John le Carré
Der Spion, der aus
der Kälte kam
Roman
Aus dem Englischen
von Sabine Roth
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 1963
unter dem Titel The Spy Who Came in from the Cold
bei Victor Gollancz Ltd., London.
Die Arbeit der Übersetzerin an diesem Buch wurde durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e.V. gefördert.
ISBN 978-3-8437-0511-0
© 1963 by Le Carré Productions
© der deutschsprachigen Ausgabe
2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: arcangel/© Christopher Rees (Vögel);
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1. Checkpoint
Der Amerikaner gab Leamas noch einen Kaffee und sagte: »Gehen Sie doch heim, schlafen Sie ein bisschen. Wir rufen Sie an, wenn er kommt.«
Leamas antwortete nicht. Er starrte durch das Fenster der Kontrollbaracke auf die leere Straße hinaus.
»Sie können nicht ewig warten, Sir. Vielleicht kommt er irgendwann später. Die Polizei soll einfach der Agency Bescheid sagen, dann sind Sie in zwanzig Minuten wieder hier.«
»Nein«, sagte Leamas, »es wird gleich dunkel.«
»Aber Sie können nicht ewig warten. Er ist jetzt neun Stunden überfällig.«
»Wenn Sie wegwollen, gehen Sie ruhig. Sie haben mir sehr geholfen«, fügte Leamas hinzu. »Ganz prima, ich werd’s Kramer sagen.«
»Aber wie lange wollen Sie warten?«
»Bis er kommt.« Leamas ging zu dem Beobachtungsfenster und stellte sich zwischen die beiden regungslos dastehenden Polizisten. Ihre Feldstecher waren auf den ostzonalen Kontrollpunkt gerichtet.
»Er wartet, bis es dunkel ist«, murmelte Leamas. »Ich weiß es.«
»Heute Morgen dachten Sie noch, er würde mit den Arbeitern rüberkommen.«
Leamas drehte sich heftig zu ihm um.
»Agenten sind keine Flugzeuge, die nach Fahrplan verkehren. Er ist enttarnt, er muss fliehen, er hat Angst. Mundt ist hinter ihm her, er macht Jagd auf ihn. Ihm bleibt nur die eine Chance. Da muss er den Zeitpunkt schon selbst wählen.«
Der Jüngere zögerte; er wollte gehen, fand aber nicht den rechten Moment.
In der Baracke schlug eine Glocke. Sie warteten, mit einem Mal angespannt. Ein Polizist sagte auf Deutsch: »Schwarzer Opel Rekord, bundesdeutsches Kennzeichen.«
»So weit kann er bei dem Licht nicht sehen, er rät«, flüsterte der Amerikaner, und dann: »Wie ist Mundt ihm draufgekommen?«
»Ruhe«, sagte Leamas vom Fenster.
Einer der Polizisten ging hinaus, zu der Stellung aus Sandsäcken einen knappen Meter vor der weißen Grenzlinie, die quer über die Straße gezogen war wie die Grundlinie beim Tennis. Der andere wartete, bis sein Kamerad in der Stellung hinterm Fernrohr kauerte, dann legte er den Feldstecher beiseite, nahm seinen schwarzen Helm vom Haken bei der Tür und rückte ihn sorgfältig auf seinem Kopf zurecht. Irgendwo hoch über dem Kontrollpunkt flackerten die Bogenlampen auf und tauchten die Straße vor ihnen in einen theatralischen Lichtschein.
Der Polizist begann seinen Kommentar. Leamas kannte ihn auswendig.
»Wagen hält bei der ersten Kontrolle. Nur ein Insasse, weiblich. Wird zur Ausweiskontrolle in die Vopo-Baracke geführt.«
Schweigen, während sie warteten.
»Was sagt er?«, fragte der Amerikaner. Leamas antwortete nicht. Er hatte nach einem herumliegenden Feldstecher gegriffen und sah unverwandt in Richtung der ostdeutschen Kontrollstellen.
»Ausweiskontrolle abgeschlossen. Darf weiter zur zweiten Kontrolle.«
»Mr. Leamas, ist das Ihr Mann?« Der Amerikaner ließ nicht locker. »Ich muss die Agency verständigen.«
»Warten Sie noch.«
»Was macht der Wagen jetzt? Was passiert da?«
»Devisenkontrolle, Zoll«, sagte Leamas barsch.
Leamas wandte den Blick nicht von dem Auto. Zwei Vopos standen bei der Fahrertür, der eine stellte die Fragen, der andere hielt sich abwartend im Hintergrund. Ein dritter schlenderte um das Auto herum. Beim Kofferraum hielt er an, ging dann zu der Fahrerin. Er verlangte den Schlüssel. Er öffnete den Kofferraum, sah hinein, schlug den Deckel wieder zu, gab den Schlüssel zurück und ging die dreißig Meter vor zu der Stelle, wo auf halber Strecke zwischen den beiden gegnerischen Kontrollpunkten ein einsamer ostdeutscher Wachposten stand, eine gedrungene Silhouette in Stiefelhosen. Die beiden beratschlagten miteinander, von den Bogenlampen angestrahlt wie von einem Bühnenscheinwerfer.
Mit mechanischer Geste wurde das Auto weitergewinkt. Es erreichte die beiden Posten in der Mitte der Straße und hielt erneut an. Sie umrundeten den Wagen, gingen ein paar Schritte zur Seite und berieten sich wieder; schließlich – widerwillig, so schien es – ließen sie ihn die Grenzlinie zum Westsektor passieren.
»Warten Sie denn auf einen Mann, Mr. Leamas?«, erkundigte sich der Amerikaner.
»Ja, auf einen Mann.«
Leamas schlug den Mantelkragen hoch und trat hinaus in den eisigen Oktoberwind. Erst da kamen ihm die Zuschauer wieder zu Bewusstsein. Es war etwas, was man im Innern der Baracke vergaß, dieses Häuflein verwirrter Umstehender. Die Gesichter wechselten, aber der Ausdruck darauf blieb der gleiche. Es war wie der hilflose Menschenauflauf, der sich um einen Verkehrsunfall bildet, wenn keiner weiß, wie es passiert ist und ob man das Opfer bewegen soll oder nicht. Rauch oder Staub trieb durch den Schein der Bogenlampen, ein stetig ziehender Schleier zwischen den Lichträndern.
