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Zum Andenken von Alan Haydock gewidmet
Aus dem Englischen von Ulrike Budde
ISBN 978-3-492-97060-0
Juli 2015
© Julia Keay, 1989, 1990
Titel der englischen Originalausgabe: »With Passport and Parasol«, BBC Books, a division of BBC Enterprises Ltd.
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2000
nach der National Geographic Taschenbuchausgabe, 7. Auflage, April 2009
Deutsche Erstausgabe: Scherz Verlag, Frankfurt 1991
Coverkonzeption: Büro Hamburg
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Photoshot
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Im 19. Jahrhundert war eine ansehnliche Anzahl europäischer Im Männer rund um den Globus unterwegs – doch in vielen, etwas entlegenen Winkeln der Welt waren Europäerinnen sogar noch hundert Jahre später eine unbekannte Gattung.
Die sieben weiblichen Reisenden, deren Geschichten in diesem Buch erzählt werden, sind alle Frauen des Viktorianischen Zeitalters. Die verschiedensten Gründe führten sie in entfernte Weltgegenden, aber eine Gemeinsamkeit vereint sie: Sie waren alle Individualistinnen par excellence. Jede von ihnen war – freiwillig oder unfreiwillig – mit einem bestimmten Ziel oder in Erfüllung einer bestimmten Aufgabe losgezogen, und keine gab unterwegs auf. Jede »stellte ihren Mann«, machte sich einen Namen, fand ihr Glück und ihren Lebensinhalt in Gegenden der Welt, die oft kaum ein Weißer gesehen hatte: in Australien, Ägypten, Sibirien, Indien, Siam, dem Mittleren Osten und in Zentralasien. Und alle waren sie beseelt vom Drang nach Freiheit und vom Wunsch, den erstikkenden Einschränkungen, denen Frauen ihrer Zeit in Europa unterworfen waren, zu entfliehen. Dafür nahmen sie Strapazen und Probleme auf sich, die heute kaum mehr vorstellbar sind. Aber: Sie alle erreichten ihr Ziel.
Gertrude Bell drückte – wenn auch auf etwas blumige Weise – das Gefühl der sieben Frauen vor Reisebeginn wohl am besten aus: »... die Pforten des umzäunten Gartens tun sich auf, die Kette vor dem Eingang des Kerkers senkt sich, und siehe da: dort lag die unermeßlich weite Welt!«
Freiwillig war Emily Eden bestimmt nicht unterwegs. Auslandsreisen waren das letzte, an das sie im Frühjahr 1835 dachte. Ganz im Gegenteil wollte sie mehr als alles andere endlich ein eigenes Heim. Es mußte gar nicht groß sein. Ein kleines Häuschen auf dem Land mit einem gemütlichen Wohnzimmer und einem Lehnstuhl am Kamin, mit Regalen für ihre Bücher, und Wänden, wo sie ihre Bilder aufhängen könnte; außerdem Platz für ihre Pflanzen und vielleicht sogar einen kleinen Garten, wo sie mit ihrem Hund spielen und Rosen und Glyzinien beschneiden konnte. Sie wünschte sich nur ein bißchen Ruhe und Bequemlichkeit für ihre späteren Jahre – sicherlich keine ungewöhnliche Vorstellung für eine alternde Jungfer.
Statt dessen zwangen sie die Umstände zu einem rastlosen Leben. Ihre Sachen waren alle in Kisten verstaut, sie wußte von einem Tag zum anderen nicht, in welcher Truhe eigentlich ihre Kleider waren, und – am schlimmsten von allem – langsam gingen ihr die verheirateten Schwestern aus, bei denen sie abwechselnd wohnen konnte. Alle fünf hatten sie mit herzlicher Gastfreundschaft aufgenommen, aber irgendwann wird eine jüngferliche Tante auch zur Last, egal, wie sehr man sie liebt.
Sie machte die Regierung für diese Schwierigkeiten in ihrem Privatleben verantwortlich. Seit im Jahr zuvor die politischen Geschicke der Liberalen und der Konservativen andauernd auf und ab gingen, war ihr Leben zu einer Karussellfahrt geworden. Es war schon schlimm genug, daß Lord Melbourne ihren Bruder George, Lord Auckland, zum Ersten Lord der Admiralität befördert hatte. Sie mußte weinen, als sie sich gezwungen sah, das schöne Haus in Greenwich zu verlassen, in dem sie mit ihrem Bruder zusammen lebte. Die riesige, zugige Repräsentationswohnung im Haus der Admiralität sagte ihr überhaupt nicht zu:
Alle behaupten, wir wären außerordentlich beneidenswerte Leute. Für George gilt das vielleicht, aber ich kann nicht von Glück sprechen, wo ich doch Greenwich verlassen muß. Es war mein ein und alles. Nunmehr an London gebunden zu sein ... ich hasse London! Und ich soll mir vorschreiben lassen, wen ich zum Abendessen einlade, ohne überhaupt die finanziellen Möglichkeiten zu haben, mich gesellschaftsfähig zu kleiden. Ich wünschte, die Regierung würde auch einmal in Betracht ziehen, daß trotz der Beförderung eines Mannes in eine hohe Position die Frauen im Hintergrund so arm wie eh und je bleiben.
Im Oktober 1834 kam dann das Gerücht auf, Lord Melbourne plane, George als Generalgouverneur nach Indien zu schikken. Es war wirklich nur Geflüster hinter der hohlen Hand, aber es genügte, um Emily in Angst und Schrecken zu versetzen. »Glücklicherweise ist die Gefahr vorbei«, schrieb Emily an ihre beste Freundin, Theresa Lister. »Ich wußte, das wäre zu schlimm, um wahr zu sein – obwohl es auch gefährlich ist, solche Überlegungen anzustellen, denn sie beschleunigen oft eine drohende Katastrophe. Aber dies war ein so extremer Fall, eine derart fürchterliche Vorstellung, daß man sie nur mit Gewalt wegschieben konnte. Selbst die Botany Bay wäre vergleichsweise noch ein Vergnügen gewesen. Wenigstens ist das Klima dort angenehm, und zudem kommt man noch in den Genuß, vorher eine nette kleine Straftat zu begehen. Aber nach Kalkutta...!« Angesichts ihrer Erleichterung schienen sogar die tristen Räumlichkeiten der Admiralität plötzlich eine gewisse häusliche Wärme auszustrahlen.
