Was das Haben mit dem Sein macht

Jens Förster

Was das Haben mit dem
Sein macht

Die neue Psychologie von Konsum
und Verzicht

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Inhaltsübersicht

Über Jens Förster

Jens Förster, 1965 geboren, studierte Psychologie, Philosophie und Deutsche Literatur. Ab 2008 war er Professor für Psychologie an der Universität Amsterdam und zugleich Direktor des Kurt-Lewin-Instituts. Seit 2014 ist er Professor an der Ruhr-Universität Bochum.

Impressum

© 2015 der eBook-Ausgabe Pattloch eBook

© 2015 Pattloch Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Wünsch

Covergestaltung: Network! Werbeagentur GmbH

ISBN 978-3-629-32088-9

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Fußnoten

Dass die Interessen derer, die den Supermarkt betreiben, nicht unbedingt »fair« sein müssen, sondern auch rein kommerziell sein können – sie also sozusagen die ökologische Bewegung kommerzialisieren –, das steht auf einem anderen Blatt. Der Käufer steht hier im Fokus, und der denkt mit einigem Recht, dass er sich ethischer verhält, wenn er sein Geld in einem dieser Märkte lässt.

Welche Reize es letztendlich sind, auf die wir hereinfallen, ist in vielen Büchern Thema. In diesem Buch werde ich die Tricks der Marketingexperten weniger betrachten, da es auf meiner Ebene der Analyse nichts ausmacht, ob Sie die Milch kaufen, weil sie in der hellblauen Verpackung leichter aussieht als die dunkelblau verpackte, weil sie in Augenhöhe stand oder weil eine Werbedame Ihnen nett zugelächelt hat. Ich empfehle Interessierten die Bücher von Paco Underhill und Wolfgang Ullrichs Habenwollen.

Übrigens, wenn Sie einmal ein Ding loswerden wollen, dann schmeißen Sie doch Ihre Waage weg. Ich habe zur Selbstkontrolle schon Wesentliches in meinem Buch Unser Autopilot gesagt, in diesem Zusammenhang sei hinzugefügt: Die Hose, die Sie haben, ist ein ausreichendes Messinstrument der Körperfülle – die Dezimalstellen hinter dem Komma, die moderne Waagen anbieten, sind lediglich trügerische Anzeichen dafür, dass man abgenommen hat, und verleiten dazu, sich als Belohnung für diesen tollen Erfolg die Pizza double cheese kommen zu lassen.

Hier kann ich mir den Hinweis auf die Studie von Belk und Kollegen aus dem Jahr 1982 nicht verkneifen, in der Kinder bis zu 1000 Logos und Marken erkennen konnten, jedoch bei der Identifikation von Gemüsesorten arge Probleme hatten.

Die erste Mutter, die ihr Kind Lidl tauft, bekommt von mir ein Jahr lang jede Woche zwei Pfund Mett von Aldi. In Bio-Qualität.

Das Beispiel habe ich frei nach Niko Paechs Buch Befreiung vom Überfluss entwickelt, der sich vor allem mit den verheerenden Folgen von Transportwegen und Billiglohnländern auseinandersetzt.

Vermutlich muss er an Ostern nicht gemeinsam mit der Sippe die Kreuzigung Jesu schauen – etwas, was meine Oma in Ostwestfalen alljährlich forderte. Monatelang hatten wir Kinder danach Alpträume, und Jesus war damals für uns ein Protagonist aus einem Horrorfilm. Meine Oma war übrigens nicht gläubig, meinte aber, dass man aus der Bibel sehr viel lernen könne.

Die Kollegen Tilo Strobach und Torsten Schubert zeigen zum Beispiel, dass action gamer bei exekutiven Funktionen, die beim »multiple tasking« gebraucht werden, im Vorteil sind.

Diese Argumentation ist so verbreitet und so wenig durchdacht, dass sie auch von weniger Armen ins Feld geführt wird: Im Jahr 2012 gaben 43 Prozent Teilnehmer einer amerikanischen Studie von Leiserowitz und anderen an, dass sie sich die kostspieligen Maßnahmen zur Minderung der globalen Erwärmung aufgrund der Wirtschaftskrise schlichtweg nicht leisten können.

Ein Flug nach Australien beläuft sich auf 14,5 Tonnen CO2.

Ein hoffnungsloser Fall sind Schuhe. Meine Rechtfertigung: Ich bin das Kind einer Lederwarenstepperin. Ich beschränke mich auf den Kauf von einem Paar per Monat. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Andererseits kann es sein, dass wir in materialistischen Gesellschaften unsere Habenziele konkreter vor Augen haben als Seinsziele, weil wir Letztere nicht so oft verfolgen.

