Nr. 2694
Todeslabyrinth
Ein Terraner vor der letzten Entscheidung – sein Tod könnte ein Schlüssel werden
Susan Schwartz
Wir schreiben das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Auf bislang ungeklärte Weise verschwand das Solsystem mit seinen Planeten sowie allen Bewohnern aus dem bekannten Universum.
Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen, die sich alles andere als freundlich verhalten. Nach zahlreichen Verwicklungen kann jedoch Reginald Bull einen Waffenstillstand erreichen.
Nun müssen die Menschen mit einem Eindringen QIN SHIS rechnen, jener negativen Superintelligenz, die sich dieses Taschenuniversum geschaffen hat.
Allerdings konnte der Feind nicht damit rechnen, dass sich seine ehemaligen Verbündeten neu orientiert haben und an der Seite Terras stehen.
Einer jener Menschen, die am meisten unter den Ereignissen litten, ist Shamsur Routh – er wagte alles, um seine Tochter von den Sayporanern zurückzuholen. Und obwohl ohne ihn der Frieden kaum möglich gewesen wäre, verliert er persönlich dabei alles: seine Familie, seinen Verstand und sein Leben. Seine letzte Reise endet im TODESLABYRINTH ...
Shamsur Routh – Der Journalist zerbricht und vergeht.
Saram Ialtek – Ein Mediker nimmt seine Verantwortung ernst.
Palko – Der Pfleger schließt Freundschaft mit einem Sterbenden.
Anicee Ybarri – Shamsurs Tochter besucht ihn ein letztes Mal.
Chourtaird – Der neue Herrscher der Sayporaner trifft seinen terranischen Ziehsohn.
12. Januar 1470 NGZ:
Terrania, Ralph-Artur-Klinik
Mein Name ist Shamsur Routh, und ich werde bald sterben.
Interessiert das jemanden?
Nein.
Ich werde einsam und verlassen sterben.
Niemand denkt mehr an mich.
Niemand erinnert sich mehr an mich.
Niemand weiß mehr, was ich getan habe.
Ich werde genauso elend verrecken wie ein Wurm, den nicht einmal mehr der Vogel anrührt.
Das ist so verdammt ungerecht!
*
»Saram! Saram! Er hat es schon wieder getan!«
Stationsleiter Saram Ialtek schreckte hoch. Er war eingenickt, nur für einen kurzen Moment, wie der rasche Blick auf die Uhrprojektion an der Wand zeigte. Er berührte das Sensorfeld seines Arbeitstisches. »Palko?«
»Ja, Chef.« Der Imarter klang zerknirscht. »Tut mir leid, dich zu wecken, ich weiß, du wolltest für fünfzehn Minuten Ruhe. Aber er ist abgehauen.«
Müde rieb sich Ialtek das Gesicht. »Wie hat er es diesmal geschafft?«
»Essenausgabe.«
»Warum war die Tür nicht verschlossen?«
»Er ist kein Gefangener, mit Verlaub. Außerdem schien er heute Morgen sehr klar.«
»Bis zum nächsten Anfall. Stell das übliche Suchteam zusammen! Dann sucht ihn! Er kann nicht weit kommen. Bringt ihn anschließend zu mir.«
»Geht klar, Chef.«
Ialtek war beunruhigt. Er sollte die Familie herholen, vielleicht brachte dies Besserung. Andererseits ... es könnte den Patienten zu sehr aufregen und alles nur verschlimmern. Shamsur Routh musste zuerst zur Ruhe kommen, bevor er in der Lage war, Besuch zu empfangen. Er musste stabiler werden.
Was für ein Witz. Stabiler? Wie sollte das funktionieren? Jede Stunde, die er überlebte, war bereits ein Geschenk, mit dem man nicht rechnen durfte.
Die Familie sollte deshalb Abschied nehmen können.
Eben! Es sollte ein Abschied, kein Schock sein, ihn in diesem Zustand zu erleben.
Es war fraglich, ob sie überhaupt kommen konnten.
Der Mediker starrte aus dem Fenster. Die Sonne schien dort draußen. Ja. Die Sonne. Die echte Sonne, Sol, kein künstliches Licht aus einem Atomsonnenpulk mehr. Der Fimbul-Winter war beendet worden, ein überwältigender Moment planetenweit ... nein, im ganzen System. Wildfremde Menschen hatten sich auf den Straßen in den Armen gelegen, geweint und gelacht, gefeiert und getanzt ...