Leamas trat an das Auto und fragte die Frau: »Wo ist er?«
»Sie wollten ihn holen, er kam gerade noch weg. Er hat das Fahrrad genommen. Von mir können sie nichts gewusst haben.«
»Wo ist er hin?«
»Wir hatten ein Zimmer in der Nähe von Brandenburg, über einer Kneipe. Da hat er ein paar Sachen aufbewahrt, Geld, Papiere. Wahrscheinlich ist er erst dahin gefahren. Danach kommt er rüber.«
»Heute noch?«
»Das hat er gesagt, ja. Die anderen haben sie alle erwischt – Paul, Viereck, Ländser, Salomon. Viel Zeit hat er nicht.«
Leamas musterte sie einen Moment lang schweigend.
»Ländser auch?«
»Gestern Nacht.«
Ein Polizist tauchte neben Leamas auf.
»Hier dürfen Sie nicht stehen bleiben«, sagte er. »Es ist verboten, den Übergang zu blockieren.«
Leamas drehte sich nur halb nach ihm um. »Ach, hauen Sie doch ab.«
Der Deutsche holte Luft, aber die Frau sagte: »Steigen Sie ein. Wir fahren bis zur Ecke vor.«
Er setzte sich neben sie, und sie rollten bis zur nächsten Seitenstraße.
»Ich wusste nicht, dass Sie ein Auto haben«, sagte er.
»Es gehört meinem Mann«, sagte sie gleichgültig. »Karl hat Ihnen gar nicht erzählt, dass ich verheiratet bin, oder?« Leamas schwieg. »Mein Mann und ich arbeiten in einem Optikbetrieb. Deshalb dürfen wir geschäftlich rüber. Karl hat Ihnen nur meinen Mädchennamen gesagt. Er wollte nicht, dass ich … mit hineingezogen werde.«
Leamas holte einen Schlüssel aus seiner Tasche.
»Sie werden ein Dach überm Kopf brauchen«, sagte er. Seine Stimme klang unbeteiligt. »Die Wohnung liegt in der Albrecht-Dürer-Straße, gleich neben dem Museum. Nummer 28 a. Sie werden alles finden, was Sie brauchen. Ich rufe Sie an, wenn er kommt.«
»Ich bleibe lieber hier bei Ihnen.«
»Ich bleibe aber nicht hier. Fahren Sie in die Wohnung. Ich ruf Sie an. Hier zu warten ist jetzt ja zwecklos.«
»Aber er kommt hier rüber.«
Leamas sah sie überrascht an.
»Das hat er Ihnen gesagt?«
»Ja. Er kennt einen von den Vopos hier, den Sohn seines Vermieters. Vielleicht hilft das ja. Deshalb hat er sich für diesen Weg entschieden.«
»Und das erzählt er Ihnen?«
»Er vertraut mir. Er hat mir alles erzählt.«
»Das darf doch …«
Er gab ihr den Schlüssel und ging zurück in die Kontrollbaracke, ins Warme. Die Polizisten murmelten miteinander, als er hereinkam; der stämmigere kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu.
»Tut mir leid«, sagte Leamas. »Tut mir leid, dass ich Sie angeschnauzt habe.« Er öffnete eine abgewetzte Aktentasche und fand nach einigem Wühlen das, was er suchte: eine kleine Flasche mit Whisky. Mit einem Nicken nahm der ältere der beiden sie an, goss alle Kaffeebecher bis zur Hälfte damit voll und gab einen Schwapp schwarzen Kaffee dazu.
»Wo ist der Amerikaner hin?«, fragte Leamas.
»Wer?«
»Der Knabe von der CIA. Der mit mir da war.«
»In die Heia«, sagte der Ältere, und sie lachten alle.
Leamas stellte seinen Becher hin und sagte: »Wenn jemand rüberzukommen versucht, auf der Flucht – wie lauten da Ihre Vorschriften für den Schusswaffengebrauch?«
»Wir dürfen nur dann Feuerschutz geben, wenn die Vopos in unseren Sektor schießen.«
»Das heißt, Sie können erst schießen, wenn der Mann schon über die Grenze ist?«
Der Ältere sagte: »Wir dürfen keinen Feuerschutz geben, Herr …«
»Thomas«, sagte Leamas. »Thomas.« Sie schüttelten sich die Hand, und die beiden Polizisten stellten sich ihrerseits vor.
»Wir dürfen keinen Feuerschutz geben, das ist so. Sonst haben wir hier gleich den nächsten Krieg, sagen sie.«
»Schwachsinn«, sagte der jüngere Polizist, den der Whisky kühn machte. »Wenn die Alliierten nicht hier wären, würde es die Mauer schon nicht mehr geben.«
»Aber Berlin auch nicht«, murmelte der Ältere.
»Einer von meinen Männern kommt heute rüber«, sagte Leamas unvermittelt.
»Hier? An diesem Übergang?«
»Es hängt viel daran, ihn rauszukriegen. Mundts Leute sind hinter ihm her.«
»Es gibt immer noch Stellen, wo man rüberklettern kann«, sagte der jüngere Polizist.
»So einer ist er nicht. Er blufft sich durch; er hat Ausweispapiere, vorausgesetzt, sie sind noch gültig. Er hat ein Fahrrad.«
Es gab nur ein Licht in der Baracke, eine Leselampe mit grünem Schirm, aber der Schein der Bogenlampen füllte den Raum wie künstliches Mondlicht. Draußen war es jetzt dunkel, dunkel und still. Sie sprachen, als hätten sie Angst, jemand könnte mithören. Leamas stellte sich ans Fenster und wartete, vor ihm die Straße und beidseits davon die Mauer, ein schmutziges, hässliches Ungetüm aus Betonblöcken und Stacheldraht, in fahles gelbes Licht getaucht wie die Kulisse eines Konzentrationslagers. Östlich und westlich der Mauer lag der nicht wiederaufgebaute Teil Berlins, eine Halbwelt der Zerstörung, zweidimensional, Krater des Kriegs.