Das wurde zum Beispiel auch darin deutlich, dass Probanden »eine Familie haben« oder »einen Master haben« in die Spalte mit den Seinszielen schrieben.

In Köln ist »für den Fall, dass ich das Karneval mal brauchen kann« eine häufig gebrauchte Entschuldigung für solche Verirrungen. Das sorgt für überquellende Keller und Speicher.

Im Englischen gibt es die Bezeichnung so wenig wie das »Handy«, da spricht man von »compulsive hoarding«.

Aus diesem Grund ist es widerlich, sie in effektheischenden Realitysoaps vorzuführen. Das erinnert an die Jahrmärkte in grauer Vorzeit, als man behinderte Menschen oder solche, die anders aussahen, zur Schau gestellt hat.

Für Näheres siehe mein Buch Unser Autopilot.

Ja, es gibt auch hortende Tiere wie Eichhörnchen oder andere Nager. Aber bei ihnen ist das ein höchst unflexibles genetisch determiniertes Verhalten, das nicht dem freien Willen unterworfen ist, und erfüllt andere Funktionen.

Das wäre freilich allein die psychologische Perspektive, denn langfristig scheint das gesellschaftliche Horten, wie die Wachstumskritiker zeigen, ja ohnehin dysfunktional zu sein, wenn wir mit einem viel zu großen ökologischen Fußabdruck unsere Lebensgrundlage, den Planeten, unbewohnbar machen.

Bei einem Flug werden 3570570 kg CO2 verschleudert. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen beträgt 2300300 kg. Hier kann man den Verbrauch schnell ausrechnen: www.atmosfair.de

Für viele Niederländer und Amerikaner ist das prototypische »deutsche« Verhalten, an einer roten Ampel zu warten, selbst wenn es vier Uhr nachts ist und weit und breit niemand zu sehen. Es symbolisiert für sie eine Regelversessenheit der Deutschen, einschließlich der Angst, Verbotenes zu tun, selbst wenn ein Verbot in ihren Augen unvernünftig ist.

So konnte ich ironischerweise Fromms Haben oder Sein als PDF online finden.

Man würde ihm vermutlich eher finanzielle Probleme unterstellen.

Allerdings habe ich in den letzten zwei Jahren, infolge des Experiments, Konsum zu reduzieren, auf das Geschenkemachen verzichtet. Mit unerwarteten Konsequenzen: Meine Freunde fanden es wunderbar, dass auch sie nun keinen Stress mit mir bzw. einem Geschenk für mich hatten, und einige haben den Geschenkeboykott sogar kopiert. Stattdessen trafen wir uns zum Brunchen oder Abendessen, und das war ein sehr schönes »Erlebnisgut«.

Außerdem gibt es als Bonus für unseren 100. Einkauf eine Yoga-Matte – das haben wir nicht vergessen und halten uns ran, obwohl wir schon eine haben …

Natürlich kann man für alles bezahlen. Ich kannte vereinsamte Leute in Köln-Marienburg, die Schauspieler dafür bezahlten, sich mit ihnen zu unterhalten.

Mal abgesehen davon, dass einige Künstler die Natur auf höchst kreative Weise in ihre Kunst integrieren. Man denke an Beuys‘ Kunstaktion, 7000 Eichen zu pflanzen.

Dies freilich nur, wenn es sich dabei nicht um einen Broterwerb handelt, der unter menschenunwürdigen Bedingungen stattfindet. Ausbeuterische Arbeit war der Fokus von Karl Marx’ Analyse in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten. In der heutigen Zeit aber erleben Menschen auch Gefühle der Entfremdung an schön geputzten Schreibtischen und bei gutem Lohn.

Hinzufügen möchte ich lediglich noch, dass ich bestimmte Seinsziele nicht näher besprochen habe, weil sie kaum untersucht wurden. Dazu gehören neben der Weisheit die Dankbarkeit und auch der Ausdruck, den man bei Künstlern als Ziel erkennt. Der Wunsch, einzigartig zu sein, findet sich jedoch weiter unten in den Quellen für Seinsziele.