Die vergangenen Tage waren reich an Umwälzungen gewesen. Die Sonne kehrte zwar zurück, aber die »Sayterraner« und dazu viele weitere Menschen – insgesamt 35 Millionen Menschen – waren freiwillig ins Weltenkranz-System ausgewandert, wo sie sicher sein sollten vor allen Unbilden, die über das Solsystem hereinbrechen sollten. Der Umbrische Rat hielt sich noch auf Terra auf, seine Mitglieder würden als Letzte ihren ehemaligen Mutterplaneten verlassen.
Gleichzeitig aber gab es neue alarmierende Nachrichten ... Saram wusste nicht genau, welche, denn es war strikte Geheimhaltung angeordnet worden. Er hatte lediglich über diverse Kanäle ein paar Gerüchte mitbekommen, die irgendetwas von einer »Veränderung der Anomalie« besagten.
Was immer das bedeuten mochte, ging ihn allerdings nicht direkt an. Er war Mediker und hatte seine Aufgabe zu erledigen: Leben zu retten. Und vor allem das Leben dieses einen Mannes, der aufgrund seiner familiären Beziehungen sehr prominent war. Sogar Reginald Bull hatte sich nach ihm erkundigt und gewünscht, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Wobei das nicht ganz ernst gemeint sein konnte, weil der Resident derzeit wichtige Dinge zu erledigen hatte. Ialtek schickte trotzdem jeden Abend einen Bericht an das Residenz-Büro. Er erwartete keine Antwort, und damit behielt er recht.
Vor allem aber schien Sarams Patient für den Konsul der Sayporaner sehr bedeutend zu sein, da dieser im Gegensatz zu Bull ständig anrief.
Ein Blinken signalisierte eine Nachricht, und der Absender war schnell identifiziert. Ah, wie aufs Stichwort: der nächste Anruf.
»Ich kann nichts weiter dazu sagen«, wiederholte Ialtek wie jedes Mal nach den üblichen einleitenden Floskeln. »Es tut mir leid, Chourtaird, aber Shamsur Routh ist nicht in der Lage, Besuch zu empfangen.«
»Ich bin kein Besuch, ich bin ... nun, wie eine Art Ziehvater für ihn«, erwiderte der Sayporaner. »Ich könnte sicherlich etwas für ihn tun.«
Ja, irgendwelche Organe entnehmen und für dich selbst verwenden. Saram wusste Bescheid über dieses Volk, zum Teil von Shamsur selbst, wenn er in klaren Momenten von seiner Odyssee durch das Weltenkranz-System erzählte. Auch wenn Terraner und Sayporaner mittlerweile zumindest zum Teil »Verbündete« waren, musste er keine Freundschaft für diese Leute empfinden. Und Chourtaird gegenüber hegte er sogar eine strikte Abneigung.
»Ich bin sicher, Shamsur würde sich freuen, mich zu sehen«, wandte Chourtaird ein. »Er muss sich sehr einsam fühlen.«
Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Ich kann es nicht verantworten, nicht derzeit«, lehnte der Mediker dennoch ab. »Ich bin für ihn verantwortlich, es ist meine unumstößliche Entscheidung. Versuch also gar nicht erst, mich über die Einschaltung höhergeordneter Stellen beeindrucken zu wollen.«
Der Sayporaner schien nachzudenken. »Es wäre sehr wichtig, dass ich dabei bin, wenn er ... Nun, du weißt, was ich meine.«
»Er stirbt. Ja.« So zartfühlend? Saram vermutete dahinter einen psychologischen Trick, sich »menschlich« zu geben. Er dachte ebenfalls nach. »Willst du Abschied nehmen?«
»Das möchte ich. Und vielleicht kann ich noch etwas für ihn tun. Wir beide ... Nun, etwas verbindet uns. Als sein sayporanischer Ziehvater möchte ich ihm das letzte Geleit geben. Er muss den richtigen Weg finden.«
Der Mediker gab sich einen Ruck. »Also schön, ich gebe dir Bescheid.«
»Vielen Dank! Ich halte mich bereit.«
Verdammt, dachte Saram, als die Verbindung beendet war. Wenn es nur jemanden gäbe, der etwas tun könnte ...
*
Zu fünft suchten sie nach dem Verschwundenen. Shamsur Rouths Geist mochte zerrüttet sein, aber seine journalistischen Instinkte als Reporter waren noch nicht erloschen. Er wusste genau, wo er sich verstecken musste, um nicht bemerkt zu werden.
»Vielleicht hat er die Etage schon verlassen?«, überlegte die Ara-Praktikantin Korafin.
