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Nr. 1484

 

Der Tod eines Nakken

 

Begegnung mit einer Legende – ein Sotho unter Mordverdacht

 

von Marianne Sydow

 

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Im Herbst des Jahres 1146 NGZ sollte die jahrhundertealte galaxisweite Herrschaft der Cantaro und derer, die über diesen Klon-Wesen stehen, längst so gefestigt sein, dass niemand den gegenwärtigen Zustand verändern kann.

Perry Rhodan mit seinen Tarkan-Rückkehrern, die Freihändler und die Angehörigen der galaktischen Widerstandsorganisation WIDDER versuchen trotzdem, die Gewaltherrscher der Milchstraße zu stürzen und den unterjochten Völkern die Freiheit zurückzugeben.

Die Bemühungen der Widerständler sind anfangs trotz eindeutiger militärischer Unterlegenheit sogar von Erfolgen gekrönt. Später kommen die Freiheitskämpfer allerdings in Bedrängnis, denn der Gegner startet die Generaloffensive.

Doch obwohl die Widder und ihre Verbündeten um ihre nackte Existenz zu kämpfen gezwungen sind, sehen sie sich immer noch in der Lage, den galaktischen Usurpatoren empfindliche Schlappen beizubringen und Zukunftsplanung zu betreiben.

Zu dieser Planung gehört neben vielen anderen Projekten auch ein weiterer Besuch auf dem Planeten Lokvorth. Auf ebendieser Welt findet die Begegnung mit einer Legende statt – und es ereignet sich DER TOD EINES NAKKEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Masquam, Dreight und Hermyth – Die Begründer eines Kults.

Shingo Leddigg – Ein Waldmensch von Durtning.

Balaam – Ein ehemaliger Sotho unter Mordverdacht.

Sato Ambush, Loydel Shvartz und Lingam Tennar – Drei Galaktiker auf der Suche nach einem Weg ins Humanidrom.

1.

 

Oktober 1146, Planet Lokvorth, Lokvorth-Therm.

»Pst, leise, macht doch nicht so viel Krach!«, flüsterte Karam aufgeregt. »Wenn sie uns erwischen ...«

»Sie werden uns ganz bestimmt erwischen, wenn du nicht endlich die Klappe hältst!«, zischte Rack wütend. »Weiter!«

Sie waren zu viert. Die beiden kleinsten – Griet und Vilm – hielten sich vorsichtig zurück. Rack – der Anführer der Gruppe – hatte an und für sich die Absicht gehabt, voranzugehen, aber Karam, vorwitzig wie immer, hatte sich an ihm vorbeigedrängt, und da sich der Gang an dieser Stelle verengte, musste Rack ihr den Vortritt lassen, ob ihm das passte oder nicht.

Karam tat zögernd einen Schritt und landete auf etwas Zerbrechlichem. Es zerbarst mit lautstarkem Knacken und Knirschen unter ihren Füßen. Karam hob erschrocken die eine Hand an den Mund und stützte sich mit der anderen an der Wand ab. Dabei berührte sie etwas Weiches, das sich eiligst unter ihren Fingern davonschlängelte.

Karam zog hastig die Hand zurück und unterdrückte mit Mühe einen Schrei.

»Da war was!«, sagte sie ängstlich.

»Pst!«, machte Rack. »Mach das Licht an!«, forderte Karam.

»Damit sie uns sehen, ja?«

»Das ist mir egal!«, flüsterte Karam. »Das verdammte Ding war weich und haarig. Wenn es ein Bharig war ...«

»Bharigs leben nicht in Höhlen«, widersprach Rack.

»Bharigs leben immer in Höhlen«, bemerkte Vilm.

»Vor allem, wenn sie Junge haben. Dann sind sie auch am giftigsten.«

Rack hätte diese Bemerkung nur zu gerne als reine Besserwisserei abgetan, aber Vilm kannte sich mit allem möglichen Getier sehr gut aus. Vilms Vater war nämlich ein Plutokrat, der sich auf das Sammeln aller erreichbaren Unterlagen über lokvorthische Lebensformen spezialisiert hatte, und Vilm hatte den Ehrgeiz, diese theoretischen Informationen in praktische Erfahrungen umzusetzen. Ständig kroch er in den Ruinen und im Dschungel herum und zerrte die merkwürdigsten Wesen ans Licht.

Rack machte sich widerstrebend daran, die Fackel zu entzünden, was ihm aber nicht recht gelingen wollte, weil ihm die Hände zitterten. Inzwischen blickten die anderen ängstlich umher und rührten sich ansonsten nicht von der Stelle.