Es ist im Übrigen unerheblich in der systemischen Therapie, ob das der »wirkliche« Grund ist. Es ist für den Klienten lediglich eine Möglichkeit zum Verständnis dysfunktionalen Verhaltens, die genauso konstruiert worden sein kann wie eine »genetische Disposition zum Raffen« oder ein »frühkindlicher Konflikt«. Der Zugang zu dahinterliegenden Motiven ermöglicht allerdings einen neuen Zugang zu einem derzeitigen »Problem« – und die Möglichkeit, es symbolisch an die Elterngeneration zurückzugeben, da, wo es hingehört.

Diese und weitere Fallbeispiele sind freilich bis zur Unkenntlichkeit verändert worden, um Anonymität zu gewährleisten. Sie dienen der Illustration. Viele weitere Beispiele finden Sie in Sabine Bodes Büchern zum Thema.

Vielleicht muss Brot einfach wieder teurer werden, damit es wertgeschätzt wird? Wenn man bedenkt, dass man teures Brot eher vollständig verwertet, dann ist es letztendlich gar nicht mehr so teuer. Es ist dieselbe Rechnung, die man aufmachen kann, wenn man den Rest der fantastischen Pizza eines Könners mit nach Hause nimmt und am anderen Tag mit Genuss isst – im Vergleich zu einer Tiefkühlpizza, die kalt völlig ungenießbar ist. Aber ich habe gut reden, als Professor …

Wie oben schon beschrieben, können selbst Seinsziele als Pflichten verstanden werden, wenn sie zu »Must Dos« werden, wie Yogakurse, Hochzeiten oder Fußballspielbesuche mit dem Chef. Es hängt also davon ab, wie wir Ziele kommunizieren bzw. wie sie konstruiert werden, damit sie auf einen jeweiligen Fokus passen.

Dem aufmerksamen Leser mag nicht entgangen sein, dass mir hier ein Seinszustand (Beobachten) geholfen hatte.

Ja, in dieser würdelosen Situation war mir mein Selbstexperiment zu freiwilligem Verzicht für einen Tag lang scheißegal.

Wer mehr zum Thema »Selbstexpansion« wissen möchte, sollte das äußerst unterhaltsame Buch Wir sind, was wir haben von Annette Schäfer lesen.

Der ein oder andere Leser hat das sicherlich als Jugendlicher versucht und somit die Grenzen spielerisch ausgelotet.

Tatsächlich ist in vielen Studien (siehe aber die Zusammenfassung von Jones, DeBruine & Little) das attraktivste Gesicht dasjenige, das man erhält, wenn man Hunderte Gesichter von gewöhnlichen Menschen übereinander kopiert – ein besseres Beispiel für »Mainstream« gibt es wohl kaum.

Man könnte auch die neue (?) Marketingidee des Individualisierens hinzuzählen. Manche Produzenten erlauben es dem Käufer, bestimmte Merkmale zu verändern. So bieten Autohändler häufig eine Palette von Zubehör und Varianten für Innen- und Außengestaltung an, und im Internet findet man immer mehr Kleidungshersteller, die einem beispielsweise die Wahl zwischen verschiedenen Farbkombinationen (getrennt für Futter, Reißverschluss oder Kapuze) lassen, die dann scheinbar individuell für den Kunden umgesetzt werden.

Ich war noch in keiner niederländischen Wohnung, wo der nicht hing.

Dem aufmerksamen Leser mag aufgefallen sein, dass ich Kontrolle und Sicherheit beim Sein ein gemeinsames Kapitel gewidmet habe. Dies lag daran, dass die meisten beschriebenen Phänomene zeigten, wie Menschen Kontrolle aus Situationen der Unsicherheit gewinnen. Dies ist allerdings ein Fall, wo Kontrolle und Sicherheit konträr zueinander laufen, denn nur in Situationen der Sicherheit gibt man auch gern einmal Kontrolle ab.

Die beste Illustration dieser Neigung, durch Denken Isolation zu überstehen, ist Stefan Zweigs Schachnovelle, in der ein Gefangener ein Schachbuch auswendig lernt, um zu überleben, und zum Schachprofi avanciert. Allerdings nimmt das dann ein böses Ende, als er das Buch in- und auswendig kennt und ihn selbst das nicht mehr stimuliert …

Natürlich handelt es sich sowieso häufig nicht um ein Entweder-oder, sondern um die Gewichtung. Aber gerade die Fälle, bei denen Haben- und Seinsziele miteinander in Konflikt stehen, sind ja spannend.