»Unwahrscheinlich.« Palko benutzte die biometrische Ortung, aber das war in diesem riesigen Klinikkomplex nicht einfach. Die Frequenzen überlagerten sich gegenseitig, und ständig musste er neu kalibrieren, um die Störsignale herauszufiltern. Ganz abgesehen davon, dass die Labors, Untersuchungs- und OP-Räume abgeschirmt waren. »Ich habe alle Aufzüge gesperrt, also kann er nicht weg.«
»Aber er hatte doch einen Vorsprung.«
»Korafin, das Problem ist ... Ich glaube nicht, dass er so schnell einen Lift findet. Er mag beim Verlassen des Zimmers vielleicht einen Plan gehabt haben, aber der ist unterwegs verloren gegangen. Sein Kurzzeitgedächtnis ist bereits nahezu zerstört.«
»Möglicherweise will der arme Kerl längst wieder zurück, findet aber den Weg nicht mehr«, stimmte ein anderer Pfleger zu.
»Wir werden ihn finden.« Palko gab sich zuversichtlicher, als er war. Schon bei der ersten Suche hatten sie über drei Stunden gebraucht, bis sie den ehemaligen Journalisten gefunden hatten.
So lange waren auch die Aufzüge gesperrt gewesen – es hatte beinahe einen Aufstand gegeben und Beschwerden gehagelt. Das kam erneut auf ihn zu. Im Geiste sah er sie alle schon vor sich. Wegen eines Mannes wurde der gesamte Betrieb lahmgelegt? Wann wurde derjenige, der für diese Inkompetenz verantwortlich war, endlich gefeuert? Sollte das von nun an jeden Tag passieren?
Ja, vielleicht sogar öfter. Das Schlimme war, sie konnten nicht berechnen, wo Routh hinging, da jede Flucht stets die Folge einer Desorientierung und eines unkontrollierbaren Angstzustands war. Von daher gab es keine gezielte Bewegungsrichtung, sondern alles wirkte wie ein von Panik beherrschter Zickzacklauf, dessen Richtung sich jedes Mal änderte, sobald Routh Gefahr lief, entdeckt zu werden, und auswich.
Und der Komplex war groß, mit über zweitausend Krankenzimmern, medizinischen und technischen Einrichtungen, Kammern und Archiven; so war das auf jeder Etage. Dieses Gebäude in der Innenstadt, am südwestlichen Ende des Goshun-Sees gelegen, war das Modernste, was die Medizin derzeit zu bieten hatte, einschließlich wohnlich eingerichteter Zimmer, dazu Aufenthaltsräume, Fitnesseinrichtungen und verglaste Gärten für Spaziergänge. Und natürlich mit Restaurant und Café.
Wie ein Hotel präsentierte es sich trotzdem nicht, die Gänge waren zwar in freundlichem Pastellorange gehalten und mit warmem Licht ausgeleuchtet, aber es war und blieb eine Klinik, in der sich kein Patient freiwillig aufhielt und nur so lange wie nötig.
Trotz der funktionalen Aufbauweise gab es Dutzende Möglichkeiten, sich zu verstecken. Sie konnten schließlich kaum laut rufend durch die Gänge trampeln und alle anderen Patienten verstören.
Immerhin, eines konnten sie eingrenzen – Routh schaffte es vermutlich nicht bis in den Freizeitbereich. Er war sicher noch irgendwo in einem Klinikgang. Trotzdem blieben immer noch viele Räume zu durchsuchen ...
Ialtek schickte stets Palko vorweg, weil Shamsur nicht nur so etwas wie Vertrauen zu dem Imarter aufgebaut hatte – er konnte sich wahrscheinlich auch an ihn erinnern. Wie alle seines Volkes war er groß, mit tonnenförmiger Brust, birkenblattgrüner Haut, violetten Haaren und vor allem einer voluminösen Stimme. Eine Erscheinung, die man nicht so schnell vergaß. Bisher hatte es funktioniert, Ialtek und Palko gemeinsam hofften auf ein weiteres Mal.
*
Ich verkrieche mich und hoffe, dass mich niemand sieht. Ziehe die Beine an, schlinge die Arme darum, nun bin ich noch kleiner und falle nicht weiter auf. Ich hoffe, dass das Zittern bald nachlässt. Ich habe große Angst. Aber ich weiß nicht, wen ich um Hilfe bitten kann.
Auf einmal erinnere ich mich, was zu tun ist.
Puc aktiv!, denke ich.
