicht gerechnet. Egal, jetzt wollen wir auch hinein. Vor uns liegt der wohl bekannteste Stein der Welt. Groß, abgerundet, rot – und touristisch überlaufen. Auf dem Parkplatz treffen wir zwei deutsche Backpacker, die wir schon in Alice Springs kennengelernt hatten. Mit Robin und Johanna schauen wir uns den Sonnenuntergang an. Wir bleiben länger als alle anderen und verlassen als eines der letzten Autos den Nationalpark. Zum Sonnenaufgang wollen wir uns wieder treffen, Robin und Johanna gehen auf den teuren Campingplatz in Yulara, dem Ort nur für Touristen, außerhalb des Nationalparks. Maria und ich suchen stattdessen ein Fleckchen zum Campen – irgendwo am Straßenrand.
Mit voller Konzentration durchschneide ich die schwarze Nacht. Die Mittellinie liegt direkt unter uns, mindestens jeder zweite Blick gilt dem Straßenrand: Wir dürfen nach Sonnenuntergang nicht mehr fahren, so steht es im Mietvertrag. Zu groß ist die Gefahr, dass Kängurus vors Auto hüpfen oder ein Road Train uns umfährt. Mit 40 km/h schleichen wir über den leeren Lasseter Highway und finden einen „Parkplatz“, also eine sandige Fläche, neben der Straße. Wir stellen uns neben die drei anderen Vans und steigen aus. Sterne! Über uns funkelt der Himmel nur so von Himmelskörpern. Die Schleier der Milchstraße ziehen sich von Horizont zu Horizont. Es ist unglaublich, faszinierend. So viele Sterne im Schwarz der australischen Outback-Nacht. Nur für diesen Moment würde ich die gesamte Reise nochmals machen – aber wir sind ja erst am Anfang.
Neben dem Uluru im Morgengrauen, den unwirklichen, steilen Wänden der Kata Tjuta, den eiförmigen und abgerundeten Bergen im Nichts des Outbacks besuchen wir den Kings Canyon. Während wir den Highway Richtung Kings Canyon Resort fahren, ein Dörfchen wie Yulara am Ayers Rock, nur noch kleiner, sehen wir kaum ein Auto. Lediglich der Mietwagen von Robin und Johanna fährt im Rückspiegel mit uns. Am Straßenrand liegen immer wieder Tierskelette und große Kothaufen – es leben hier wohl mehr Kamele als Menschen. Die Kings Creek Station ist eine Anlaufstelle, genau genommen fast die einzige auf der 170 Kilometer langen Asphaltpiste zwischen Lasseter Abzweigung und Kings Canyon. Unser Plan, an der Station aufzutanken, wird vom Spritpreis zertrümmert: 3,40 Dollar pro Liter, statt 1,70 Dollar in Alice Springs. Der Treibstoff muss reichen – weiter geht’s. Die Luft ist trocken und heiß. Die Sonne knallt auf uns herab. Wir sind am Kings Canyon, vor uns erhebt sich die erste Kette des Gesteinsmassivs. Sofort sitzen Fliegen in unseren Gesichtern, krabbeln in Nase, Augen und Mund – ekelig. Die kleinen Insekten gibt es überall im Outback. Zwar stechen oder beißen sie nicht, sind dafür aber unglaublich nervig. Mit kleinen Ästen wedeln wir uns den Weg durch die Schluchten und Täler. Allerdings geht es hauptsächlich bergauf: Eine lange Treppe führt über die roten Gesteinsplatten hinauf. Erstmal etwas trinken. Trotz des gerade endenden Winters haben wir über dreißig Grad. Im Sommer sollte man die Wanderung nicht mehr nach zehn Uhr machen, weil es unterwegs kein Wasser gibt. Wir wandern weiter. Echsen huschen über den trockenen Boden. Es fällt nicht schwer zu glauben, dass hier unter den steinigen Brocken oder in den Schlitzen Schlangen, Spinnen oder andere gefährliche Tiere leben.
Irgendwo zwischen Dürre und toller Fernsicht liegt der Garden of Eden. Nach einer Stunde Wanderung auf dem Kings Canyon Rim Walk, der an höchstens mageren Sträucher vorbeiführt, liegt dieses Wasserloch am Ende eines Sackgassenweges in einem kleinen Tal. Die Vegetation gedeiht hier wie im Regenwald: große Bäume, verwunschenes Unterholz und darin ein moosiger Bach. Schwimmen kann man hier bestimmt, Krokodile soll es meines Wissens hier nicht geben. Doch auch für Nicht-Planschende lohnt sich der „Side Walk“ zu den Reflektionen der kleinen Wellen des Wassers an den steilen Felswänden darum herum.