Es ist zum Beispiel selten der Fall, dass ein Professortitel das Verlangen nach einem weiteren weckt, und wissenschaftliche Preise sind so begrenzt und die Vergabe häufig so wenig kontrollierbar, dass man gar nicht auf die Idee käme, sie sich überhaupt zum Ziel zu setzen. Allerdings kann man prinzipiell gesehen die Wahrscheinlichkeit von Preisen (künstlich) erhöhen, um einen Wettbewerb zu erschaffen, der einem Gerangel nach Besitz ähnelt – Weine haben oft haufenweise Medaillen, und es gibt zahlreiche Filmfestivals. In diesen Fällen wird man ebenfalls Raffen beobachten können.

Experten mögen es als unbefriedigend empfinden, dass ich »Subjective well-being« (SWB) im Folgenden mal mit Glück, mal mit Lebenszufriedenheit und dann wieder mit positiver Stimmung oder Zufriedenheit übersetze. Natürlich ist es für viele Forschungsprojekte wichtig zu differenzieren, wie man positive Stimmung oder Zufriedenheit misst. Der hier interessierende Zusammenhang zwischen SWB und Materialismus zeigt sich jedoch auf allen verwendeten Affektmaßen, so die Meta-Analyse von Helga Dittmar und anderen. Die Stärke des Zusammenhangs wird allerdings durch die Wahl des Maßes moderiert; eine Diskussion dieser durchaus interessanten Moderationen würde den Rahmen des Buches sprengen und ist in diesem Fall wohl auch nur für wenige von Belang. Hier sei auf die Originalanalyse verwiesen.

Der üblicherweise durch selbstwertdienliche Gedanken reduziert wird, wie »Helmut Schmidt raucht wie ein Schlot und lebt immer noch«.

Auf so mancher Hochzeit habe ich das Nationalgericht Fritten mit Majo zwischen Kirchgang und Party gegessen, weil sich das Paar das Essen sparte.

In den niederländischen Medien ist die Diskriminierung gläubiger Menschen in der Wissenschaft öfter Thema.

Wer es differenzierter wissen möchte, sollte sich mit dem Artikel von Diener, Ng, Harter & Arora aus dem Jahr 2010 befassen. Darin zeigt das Team, dass es darauf ankommt, auf welche Art Glück oder Zufriedenheit und auch Reichtum erfasst werden. So ist das spontane Erleben von guter Stimmung eher abhängig von sozialpsychologischem Reichtum, das heißt davon, ob man Freunde hat, auf die man sich verlassen kann, während die allgemeine Beurteilung des eigenen Lebens positiv mit dem jährlichen Einkommen korreliert.

Es handelt sich also um eine sogenannte kurvilineare Beziehung.

Dies zeigt ebenfalls eine neuere Untersuchung von Jonathan Gardner und Andrew Oswald zur Lebenszufriedenheit von Lottogewinnern. Sind die Gewinne sehr hoch, erleben die Gewinner zwar in den ersten Wochen eher Stress als Glückseligkeit – dafür geht es ihnen zwei Jahre danach deutlich besser als Menschen, die keinen oder kleine Gewinne erworben hatten. Allerdings, so zeigen neuere Studien, trinken sie wohl auch mehr.

Als Deutscher fragt man sich vielleicht, warum ich diese Bewegung nicht einfach »grün« genannt habe. Es ist sicherlich so, dass viele Grüne darunter sind, weil sich die Werte nun einmal überschneiden. Allerdings gibt es in den untersuchten Ländern nicht immer grüne Parteien, und letztlich finden sich auch manchmal sehr konservative oder sozialdemokratische Wähler in dieser Bewegung. Es ist vielleicht anekdotisch, aber der Spiegel berichtete, dass mancher Ökohof inzwischen von Nazis geführt wird.

Auch bei Veganismus (ebenfalls eine Form des Verzichts) vermute ich, dass Identitätssuche und Zusammengehörigkeit mitbestimmende Motive sind. Wir werden bald Forschung zu diesem Thema in Bochum betreiben.

Den Beschenkten dürfte es letztendlich egal sein, warum sie beschenkt werden. Zum Beschenkt-Werden fehlen jedoch empirische Befunde.

Ich empfehle zur Lektüre Hans-Werner Bierhoffs Arbeiten.

Man könnte denken: Gut, der ist ja auch gesund. Aber auch bei Kranken wirkt Achtsamkeit. Man hat selten Schmerzen, die immerwährend gleich intensiv sind, und es geht einem ja nicht immer schlecht. Das ist nicht zynisch gemeint: Ist man achtsam, erfreut man sich sogar an einem Kamillentee.