Dieses verdammte Weibsstück, dachte Leamas, dieser verdammte Idiot Karl, der mich angelogen hat wegen ihr. Lügen durch Auslassung, das machten die Agenten alle, überall auf der Welt. Man brachte ihnen bei zu lügen, nichts preiszugeben, und zum Dank belogen sie einen gleich mit. Er hatte sie nur einmal vorgezeigt, letztes Jahr nach diesem Essen in der Schürzstraße. Karl hatte gerade seinen großen Coup gelandet, und Control hatte ihn endlich kennenlernen wollen. Bei Erfolgen war Control stets zur Stelle. Sie hatten zusammen zu Abend gegessen – Leamas, Control und Karl. Karl liebte solche Anlässe. Er erschien geschniegelt und gebügelt wie ein Sonntagsschüler, gerade, dass er keinen Kratzfuß machte vor lauter Ehrerbietung. Control hatte ihm minutenlang die Hand geschüttelt und verkündet: »Wir sind hochzufrieden mit Ihnen, Karl, nur dass Sie’s wissen. Hochzufrieden.« Leamas, der zuschaute, dachte nur: Das kostet uns wieder ein paar Hundert im Jahr. Nach dem Essen hatte Control ihnen beiden noch einmal einen markigen Händedruck verabreicht, mit bedeutsamem Nicken durchblicken lassen, dass er sein Leben nun leider anderorts riskieren müsse, und war zurückgeklettert in seinen Wagen mit Chauffeur. Da hatte Karl losgelacht und Leamas auch, und gemeinsam hatten sie den Rest von dem Sekt getrunken, immer noch den Kopf schüttelnd über Control. Danach waren sie ins Alte Fass gegangen, Karl hatte darauf bestanden, und dort hatte Elvira auf sie gewartet, eine Blondine um die vierzig, beinhart.
»Das ist mein bestgehütetes Geheimnis, Alec«, hatte Karl gesagt, und Leamas war stinkwütend gewesen. Hinterher hatten sie Streit bekommen.
»Wie viel weiß sie? Wer ist sie? Woher kennst du sie?« Karl war beleidigt und wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Ab da ging es bergab. Leamas versuchte, die Abläufe abzuändern, neue Treffpunkte zu vereinbaren, neue Passwörter, aber Karl nahm es übel. Er wusste, was dahintersteckte, und er nahm es übel.
»Wenn du ihr nicht traust, hat es eh keinen Sinn mehr«, erklärte er ihm, und Leamas ließ es sich gesagt sein und schwieg. Aber von da an war er auf der Hut, erzählte Karl viel weniger, verschanzte sich immer mehr hinter spionagetechnischem Hokuspokus. Und jetzt kam sie in ihrem Auto hier angefahren und wusste Bescheid, über das Netz, das konspirative Haus, alles; und Leamas schwor sich, nicht zum ersten Mal, nie wieder einem Agenten zu vertrauen.
Er ging zum Telefon und rief bei sich in der Wohnung an. Frau Martha hob ab.
»Wir bekommen Besuch in der Dürer-Straße«, sagte Leamas. »Einen Mann und eine Frau.«
»Verheiratet?«, fragte Martha.
»So gut wie«, sagte Leamas, und sie lachte dieses beängstigende Lachen. Als er den Hörer auflegte, drehte sich einer der Polizisten zu ihm um.
»Herr Thomas! Schnell!« Leamas trat an das Beobachtungsfenster.
»Ein Mann, Herr Thomas«, flüsterte der jüngere Polizist, »auf einem Fahrrad.« Leamas griff nach dem Feldstecher.
Es war Karl, unverwechselbar selbst aus dieser Entfernung; er trug einen alten Kradmantel und schob sein Rad. Er hat es geschafft, dachte Leamas, er muss es geschafft haben, er ist durch die Ausweiskontrolle, das heißt nur noch Devisen und Zoll. Er sah Karl sein Rad ans Geländer lehnen und lässig zur Zollbaracke schlendern. Übertreib’s nicht, dachte er. Nach einer Weile kam Karl wieder heraus, winkte dem Mann an der Schranke leutselig zu, und der rot-weiße Schlagbaum schwang langsam nach oben. Er war durch, er fuhr auf sie zu, er hatte es geschafft. Nur der Vopo auf halber Strecke noch, die Grenzlinie, und alles war gut.
In dem Moment schien Karl irgendein Geräusch zu hören, irgendeine Gefahr zu wittern, er sah über die Schulter, begann, wie wild zu strampeln, tief über den Lenker gebeugt. Vor ihm war immer noch der einsame Wachposten in der Straßenmitte, der sich jetzt umgedreht hatte und Karl beobachtete. Dann flammten jäh die Suchscheinwerfer auf, weiß und gleißend – fingen Karl ein und bannten ihn in ihrem Strahl wie Autolichter ein Kaninchen. Sirenenjaulen ertönte, hektisch gerufene Kommandos. Die beiden Polizisten vor Leamas ließen sich auf ein Knie nieder, spähten durch die Sichtschlitze in dem Wall aus Sandsäcken und entsicherten geübt ihre Schnellfeuergewehre.
Der ostdeutsche Wachposten zielte sehr sorgfältig, um nicht über seinen eigenen Sektor hinauszuschießen. Die erste Kugel schien Karl nach vorn zu stoßen, die zweite ihn zurückzureißen. Irgendwie strampelte er immer noch, saß immer noch im Sattel, schaffte es an dem Posten vorbei, der weiter auf ihn schoss. Dann sackte er zusammen, rollte auf den Boden, und sie hörten ganz deutlich das Klappern, mit dem das Fahrrad umfiel. Leamas hoffte inständig, dass er tot war.
2. Der Circus
Unter sich sah er die Tempelhofer Startbahn versinken.
Leamas war kein Mann, der zum Grübeln oder gar zum Philosophieren neigte. Er wusste, dass er erledigt war – mit dieser Tatsache würde er künftig leben müssen, so wie man mit Krebs oder Gefängnishaft leben muss. Er wusste, dass es keine Form der Vorbereitung gab, die die Kluft zwischen dem Vorher und dem Jetzt hätte überbrücken können. Er sah dem Scheitern ins Auge, wie er eines Tages vermutlich auch dem Tod ins Auge sehen würde, mit zynischem Unmut und der Courage des Einzelgängers. Er hatte länger durchgehalten als die meisten, nun war er geschlagen. Ein Hund lebt so lange wie seine Zähne, heißt es; Leamas hatte sich die seinen jetzt ausgebissen, und es war Mundt, an dem er sie ausgebissen hatte.
Vor zehn Jahren hätte er noch Alternativen gehabt – es gab genügend Schreibtischposten in dem anonymen Regierungsgebäude am Cambridge Circus, die er hätte annehmen und bis in Gott weiß welches Alter behalten können; aber dafür war Leamas nicht gemacht. Eher ließ sich ein Jockey ins Wettbüro setzen, als dass man Leamas dazu bekam, den operativen Einsatz gegen das tendenziöse Theoretisieren und die sorgsam kaschierte Interessenpolitik Whitehalls zu vertauschen. Und so war seine Personalakte Jahr für Jahr auf Wiedervorlage gewandert, aber er hatte in Berlin ausgeharrt – stur, verbissen, belehrungsresistent, im störrischen Glauben daran, dass etwas des Weges kommen musste. Die Spionage kennt nur ein moralisches Gesetz – sie rechtfertigt sich durch ihre Ergebnisse. Selbst die Sophisten in Whitehall beugten sich diesem Gesetz, und Ergebnisse bekamen sie von Leamas. Bis Mundt auf den Plan trat.