Und da ist er auch schon. Nicht größer als ein Daumennagel, und er hat einen Smoking an, hockt lässig auf einem Barhocker und hat ein Martiniglas in der Hand. Er schüttelt es leicht. In der anderen Hand hält er ... eine brennende Zigarre? Seit wann raucht er? Das hat er bisher nie getan.
»Was geht, alter Freund ?«, fragt er, nimmt einen Zug und bläst mir den Qualm ins Gesicht. Ich unterdrücke mühsam ein Husten.
»Hilf mir, Puc«, bitte ich.
»Immer doch. Was brauchst du? Eine hyperphysikalische Formel? Die Zirpsprache der Tssunuy von Estartoh-IV?«
»Ich ... ich habe mich verirrt.«
Er verschluckt sich beim Trinken, hustet und verschüttet den halben Martini. Die Olive schwappt heraus, doch ich kann nicht erkennen, wohin sie fällt. »Du kannst dich hier nicht verirren! Du befindest dich in der achtundvierzigsten Etage der Ralph-Artur-Klinik ... Wer is'n das überhaupt ...« Er balanciert Glas und Zigarre in der linken Hand, die rechte streckt er vor und scheint ... in mich hineinzugreifen. »Ah, da haben wir es ja. Benannt nach einem Chefarzt von anno dunnemals. Das ist dir noch in Erinnerung? Aber den lächerlichen Weg zu deinem Zimmer findest du nicht mehr?«
»Sieht so aus«, gebe ich beschämt zu. »Kannst du mich wieder zurückbringen, Puc?«
»Was glaubst du, wer ich bin, großer Bruder?«
»Mein Implantmemo. Du kannst Daten auf mich übertragen, und ich erinnere mich dann an sie.«
»Tja, du vergisst dabei leider nur eines.« Puc tippt gegen seine Schläfe. »Hier drin ist nicht nur eine phänomenale Positronik, sondern auch – tja, und damit haben wir das Problem – kein Plasma, sondern ein Stück von deinem Gehirn. Und was passiert mit deinem Gehirn? Na? Genau. Es grillt sich gerade selbst.«
Ich sinke weiter in mir zusammen. Am liebsten würde ich losheulen wie ein kleines Kind und nach der Mama rufen. Aber wenn ich mich recht erinnere, hat das damals auch nicht geholfen. »Was hat das mit dir zu tun?«, frage ich flüsternd.
»Mit mir? Genau genommen gar nichts. Das Problem liegt bei dir, mein armer Freund. Schau.« Er weist an sich hinab. »Das hier ist gar nicht real, du siehst mich so vor deinem inneren Auge. Ich bin eine Projektion, die du dir zurechtgebastelt hast, um leichter mit mir kommunizieren zu können. Nun aber zersetzt sich dein Gehirn Zug um Zug. Unsere Beziehung löst sich auf. Ich kann nichts übertragen, wenn es keinen Zielort mehr gibt. Oder wenn der Zielort keine Verbindung zum Rest des Gehirns mehr hat.«
»Nein!«, stoße ich hervor, und jetzt weine ich wirklich.
*
Puc raucht Zigarre. »Aber das hast du doch gewusst«, sagt er sanft. Als habe er Mitleid mit mir. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie das alles passiert ist?«
Ich fasse mich, wische die Tränen weg und nicke. »Es ist ... einige Jahre her. Sein Name war ...« Die Namen sind für mich am schwersten, seit ich verfalle. Dann fällt er mir ein, mit einer kleinen Eselsbrücke. »Jaron Peppererg. Wir haben recherchiert, auf Pataralon. Da waren ... Kraniche und Truthähne.«
»Stimmt. Und ...?«
»Wir waren die ersten menschlichen Versuchspersonen für Implantmemos. Für dich, Puc. Jaron starb. Aber du hast mir geholfen zu überleben, weil ich es schaffte, dich zu aktivieren.«
Ich winke ab. Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich überlebt habe. Aber ich weiß, Puc hat die geistige Zerrüttung aufgehalten. Bis ... bis wir vor ein paar Wochen ... Monaten? ... in dieses andere Universum versetzt wurden und Anicee ... meine Tochter ... entführt wurde.
»Ja, das setzte den Verfall wieder in Gang«, bestätigte Puc. »Weil du so versessen darauf warst, deine Tochter zu finden, bist du ein ungeheures Risiko eingegangen. Ich hatte dich gewarnt, dass die partielle Löschung deines Gedächtnisses wieder in Gang setzen würde, was ich damals angehalten hatte. Diesmal aber unaufhaltsam.«
»Und du hattest recht.« Ich weiß es wieder.