Sechs Monate später war die Regierung der Liberalen zusammengebrochen, Sir Robert Peel und seine schrecklichen Tories hatten die Macht übernommen, und der arme George hatte keine Stellung mehr. Obwohl das natürlich eine Enttäuschung war, bedeutete es zumindest, daß sie sich jetzt wieder aufs Land zurückziehen konnten. Doch selbst während Emily überall ihre Freude über diese Aussichten zum Ausdruck brachte, wußte sie doch insgeheim, daß es so nicht kommen würde. George beharrte darauf, daß es keinen Sinn hätte, sich irgendwo fest niederzulassen – die Tory-Regierung schwankte ziemlich und konnte sich wahrscheinlich nicht halten. Melbourne würde sicher wieder Premierminister werden, George konnte davon ausgehen, dann einen neuen Regierungsposten zu erhalten, und so wären sie wieder mit der Notwendigkeit einer häuslichen Veränderung konfrontiert. Besser abwarten, was kommt.
Emily war wieder ohne ein Dach über dem Kopf. In einem, wie sie meinte, völlig gefühllosen Ausbruch, versuchte George ihr klarzumachen, daß ihr bei mehr als der Hälfte der englischen Adelssitze alle Türen weit offen standen, falls sie bei keiner ihrer Schwestern mehr unterschlüpfen wollte. Er schien nicht zu verstehen, daß es weit weniger schön war, selbst im herrschaftlichsten Haus zu Gast zu sein als ein eigenes zu besitzen, und sei es nur »ein Zelt irgendwo unter einer Hecke, wo ich mein müdes Haupt betten kann«.
Doch das Schicksal hatte die Beschwörungen nicht vergessen, mit denen Emily ihm hatte ausweichen wollen. Im April 1835 gab es einen erneuten Regierungswechsel; Peel trat zurück, und Lord Melbourne wurde wieder Premierminister. Innerhalb der ersten beiden Wochen seiner Amtszeit bot er George einen neuen Posten an: Generalgouverneur in Indien. »Was soll ich dazu weiter sagen, außer daß wohl Gottes Wille geschieht«, schrieb Emily an Theresa. »Mir graut es vor dem Klima, und ich kann der Reise nur mit äußerstem Widerwillen entgegensehen.«
Von den vierzehn Kindern William Edens, des ersten Barons Auckland, hatten immer Emily und George die größte Nähe und Zuneigung füreinander empfunden. Beide heirateten nie und teilten vierzehn Jahre lang mit ihrer jüngsten Schwester Fanny ein Haus. Seit den Anfängen von Georges politischer Karriere als Abgeordneter auf den hinteren Rängen des Parlaments und nach dem Tod des Vaters an dessen Stelle im Oberhaus, in seinen Jahren als Präsident der Handelskammer und als Erster Lord der Admiralität hatte Emily die Rolle seiner Lebensgefährtin und Gastgeberin gespielt.
Deswegen hatte sie keine Angst vor der Aussicht, als First Lady in Kalkutta zu agieren. Die Familie Eden bewegte sich schon lange in den exklusivsten Gesellschaftskreisen, durch Blutsverwandtschaft oder Heirat war sie mit den besten Familien des Landes verbunden, nannte den Rest beim Vornamen und zählte auch die königliche Familie zu ihrer näheren Bekanntschaft. Trotz ihrer augenblicklichen Abneigung vor der Politik war Emily durchaus an politischen Dingen interessiert. Nichts machte ihr mehr Spaß als eine leidenschaftliche Debatte mit Georges Kabinettskollegen beim Abendessen. Die eigentliche Bedrohung war die Trennung von Freunden und Familie. Alles, was sie jemals über Indien gehört oder gelesen hatte, verleitete sie zu der Schlußfolgerung, das Land sei ein kultureller und gesellschaftlicher Friedhof. Sobald sie dahin verbannt wäre, glaubte Emily, gäbe es nichts mehr von all dem, was ihr Leben lebenswert machte – die neuesten Bücher und Theateraufführungen, die aktuelle Mode und vor allem der gesellschaftliche Klatsch. »Jeden Tag wird mir das Herz schwerer«, schrieb sie. »Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie mir zumute ist.«
Doch obgleich sie äußerstes Mitleid bekundeten und selber unter der bevorstehenden Trennung litten, ließen sich Emilys Freunde nicht beeindrucken. Sie wußten, daß Emily unglücklich war, wenn sie nichts zu klagen hatte, und umgekehrt: Je größer ihre Probleme, um so strahlender ihr Lächeln. Auch ihr Aussehen täuschte: Sie war klein, hatte lange, dunkle Haare und einen blassen Teint, der eher auf eine zarte Konstitution schließen ließ. Hinter dieser zerbrechlich wirkenden Fassade war sie allerdings ganz schön zäh, wie ihre Freunde wußten. Sie war klug, hatte eine scharfe Zunge, und da sie Leute, die ihrer Meinung nach Unsinn redeten, nicht leiden konnte, zitterten empfindlichere Naturen vor ihren schnellen Urteilen. Aber sie konnte auch warmherzig sein, sehr witzig und einfühlsam, und sie hatte einen wunderbar trockenen Humor. Diese Eigenschaften machten sie nicht nur zu einer unterhaltsamen, sehr geschätzten Freundin, sondern halfen ihr auch über alle Unannehmlichkeiten hinweg. Die Freunde daheim konnten sicher sein, daß sie ihnen sehr lebensnah von jedem einzelnen ihrer Abenteuer berichten würde.
Allein die Reise hin und zurück würde ein ganzes Jahr dauern. Da Georges Auftrag politischer Natur war, wäre er so lange Generalgouverneur, wie die Liberalen an der Regierung blieben. Emily wußte deshalb, daß sie sechs Jahre lang fort sein könnte. »Ein ungeheurer Einschnitt«, schrieb sie ihrer Schwester Eleanor, der Gräfin Buckinghamshire, »und noch dazu zum völlig falschen Zeitpunkt in meinem Leben. Die Jugendzeit Deiner Kinder werde ich verpassen, und unsere wird gänzlich vorbei sein. Wenn wir uns wiedersehen, bin ich schon eine ziemlich alte Frau.«
Erst 1857 übernahm die britische Regierung kurz nach dem Großen Aufstand der Sepoys* die direkte Herrschaft in Indien. Im Jahr 1835 war, zumindest nominell, die Ostindische Kompanie verantwortlich für die Belange jener Gebiete, die sich unter den Schutz der Briten gestellt hatten. Letztendlich aber lag die Macht über alles, was nicht die geschäftlichen Interessen der Kompanie betraf, beim India Office Board of Control (Kontrollbehörde für Indien) in Whitehall. Theoretisch erhielt der Generalgouverneur zwar seine Weisungen von dort, aber es war schlichtweg nicht praktikabel, daß jede Entscheidung in London fiel, wenn zwischen einer Anfrage aus Kalkutta und der Antwort aus London acht Monate vergehen konnten. Obwohl in Kalkutta ein Ministerrat dem Generalgouverneur mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte, lag die Regierung von Britisch-Indien schließlich doch in den Händen eines einzigen Mannes. Es war eine ungeheure Verantwortung, doch Emily zweifelte nicht daran, daß George die Aufgaben meistern würde.