Leamas hatte nur zu rasch begriffen, welche Bedrohung Mundt darstellte.
Hans-Dieter Mundt, vor zweiundvierzig Jahren in Leipzig geboren. Leamas kannte seine Akte, kannte das Photo auf der Innenseite des Deckels, das unbewegte, harte Gesicht unter dem flachsblonden Haar; er konnte die ganze Geschichte von Mundts Aufstieg zum zweitmächtigsten Mann der »Abteilung« auswendig hersagen. Mundt wurde selbst von seinen eigenen Leuten gehasst. Das wusste Leamas durch die Aussagen der Überläufer und auch von Riemeck, der als Mitglied des SED-Präsidiums zusammen mit Mundt in den Sicherheitskomitees gesessen und ihn gefürchtet hatte wie den Leibhaftigen. Zu Recht, wie sich zeigte, denn Mundt hatte ihn umgebracht.
Bis 1959 war Mundt nur ein kleines Licht in der Abteilung gewesen, nach London abgestellt im Rahmen der Ostdeutschen Stahlmission. Er war überstürzt nach Deutschland zurückgekehrt, nachdem er seine Haut nur hatte retten können, indem er zwei seiner eigenen Agenten tötete; danach hatte man über ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört. Ganz plötzlich tauchte er dann im Hauptquartier der Abteilung in Leipzig wieder auf, als Leiter der Arbeitsgruppe Beschaffung, die Gelder, Ausrüstung und Personal für Sonderaufgaben requirierte. Das Jahr endete mit dem großen Machtkampf innerhalb der Abteilung. Anzahl und Einfluss der sowjetischen Verbindungsoffiziere wurden drastisch reduziert, etliche aus der alten Garde aus ideologischen Gründen verabschiedet, und als Sieger gingen drei Männer hervor: Fiedler als Chef der Aufklärung, Jahn als Mundts Nachfolger in der Arbeitsgruppe Beschaffung, und Mundt mit seinen damals einundvierzig bekam die Rosine im Kuchen, das Amt des stellvertretenden Einsatzleiters. Damit begann der neue Stil. Der erste Agent, den Leamas verlor, war eine Frau. Sie war nur ein kleines Glied in der Kette; sie führte Kurierdienste aus. Sie wurde auf offener Straße erschossen, als sie aus einem Westberliner Kino kam. Die Polizei fand den Täter nie, und Leamas war zunächst versucht, an einen Zufall zu glauben. Einen Monat darauf wurde ein Dresdner Gepäckträger, ein ehemaliger Agent aus Peter Guillams Netz, tot und verstümmelt neben einem Bahngleis aufgefunden. Jetzt konnte Leamas es nicht mehr als Zufall abtun. Nicht viel später wurden zwei Mitglieder eines weiteren Netzes verhaftet und kurzerhand zum Tode verurteilt. So ging es weiter: gnadenlos und zermürbend.
Und jetzt war auch Karl tot, und Leamas verließ Berlin, wie er gekommen war – ohne einen einzigen Agenten, der einen roten Heller wert gewesen wäre. Mundt hatte gewonnen.
*
Leamas war ein kleiner Mann mit eisengrauen Stoppelhaaren und der Statur eines Schwimmers. Er war sehr stark. Diese Kraft ließ sich vor allem an seinem Rücken und den Schultern erkennen, an seinem Hals und dem klobigen Wuchs seiner Hände und Finger.
Er hatte eine pragmatische Einstellung zur Kleidung, wie auch zu fast allem anderen, und selbst die Brille, die er manchmal aufsetzte, war mit Stahl eingefasst. Er besaß fast nur Anzüge aus Kunstfaser, kein einziger davon mit Weste. Bevorzugt trug er Hemden amerikanischer Machart, mit Knöpfen an den Kragenspitzen, und Wildlederschuhe mit Gummisohlen.
Er hatte ein einnehmendes Gesicht, kraftvoll, mit einem eigensinnigen Zug um die schmalen Lippen. Seine Augen waren braun und klein: irisch, meinten manche. Es war schwer, Leamas einzuordnen. In einem Londoner Club hätte ihn der Portier nie und nimmer für ein Mitglied gehalten; in den Berliner Nachtclubs bekam er gewöhnlich den besten Tisch. Er wirkte wie ein Mann, mit dem es Ärger geben konnte, ein Mann, der auf sein Geld aufpasste; ein Mann, der kein richtiger Gentleman war.
Die Stewardess fand ihn interessant. Nordengland, dachte sie, was gut hätte stimmen können, und reich, was definitiv nicht stimmte. Sie schätzte ihn auf fünfzig, womit sie nicht ganz falschlag. Sie hielt ihn für alleinstehend, was halbwegs hinkam. Irgendwann vor langer Zeit hatte es eine Scheidung gegeben; irgendwo gab es Kinder, die mittlerweile Halbwüchsige waren und deren Unterhalt von einer obskuren Privatbank in der Londoner City überwiesen wurde.
»Wenn Sie noch einen Whisky möchten«, sagte die Stewardess, »warten Sie nicht zu lang. In zwanzig Minuten landen wir.«
»Nein danke.« Er sah sie nicht an; er schaute aus dem Fenster auf die graugrünen Wiesen von Kent.
*
Fawley holte ihn am Flughafen ab und fuhr ihn nach London.
»Control ist ziemlich ungehalten wegen Karl«, sagte er und sah Leamas von der Seite an. Leamas nickte.
»Wie ist es passiert?«, fragte Fawley.
»Schießbefehl. Mundt ist ihm draufgekommen.«
»Tot?«
»Inzwischen bestimmt. Besser wär’s. Er hatte es fast geschafft. Er hätte sich nicht beeilen dürfen, sie konnten sich nicht sicher sein. Die von der Abteilung kamen am Checkpoint an, als man ihn gerade durchgelassen hatte. Die Sirene ging los, und ein Vopo hat ihn zwanzig Meter vor der Linie vom Rad geschossen. Ein bisschen hat er sich noch bewegt, dann lag er still.«
»Armer Kerl.«
»Sie sagen es«, sagte Leamas.