Diese Geschichte ereignete sich übrigens in einer deutschen Großstadt, und sowohl die Frau selbst wie auch ihr Ehemann sind Akademiker. Wer ein prominentes Beispiel für religiösen Wahn haben möchte, sei an die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff erinnert, die sich nicht entblödete, bei einer Lesung in der Dresdner Staatsoper künstlich gezeugte Kinder als »Halbwesen« zu bezeichnen.

Hier sei daran erinnert, wie lange das Christentum medizinischen Fortschritt verhindert hat – und zu gleicher Zeit sein karitativer Geist zahlreiche Krankenhäuser und Sozialstätten schuf.

Wer sich davon überzeugen möchte, sollte einmal einem Gottesdienst bei Hans Mörtter in der Lutherkirche in Köln beiwohnen. Man sollte aber rechtzeitig kommen, denn die Kirche ist oft voll.

Jeder dritte (!) Hartz-IV-Empfänger leidet unter einer diagnostizierten psychischen Störung, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesarbeitsagentur zeigt.

Vermutlich ist dieselbe Ethik auch der Grund dafür, warum ganze Forscherteams nur nach den negativen Folgen des Partyings suchen.

Mein Bruder zählt allerdings nicht dazu. Sein Urteil über die damalige Performance spiegelte eher frühes musikalisches Verständnis wider.

Ich musste zunächst an die Fototapeten denken, mit denen man früher alle möglichen Räume geschmückt hatte und die heutzutage komischerweise manchmal noch in Arztwartezimmern hängen und, ja, sogar wieder im Kommen sind. Oder an die für Feng-Shui typischen Wasserfall-Bilder. Diese Forschung könnte ein Hinweis auf positive Wirkungen solcher Dekorationen sein.

Kollegen wird es wundern, dass ich im Folgenden von »Typen« spreche. Dies dient allein der einfachen Kommunikation. Eine Kategorisierung in distinkte, stabile Typen ist nicht vorgesehen.

Für Manfred

Vorwort

Es ging mir nicht gut. Der Arzt sagte, ich solle kürzertreten, eine Zeitlang nicht arbeiten. Ich saß zu Hause an meinem drei Meter langen Gesindetisch, an dessen einer Seite ich normalerweise arbeitete und an dessen anderer ich aß. Nun aß ich nicht mehr und arbeitete auch nicht, sondern starrte ins Leere – stundenlang. Midlife-Crisis.

Ich konnte doch eigentlich froh sein in dieser schönsten Wohnung der Welt, wie mein bester Freund immer gesagt hatte. An der Brouwersgracht in Amsterdam. Draußen die mächtigen Ulmen, die Hausboote, Fischreiher, Möwen, Eichelhäher – und auf meinem englischen Marmortisch auf der Terrasse saß die zahme Amsel, die ich täglich mit Müsli fütterte. Aber es ging mir nicht gut. Ich durfte nicht arbeiten. Konnte ja auch nicht. Und wollte nicht. Doch nur dasitzen? Fernsehen?

Das ging natürlich nicht. Sie können jemandem, der die letzten Jahre täglich achtzehn Stunden gearbeitet hat und von einem Kongress zum anderen hetzte, nicht plötzlich totalen Müßiggang verschreiben. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu putzen. Das befriedigte mich nicht sonderlich, zerstreute jedoch ein wenig die grauen Gedanken und lenkte meinen Blick auf all die Dinge, die ich abstauben musste. Was hatte sich in den fünfzig Jahren meines bisherigen Lebens nicht alles so angesammelt! Bei den Umzügen war nie Zeit zum Aussortieren gewesen, und Geld für die immer länger werdende Kolonne von Umzugslastwagen war ja da gewesen. Und für eine größere Wohnung. Alle fünf Jahre hatte ich mich »verbessert« – will sagen, mir für einen höheren Lohn höhere Verantwortlichkeiten aufgehalst. Und immer hatte ich die neue Herausforderung sofort angepackt. Mit Alltäglichem wie dem Putzen oder dem Betrachten der Dinge, die mir gehörten, konnte ich mich nicht aufhalten.