Tierwelt im Outback
Das Tier des australischen Outbacks bleibt uns übrigens lange Zeit verborgen: Anscheinend sind wir die einzigen, die unterwegs kein Känguru sehen. Als wir eines Abends mit Julius und Luisa sowie Robin und Johanna auf einem Campingplatz nächtigen, kommen ein paar Urlauber und berichten von den soeben gesichteten Springtieren. Und wir? Wir sehen einfach keine! Am letzten Abend fahren wir zum botanischen Garten in Alice Springs, wo man wildlebende, kleine Kängurus beobachten kann. Wir gehen den kleinen Pfad bis ganz nach oben und sehen – wieder keine. Wir wollen schon wieder zurückgehen, als plötzlich etwas über einen großen Stein hoppelt – ein Känguru! Oder vielleicht auch nur ein Wallaby, wie die kleinen Känguru-Arten genannt werden. Egal, es springt herum und hat sogar einen Beutel mit einem Jungen darin. Das zählt!
Neben Dingos und zahlreichen Rindern sehen wir auch einen Großen Emu. Der große Vogel stolziert über den Campingplatz von Curtin Springs, wo es auch einen kleinen Laden und eine Tankstelle gibt. Schlangen und Spinnen bleiben uns zum Glück, oder leider, verwehrt. Dafür machen wir Bekanntschaft mit den Millionen von Schmeißfliegen und einigen beunruhigend großen Wespen, die an einer Wasserstelle bei den Kata Tjuta die durstigen Wanderer vom Wassertank abhalten. Wir sehen auch einige freilebende Wellensittiche, die mit ihrem grünen und gelben Federkleid im Schatten der Olgas toben.
Die vielen verschiedenen Vögel des Landes fallen einem auch in Sydney sofort auf. Morgens wird man nicht von Amseln oder Spatzen geweckt, sondern von einem mir gänzlich unbekannten Vogelgezwitscher, das in meinen Ohren mehr wie ein Kreischen und Quietschen klingt. In den Straßen von Sydneys Vororten braucht man nur in die Bäume zu schauen, wo bunte Papageien, Kakadus und andere Federtiere sitzen. Insgesamt gibt es über 800 Vogelarten in Australien.
Vom Kings Canyon könnten wir den Weg zurück zu den West MacDonnell Ranges über eine 140 Kilometer lange Strecke abkürzen. Allerdings führt diese nicht asphaltierte Straße durch Niemandsland, und wir dürfen noch immer keine ungeteerten Wege fahren. Wir entscheiden uns daher schweren Herzens gegen dieses einmalige Abenteuer und machen uns wieder den ganzen langen Weg, über Lasseter und Stuart Highway zurück. Die Geländewagen, die Vans und die Busse – alle grüßen auf dem Weg nach Alice Springs, wo wir letztlich in den Flieger nach Sydney einsteigen. Auch wir verewigen uns zum Abschluss im Innenraum des Wicked-Campers: Schon viele Mieter folgten dem Aufruf, mit Kuli oder Filzstift in den Teppich zu schreiben. Die Abnahme des Wagens verläuft problemlos – wohl auch, weil ich mein Fahren auf der rechten Straßenseite noch gerade rechtzeitig bemerkt habe, sonst hätte ich in der Innenstadt von Alice Springs einen Frontalzusammenstoß verursacht. Zwei Tage bleiben uns jetzt in Sydney, um Felix, ein weiterer Freund aus der Heimat (irgendwie tummelt sich ganz Witten hier unten) zu treffen, die Blue Mountains und die Strände zu genießen – dann reicht es aber auch mit der Stadt, die uns beiden ja gar nicht so sehr zusagt.
Australien, es ist ein riesiges Land. Ein Land, das wohl wie kein zweites ist. Mit Sydney und vor allem mit dem Outback haben wir zwei Orte gesehen, die ganz oben auf der Touri-Liste stehen. Viele weitere Kilometer Einsamkeit und einige weitere Städte verbleiben für unsere nächste Reise. Doch nun geht es erst einmal zu unserem eigentlichen Ziel: Neuseeland.