Fawley mochte Leamas nicht, und falls Leamas das wusste, war es ihm egal. Fawley gehörte Clubs an, trug Angeberkrawatten, salbaderte über die Leistungen von Sportlern und unterschrieb in der Hauspost mit seinem Dienstgrad. Er fand Leamas suspekt, und Leamas fand ihn kreuzdumm.
»In welcher Abteilung sind Sie?«, fragte Leamas.
»Personal.«
»Und, spannend?«
»Faszinierend.«
»Wo komme ich jetzt hin? Auf Eis?«
»Das fragen Sie besser Control, alter Junge.«
»Wissen Sie’s denn?«
»Freilich.«
»Warum zum Teufel sagen Sie’s mir dann nicht?«
»Tut mir leid, alter Knabe«, erwiderte Fawley, und Leamas hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Dann sagte er sich, dass Fawley wahrscheinlich sowieso log.
»Na, dann verraten Sie mir vielleicht wenigstens, ob ich mir eine Wohnung in London suchen muss.«
Fawley kratzte sich am Ohr. »Glaub eher nicht, alter Knabe, nein.«
»Nein? Immerhin etwas.«
Sie parkten an einer Parkuhr unweit vom Cambridge Circus und traten zusammen ins Foyer.
»Passierschein haben Sie keinen, oder? Dann tragen Sie sich besser an der Pforte ein, alter Knabe.«
»Seit wann brauche ich einen Passierschein? McCall kennt mich wie seine eigene Mutter.«
»Eine neue Bestimmung, nichts weiter. Der Circus wächst, wissen Sie.«
Leamas antwortete nicht, nickte McCall zu und durfte ohne Passierschein in den Lift.
*
Control schüttelte seine Hand vorsichtig, wie ein Arzt, der einen Bruch abtastet.
»Sie müssen schrecklich erschöpft sein«, sagte er entschuldigend, »nehmen Sie doch Platz.« Dieselbe monotone Stimme wie eh und je, dieses professorale Blöken.
Leamas setzte sich in einen Sessel mit Blick auf einen olivgrünen Elektroheizofen, auf dessen Abdeckung eine Schüssel voll Wasser stand.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte Control. Er bückte sich über den Ofen und rieb die Hände gegeneinander. Unter dem schwarzen Sakko trug er eine Strickjacke, eine schäbige, braune. Leamas sah Controls Frau vor sich, eine einfältige kleine Person namens Mandy, die zu glauben schien, ihr Mann säße in der Nationalen Kohlenbehörde. Wahrscheinlich hatte sie die Jacke gestrickt.
»Die Luft ist so trocken, das ist das Problem«, fuhr Control fort. »Entweder man friert, oder man verbrennt allen Sauerstoff. Genauso gefährlich.« Er ging zum Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. »Schauen wir, ob wir einen Kaffee kriegen«, sagte er. »Ginnie ist im Urlaub, das ist das Problem. Jetzt haben sie mir dieses neue Mädel aufs Auge gedrückt. Es ist wirklich zu ärgerlich.« Er war kleiner, als Leamas ihn in Erinnerung hatte, aber sonst ganz der Alte. Dieser selbe Anschein der Abgeklärtheit, dieselben verstaubten Dünkel, dieselbe Angst vor Zugluft, alles unter Berufung auf Benimmregeln, die von Leamas’ Realität Welten entfernt waren. Dasselbe Lächeln, wie wässrige Milch, dieselbe aufwendig inszenierte Bescheidenheit, dasselbe apologetische Festhalten an einem Kodex, den er lächerlich zu finden vorgab. Dieselbe Plattheit.
Er nahm eine Schachtel Zigaretten vom Tisch und gab Leamas eine.
»Die kriegen Sie hier nicht so billig«, bemerkte er, und Leamas nickte gehorsam. Control steckte die Zigaretten in seine Tasche und setzte sich.
Eine Pause entstand. Schließlich sagte Leamas: »Riemeck ist tot.«
»Genau«, bekräftigte Control, als hätte Leamas ein gutes Argument vorgebracht. »Das ist äußerst bedauerlich. Äußerst … Dieses Mädchen wird ihn hochgehen lassen haben, oder? Elvira.«
»Wahrscheinlich.« Leamas hatte nicht vor, ihn zu fragen, woher er von Elvira wusste.
»Und Mundt hat ihn erschießen lassen«, ergänzte Control.
»Ja.«
Control stand wieder auf und irrte durchs Zimmer, um einen Aschenbecher zu suchen. Als er fündig geworden war, platzierte er ihn umständlich auf dem Fußboden, zwischen ihren beiden Sesseln.
»Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Als Riemeck erschossen wurde, meine ich. Sie waren dort, nicht wahr?«
Leamas zuckte die Achseln. »Es hat mir gestunken.«
Control legte den Kopf schief und schloss die Augen bis auf einen Spalt. »Sie werden aber doch noch mehr empfunden haben? Es hat Ihnen doch bestimmt etwas ausgemacht? Das wäre nur natürlich.«
»Ja, sicher. Wie auch nicht?«
»Mochten Sie Riemeck – als Menschen?«
»Ich denke schon«, sagte Leamas hilflos. »Ich finde es nicht besonders sinnvoll, auf diesen Sachen herumzureiten«, fügte er hinzu.
»Wie haben Sie die Nacht verbracht, den Rest der Nacht, meine ich, nachdem Riemeck erschossen worden war?«
»Was soll das alles?«, fragte Leamas hitzig. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Riemeck war der Letzte«, sinnierte Control, »der Letzte von so vielen, die sterben mussten. Wenn ich mich recht entsinne, fing es mit dem Mädchen an, das sie vor dem Kino in Wedding erschossen haben. Dann kam der Mann in Dresden, dann die Verhaftungen in Jena. Wie die zehn kleinen Negerlein. Dann Paul, Viereck und Ländser – alle tot. Und jetzt auch noch Riemeck.« Er lächelte melancholisch. »Das ist eine ziemlich niederschmetternde Bilanz. Ich frage mich, ob Sie nicht langsam genug haben.«
»Wie meinen Sie das – genug?«
»Ich frage mich, ob Sie nicht müde sind. Ausgebrannt.«
Ein langes Schweigen folgte.
»Das müssen Sie entscheiden«, sagte Leamas dann.