Durch eine Mauerritze sickerte ein wenig Licht herein – genug, um ihnen die Enge des Ganges zu zeigen, aber bei weitem nicht ausreichend, um sie einen wohlgetarnten Bharig erkennen zu lassen. Von der Decke rieselten ab und zu Sandkörner und kleine Steine herab. Sie zuckten alle vier jedes Mal zusammen, wenn das geschah.

»Wir hätten die Treppe nehmen sollen«, meinte Karam, die nach Racks Meinung ohnehin unter einem höchst beklagenswerten Mangel an Phantasie litt und für Romantik aller Art nichts übrig hatte. »Es ist doch blödsinnig, durch diese Gänge zu kriechen, wenn es noch einen viel bequemeren Weg gibt.«

»Auf der Treppe hätten sie uns sehen können«, fertigte Rack sie kurz angebunden ab.

»Es war keiner da, der uns sehen konnte«, stellte Vilm nüchtern fest.

Musste dieser Kerl denn immer widersprechen?

»Da war jemand«, behauptete Rack. »Ihr habt ihn bloß nicht gesehen, weil er sich versteckt hat.«

»Wie hat er ausgesehen?«, fragte Griet neugierig.

»Es war so ein breiter Kerl mit einem roten Bart – und er ging seitwärts.«

»Das war Balaam«, behauptete Vilm gelassen. »Den kenne ich. Der gehört bestimmt nicht zu den GP-Freunden. Er hätte uns ruhig sehen können. Vielleicht hätte er uns sogar geholfen.«

»Das glaube ich nicht. Er wollte nicht gesehen werden. Und er hatte etwas bei sich, so ein großes Bündel.«

»Er ist ein Plutokrat«, konterte Vilm. »Plutokraten schleppen immer irgend etwas mit sich herum.«

Er ist mir unheimlich!, wollte Rack sagen, begriff aber gerade noch im letzten Augenblick, dass er sich damit eine gefährliche Blöße gegeben hätte.

Er schluckte alle weiteren Einwände hinunter und bemühte sich statt dessen ziemlich erfolglos, mit dem winzigen Flämmchen des Feuerzeugs etwas Licht in die ganze Angelegenheit zu bringen.

Bedauerlicherweise war die Tatsache, dass keiner der vier einen Bharig entdecken konnte, kein schlüssiger Beweis dafür, dass auch tatsächlich keines dieser Geschöpfe in der Nähe war. Diese Biester sah man meistens erst, wenn es schon zu spät war.

Ein Bharig glich in etwa einer Kreuzung zwischen einem Wollfaden und einem Tausendfüßler. Große Exemplare wurden so dick wie ein Daumen und erreichten eine Länge von mehreren Metern. Die kleinen dagegen waren so dünn wie ein Zwirnfaden und nicht länger als eine menschliche Hand. Sie passten in jede Ritze und in jede Spalte und waren dort kaum zu entdecken. Im allgemeinen waren sie harmlos, aber wenn sie sich gestört fühlten, verwandelten sie sich in bissige kleine Monstren, und die kleinen standen ihren großen Artgenossen an Giftigkeit in nichts nach.

Der Biss eines Bharigs löste schmerzhafte Krämpfe aus, die sich mitunter noch monatelang in allmählich immer länger werdenden Abständen wiederholten, ohne dabei an Heftigkeit zu verlieren. Die Kinder hatten also allen Grund, sich zu fürchten.

»Wenn es ein Bharig gewesen wäre«, sagte Vilm schließlich, »dann hätte er uns schon längst gebissen – es sei denn, er hat sowieso keine Lust dazu. Außerdem riecht es hier nicht nach Bharig. Geh endlich weiter, Karam!«

Karam zögerte noch immer.

»Ja!«, wisperte Griet, der kleinste in der Runde. »Geh, Karam! Ich will es endlich sehen!«

»Du kannst ja vorgehen!«, knurrte Karam giftig, aber das nutzte ihr nichts.

Hätte sie nicht das Theater wegen des angeblichen Bharigs veranstaltet, so hätte Griet sich vielleicht wirklich an den anderen vorbeigequetscht. So aber wollte keiner von ihnen mit den Wänden in noch engere Berührung kommen, als es ohnehin schon der Fall war.

Karam biss die Zähne zusammen, ignorierte das Knirschen unter ihren Füßen und ging vorsichtig weiter.

Der Gang mündete in einen breiten, halbzerfallenen Korridor, in den durch seitliche Maueröffnungen dicht unter der Decke ein wenig Licht hereindrang. Draußen war es jetzt später Vormittag, in Lokvorth-Therm eine gute Zeit für geheime Unternehmungen, da die Bewohner dieser Stadt es wegen der Hitze vernünftigerweise vorzogen, nachts aktiv zu sein und den Tag zu verschlafen.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Griet flüsternd.