Schon lange bevor wir die schneebedeckten Gipfel der Southern Alps aus dem Flugzeugfenster sehen, verfolgen wir den Flug nach Neuseeland auf dem Bildschirm. Wir haben Glück und sitzen in der Boeing 777 von Sydney nach Christchurch am Fenster. Kaum überfliegen wir die Küste, da sind wir schon über hohen Bergen. Oben Schnee, in den Tälern grün-braunes Gestrüpp. Noch wenige Minuten, dann sind wir endlich dort, wo wir die nächsten Monate verbringen werden. Es gibt kein Zurück mehr und das ist gut so.
„Was ist eigentlich, wenn bei der Landung ein Erdbeben ist?“, fragen wir uns, während wir uns im Landeanflug über grünen Wiesen mit weißen Wollknäueln auf vier Beinen befinden. Christchurch, mir bislang nur aus den Erdbeben-Berichten bekannt, ist für uns aber das Tor nach Neuseeland – und das mit festem Boden. Der Flughafen der 300.000-Einwohner-Stadt ähnelt einem Provinzflughafen Deutschlands, hat dafür aber sehr gründliches Zoll-Personal: Nachdem alle Fragen auf den Einreisezetteln beantwortet sind und die Einreisestempel in unseren Pässen glänzen, warten wir auf unsere Rucksäcke. Mit dem Gepäck geht es dann in die Schlange für die Einreisekontrolle – wir kennen diesen etwas nervigen, aber wohl nötigen Umstand bereits aus Sydney. Neu ist allerdings, dass schon während wir unsere Rucksäcke gerade wieder tragbar machen, Sicherheitspersonal mit Spürhunden entlang schlendert. Der schwarzweiß gefleckte Hund ist richtig süß. Er findet aber beunruhigend viel Gefallen an Marias Trageutensil. Jetzt finde ich ihn nur noch bedingt süß! Die Folge: Unsere Einreisekarten bekommen einen kleinen Vermerk mit großem Ausmaß: Am ersten Schalter müssen wir alle Lebensmittel ausräumen. Nutella, Gewürze und Tee sind kein Problem. Meine Wanderschuhe werden sicherheitshalber gereinigt – ein angenehmer Service. Weniger angenehm sind die Fragen der Beamtin. „Haben Sie wirklich keine frischen Lebensmittel dabei?“ Durch die Androhung von mehreren hundert Dollar Strafe kommen wir dann doch ins Grübeln, gehen mehrfach unseren Packvorgang durch und sind uns dann sicher: Wir haben nichts Frisches dabei. Trotzdem wird unser gesamtes Gepäck gefilzt und dann durch einen Scanner geschickt. Kein Fund. Alles gut, wir können nach fast anderthalb Stunden endlich aus dem Sicherheitsbereich raus. Von wegen. Wieder wird uns einer dieser „süßen“ Hunde zum Verhängnis: Kurz bevor wir durch die Schiebetür nach draußen wollen, schnuppert nochmals einer an Marias blau-lila Rucksack und bellt. Der diensthabende Chefbeamte räumt daraufhin höchst persönlich den kompletten Rucksack aus – findet letztlich aber, wie auch die Male zuvor, doch nichts. Immerhin sind die neuseeländischen „Grenzbehörden“ freundlich und geben uns schon gleich Tipps mit, was wir in Christchurch machen können. Mit zwei Stunden Verspätung betreten wir endlich den öffentlichen Bereich des Christchurcher Flughafens, wo wir bereits erwartet werden.
Fiona kommt direkt auf uns zu. „Maria und Philip?“ Ja, das sind wir! Fiona Prest ihr Mann und die drei Söhne sind eine der Familien, die wir noch in Deutschland ausfindig gemacht haben. Marias Cousin lebte einst bei der Familie im Christchurcher Ortsteil Avonhead als Austauschschüler. Nun sind wir für einige Nächte eingeladen. Wie viele es aus den angedachten „zwei, drei Übernachtungen“ im Spielzimmer der Familie werden sollten, ist schon fast unangenehm. Doch die Familie ist offen, freundlich und hilfsbereit – wohl, auch weil sie wissen, wie es ist, in einem gänzlich unbekannten Land anzukommen: Sie immigrierten vor einigen Jahren aus Afrika nach Mittelerde.