»Wir müssen ohne Mitgefühl auskommen, nicht wahr? Aber das geht natürlich nicht. Wir geben uns voreinander so abgebrüht, aber in Wahrheit sind wir es nicht. Ich meine … man kann nicht die ganze Zeit draußen in der Kälte bleiben, irgendwann muss man heraus aus der Kälte … Sehen Sie, was ich meine?«
Leamas sah es. Er sah die lange Straße bei Rotterdam vor sich, diese lange gerade Straße neben den Dünen, und den Strom von Flüchtlingen, der auf ihr dahinfloss – sah das kleine Flugzeug, Meilen entfernt, sah die Prozession anhalten, ihm entgegenschauen, sah das Flugzeug herankommen, scharf über den Dünen – sah das Chaos, die sinnlose Hölle, als die Bomben in die Straße einschlugen.
»Solche Gespräche liegen mir nicht, Control«, sagte Leamas schließlich. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte Sie darum bitten, noch ein wenig länger in der Kälte auszuharren.« Leamas blieb stumm, also fuhr Control fort: »Die Ethik unseres Tuns, so wie ich sie verstehe, beruht auf einem einzigen Grundsatz. Dem nämlich, dass wir nie die Rolle des Aggressors übernehmen. Scheint Ihnen das eine zutreffende Beschreibung?«
Leamas nickte. Wenn er bloß nichts reden musste …
»Das heißt, wir machen uns die Hände schmutzig, aber wir handeln dabei defensiv. Auch das ist noch eine zutreffende Beschreibung, oder? Wir machen uns die Hände schmutzig, damit die Menschen hier und anderswo nachts unbeschwert schlafen können. Oder sehe ich das zu romantisch? Sicher, manchmal machen wir uns die Hände sogar sehr schmutzig …« Er grinste wie ein Lausbub. »Und in der Frage nach der Moral stellen wir gern etwas unredliche Vergleiche an – schließlich kann man die Ideale der einen Seite ja schlecht mit den Methoden der anderen vergleichen, oder?«
Leamas verstand kein Wort. Er hatte den Mann schon viel wirres Zeug faseln hören, bevor sein Messer zustieß, aber so etwas denn doch nicht.
»Ich meine, man muss doch Methoden mit Methoden vergleichen, und Ideale mit Idealen. Ich würde sagen, seit dem Krieg sind unsere Methoden – unsere und die des Gegners – einander sehr ähnlich geworden. Ich meine, man kann ja schlecht weniger schonungslos als der Gegner vorgehen, nur weil die Politik der eigenen Regierung eine friedfertige ist, oder?« Er lachte leise in sich hinein. »Wo kämen wir denn da hin?«, sagte er.
Grundgütiger, dachte Leamas. Als hätte man einen gottverdammten Pastor als Chef. Was sollte das alles bloß?
»Und deshalb«, fuhr Control fort, »bin ich dafür, dass wir uns Mundt vom Hals schaffen … Also wirklich«, er wandte sich gereizt in Richtung Tür, »wo bleibt dieser verflixte Kaffee?«
Control ging zur Tür, öffnete sie und redete mit einem unsichtbaren Mädchen im Vorzimmer. Im Zurückkommen sagte er: »Ich finde wirklich, wir sollten ihn uns vom Hals schaffen, wenn es irgendwie zu machen ist.«
»Wozu? Wir haben nichts mehr im Osten – absolut nichts. Sie haben es gerade selber gesagt, Riemeck war der Letzte. Es gibt nichts mehr zu verteidigen.«
Control setzte sich wieder und betrachtete eine Weile seine Hände.
»Das stimmt nicht ganz«, sagte er schließlich, »aber mit den Einzelheiten muss ich Sie jetzt nicht langweilen.«
Leamas zuckte die Achseln.
»Sagen Sie«, redete Control weiter, »haben Sie genug von der Spionage? Entschuldigen Sie, wenn ich mich wiederhole. Ich meine, das ist ein Phänomen, für das wir hier Verständnis haben. Wie Flugzeugkonstrukteure … Metallermüdung ist der Fachbegriff, glaube ich. Bitte sagen Sie’s mir, falls es so ist.«
Leamas dachte an den Rückflug heute Morgen und war sich nicht sicher.
»Wenn es so wäre«, setzte Control hinzu, »müssten wir einen anderen Weg finden, um Mundt auszuschalten. Was ich im Sinn habe, ist ein bisschen unorthodox.«
Das Mädchen erschien mit dem Kaffee. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und schenkte zwei Tassen voll. Control wartete, bis sie aus dem Zimmer war.
»So eine dumme Person«, sagte er, fast zu sich selbst. »Schon verrückt, wie schwer es heutzutage ist, jemand Brauchbares aufzutreiben. Ich wünschte, Ginnie würde sich für ihren Urlaub nicht immer die ungünstigste Zeit aussuchen.« Niedergeschlagen rührte er in seinem Kaffee.
»Wir müssen Mundt unbedingt diskreditieren«, sagte er. »Sagen Sie, trinken Sie viel? Whisky und solches Zeug?«
Leamas hatte geglaubt, er sei Controls Art gewöhnt.
»Ein bisschen, ja. Mehr als die meisten wahrscheinlich.«
Control nickte verständnisvoll. »Was wissen Sie über Mundt?«
»Er ist ein Killer. Er war vor ein oder zwei Jahren hier in London, für die Ostdeutsche Stahlmission. Bei uns gab es damals einen Berater, Maston.«
»So ist es.«
»Mundt hatte eine Agentin, die Frau eines Mitarbeiters im Außenministerium. Er hat sie umgebracht.«
»George Smiley hat er auch umzubringen versucht. Nicht zu vergessen den Ehemann der Frau, den er erschossen hat. Er ist gar kein netter Mensch. Ehemaliger Hitlerjunge, und und und. Nicht ganz das, was man einen Kommunisten aus Überzeugung nennt. Ein echter Mann des Kalten Kriegs.«
»Wie wir«, bemerkte Leamas trocken.