Auf einer Kommode erblickte ich einen vergoldeten Steingutpokal, den mir ein Freund – oder war es eine Sekretärin? – einmal geschenkt hatte. Vor Jahren war das Ding tatsächlich cool gewesen, jetzt empfand ich es als potthässlich. Daneben stand eine marokkanisch anmutende Bonbonniere, die ich von einer Mitarbeiterin bekommen hatte. Auch gruselig. Sie war gefüllt mit Stiften aller Art, alten Schlüsseln, Gummibändern, Schlafbrillen, Hotelseifen, Tortendekorationen und anderem Zeug. Ich schaute in die Schubladen der Kommode. Die oberste war voll mit verstaubten Stofftieren, die darunter mit alten Lampen, die ich eventuell mal wieder brauchen könnte; die dritte war gefüllt mit Plastikdosen, und in der untersten waren Tischdecken gestapelt – allesamt inzwischen ästhetische Herausforderungen. Nein, so etwas wird nicht mehr modern. So etwas wird produziert, damit man es ein halbes Jahr später nicht mehr ertragen kann.

Ich holte mir ein paar Abfallsäcke – in den Niederlanden kann man so viele Säcke vor die Tür stellen, wie man will – und füllte sie mit all dem Zeug, das ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Dann packte ich die Dinge ein, an denen ich nie wieder Gefallen finden würde, und anschließend alle Stehrümmchen, wie man sie im Rheinland treffend nennt, von denen ich nicht mehr wusste, wer sie mir vermacht hatte. Nach drei Tagen hatte ich ungefähr dreißig Sechzig-Liter-Säcke gefüllt. Es fühlte sich gut an. Ich sortierte Gebrauchsanweisungen und Fotos, und ich stellte meine Schallplattensammlung, die seit zehn Jahren in Vergessenheit geraten war, vor die Tür. Dazu gesellten sich ca. zwanzig Paar Schuhe und all die Bücher, die ich nie wieder lesen würde. Es ging mir immer besser. Am Ende der Woche beschloss ich, die Wohnung zu verkaufen. So schön sie war, erschien sie mir letztendlich wie ein Klotz am Bein. Riesengroß – kein Mensch braucht drei Etagen für sich allein, kein Mensch braucht all den Krempel. Außerdem konnte ich die Hypotheken ja nur zahlen, wenn ich weiter an dieser Universität arbeiten würde, an der ich krank geworden war. Wollte ich denn wirklich dahin zurück?

Nach einem Monat hatte ich siebzig Säcke weggeworfen, über 300 Bücher vor die Tür gestellt und besaß nur noch ein Zehntel meiner Kleidung und meiner Schuhe. Ich beschloss, mir einen anderen Job zu suchen, schrieb die Kündigung und legte sie vorerst in die Schublade. Doch ich fühlte mich sofort gut, ungebunden – frei.

Das Trüffelschwein

Letztlich begann ich dann doch wieder wissenschaftlich zu arbeiten. Erst einmal las ich wieder. Beim Aufräumen der Bücher war mir nämlich Erich Fromms Haben oder Sein in die Hände gefallen. Ein Buch, das mich neben Sigmund Freuds und Kurt Lewins Werken vor langer Zeit dazu gebracht hatte, Psychologie zu studieren. Ich las es also wieder – dann noch ein zweites Mal –, und da kehrte die alte Motivation zurück. Die Lust an diesem spannenden Fach, der Psychologie, die ich in dieser Wissensfabrik wohl komplett verloren hatte. Ich erfreute mich an der Wissensdichte des Werks, an der Disziplinen übergreifenden Analyse, an dem weltverbesserischen Ton, an der Parteinahme für den Menschen. Fromm schreibt nicht für die Wissenschaft, nicht für seine Karriere, sondern er schreibt für uns. Um uns zu retten, verteufelt er das Habenwollen, die Gier, das Streben nach materiellem Besitz und stellt diesem das Sein gegenüber, einen Lebensstil, der auf Lernen und Lieben und Erfahren abzielt. Ich saß auf dem Boden und verschlang die Botschaft wie ein Jugendlicher auf der Suche nach dem richtigen Glauben. Nachdem die erste Begeisterung verflogen war, kam ich allerdings ins Grübeln. Vieles, was bei Fromm als Erklärung für Gier und Sinnsuche gegeben wird, gilt mittlerweile als wissenschaftlich widerlegt. Immer wieder hatte ich beim Lesen über die theoretische Grundlage des Buches schmunzeln müssen: über die Idee etwa, dass es »orale« und »anale« Phasen gäbe und dass Materialisten Geld schlucken, so wie bekanntlich Babys alles in den Mund stecken. Fromms Beobachtungen hingegen erschienen mir modern; das Thema war wieder da, und mir wurde klar, dass es nicht nur mein Thema war.