Damit sie ausreichend Zeit für eine derart tiefgreifende Umwälzung der häuslichen und beruflichen Situation hatten, war die Abreise erst für Ende September geplant. Ihre einzige andere unverheiratete Schwester Fanny sollte mit nach Indien gehen und auch William Osborne, Sohn von Schwester Charlotte, der zu Georges Militärattaché ernannt worden war. So mußte Emily nicht ganz auf ihre Verwandtschaft verzichten. Während George sich auf seine Aufgaben in Indien vorbereitete, ließ Emily als erstes Porträts von so vielen Neffen, Nichten und Patenkindern anfertigen, wie in der kurzen Zeit möglich war. Außerdem mußte alles, was sie nicht mit nach Indien nehmen würde, in Kisten gepackt, wieder umgepackt und verstaut werden. Sie besorgte für ihre Freunde Abschiedsgeschenke, und selbstverständlich benötigte sie eine völlig neue und ungewohnte Garderobe.
Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was für ein Chaos dieses ganze Einkaufen und Abmessen und Anprobieren in meinem Kopf auslöst. Ich brauche jetzt kurzärmelige Nachthemden, und Schlafhauben aus Tüll, weil selbst Musselin noch zu warm ist. Und dann solche Absonderlichkeiten: Unmengen von Flanell, das trage ich noch nicht einmal hier in diesem kühlen Klima, aber dort sollen wir nachts so etwas anziehen, weil die Kreaturen, die unsere Fächer in Bewegung halten, manchmal einschlafen. Dann wird man durch die extreme Hitze wach, muß nach ihnen rufen, und wenn sie aufwachen, beginnen sie gleich so kräftig zu wedeln, daß man sich bei der plötzlichen Kälte den Tod holen kann. Was für ein Leben! Aber es bringt nichts, wenn ich jetzt weiter darüber nachdenke.
Am 3. Oktober 1835 setzten sie an Bord der Jupiter in Portsmouth die Segel. Außer Emily, George, Fanny und William Osborne waren auch noch ihr Hausarzt Dr. Drummond, sechs Bedienstete, ein französischer Koch, Emilys Spaniel »Chance« und die sechs Jagdhunde von William mit von der Partie. Nachdem Emily immer behauptet hatte, Wasser so sehr zu hassen, daß sie noch nicht einmal für tausend Pfund pro Tag fünf Monate lang auf See bleiben würde, staunte sie nun, wie sehr sie die Reise genoß.
Die See war sehr ruhig, ich kann lesen, zeichnen oder schreiben, und da es uns allen gutgeht, kann ich wirklich kaum klagen. Wer hätte gedacht, daß George und ich mitten im Winter, wenn wir doch normalerweise im dicken gelben Nebel frösteln, jetzt gemütlich zwischen vielen Kissen am Heckfenster seiner Kabine sitzen, er ohne Mantel, Weste und Schuhe, während er im Schweiße seines Angesichts Hindustani lernt, und ich nur in einem Unterrock und einem leichten Hauskleid, in der einen Hand einen großen Fächer, in der anderen meinen Federhalter. Das Leben zur See wird mich sicher nie reizen, ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es irgend jemandem gefällt. Doch wo wir vorher so viel über unsere Reise geschimpft haben, ist es erstaunlich, daß wir neunzehn Wochen auf See sein konnten und nur so wenige Unannehmlichkeiten hatten.
Die Jupiter hatte in Madeira, Rio de Janeiro und Kapstadt angelegt und erreichte Kalkutta schließlich am 2. März 1836, Emilys neununddreißigstem Geburtstag. Jedes Schiff aus England war ein Ereignis, das eine Menge Schaulustiger an den Kai trieb. Die Ankunft eines Generalgouverneurs aber war ein unvergleichliches Spektakel. Die Straßen von Kalkutta wimmelten geradezu von einem bunten, unsagbar lauten Wirrwarr von Menschenmassen, wie es sich Emily niemals vorgestellt hatte. George, in Paradeuniform mit vollem Ornat, wurde in die erste Kutsche gebeten, Emily und Fanny nahmen in der zweiten Platz. In der Gluthitze und unter dem Druck der Menge erstickten sie fast in ihren besten Kleidern; Emily bekam in ihrem engen Kragen kaum Luft und fürchtete schon, alle durch eine Ohnmacht zu blamieren. Die kurze Fahrt zum Regierungssitz schien ihr endlos. Nur der Gedanke an Entspannung auf einem bequemen Bett in einem kühlen Zimmer mit heruntergezogenen Jalousien hielt sie in der Kutsche aufrecht. Deshalb ärgerte es sie etwas, als sie gleich bei ihrer Ankunft erfuhr, daß die »etwa achtzig Gäste, die uns zu Ehren zu einem ‹kleinen› Empfang geladen waren, direkt nach uns eintreffen würden... So fing es an, und ich vermute, so wird es auch weitergehen.«
Ihr neues Leben war so voller Überraschungen, daß Emily erst Ende März wieder zum Schreiben kam: »Wir sind heute auf den Tag drei Wochen hier, aber mir kommt es sehr viel länger vor, fast so, als ob es fast schon wieder Zeit wäre, nach Hause zu fahren. In vieler Hinsicht ist es eine seltsame, traumähnliche Atmosphäre, aber schrecklich ermüdend. Alles ist wie eine einzige Theateraufführung, sehr pittoresk und unenglisch.«
Ihre Befürchtungen über den Mangel an Bekannten und die Beschränktheit der dortigen Gesellschaft sollten sich erst noch bewahrheiten – zunächst mußte sie sich an Grandezza gewöhnen:
Ich stehe um acht Uhr auf und schaffe es mit Hilfe von drei Zofen, bis neun Uhr ein Bad genommen und mich für das Frühstück angezogen zu haben. Wenn ich mein Zimmer verlasse, sitzen meine beiden Schneider schon mit gekreuzten Beinen im Flur auf dem Boden und nähen an meinen Kleidern. Daneben kehrt einer mit dem Besen jedes Staubkorn auf, zwei Diener bewegen ständig die Fächer, und ein Wachtposten paßt auf, daß keiner von ihnen etwas stiehlt. Mein Chefdiener, der hier »Dschemadar« betitelt wird, folgt mir die Treppe hinunter, dahinter kommen vier Hurkarus oder Kuriere, die mein persönliches Gefolge darstellen, und mein Spaniel Chance, der von seinem eigenen Diener unter dem Arm getragen wird. Am Fuß der Treppe stehen zwei Träger mit einer Sänfte bereit, falls ich zu erschöpft sein sollte, allein in die riesengroße Marmorhalle zu gehen, wo wir zu speisen pflegen. All diese Männer tragen Kleider aus weißem Musselin mit rot-goldenen Turbanen und Schärpen. Sie sehen so malerisch aus, daß ich sie für mich Modell sitzen lasse, wenn ich keine andere Beschäftigung mehr für sie finden kann.