Control lächelte nicht. »George Smiley kannte den Fall in allen Einzelheiten. Er ist jetzt nicht mehr bei uns, aber es könnte sich für Sie lohnen, ihn aufzustöbern. Er forscht irgendwas über das Deutschland des siebzehnten Jahrhunderts. Er wohnt in Chelsea, gleich hinterm Sloane Square. Bywater Street, ist die Ihnen ein Begriff?«
»Ja.«
»Und Guillam war auch mit der Sache befasst. Er ist bei Satelliten 4, im ersten Stock. Ich fürchte, es hat sich einiges verändert seit Ihrer Zeit.«
»Ja.«
»Setzen Sie sich ein, zwei Tage mit ihnen zusammen. Die beiden wissen, was mir vorschwebt. Und ich habe überlegt, ob Sie übers Wochenende nicht vielleicht zu mir kommen möchten. Meine Frau«, schob er eilig nach, »muss sich leider um ihre Mutter kümmern. Es wären nur Sie und ich da.«
»Danke. Ich komme sehr gern.«
»Dann können wir ganz gemütlich alles bereden. Das wäre sehr nett. Ich glaube, es könnte eine hübsche Stange Geld für Sie herausspringen. Sie dürfen alles, was Sie bekommen, behalten.«
»Danke.«
»Immer vorausgesetzt natürlich, Sie sind sich sicher … keine Metallermüdung oder dergleichen?«
»Um Mundt umzubringen, bin ich nie zu müde.«
»Und das meinen Sie auch wirklich so?«, erkundigte sich Control höflich. Und nachdem er Leamas einen Augenblick lang nachdenklich betrachtet hatte, fuhr er fort: »Doch, ich glaube schon. Aber Sie müssen sich nicht verpflichtet fühlen. Ich meine, in unserer Welt greifen die Kategorien von Liebe und Hass so schnell zu kurz … wie diese Tonlagen, die ein Hund nicht hören kann. Und alles, was am Ende bleibt, ist eine Art Ekel, ein Grauen davor, jemals wieder die Ursache von Leiden zu sein. Es geht mich ja nichts an, aber haben Sie nicht am ehesten so etwas empfunden, als Karl Riemeck erschossen wurde? Nicht so sehr Hass gegen Mundt oder Liebe zu Karl wie einfach Übelkeit, so ein Gefühl, wie wenn eine Faust in einen tauben Körper schlägt … Sie sind die ganze Nacht herumgelaufen, wurde mir gesagt, einfach durch die Straßen von Berlin gelaufen. Stimmt das?«
»Es stimmt, dass ich spazieren gegangen bin.«
»Die ganze Nacht?«
»Ja.«
»Was ist aus Elvira geworden?«
»Was weiß ich … Ich möchte es Mundt wirklich gern heimzahlen«, sagte er.
»Gut … gut. Übrigens, sollten Ihnen in der Zwischenzeit irgendwelche alten Freunde über den Weg laufen, sehe ich keinen Grund, die Sache an die große Glocke zu hängen. Nein«, fügte er nach ein paar Sekunden hinzu, »ich an Ihrer statt würde mich eher zugeknöpft geben. Sollen sie ruhig denken, wir hätten Sie schlecht behandelt. Warum die Weichen nicht gleich richtig stellen, hm?«
3. Abstieg
Dass Leamas auf dem Abstellgleis landete, überraschte niemanden groß. Letztlich, so war man sich einig, war Berlin doch schon seit Jahren eine einzige Katastrophe gewesen, und jemand musste es eben ausbaden. Außerdem war er reichlich alt für den operativen Einsatz, wo man oft ähnlich schnelle Reflexe brauchte wie ein Tennisprofi. Leamas hatte im Krieg gute Arbeit geleistet, das wusste jeder. In Norwegen und in Holland hatte er weit mehr getan, als nur am Leben zu bleiben, und am Schluss hatten sie ihm einen Orden angesteckt und ihn entlassen. Später hatten sie ihn dann natürlich zurückgeholt. Zu dumm, das mit seiner Pension, wirklich zu dumm. Das hatte die Buchhaltung durchblicken lassen, in Gestalt von Elsie. Elsie erzählte in der Kantine, der arme Alec Leamas würde einmal von bloßen vierhundert Pfund im Jahr leben müssen, nur wegen der Lücke in seiner Dienstzeit. Elsie fand, das sei eine Bestimmung, die wirklich geändert gehörte, denn schließlich hatte Mr. Leamas den Dienst ja geleistet, oder etwa nicht? Aber ihnen saß nun mal das Schatzamt im Nacken, nichts war mehr wie früher, was sollte man da machen? Selbst zu Mastons Zeiten – in denen wahrlich einiges im Argen gelegen hatte – waren diese Dinge besser geregelt gewesen.
Leamas sei einer vom alten Schlag, erklärte man den Neuen: Blut, Schweiß, Kricket und ein paar Brocken Schulfranzösisch. In Leamas’ Fall war das insofern ungerecht, als er Deutsch so fließend wie Englisch sprach und dazu ein ausgezeichnetes Niederländisch; außerdem mochte er kein Kricket. Aber studiert hatte er tatsächlich nicht.
Leamas’ Vertrag lief erst in ein paar Monaten aus, und die durfte er in der Bankabteilung absitzen. Die Bankabteilung hatte nichts mit der Buchhaltung zu tun; ihre Zuständigkeit waren Auslandszahlungen, die Finanzierung von Agenten und Operationen. Die meisten Aufgaben der Bankabteilung hätte ein Lehrjunge übernehmen können, wenn sie kein so hohes Maß an Geheimhaltung erfordert hätten; darum eignete sie sich wie nur wenige andere Ressorts als Auffangbecken für Beamte, die bald im Orkus verschwinden sollten.
Leamas verlotterte.
Der Verlotterungsprozess gilt gemeinhin als längerwierig, doch bei Leamas war das anders. Vor den Augen der übrigen Mitarbeiter verwandelte er sich von einem in Ehren ausgemusterten Kollegen in ein verbittertes, versoffenes Wrack – alles binnen weniger Monate. Es gibt eine Art Dummheit bei Säufern, besonders im nüchternen Zustand, eine Art Entkoppelung, die von den Unaufmerksamen als Zerstreutheit wahrgenommen wird und die bei Leamas mit verblüffender Schnelligkeit einriss. Er genehmigte sich kleine Unaufrichtigkeiten, borgte unbedeutende Summen von den Sekretärinnen und vergaß, sie zurückzugeben, kam zu spät oder ging unter einem genuschelten Vorwand früher. Anfangs behandelten ihn die anderen nachsichtig; vielleicht machte ihnen sein Verfall auf die gleiche Art Angst, auf die uns Krüppel, Bettler und Invalide Angst machen, weil wir denken, so könnte es auch uns einmal gehen; aber mit der Zeit isolierten ihn seine Verwahrlosung, seine brutale, blinde Gehässigkeit immer mehr.