Ich verbrachte ein paar Wochen in Deutschland und bemerkte, dass die Wirtschaftskrise die Menschen, vor allem junge, wachgerüttelt hatte. Einige, wenn auch vergleichsweise wenige, gingen plötzlich wieder gegen die Banken und soziale Ungerechtigkeit auf die Straße – so wie ich es aus meiner Jugend kannte. Sie zögerten auch nicht, antikapitalistische Ideen zu propagieren, und forderten, dass wir endlich aufhören sollten, die Ressourcen dieser Welt auszubeuten. Im Netz scheint diese Bewegung größer zu sein – für Revolutionen muss man nicht mehr auf die Straße gehen.

In zahlreichen Chatrooms entdeckte ich Menschen, die alles andere als Konsum wollten, die in ihre Lebenskonzepte Teilzeitarbeiten wie selbstverständlich integrierten und Tipps gaben, wie man sich vegan, günstig und politisch korrekt ernähren kann. Ich gesellte mich zu diesen »Minimalisten«, sprach mit ihnen und bat sie um Buchtipps. Empfohlen wurden mir Werke von Serge Latouche, Niko Paech, Jonathan Safran Foer und solche über Veganismus und Selbstbeschränkung. Einige verwiesen auch auf Fromm, Sartre (»Musste mal lesen, Alter!«), Heidegger und, ja, Marx. Ich fühlte mich wie ein Trüffelschwein, entdeckte immer mehr Interesse und Material für »mein Thema«. Im Sommer 2013 widmete sich dann schließlich Harald Weinrich, ein hervorragender Linguist, der Thematik und begeisterte mich einmal mehr. Das Buch erlaubte einen neuen Blick auf Heideggers Sein und Zeit, Sartres Sein und das Nichts, und, ja, auch Karl Marx; vor allem die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte las ich, als seien sie gestern neu erschienen. Besonders die Frage, wie Haben und Sein zusammenhängen, was wichtiger ist und was uns glücklicher macht, ließ mich nicht los. Und war es nicht auch so, dass die Serviceteile der Zeitschriften »meine« Fragestellung ebenfalls aufnahmen? Über »Achtsamkeit« wurde geschrieben, als hätte man eine neue Elefantenart im Busch entdeckt. Die Fülle an Artikeln zu Burn-out oder Bore-out, zu freiwilligem Verzicht und zu einfachem schönem Leben passten wie die Faust aufs Auge. Auch der Mindestlohn, der ökologische Fußabdruck – er beschreibt die Menge Land, die nötig ist, um den Lebensstil eines Menschen zu ermöglichen, der essen muss, sich kleidet, irgendwo wohnt und reist – und die Kapitalismusdebatte waren in den politischen Teilen Dauerthema. Es schien mir, dass die Fragestellung über die Disziplinen hinweg starke Beachtung fand.

Irgendwann begab ich mich auf die Suche nach psychologischer Literatur, die ich während meiner Auszeit ja eigentlich meiden sollte. Aber es interessierte mich brennend und schadete mir nicht. Was war in der Psychologie eigentlich nach Fromm passiert? Hatte er, der eine ganze Generation geprägt hat – sein Buch wurde weltweit millionenfach verkauft –, eine psychologische Forschungsrichtung geschaffen, die mir entgangen war? Zwanzig Jahre lang hatte ich Sozialpsychologie unterrichtet, doch über Haben und Sein hatte ich, um ehrlich zu sein, nicht ein Wort verloren. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass diese Thematik in der großen Auswahl der Lehrbücher, die mir als Professor jährlich zur Ansicht zugeschickt werden, kaum eine Rolle spielt.

Doch: Wer sucht, der findet. Ich fand zwar keine zusammenhängende wissenschaftliche Abhandlung zum Themenbereich »Haben und Sein«, stieß jedoch auf mehr und mehr vereinzelte Forschungsprojekte, die man grob zu diesem Themenkomplex rechnen konnte. Es kam mir vor, als hätte ich Trüffel entdeckt – seltene Pilze, die man ausgraben muss und die größtenteils hervorragend schmecken. Als Nächstes stellte sich die Frage, wer daraus etwas Feines kochen sollte, damit sie voll zur Geltung kämen. Mit Trüffeln muss man eigentlich nicht viel machen. Man muss sie (vorsichtig) putzen, in etwas Butter oder Sahne schwenken und mit wenigen Gewürzen zum Leben erwecken. Nennen Sie mich überheblich, aber ich traute mir zu, dieses Gericht zu kochen. Im übertragenen Sinn wollte ich aus den bestehenden, aber vereinzelten Forschungsprojekten eine Theorie bilden, die einerseits die Stärken der einzelnen Ideen und Befunde hervorhebt und andererseits etwas Neues hervorbringt. Eine neue Theorie, die jeder nach eigenem Ermessen loben oder kritisieren kann – die man an sich selbst oder wissenschaftlich überprüfen kann.