Während der ganzen Zeit in Indien ging Emily mit viel Freude ihren künstlerischen Interessen nach. Land und Leute versorgten sie unerschöpflich mit Material für ihr Skizzenbuch. Heute noch sind ihre Aquarelle und Zeichnungen fast genauso bekannt wie ihre ausdrucksvollen Briefe. Ihren Freunden versicherte sie allerdings, daß ihr Leben in Indien trotz all des Luxus um sie herum keineswegs aus Müßiggängerei bestand. Seit der Abreise von Lord William Bentinck, Georges Vorgänger, hatte der Junggeselle Sir Charles Metcalfe den Generalgouverneur vertreten. Mit der Ankunft von Lord Auckland und seinen Schwestern wurde der besseren Gesellschaft von Kalkutta – wenn man sie so nennen wollte – zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder eine Gastgeberin im Regierungssitz beschieden, genaugenommen nicht eine, sondern gleich zwei. Emilys und Fannys Kalender war fast so voll wie der von George. Montags mußten sie die offizielle Dinnerparty des Generalgouverneurs geben, mittwochs wurde von ihnen erwartet, daß sie »zu Hause« waren für die auserwählte Gruppe von Nobilitäten, deren Namen die sogenannte »Regierungssitzliste« zierten, Dienstag und Donnerstag vormittags mußten sie jeden empfangen, der darum ersuchte – »manchmal hundert oder sogar hundertzwanzig Leute in zwei Stunden«. Bei diesem aktiven Leben in der Öffentlichkeit brauchte Emily nicht lange, um sich ihre Meinung über die »Gesellschaft« von Kalkutta zu bilden. Es war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.
Es gibt hier eigentlich keine interessanten Themen im landläufigen Sinn. Ich glaube, daß hier viel getratscht wird, aber erstens kenne ich die Leute gar nicht gut genug, um die richtige Geschichte mit dem richtigen Gesicht in Verbindung bringen zu können, selbst wenn ich diese Dinge wirklich hören wollte. Engere Bekanntschaften kann es gar nicht geben, auch wenn wir sie uns wünschen würden. Denn da unsere despotische Regierung das gesamte Patronatsrecht dieses riesigen Landes in die Hände des Generalgouverneurs gelegt hat, würden alle hier vor Wut kochen beim geringsten Anschein, daß eine Person bevorzugt wird. Es ist so schon heiß genug hier, man muß es nicht noch künstlich anheizen. Es ist so ungeheuer HEISS, daß ich das Wort gar nicht groß genug schreiben kann.
Je weiter der Sommer vorrückte, um so mehr verblaßte vor den Schrecknissen des Klimas Emilys Entsetzen über die »gute Gesellschaft« von Kalkutta. Im November beschwerte sie sich immer noch, »daß ich, obwohl jetzt die netterweise ‹kalt› genannte Jahreszeit angebrochen ist, weder tagsüber noch nachts für fünf Minuten ohne meinen Fächer auskommen kann. Wenn auch nur ein Sonnenstrahl in Sicht ist, lassen wir die Jalousien herunter.« Sie beklagte auch weiterhin, daß es in ihrer gesamten Bekanntschaft unter den Europäern in Indien nicht eine angenehme oder erfolgreiche Frau gäbe. Gegenüber den Engländerinnen – besonders den jüngeren – nahms sie jetzt eine erheblich mildere Haltung ein. Sie konnte es kaum ertragen, die frischen, fröhlichen Gesichter der Neuankömmlinge aus England zu sehen. Nur die größten Glückspilze unter ihnen konnten hoffen, Indien nach zehn oder zwanzig Jahren wieder lebendig zu verlassen. Viele würden lange vorher an einer Krankheit oder am Klima sterben. Andere mußten sich mit dem grausamen Schicksal abfinden, ihre Kinder in Indien zu begraben, und auch diejenigen, die sie vorsichtshalber in England in die Schule gehen ließen, »können einem so leid tun, daß man dafür keine Worte findet«.
Emilys eigene Gesundheit schien den Anstrengungen einigermaßen gewachsen zu sein. »Obwohl ich schon seit zehn Tagen vor mich hin kränkele, bin ich im allgemeinen gesünder als jemals daheim«, schrieb sie am Jahrestag ihrer Ankunft in Kalkutta. Im Dezember 1837 klang sie schon anders:
Alle, die hier waren, als wir eintrafen, sind entweder zurück nach Hause gegangen oder aufs Land gezogen. Wir sind jetzt eine sehr kleine Gruppe und haben jeglichen Anflug von Kultiviertheit verloren. Tatsächlich glaube ich, daß wir fast schon zu Wilden geworden sind – nicht angriffslustig, keine Kannibalen, nicht einmal gemein – ganz einfach liebe, harmlose Wilde, die schöne Kleider, Juwelen und Tabak lieben und dabei recht unwissend, träge und ziemlich dumm sind. Wir sterben hier alle weg an einem Fieber, das die Regenzeit mitgebracht hat. Das einzig interessante Gesprächsthema ist unsere bevorstehende Reise. Mir ist jedenfalls klar, daß ich das alles nur einigermaßen überstehen kann, wenn ich nicht aufhöre zu zeichnen.
Diese Reise hatte Lord Auckland als Antwort auf das Hauptproblem geplant, das seine gesamte Amtszeit beherrschen sollte: Afghanistan. Die Gefahr einer russischen Invasion Indiens von Zentralasien her hing schon mehr als dreißig Jahre über den Köpfen verschiedener Generalgouverneure. Nach den kürzlichen Erfolgen der Russen im Krieg mit Persien war diese Bedrohung jetzt nicht nur politisch wahrscheinlicher geworden, sondern auch geographisch nähergerückt. Die britische Regierung war überzeugt, daß Rußland als nächstes den Vormarsch auf die afghanische Hauptstadt Kabul beginnen würde: der bestgeeignete Ausgangspunkt für einen Einmarsch nach Indien.