Sehr zum Erstaunen aller hatte sich Leamas kampflos in sein Schicksal gefügt. Es war, als wäre sein Wille über Nacht gebrochen worden. Die neuen Sekretärinnen, die nicht glauben mochten, dass ein Nachrichtendienst von gewöhnlichen Sterblichen bevölkert ist, sahen mit Schrecken zu, wie er verkam. Er achtete immer weniger auf sein Äußeres und noch weniger auf seine Umgebung, er aß in der Kantine zu Mittag, die eigentlich nur für die Bürokräfte bestimmt war, und es ging das Gerücht, dass er trank. Er wurde einsam, eine dieser tragischen Gestalten, denen das Tätigsein alles war und die zu früh zur Untätigkeit verurteilt worden sind: Schwimmer ohne Wasser, Schauspieler ohne Bühne.
Manche meinten, er habe in Berlin einen Fehler gemacht, und deshalb sei sein Netz aufgerollt worden; Genaues wusste niemand. Alle fanden, dass er mit übergebührlicher Härte behandelt worden war – nicht dass die Personalabteilung sich sonst durch ihre Menschenliebe hervortat, aber dennoch. Sie zeigten verdeckt auf ihn, wenn er vorüberging, so wie man auf einen ehemals großen Sportler zeigt, und sagten: »Das ist Leamas. Er hat sich in Berlin einen Schnitzer geleistet. Eine Schande, wie er sich gehenlässt.«
Und dann war er plötzlich verschwunden. Verabschiedet hatte er sich von niemandem, nicht einmal von Control, hieß es. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Das Wesen des Geheimdienstes lädt nicht zu aufwendigen Abschiedsfeiern und zum Überreichen goldener Uhren ein, aber selbst nach diesen Maßstäben wirkte Leamas’ Abgang abrupt. So, wie es aussah, ging er vor dem offiziellen Ende seiner Vertragsfrist. Elsie aus der Buchhaltung lieferte ein, zwei Informationsfetzen: Leamas habe sich sein restliches Gehalt in bar auszahlen lassen, was laut Elsie nur eines bedeuten konnte, dass er nämlich Schwierigkeiten mit seiner Bank hatte. Seine Abfindung sei am Monatsende fällig, sie dürfe nicht sagen, wie viel genau, aber eine vierstellige Zahl sei es nicht, der Ärmste. Seine Sozialversicherungskarte sei weitergereicht worden. In der Personalabteilung hätten sie seine Adresse, fügte Elsie naserümpfend hinzu, aber natürlich gaben sie sie nicht heraus – die doch nicht!
Dann war da die Geschichte mit dem Geld. Es sickerte durch – wie üblich wusste niemand genau, auf welchen Wegen –, dass Leamas’ plötzliches Ausscheiden mit Unregelmäßigkeiten in den Büchern der Bankabteilung zu tun habe. Eine größere Summe habe gefehlt (kein dreistelliger Betrag, sondern ein vierstelliger, berichtete eine Dame mit blauem Haar, die in der Telefonzentrale arbeitete), aber sie hätten sie sich zurückgeholt, fast alles, und jetzt würden sie ihm seine Pension pfänden. Andere widersprachen: Wenn Alec die Kasse hätte plündern wollen, sagten sie, dann hätte er es geschickter angestellt, als ausgerechnet im Hauptquartier Abrechnungen zu fälschen. Nicht, dass er dazu nicht in der Lage sei – er wäre nur einfach schlauer vorgegangen. Aber die, denen Leamas’ kriminelle Fähigkeiten weniger imponierten, verwiesen auf seinen Alkoholkonsum, auf die Kosten, die ein eigener Hausstand verursacht, auf das fatale Auseinanderklaffen von Grundgehalt und Auslandsspesen und vor allem auf die Versuchung, in die ein Mann gerät, der mit heißem Geld um sich zu werfen gewohnt war und der nun weiß, dass seine Tage beim Secret Service gezählt sind. Wenn aber Alec in die Kasse gegriffen hatte, da stimmten alle überein, dann war er ein für alle Mal erledigt – dann würden die Wiedereingliederungsleute keinen Finger für ihn krumm machen, und auf ein Zeugnis durfte er auch nicht hoffen, oder höchstens auf ein so eisiges, dass es selbst den enthusiastischsten Arbeitgeber bei der Lektüre schaudern musste. Veruntreuung war die eine Sünde, die sie einem beim Service nicht vergaßen. Wenn es stimmte, dass Alec dem Circus Geld entwendet hatte, dann würde ihn der heilige Zorn der Personalabteilung bis ins Grab verfolgen – und nicht einmal ein Leichentuch würde ihm spendiert!
Ein, zwei Wochen nach seinem Verschwinden rätselten ein paar Leute noch, was aus ihm geworden sein mochte. Aber seine früheren Freunde hatten es bereits gelernt, einen Bogen um ihn zu machen. Er war ein verbitterter Langweiler geworden; ständig hetzte er gegen den Circus und seine Führung – diese Kommissköpfe, die den Secret Service mit einem Offiziersclub verwechselten. Er versäumte keine Gelegenheit, über die Amerikaner und ihre Nachrichtendienste herzuziehen. Gegen sie hegte er offenbar einen noch größeren Groll als gegen die Ostdeutschen, von denen er selten sprach, eigentlich nie. Die Amerikaner, so deutete er düster an, seien es, die ihm in Berlin alles versaut hätten; das schien eine fixe Idee von ihm und war ein schlechter Lohn für die Versuche, ihn zu trösten; es vergrätzte die Leute, so dass auch die, die ihn gekannt und unausgesprochen sogar gemocht hatten, ihn abschrieben. Leamas’ Verschwinden kräuselte das Wasser nur ein klein wenig; andere Winde und der Wechsel der Jahreszeiten sorgten dafür, dass es bald ganz vergessen war.
*
Seine Wohnung war klein und ärmlich, mit bräunlichen Phototapeten, die romantische Küstenstädtchen zeigten. Sie blickte direkt auf die grauen Rückseiten dreier Lagerhäuser, denen um der Ästhetik willen mit Teerfarbe Fenster aufgemalt waren. Über dem einen Lagerhaus wohnte eine italienische Familie, die nachts laut stritt und in der Früh ihre Teppiche ausklopfte. Leamas besaß nur wenige Habseligkeiten, um damit seine Wohnung zu verschönern. Er kaufte Lampenschirme für die nackten Birnen und zwei Paar Bettlaken anstelle des groben Sackleinenzeugs, das der Hauswirt stellte. Den Rest nahm er hin: die geblümten Vorhänge ohne Futter oder Saum, die zerschlissenen braunen Teppiche und die ungeschlachten dunklen Holzmöbel, die an ein Seemannsheim erinnerten. Ein maroder gelber Durchlauferhitzer lieferte Wasser, wenn man einen Shilling einwarf.