Die Trüffel

Im Bereich der Sozialpsychologie wie in der Konsumenten- und Werbepsychologie, aber auch in der Entwicklungs- und Biopsychologie fand ich Untersuchungen, die der Frage nachgehen, ob das Anhäufen von Gütern oder eine materialistische Lebenseinstellung zu einem glücklichen Leben führt – ob und wozu wir Objekte brauchen, ob Geld süchtig machen kann, was der Kauf bestimmter Dinge über unsere Persönlichkeit aussagt, warum wir bestimmte Produkte kaufen und andere nicht. Wie bereits angemerkt, stehen diese Befunde isoliert nebeneinander – es scheint kein Gedankenaustausch zwischen »Glücksforschern« der »Suchtpsychologie des Geldes« oder den »Konsumentenpsychologen« stattzufinden. Von einem gut definierten, einheitlichen und integrativen Forschungsbereich kann überhaupt nicht die Rede sein.

Das ist besonders dann problematisch, wenn Befunde sich offenbar widersprechen. Irgendwann fragte ein Journalist an, ob ich nicht in einer Fernsehdiskussion etwas über das Thema »Reiche in Deutschland« sagen könne. Ich lehnte ab, weil mir nicht klar war, was ich dazu sagen sollte. Wenn zum Beispiel die Materialismus-Forschung zeigt, dass die fortwährende Beschäftigung mit seinem Besitz oder dem Erwerb von Gütern letztendlich unglücklich macht, steht das im Gegensatz zur »Psychologie des Geldes«, denn diese verdeutlicht, dass Geld für viele eine psychische Ressource ist, weil es sie von allen möglichen Zwängen befreit. Außerdem belegen neuere Studien, dass die Lebenszufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen steigt, statt zu sinken. Was wiederum in Konflikt mit biopsychologischen Erkenntnissen zu stehen scheint, die das Suchtpotenzial von Geld mit dem von Alkohol und Nikotin gleichsetzen.

Dieses Buch ist der Versuch, diese Unstimmigkeiten zu erklären. Es soll Ausgangspunkt für eine Diskussion sein. Ziel ist dabei nicht, recht zu haben; vielmehr will ich zu Widerspruch anregen. Ich will Sie inspirieren, und deshalb breite ich mein erworbenes Wissen vor Ihnen aus – zusammen mit eigenen Gedanken, die ich mit Hilfe von Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen, Menschen aus der Wirtschaft, dem sozialen Bereich, der Politik und der Kunst weiterentwickeln durfte. Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Buch zum Nachdenken anregt und wenn es Sie inspiriert, das von mir Gesagte zu verfeinern, zu verbessern – oder gar zu widerlegen: Fordern Sie ruhig meine Gedanken heraus. Widersprechen Sie mir. Zeigen Sie mir, wo ich etwas treffend beschreibe und wo nicht! Und haben Sie keine Angst vor dem Wort »Theorie«. Eine sozialpsychologische Theorie ist immer auch eine Theorie über das Alltagsleben, über völlig normale psychologische Prozesse, die man fast überall vorfinden kann. Wenn Sie sie nicht verstehen können, dann taugt die Theorie sowieso nicht viel. Ich sprach oben von den Befunden, die mir wie Trüffel erschienen. Damit sie gut zur Geltung kommen und sich zu einem Genuss verbinden, benötigen sie eine solide Basis – bestenfalls Nudeln. Genau das ist eine sozialpsychologische Theorie für mich: Nudeln. Nudeln machen glücklich und sind gut verdaulich.

Im Gegensatz zu Erich Fromm werde ich Sie nicht zum Verzicht auffordern oder Tiraden gegen den Materialismus schreiben. Dieses Buch wird die Welt vermutlich nicht verändern, wenn das auch wahrscheinlich jeder Autor hofft, der ein Buch über dieses Thema schreibt. Wir sind dabei, diesen Planeten zu vernichten, und die Psychologie kann das nicht verhindern. Ich kann jedoch versuchen zu verstehen, warum wir so sind, wie wir sind, und vielleicht hilft das unseren Urenkeln, uns zu vergeben. Und vielleicht führt ja doch ein Weg zur Veränderung über das Verständnis der Dinge. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

I
Haben als Problem