Diese Ängste schürte seit kurzem auch noch das Gerücht, die Afghanen wollten bei ihrem langen Territorialstreit mit Ranjit Singh vom Pandschab die Russen um Hilfe bitten. Ohne Frage mußte dringend etwas unternommen werden, um dieser gefährlichen Allianz einen Riegel vorzuschieben. Nach monatelangen Diskussionen und Debatten sowohl mit der Regierung in England wie auch mit seinen Ratgebern in Indien beschloß Lord Auckland, eine ausgedehnte Goodwill-Tour durch die Grenzstaaten zu unternehmen. Höhepunkt der Reise sollte ein Staatsbesuch am Hofe von Ranjit Singh sein, dem einflußreichsten Herrscher in all diesen unabhängigen Ländern. Eine nachhaltige Lösung des Afghanistan-Problems ließe sich wesentlich einfacher mit der Kooperation und Hilfe des »Löwen vom Pandschab« erreichen.
»Ich habe keine Einwände«, schrieb Emily, »obschon ich eines sagen möchte: Gemessen daran, daß ich nichts weiter erwartete, als ungestört mein kleines Haus mit Garten in Greenwich genießen zu können, mit all den unbedeutenden Cockneyvergnügungen und -geschichten, ist mir ziemlich hart mitgespielt worden.«
Das war Emily in Hochform. Allerdings ließ sich niemand von ihren Klagen täuschen. Sie war so froh über die Aussicht, Kalkutta verlassen zu können, daß sie sich nicht einmal bemühte, es zu verbergen. In den vergangenen zwanzig Monaten hatte sie als einzige Ausflüge aus der Stadt einige Wochenenden in Barrackpur verbracht, dem offiziellen Landsitz des Generalgouverneurs. Die Reise »ins Landesinnere« würde lang, wahrscheinlich auch langweilig und bestimmt äußerst unbequem werden. Doch sie war mit allem einverstanden, wenn es nur einen Ortswechsel bedeutete und ihr die dauernde Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit ersparte, die ihr jegliche Energie raubten und ihre Haut mit einem »delikaten Gelbton« überzogen hatten.
Diese Kavaliersreise war ein Unterfangen von mammutartigen Größenordnungen. George rechnete von vornherein damit, daß sie achtzehn Monate unterwegs sein würden, aber er warnte seine Schwestern, sich nicht darauf festzulegen; man konnte unmöglich voraussagen, wie schnell oder langsam in vorsichtigen Verhandlungen irgendeine Einigung mit Ranjit Singh erzielt würde. Zahlreiche Unterbrechungen der Reise waren vorgesehen, um Feste für die Fürsten und Radschas zu geben, durch deren Gebiete die Karawane zog, und auch, um die Einladungen dieser Herrscher wahrzunehmen. Da man in den heißen Sommermonaten unmöglich reisen konnte, planten sie für diese Zeit einen langen Aufenthalt in Simla. Wie schnell sie vorankamen, hing auch von der Größe der offiziellen Entourage ab. Der Haushalt des Generalgouverneurs und die Bediensteten stellten mit fünfhundert Personen nur einen kleinen Bruchteil des ganzen Reisetrosses dar. Ein Begleitregiment von achttausend Mann sollte mitmarschieren, ebenso militärische und politische Berater, Aides-de-camp, Ärzte, Beamte und Geistliche, jeweils mit ihren Familien und Bediensteten. Dazu Lastenträger, Köche, Schneider und Boten, Kamel- und Elefantentreiber und Pfleger für achthundertfünfzig Kamele, hundertsechzig Elefanten und Tausende von Pferden. Hunderte Tonnen Lebensmittel und anderer Proviant mußten transportiert werden. Alles in allem würden zwölftausend Menschen von Kalkutta zu der dreitausend Kilometer langen Reise aufbrechen – eine beeindruckende Kavalkade, selbst bei dem aufwendigen Standard in Britisch-Indien.
Der Großteil des mächtigen Trosses verließ Kalkutta schon vorher, um auf dem Landweg nach Benares zu gelangen. George, Emily und Fanny legten diese erste Reiseetappe per Boot den Ganges flußaufwärts zurück; der Marsch an sich würde erst beginnen, wenn sie in Benares zu dem Reisezug stießen. Am 21. Oktober 1837 brachen sie auf.
Während der ersten dreieinhalb Wochen, die sie für die tausend Kilometer nach Benares brauchten, war das Wetter so schwül und die Landschaft so monoton, daß Emily sich ernsthaft zu fragen begann, ob das alles tatsächlich dem Leben in Kalkutta vorzuziehen sei. Als sie in Benares zum erstenmal die Zelte erblickte, die von nun an ihr Zuhause sein sollten, mußte sie schlucken: »Wir kamen um fünf Uhr an und fuhren sechs Kilometer durch enorme Menschenmengen und Staubwolken zu unserem Lager. Der erste Abend im Zelt war unbequemer, als ich es mir je vorgestellt hatte. Alle sagten immer wieder: ‹Was für ein wunderbares Camp›, ich dagegen konnte mich nicht erinnern, jemals ein so schmutziges, melancholisches Elend gesehen zu haben.«
Bemerkenswert ist, daß Emily und Fanny zwar sehr viel Zeit miteinander verbringen mußten, sich jedoch von allen Eden-Schwestern am wenigsten ähnlich waren. Sie mochten sich gern, aber in ihren Interessen und Ansichten waren sie Welten voneinander entfernt. Fanny war nur sechs Jahre jünger, aber der Altersunterschied hätte leicht doppelt so groß sein können. Voller Lebenslust und unbeschwert, genoß sie den Aufenthalt in Indien durch und durch. Die Hitze schien ihre Lebensgeister geradezu anzuregen. Von Kalkutta aus hatte sie schon öfter zusammen mit William und seinen Freunden Ausflüge »aufs Land« unternommen und war ein alter Hase in dem, was Emily voller Abscheu »dieses unstete Leben« nannte. Die unterschiedliche Einstellung zum Leben spiegelte sich in den persönlichen Einstellungen der beiden zu ihren Zelten: Während Emily ihres »Elendshalle« und das von George »Ekelspalast« schimpfte, taufte Fanny ihr Zelt »Feenschloß« und schwor, daß sie recht glücklich bis an ihr Lebensende darin leben könnte.