»Tut mir leid.«
»Du meinst, ich tue mir leid?«
»Das wäre in dem Fall in Ordnung, mein lieber Bruder. Wirklich.«
Die Zigarre ist beinahe aufgeraucht, der Martini leer. Puc wird allmählich durchsichtig.
»Ich lebe nur noch im Hier und Jetzt«, murmle ich. »Woran ich mich erinnere, scheint mir gerade eben zu passieren.«
»Wenn ich dir noch einen Rat geben darf – komm aus deinem Versteck raus, die suchen bestimmt schon verzweifelt nach dir. Sie bringen dich zurück auf dein Zimmer, wo dein Essen auf dich wartet. Und Hunger hast du, das erkenne ich.«
»Könntest du so lange bei mir bleiben?«
»Tut mir leid, die Bar hat geschlossen.«
»Puc ... Puc? Geh nicht! Verlass mich nicht! Lass mich bitte nicht auch im Stich ...«
Derselbe Tag, 14 Uhr
Mein Name ist Shamsur Routh, und ich werde bald sterben.
Dies ist meine letzte Hinterlassenschaft. Das persönliche Tagebuch meiner letzten Lebenstage.
Nur zu dumm, dass das niemand je lesen wird.
Ich schreibe es nämlich in mein Gedächtnis.
Das wäre an sich noch für Parabegabte auslesbar, würden mir nicht jeden Tag ein paar Tausend Gehirnzellen verschmoren.
Ich brenne aus.
Ich verbrenne.
Deshalb schreibe ich dieses Tagebuch.
Um mich zu erinnern.
*
Palko war nahe daran, zu verzweifeln. Vor allem, weil er sich große Sorgen um Shamsur Routh machte. Mit der geistigen Zerrüttung ging auch ein körperlicher Verfall einher, den sie bisher mit entsprechenden Mitteln aufhalten konnten. Aber dazu musste der Patient seine Medikamente regelmäßig einnehmen.
Er hat Hunger und Angst. Wahrscheinlich hat er sich wie ein Tier irgendwo verkrochen und traut sich nicht mehr heraus.
Ihnen blieb nichts anderes übrig, sie mussten systematisch jeden einzelnen Raum durchsuchen, und zwar genauer als bisher. Die anderen waren dabei aufzugeben. Shamsur musste ihrer Ansicht nach von selbst wieder auftauchen.
Das war einer jener Momente, in denen Palko für die lückenlose Aufzeichnung auf den Gängen und in allen Räumen, die keine Krankenzimmer waren, dankbar gewesen wäre. So könnten sie ihn leichter finden. Aber das gab es in der Klinik nicht.
Er wollte gerade die Aufteilung vornehmen, wer welchen Gang übernehmen sollte, da kam ihm ein Operateur entgegen. Er legte den Finger an die Lippen und deutete auf einen Raum neben der OP-Umkleide, in dem allgemeine Wäschesachen aufbewahrt wurden.
»Ich habe ihn vorhin zufällig durch die Scheibe entdeckt, als ich mich umgezogen habe«, wisperte er.
Palko nickte. »Danke, wir übernehmen jetzt.« Leise gab er Anweisung, vor der Tür zu warten. Dann berührte er den Öffnungssensor und ging hinein.
*
»Shamsur?«, fragte er so sanft wie möglich. »Ich bin's, Palko. Dein Freund. Du weißt schon, grüne Haut, Veilchenhaare.«
Er hörte ein gedämpftes Schluchzen. Langsam ging er in die Knie und entdeckte unter einem Metalltisch in der Ecke ein Häuflein Elend mit strähnigen schwarzen Haaren.
»He«, sagte er leise. »Ist doch alles in Ordnung.«
»Er ist fort«, kam es stockend als Antwort zurück. »Er hat mich verlassen.«
»Wer?« Palko war tatsächlich ratlos. »Wer hat dich verlassen?«
»Alle.«
Die zusammengekauerte Gestalt hob den Kopf, die Haare fielen zur Seite. Palko erschrak über den Zustand der Verwüstung in dem Gesicht des Mannes. Dessen Augen glänzten fiebrig, und er zitterte wie unter Schüttelfrost.
Der Imarter hob den Minikom am Handgelenk an den Mund. »Sofort eine Medoeinheit zu Shamsurs Zimmer, und gebt dem Stationschef Bescheid. Shamsur hat einen schweren Fieberanfall. Möglicherweise brauche ich eine Schwebeliege zum Transport.«
Dann sagte er freundlich lächelnd: »Aber ich bin jetzt hier, Shamsur.«