Rack drehte sich hastig um, legte den Finger über die Lippen und deutete mit der anderen Hand zu einer dunklen Öffnung dicht unter der Decke hinauf.

Die anderen blickten skeptisch drein, aber Rack zeigte ihnen, wie man auf einigen Mauervorsprüngen nach oben steigen konnte, um einen Blick in den dahinterliegenden Raum zu werfen.

Sie kletterten einer nach dem anderen hinauf und kehrten enttäuscht auf den Boden zurück.

»Man kann überhaupt nichts sehen«, fasste Griet die Eindrücke aller zusammen. »Und außerdem hätten wir uns die ganze Vorsicht sparen können. Es ist ja sowieso keiner da, der uns hören kann.«

»Ruhe!«, zischte Rack und vollführte heftige Gesten.

Da er in allem, was den Tempel anging, als Experte galt, schwiegen die anderen, aber sehr überzeugt wirkten sie nicht.

Rack ging auf Zehenspitzen an ihnen vorbei und kroch durch eine enge Öffnung. Die anderen folgten ihm. Er hantierte in der Finsternis herum, bis er den Riegel fand.

Ein quietschendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Im Gegensatz zu den anderen hatte er gehörigen Respekt vor den Besitzern des Tempels. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn Rack hatte bereits Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Damals hatten sie ihm ganz gehörig das Fell gegerbt.

Er krabbelte durch die Luke, richtete sich langsam auf und lauschte angestrengt. Als er beim besten Willen kein verdächtiges Geräusch feststellen konnte, bückte er sich zu der Luke hinab.

»Kommt!«, wisperte er aufgeregt.

Es war fast völlig finster in dem Tempel. Minutenlang standen sie regungslos in der Dunkelheit und lauschten, aber sie hörten nichts außer dem Schlagen ihrer eigenen Herzen und dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren.

»Das ist doch alles Quatsch!«, sagte Griet schließlich. »Die schlafen jetzt alle. Wir haben noch den ganzen Tag hindurch Zeit, bis sie wieder zum Vorschein kommen. Und außerdem gibt es keine Geister.«

Aber er sagte es sehr leise.

Rack riss sich zusammen und besann sich darauf, dass er der Anführer war und es auch bleiben wollte. Schließlich war er es gewesen, der den Kult ausgekundschaftet und diesen Weg in den Tempel entdeckt hatte. Wenn er sich jetzt das Heft aus der Hand nehmen ließ, würden die anderen ihm bald auf der Nase herumtanzen.

Er zündete die Fackel an. Diesmal hatte er auf Anhieb Erfolg. Die Flamme loderte auf.

Karam, Griet und Vilm erstarrten in jähem Schrecken, als sie die Figur sahen. Rack musterte sie mit grimmiger Zufriedenheit. So und nicht anders hatte er sich das vorgestellt.

»Das ist das Ding, das sie anbeten«, sagte er und berührte die Figur, um zu zeigen, dass er im Gegensatz zu den anderen keine Angst davor hatte, dies zu tun.

Und dann hörten sie plötzlich das Knarren einer Tür. Jemand hustete. Schritte näherten sich.

Rack ließ die Fackel fallen und rannte, und die anderen folgten ihm, als sei der Teufel hinter ihnen her. Die Bharigs und die geheimen Gänge, die Tatsache, dass dies ein abenteuerlicher Vorstoß in verbotene Gefilde sein sollte – all dies war plötzlich vergessen.

Sie rannten hinaus und die Treppe hinunter, und die Hitze des Tages schlug ihnen entgegen, dass es sich fast anfühlte, als wären sie in eine Wand aus heißer Watte hineingerannt, aber auch das war ihnen egal, denn auf gar keinen Fall wollten sie erwischt und verprügelt werden.

Wobei das noch nicht das Ärgste war, das ihnen widerfahren konnte. Es waren merkwürdige und sehr beunruhigende Gerüchte über den Kult im Umlauf.

Und dann bremste Rack mitten im Lauf, so plötzlich, dass Karam gegen ihn prallte.

»Bist du denn ...«, begann sie wütend, verstummte aber plötzlich.

Die anderen kamen neben ihnen beiden auf einer der untersten Stufen zum Stehen.

Sekundenlang standen sie da, als wären sie plötzlich versteinert, und starrten auf das, was am Ende der Treppe lag. Keiner von ihnen sagte etwas.

»Wir haben es nicht gesehen!«, flüsterte Rack schließlich. »Los, lauft weg! Sie dürfen uns hier nicht finden!«

Sie stoben davon, und keiner der vier wagte es, sich auch nur noch einmal umzusehen.