Emilys »melancholisches Elend« bestand aus vier privaten Zelten für den Generalgouverneur und seine Verwandten; jeder hatte eines für sich, Emily und Fanny dazu noch gemeinsam eine Art Salonzelt, das das Viereck vervollständigte. »Elendshalle«, »Ekelspalast« und »Feenschloß« waren jeweils unterteilt in Schlafzimmer, Ankleideraum und Wohnzimmer, alles reichlich mit spitzenbesetzten Wandbehängen ausgestattet und durch Gänge miteinander verbunden. Neben dem Zelt des Generalgouverneurs stand noch ein großes Festzelt für offizielle Dinnerpartys und daneben ein noch prächtigeres Durbar-Zelt, in dem George größere Empfänge und Bälle geben konnte. Von diesem Zentrum aus erstreckte sich der Rest des Lagers, ein Zelt neben dem anderen in richtiggehenden Straßenzügen angeordnet – Küchenzelte, Zelte für die Stallungen, Krankenzelte und natürlich Schlafstätten für den gesamten Begleittroß. Doch obwohl Emily diesen Anblick zugegebenermaßen beeindruckend fand, konnte sie sich doch nicht dazu durchringen, ihn auch noch schön zu finden: »Es hat einfach etwas Lagerartiges, Instabiles«, schrieb sie. »Ich habe immer schon richtige Häuser vorgezogen, und das wird auch weiterhin so sein.«
Täglich mußte diese kleine Stadt abgerissen und wieder aufgebaut werden. Emily, Fanny und George hatten sich schon bald daran gewöhnt, daß ihnen ihre Möbel jeden Abend buchstäblich unter dem Allerwertesten weggezogen wurden, damit man für den frühzeitigen Aufbruch zusammenpacken konnte. Allerdings bestand ihr Mobiliar keineswegs aus Klapptischen, Gartenstühlen und Papptellern. Schließlich repräsentierte der Generalgouverneur den Union Jack: Abends gab es ein ausgeklügeltes Menü an richtigen Eßtischen und vom besten Porzellan des Regierungssitzes in Indien, den Erdboden bedeckten dicke Teppiche; sogar die kompletten Bühnenbilder, Requisiten und Kostüme eines Theaters führte man ständig mit, damit den geladenen Gästen nicht etwa langweilig würde. Wenn die gesamte Kolonne unterwegs war, erstreckte sie sich über fast zwei Kilometer; oft traf das vordere Ende schon am Etappenziel ein, bevor die Nachhut das Camp des Vortages überhaupt verlassen hatte.
Obwohl Emily ständig darüber schimpfte, jeden Morgen um halb sechs aufstehen und um sechs Uhr unterwegs sein zu müssen, war sie doch froh über die Regelung, daß niemand vor dem Generalgouverneur aufbrechen durfte.
So entgehen wir wenigstens all dem Staub. Die Hälfte der Strecke bringen wir auf dem Rücken eines Elefanten hinter uns, die andere zu Pferde. Zu dieser Tageszeit ist es angenehm kühl, wirklich schönes Wetter. Manchmal legen wir nur sieben oder acht Meilen zurück. Irgendwie scheint es schon absurd, zwölftausend Menschen mit all ihren Kamelen und Elefanten und Pferden und Zelten und Kisten so ein kurzes Stück durch die Gegend zu bewegen, aber es geht eben nicht anders.
Je weiter sich die riesige Kavalkade westwärts schob, um so weniger Gedanken machte sich Emily über ihre persönlichen Unannehmlichkeiten. Der Regierungssitz in Kalkutta war weitgehend ein Elfenbeinturm, in dem Emily und Fanny und zu einem gewissen Grad auch George weit am Großteil der indischen Bevölkerung vorbeilebten. Jetzt sah sie zum erstenmal das reale Indien. Wirkliche Menschen, wirkliche Gerüche, eine wirkliche Landschaft. Mit einem Blick, der nicht durch ihre abgeschirmte Existenz und schwere gußeiserne Gitter beeinträchtigt wurde, sah sie sicherlich nicht nur angenehme Dinge, und wenn ihre empfindliche Nase oder ihr Künstlerauge verletzt wurden, zögerte sie keineswegs, das auch zum Ausdruck zu bringen: »Das Fazit meines Indienaufenthaltes ist, daß es sich um die malerischste Mischung von Menschen handelt, die ich je gesehen habe, und um die häßlichste Landschaft, die man je zusammengewürfelt hat.« Das war ihr Urteil nach einem Monat Reisen. Dennoch war sie auf erfrischende Weise frei von den scheinheiligen Vorurteilen, die spätere Generationen von Anglo-Indern so schwer befallen sollten: »Ich wünschte, Du bekämst zur Abwechslung einmal ein kleines braunes Baby«, schrieb sie an eine ihrer gebärfreudigen Schwestern. »Sie sind so viel hübscher als weiße Kinder.«
Nach England sehnte sie sich noch immer, und die Höhepunkte ihrer Reise waren die Tage, an denen die dak, die Postboten, im Camp vorbeikamen. Die Nachrichten von den Vorbereitungen für die Krönung der jungen Königin Viktoria versetzten sie in helle Aufregung. Genau diese Art von Ereignissen liebte sie über alles, und sie konnte es fast nicht ertragen, all die Feierlichkeiten zu verpassen. Allerdings gab es genügend Ausgleich, zum Beispiel ihren Besuch bei einem besonders reichen Maharadscha in der Nähe von Allahabad. Er schickte ihnen sogar seine eigenen Elefanten, die sie zum Palast brachten. Als sie in der Abenddämmerung dort eintrafen, war nicht nur der Palast hell erleuchtet, sondern auch das ganze Dorf. Millionen kleiner Öllämpchen zierten jede Tür, jeden Torbogen und jeden Fenstersims. Emily war beeindruckt.
Eine so unglaubliche Festbeleuchtung habe ich bisher noch nicht gesehen. Auf Elefanten ritten wir wie Timur der Tatar durch das große Eingangstor in den Hof. All die Fackeln und Trommeln und Speerträger und überhaupt die Menschenmenge – es erschien mir wie ein Melodrama, das man, ins Unendliche vergrößert, durch ein Mikroskop betrachtet. Vor dem Tor eines unglaublich großen Hofes stiegen wir ab, während die Diener des Maharadschas für uns einen Teppich aus scharlachrotem und goldenem Brokat ausbreiteten. Wenn man sich vor Augen hält, daß der halbe Meter mehr als ein Pfund kostet und ich gerade festgestellt hatte, daß ich mir das für ein Abendkleid nicht leisten konnte, dann war es eine Schande, einfach darauf herumzutrampeln.