Für uns sind Fiona und Gary mit ihren drei Söhnen jedenfalls die kostenlose und deutlich herzlichere Alternative zu einer teuren Organisation. Gleich am Anfang helfen uns Fiona und Adam, der mittlere Sohn, dabei, die Zeitungen nach inserierten Backpacker-Autos zu durchschauen. Denn das steht als Erstes an: der Kauf eines Wagens. Außerdem werden wir im Verlauf der nächsten Tage viele informative und nette Abende zusammen mit der Familie verbringen. Die Freundlichkeit und Offenheit unserer neuen Bezugspersonen ist überwältigend. Mit dabei ist auch Paul, der damalige Austauschschüler der Familie. Der Kieler ist im selben Alter wie wir und bereits seit einigen Wochen in Neuseeland.
Noch am ersten Abend suchen wir über die Internetseiten gumtree.co.nz, eine kostenlose Kleinanzeigenplattform, und trademe.co.nz, eine Versteigerungsseite, nach einem passenden Wagen. Direkt nehmen wir Kontakt mit den ersten Backpackern auf und verabreden uns für den nächsten Tag. Fiona bringt uns zum ersten Treffen: Zwei US-Amerikaner sind kurz vor Ende ihrer Reise und wollen uns ihren alten Mazda mit Vierradantrieb verkaufen. Die von meinem Vater erstellte Liste mit zu überprüfenden Punkten versuche ich durchzugehen. Der babyblaue Wagen ist aber nicht nur dreckig und unaufgeräumt, sondern fällt auch ansonsten durch zusammengebastelte Technik und rostiges Gehäuse auf. Nach einer Probefahrt – zum ersten Mal im städtischen Linksverkehr und fast mit einem Unfall – will ich unsere Verhandlungstaktik anwenden. Aber anstatt so zu tun, als wäre Maria der Preis viel zu hoch, unterhält sie sich lieber mit der Freundin des Verkäufers. So wird das nix. Dennoch halten wir uns das Angebot offen.
Weiter geht es: Der Herbergsvater eines Hostels in Christchurch soll auch Wagen verkaufen. Als wir ihm von unserem Budget erzählen, zerstört er unsere Illusionen. „Unter 3500 Dollar bekommt ihr nichts, was einigermaßen vernünftig ist“, sagt er. Unsere Grenze liegt bei 3000 Dollar. Schließlich entscheiden wir uns gegen eine seiner ohnehin nur rustikal ausgebauten Karren und suchen weiter, schauen uns einen Toyota Townace in der Innenstadt an, machen eine Testfahrt mit einem weiteren, diesmal allradbetriebenen Toyota Townace und besichtigen den kleinen Geländewagen einer Australierin, die ihre Schrottlaube für 1500 Dollar irgendwie loswerden will. All diese Angebote verwirren uns zwar kräftig, helfen uns letztlich nicht weiter – mit Ausnahme der zuletzt genannten Australierin. Vor lauter Frustration, dass sie noch immer keinen Kunden hat, und das zwei Tage bevor sie abreist (um ehrlich zu sein, der Albtraum eines jeden Backpackers), drückt sie uns einen Flyer in die Hand. „Der Automarkt dort hat zig Autos. Aber alle teuer“, sagt sie und schiebt noch hinterher: „Müsst euch halt entscheiden, wie viel ihr anlegen wollt.“ Ein Hoffnungsschimmer. Denn all die bisherigen Wagen haben uns nicht komplett zugesagt – so langsam wollen wir aber Fortschritte sehen, denn es sind mittlerweile schon vier Tage seit unserer Ankunft vergangen. Am nächsten Morgen steigen wir in den Linienbus und fahren in die Innenstadt. Am zentralen Busbahnhof ausgestiegen, laufen wir nach Süden und versuchen uns im Straßensystem der Christchurcher Innenstadt zurechtzufinden, was keine leichte Aufgabe ist. Schließlich finden wir aber den Car Market in der Battersea Street.
Gemeinsam mit Richard, dem Verkäufer dort, laufen wir durch die Halle mit Vans, die ehemalige Backpacker für Miete dort haben stehen lassen. Richard, der also nur Vermittler ist, zeigt uns einige Wagen: Manche sind zu klein, andere zu alt oder zu teuer. Gute Wagen sind schon reserviert oder ich traue den Vierrädern noch nicht mal mehr fünf Kilometer zu, so alt sehen sie aus. Enttäuschung macht sich bei Maria und mir breit. Schon wieder kein geeigneter Wagen? Richard grinst und macht nebenbei die Seitentür auf: Weitere vierzig Backpacker-Karren stehen dort und warten auf den zukünftigen Besitzer. Und unter dieser großen Auswahl findet sich tatsächlich auch ein Wagen, der unsere Aufmerksamkeit erregt. Ein Toyota Hiace von 1988, mit 256.000 Kilometern auf den Achsen – doch ansonsten klasse. Hoffnungsvoll nehmen wir den Wagen auf eine Probefahrt mit. Schon bald steht fest: Der soll es sein! Glücklich halten wir zum Mittagessen an und inspizieren den Wagen von innen. Ein großes Bett zum Aufklappen, dazu noch Platz, um sich drinnen hinzusetzen; viele Ausrüstungsgegenstände und eine gute Musikanlage bietet der Wagen auch. Also lassen wir ihn vom Mechaniker des Car Market überprüfen. Er – als dazugehöriger Mechaniker natürlich – gibt grünes Licht. Über die nächsten Tage hinweg verhandeln wir mit den Verkäufern via E-Mail: Da noch einiges am Wagen repariert werden muss, wollen wir nicht einfach den geforderten Preis bezahlen, sondern müssen uns erst mit den Vorbesitzern, die seit vier Monaten schon wieder zu Hause in Frankreich sind, einigen. Für die entscheidenden Mails stehe ich nachts um halb drei neuseeländischer Zeit auf und wir erhandeln einen guten Preis: 4000 Dollar, inklusive der nötigen Reparaturen. Auch für die Erneuerung des neuseeländischen TÜVs, dem WOF (Warrant of Fitness), müssen noch einige Dinge getan werden. Denn der Wagen hat zwar noch zwei Monate die Zulassung, doch jetzt kommen die Vorbesitzer noch für die Auffrischung auf – so die Regeln des Car Market. Es dauert dann noch weitere fünf Tage, bis die Frontscheibe gewechselt, der Rost entfernt und die Abblendlichter ausgewechselt sind.
All die Vorbereitungen und die Reparaturen haben deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen, als ursprünglich erwartet, aber wir haben die zwölf Tage in Christchurch genutzt: Wir eröffneten ein Bankkonto, beantragten die Steuernummer (IRD-Nummer) und unternahmen auch einiges. Die Metropole der Südinsel wirkt im Jahr 2013 auf uns so, wie ich mir eine deutsche Großstadt 1948 vorstelle. Wo in den Straßen keine Löcher sind, da ist der Asphalt wellig. In der Innenstadt stehen nur noch wenige Gebäude der ehemaligen Vorzeigestadt. Wo die Ruinen des Erdbebens schon abgeräumt sind, befinden sich nun (teure) Parkplätze. Es wäre aber gelogen zu behaupten, dass schon alle eingestürzten Häuser beseitigt wären. Nur an wenigen Stellen sitzt noch ein Stein auf dem anderen, da, wo Christchurch einmal blühte und lebte. Städtebaulich bietet die Stadt nun großes Potenzial – doch soweit ist es noch nicht. Das zweite, das große Erdbeben, liegt jetzt zwei Jahre zurück, aber noch immer sind ganze Straßenzüge gesperrt. In ehemaligen Cafés sehe ich die unangetastete Möblierung, die Kaffeetassen stehen noch auf den Tischen. Daneben ein Bekleidungsgeschäft mit angezogenen Ausstellungspuppen im Schaufenster. Spätestens beim Anblick der ehemaligen Kathedrale, mit eingestürztem Turm und nur durch einen Bauzaun gesichert, versteht man, dass das Beben in den Köpfen der Bewohner noch allgegenwärtig sein muss. Viele der Innenstadtstraßen sind noch gesperrt, und das neue Einkaufszentrum befindet sich in bunten Schiffscontainern – „Restart Mall“ (Neustart Einkaufszentrum) hat man den verzweifelten, aber auf seine Art gelungenen Versuch getauft. Bei einem späteren Aufenthalt in Christchurch besuchen wir in dieser Restart Mall auch das Museum Quake City. In den Räumlichkeiten wird alles rund um Neuseelands Erdbebenanfälligkeit und die möglichen Folgen erklärt. Besonders deutlich werden die beiden starken Erschütterungen in Christchurch am 4. September 2010 und am 22. Februar 2011 dargestellt. Ich empfehle jedem den Besuch, der einen Einblick in diesen Einschnitt in der Stadtgeschichte und im Leben vieler Neuseeländer bekommen möchte. Leid vermischt sich im Museum mit Hoffnung, Interessantem und Glücklichem – die Trauer spielt aber eine entscheidende Rolle. Eine kuriose Geschichte in der Cashel Street 99 ist hingegen die des Bieres. Auch in der lokalen Brauerei fiel der Strom aus, als der Boden zitterte. Der Brauvorgang wurde unterbrochen, das Bier dadurch deutlich stärker als üblich. Was also tun mit dem „flüssigen Gold“? Man war erfinderisch und verkaufte die Charge als Erdbebenbier. Der Alkoholanteil stimmte am Ende mit dem Wert auf der Richterskala über ein – 6,3.
Direkt am ersten Tag bringt uns Fiona in die Port Hills. Die kleine Hügellandschaft trennt Christchurch von der Banks Peninsula ab. Einige Tage später fahren wir noch mal mit Paul, dem Gastschüler, in das Luxus-Naherholungsgebiet. Es ist unser erster Gang durch die saftig grünen Wiesen Neuseelands. Der Weg schlängelt sich entlang des Meeres und führt neben zwei ehemaligen Geschützposten des neuseeländischen Militärs an unzähligen Schafen mit ihren Lämmern vorbei. Auch sonst lernen wir Paul zu schätzen – er wird über die zehn Tage, die wir zu Beginn bei den Prests verbringen, zu unserem ersten Freund, den wir hier finden. Paul und ich verbringen viele Abende damit, uns die Bälle auf der Tischtennisplatte in unserem Zimmer gegenseitig zuzuschlagen, oder Maria und ich treffen uns mit ihm in der Stadt.
Als wir unseren Wagen von der Werkstatt wenigstens schon mal über Nacht mitnehmen dürfen, treffen wir uns abends mit Paul am Strand in Sumner und kochen dort auf unserem Campingkocher. In der folgenden Nacht schlafen Maria und ich testweise das erste Mal im Van – zwar nur vor der Haustür unserer Gastgeber, aber man muss ja irgendwo anfangen. Mitten in der Nacht wackelt der Wagen. Ich werde wach und wecke Maria. „Wer rüttelt da am Van?“, frage ich im Halbschlaf. „Hm … Das ist bestimmt ein Erdbeben“, antwortet Maria abgeklärt. Klar, also schlafen wir weiter. Am nächsten Morgen frage ich Fiona und Gary, die aber beide nichts gespürt haben. Sie nennen mir jedoch die Internetseite www.geonet. co.nz, die alle Erdbeben und Vulkanaktivitäten Neuseelands aufzeichnet. Und tatsächlich: In der Nacht hatte in Christchurch der Boden gewackelt. Stärke: 3,2 auf der Richter-Skala. Kein starkes Beben, aber durch die Stoßdämpfer des stehenden Wagens durchaus zu spüren. Danach unterhalten wir uns länger mit Fiona und Gary darüber, wie man im Falle eines starken Erdbebens handeln soll. Es ist sinnvoll zu wissen, dass man sich in einen Türrahmen stellen, die Matratze über den Kopf ziehen oder unter den Küchentisch krabbeln soll. Zum Glück müssen wir das neu gewonnene Wissen nicht anwenden: Wir selbst sollten von diesem Tag an bis zur Abreise kein weiteres Beben mehr spüren.
Einen Tag bevor endlich alle Reparaturen abgeschlossen sind und wir Christchurch endlich verlassen können, sagen wir Fiona, Gary und den Jungs „Tschüss“. Zwar hätten wir noch bleiben dürfen, aber wir wollen selbst die größte Gastfreundschaft nicht übermäßig strapazieren, dem sind wir nach zehn Nächten zweifelsohne nahe. Wir bedanken uns mit einem Gutschein über ein Essen für alle in einer netten Pizzeria und fahren los. „Wenn etwas ist oder ihr nochmals in Christchurch sein solltet, meldet euch“, sagen Fiona und Gary noch durchs Autofenster. Mal schauen … Austauschschüler Paul ist jedenfalls traurig und auch mir werden die abendlichen Tischtennisduelle fehlen.
Weiter geht es mit den Reparaturen unseres Wagens: Mechaniker Gary bringt uns zu seinem Kollegen – dem Rostentferner. Auf dem Rückweg machen wir uns Gedanken über den nächsten Schlafplatz. Die kommerziellen Campingplätze in Christchurch sind uns mit Preisen über 30 Dollar