 

*

 

Jepht sah die Kinder davonlaufen und runzelte die Stirn, aber er verzichtete darauf, die vier kleinen Gestalten zu verfolgen. Er hätte sie sowieso nicht erwischt, denn sie waren viel zu flink und fanden überall einen Durchschlupf, während Jepht mit seinem lahmen Bein schon Schwierigkeiten hatte, die Treppe zu ersteigen. Und außerdem machte es schließlich nichts aus.

Kinder waren eben neugierig. Es ließ sich nicht verhindern, dass sie überall herumschnüffelten. Schaden konnten sie dabei im Tempel nicht anrichten. Dort gab es nichts, was irgendeinen Wert besessen hätte, wenn man einmal von der Statue absah.

Die Statue aber war zu schwer, als dass irgend jemand sie so einfach hätte stehlen können. Es reichte, wenn man sie bewachte, und genau das tat Jepht, auch wenn er ab und zu einmal schlafen musste. Er war schließlich auch nur ein Mensch. Aber er entfernte sich selbst zum Schlafen nur wenige Meter von dem kostbaren Standbild und schlief in einer Kammer neben dem Tempel. Den heiligen Besen behielt er selbst im Schlaf bei sich.

Er humpelte durch den kurzen Korridor und betrat den Tempel.

Die Kinder waren tatsächlich hier gewesen. Sie hatten ihre Fackel liegen gelassen und waren Hals über Kopf davongerannt. Irgend etwas musste sie erschreckt haben.

Jepht konnte sich sehr gut vorstellen, was das gewesen war. Er nickte der Statue des Geistes zu.

»Ab und zu bist du doch zu etwas nütze«, stellte er fest.

Er steckte die Fackel in einen Riss in der Mauer und machte sich daran, den Tempel zu säubern und für die Zeremonie vorzubereiten.

In ungefähr einer Stunde würden die anderen kommen. Heute war ein ganz besonderer Tag, denn ein Neuer sollte in den Kult aufgenommen werden. Das bedeutete, dass Jepht die Geschichte dieser Gemeinschaft erzählen würde – oder doch jedenfalls einen Teil davon. Alles brauchten die Neulinge nicht zu wissen. Es war manchmal ganz gut und richtig, dass mit der Zeit die Erinnerung an dieses oder jenes Ereignis verblasste und schließlich ganz erlosch.

Jepht beendete seine Arbeit, setzte sich auf eines der Polster an der Wand, betrachtete die Statue und ruhte sich aus. Seine Gedanken wandten sich der Vergangenheit zu, wie so oft in der letzten Zeit.

2.

 

Hier, genau an dieser Stelle, war es einst geschehen, und obwohl es schon über hundert Jahre her war, erinnerten sie sich noch immer ganz genau daran – jene, die es direkt oder indirekt miterlebt hatten.

Beneidenswert waren sie, vom Schicksal auserwählt, diese drei, die es gesehen hatten: Masquam, Dreight und Hermyth.

In einer wilden, stürmischen Nacht war es geschehen. Da waren sie von einem Unwetter überrascht worden und hatten hier, in diesem Gebäude, Zuflucht gesucht. Während sie so beieinanderhockten, ein paar Flaschen zwischen sich, war es plötzlich merkwürdig hell geworden.

Als die drei Lokvorther sich nach der Quelle dieser Helligkeit umsahen, entdeckten sie zu ihrem Erstaunen eine Öffnung in der Wand, wo es vorher ganz sicher keine Öffnung gegeben hatte, und hinter dieser Öffnung war ein zartblaues Leuchten gewesen, in dem sich Schatten zu bewegen schienen.

Starr vor Staunen hatten sie dagesessen, unfähig, auch nur die Hand zu heben, während es in dem blauen Leuchten waberte und zuckte und seltsame Geräusche ertönten.

Und dann war mitten aus dem Licht heraus eine Gestalt erschienen, ein Geist – es konnte einfach nichts anderes als ein Geist sein.

Es war eine eigenartige Gestalt gewesen, wie man es von einem Geist schließlich auch verlangen durfte – von einem anständigen Geist wird wohl niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, erwarten, dass er in einer ganz normalen Aufmachung durch die Gegend schweben soll.

Und genau das hatte dieser Geist getan: Er war geschwebt.

Nun gab es natürlich Erinnerungen an eine Zeit, in der es jeder Lokvorther zumindest in dieser Hinsicht mit jedem x-beliebigen Geist hätte aufnehmen können, und hier und da fand man noch immer Geräte, mit deren Hilfe man geistergleich zu schweben vermochte.

Aber erstens war dieses Wesen kein Lokvorther, und zweitens schworen Masquam, Dreight und Hermyth bei allem, was ihnen heilig war, dass es mit ihrem Geist auf jeden Fall eine ganz besondere Bewandtnis haben musste.