Die Strapazen, die sie hinnehmen mußte, erschienen völlig unbedeutend im Vergleich zu den Entbehrungen der Briten in den entlegeneren Siedlungen. Emily konnte sich ganz und gar nicht vorstellen, wie sie überhaupt jene »schreckliche Einsamkeit« überstanden. Sie fand es furchtbar, wenn sie an das isolierte, abgeschiedene Dasein dachte, das die Briten selbst in Bengalen und den anderen Protektoraten führten, obwohl dort so viele Militärangehörige und zivile Beamten mit ihren Familien lebten, daß man schon von einer »Ausländergemeinde« sprechen konnte.
Die Ankunft des Generalgouverneurs und seiner mächtigen Entourage war deshalb für »diese armen, vergessenen Wesen« ein Ereignis, dem sie entgegenfieberten. Die Präsenz von Lord Auckland und seinen berühmten Schwestern mußte ihnen wie ein Gottesgeschenk erscheinen, dazu noch der riesige Begleittroß – plötzlich waren sie von mehr Landsleuten umgeben, als sie in Jahren an einem Ort gesehen hatten. Eine einmalige Gelegenheit, lang vergessene Freuden wiederzubeleben: sich herauszuputzen, zu tanzen, vertraute Musik zu hören und sogar gepflegte Konversation zu treiben, falls die Gehirne von der Einsamkeit noch nicht allzusehr in Mitleidenschaft gezogen waren.
Wieviel den Anglo-Indern ihre Anwesenheit bedeutete, merkte Emily daran, daß ihre Gäste bereitwillig anstrengende Dreitagesreisen auf sich nahmen, nur um bei einem offiziellen Mittagessen dabeizusein. Bei Emily bewirkte die Freude, mit der ihre Landsleute diesen dringend benötigten Kontakt mit ihresgleichen begrüßten, eine deutliche Steigerung ihres Selbstwertgefühls. Wenn es Aufgabe von George war, die Beziehungen zu den Herrschern der autonomen Staaten, durch die sie reisten, zu verbessern, dann war es Fannys und ihre Sache, alles zu tun, um das »Elend« der dort ansässigen Briten zu vermindern. Ihretwegen ertrug sie einen schier endlosen Reigen von Partys, Bällen und Empfängen, bewunderte die Abendtoiletten der Damen und teilte ihre nostalgischen Gefühle für Kricket, kalte Temperaturen und andere heimatliche Genüsse. Sie hörte den Menschen, die ihr das Herz ausschütteten, so interessiert und teilnahmsvoll wie möglich zu, »obwohl viele von ihnen schon so lange im Dschungel leben, daß es auch mit ihren Manieren ziemlich vorbei ist – sozusagen vom Urwald ausgetrieben. Glücklicherweise spielt die Kapelle auch während des Essens so laut, daß der Großteil der Unterhaltung dabei untergeht.«
Ihr Mitgefühl galt vor allem den jungen, alleinstehenden Männern, hauptsächlich Plantagenbesitzern, Händlern und zivilen Angestellten der Ostindischen Kompanie, die außerhalb des britischen Territoriums leben und arbeiten mußten. Für Emily schien deren Schicksal die schlimmste aller vorstellbaren Qualen zu sein: »Wie sehr müssen manche dieser jungen Männer ihr Leben doch verfluchen! Letzte Woche haben wir einen getroffen, den wir aus Kalkutta kannten, und er wurde fast verrückt vor Freude, uns zu treffen. Drei Monate lang kein europäisches Gesicht zu sehen und kein einziges englisches Wort zu hören, sei so schrecklich, daß man das seiner Meinung nach kaum beschreiben könne.« Sie hörte voller Schaudern, daß er gegen Ende der Regenzeit, wenn Gesundheit und Laune ihren absoluten Tiefpunkt erreicht haben, das sichere Gefühl hatte, sterben zu müssen, und niemand wäre dagewesen, der ihn hätte begraben können. Noch bezeichnender fand Emily ihr Zusammentreffen mit dem Stiefsohn von »Mrs. O.«, einer ihrer Bekannten aus London: »... der, dessen Bild sie ständig mit sich herumtrug, weil er so ein wunderschönes Geschöpf war.« Jetzt war dieser Adonis »ein glatzköpfiger, fahler, zahnloser alter Mann, der außer von der Tigerjagd von nichts mehr eine Ahnung hat. Laß bloß keinen Deiner Söhne nach Indien«, warnte sie ihre Schwester Eleanor, »das ist die Lehre aus alldem. Und denke immer daran, daß auch ich als alte, schwache Frau aus Indien zurückkehren werde.«
Während der ersten beiden Monate ihrer Reise war Emily allerdings alles andere als schwach. Da sie so viel Mitgefühl für ihre Landsleute empfand, trat ihr typisches Selbstmitleid vorübergehend so weit in den Hintergrund, daß sie zugab, sich zu amüsieren. In jedem ruhigen Moment nahm sie sich ihr Skizzenbuch vor und hatte bald ein ansehnliches Portfolio mit vielen Zeichnungen und Aquarellen von Menschen, Tempeln, Statuen und Landschaften beisammen. In ungewohnter Unternehmungslust zog sie sogar ab und zu auf eigene Faust los, um besonders beeindruckende Szenerien festzuhalten.
Doch ihre gute Laune sollte nicht andauern. Zum Jahreswechsel 1837/38 schob sich die gewaltige Karawane durch das Königreich Audh. Der König hieß sie so aufwendig willkommen, wie sie es bisher noch nirgendwo erlebt hatten, und seine Paläste entsprachen in ihrer Pracht inzwischen dem gewohnten Bild. Doch wo Emily angesichts des vielfarbigen Kaleidoskops von Indien erst die Augen übergegangen waren und sie sich dann geblendet fühlte von der Opulenz, mit der man sie empfing, sah sie nun direkt das Elend hinter den großartigen Fassaden. Bei dieser ersten Konfrontation trieb es ihr die Tränen in die Augen. Als sie Kanpur verließen, bot sich ihnen die ganze Tragödie von Indien dar.
Jetzt kamen wir in die Hungergebiete. Seit anderthalb Jahren hat es hier nicht mehr geregnet, alles Vieh ist weggestorben. Auch die Menschen sind fortgegangen oder gestorben. Das Elend ist furchtbar, man kann sich diese schrecklichen Dinge gar nicht vorstellen, die wir hier zu Gesicht bekommen. Besonders die Kinder sind zum Großteil nur mehr Skelette, ihre dünne Haut spannt sich über den Knochen, sie haben keinen Fetzen Kleidung am Leib und ähneln kaum noch menschlichen Wesen. Ihr Anblick ist unbeschreiblich; die Frauen sehen aus, als seien sie schon begraben, ihre Schädel sind einfach schreckenerregend. Ich glaube, mit so einem verhungernden Kind gäbe es kein Verbrechen, das ich nicht für ein bißchen Nahrung begehen würde. Ich darf gar nicht aufhören, über das Unrecht dieser ganzen Sache nachzudenken.
Es war typisch für Emily, daß sie dieser Tragödie nicht den Rücken kehrte. Für sie galt die strikte Tradition des noblesse oblige. Wo viele ihrer Zeitgenossen eher das parfümierte Taschentuch fest vor die empfindliche Nase gedrückt hätten und schnellstens vorbeigeeilt wären, sah Emily es als ihre Pflicht an zu helfen, wo sie nur konnte.
Als ich gestern vor dem Frühstück zu den Ställen ging, fand ich ein elendes kleines Baby, das eher wie ein uraltes Äffchen aussah, aber mit ganz stumpfen, verschleierten Augen. Du hättest sicher geweint, wenn Du gesehen hättest, mit welcher Hast das kleine Etwas auf eine Tasse Milch flog. Inzwischen haben wir die Mutter gefunden, aber sie ist auch nur ein Skelett und sagte uns, daß sie schon seit einem Monat kein Essen mehr für das Baby hatte. Dr. Drummond meint zwar, daß das Kleine schon zu unterernährt ist, um zu überleben, aber ich will versuchen, es durchzubringen.
Dank Emilys Fürsorge überlebte das Kind tatsächlich. Aber mehr als achthunderttausend Menschen fielen dieser Hungerkatastrophe zum Opfer. Obwohl die Küchenmeister im Troß des Generalgouverneurs den Hungernden zukommen ließen, so viel sie nur konnten, verschlimmerte die Anwesenheit von zwölftausend zusätzlichen Menschen die Lage nur noch. Zwei Wochen lang waren sie so schnell wie möglich unterwegs, um aus dem Hungergebiet herauszukommen. Keine Festlichkeiten mehr, keine Zeit zum Skizzieren und Malen, kaum Erholungspausen. Der Staub schien sich überall festzusetzen, die Straßen wurden immer schlechter, und die Hitze, die sie eine Weile verschont hatte, schlug wieder unerbittlich zu. Als sie Ende Februar Delhi erreichten, war Emily vollkommen erschöpft.
Die Gegensätze von Hunger und Überfluß, von nie gesehener Armut und groteskem Reichtum und überhaupt die Konfrontation mit all den indischen Widersprüchlichkeiten, Frustrationen und Unzulänglichkeiten hätten Emily Indien gänzlich verleiden können. Doch obwohl sie weiterhin über das Klima, die Landschaft und vor allem über die Tatsache schimpfte, daß sie hier war anstatt in ihrem geliebten England, entwikkelte sie doch echte Sympathie für das Land und seine Bewohner. Anfangs war ihre instinktive Reaktion auf alles Fremdländisch-Indische eine etwas spöttische Ungläubigkeit. Beschreibungen und Anekdoten, mit denen sie ihre Briefe ausschmückte und die ihren Empfangern so viel Vergnügen bereiteten, hatten eher Karikaturen geglichen. Das änderte sich jetzt. Je mehr sie kennenlernte, um so größer wurde ihr Respekt für die Menschen, die in diesem riesigen Land lebten. Je deutlicher sie die Position der Engländer in Indien als Anomalie empfand, um so mehr wurden anstelle der Inder ihre eigenen Landsleute zur Zielscheibe ihres Mißfallens. Während sie in besonderen Fällen Mitleid hatte, war sie nun schnell dabei, die Auswüchse im Verhalten der Gruppe insgesamt zu kritisieren. »Ich mag Engländer außerhalb ihres eigenen Landes nicht besonders«, schrieb sie aus Delhi. »Diese Stadt ist ein eindrucksvolles Lehrbeispiel. Solche unglaublichen Überreste von früherer Macht und einstigem Reichtum sind jetzt im Verschwinden begriffen, und irgendwie fürchte ich, daß wir schrecklichen Engländer hier gnadenlos zugeschlagen haben ... einfach dahergekommen, alles ausgebeutet und verdorben haben.«
Von Delhi aus bewegten sie sich endlich nach Norden auf das Gebirge zu. Doch die sechswöchige Etappe bis Simla wurde der deprimierendste Teil der bisherigen Reise. »Unsere Schwierigkeiten werden von Tag zu Tag größer«, lamentierte Emily. »Die Straßen sind in einem derart teuflischen Zustand – es tut mir leid, aber ich finde keine anderen Worte dafür –, und ich bin so erschöpft, daß ich mich kaum noch auf einem Pferd halten kann.« Am schlimmsten aber war die Tatsache, daß der »liebe George« in sehr schlechter Stimmung zu sein schien.
Tatsächlich war der »liebe George« völlig am Ende seiner Kräfte vor Sorgen und Frustrationen, denn seine Kundschafter in Afghanistan schickten ihm immer beunruhigendere Berichte über die dortige Situation. Alle Versuche, Dost Mohammed zu einer Allianz zu überreden, waren fehlgeschlagen. Die Stadt Herat in Westafghanistan wurde von einer persischen Armee belagert, die von den Russen unterstützt, finanziert und wahrscheinlich auch befehligt wurde. Angeblich befanden sich überall russische Spione, und Lord Auckland wußte, daß die Zeit knapp wurde. Wenn er nicht bald handelte, konnte Herat fallen, für die Russen wäre damit über Kandahar der Weg nach Indien frei, und die gefürchtete Invasion könnte stattfinden. Aber Emily vertraute derart unbeirrt auf die Fähigkeiten ihres Bruders, daß ihr nie in den Sinn kam, er könnte die Situation nicht völlig unter Kontrolle haben – selbst wenn sie nie richtig verstanden hatte, was in Afghanistan eigentlich vor sich ging. Deshalb schob sie seine irritierte Stimmung auf die Strapazen der Reise.
Mitte März erreichten sie die Vorgebirge des Himalaja. Von nun an kamen sie wegen der steilen, gewundenen Bergstraßen noch langsamer voran, aber allein der Anblick der Berge und die Aussicht auf kühleres Wetter verbesserten Emilys Laune erheblich. Sie ließ sich sogar klaglos von ihren Trägern in einer offenen Sänfte über abgrundtiefe Schluchten tragen, wobei sie nur höflich darum bat, man möge doch nicht um die Wette rennen ...
Schließlich trafen sie am 3. April in Simla ein. Emily war außer sich vor Freude: