New York im Sommer. Beißendes Licht, brüllende Hitze, eine erbärmliche Zeit, um zu sterben. Sie las diese Sätze in einem Roman von James Salter, dessen Bücher sie in diesen Wochen kennenlernte, schaute sich um und dachte, er hat recht. Salter war ihr entgangen in früheren Jahren, als sie sich für die anderen zeitgenössischen amerikanischen Autoren zu begeistern begann, und er hatte ihr nicht gefehlt. Nun war gerade »All That Is« erschienen, sein erster Roman seit Langem, aufgenommen mit dem entsprechenden Getöse in den entsprechenden Kreisen. Es war das erste Buch, das sie von ihm las, und es erfüllte sie mit einem Gefühl unbestimmter Wärme für die Hauptfigur, Belustigung über die Anspielungen auf den New Yorker Literaturbetrieb vergangener Jahrzehnte und Hochachtung für all die Freiheiten, die Salter sich beim Schreiben nahm. Es war auch das erste Buch, das sie in New York gekauft hatte, gleich nachdem sie in einer der frühen Wochen des Sommers angekommen war, und sie holte sich kurz darauf einen Schwung anderer Romane von ihm, wie es ihre Gewohnheit war, wenn ein Autor sie nach dem ersten Buch interessierte. Bevor sie wusste, dass sie wieder krank war.
»Light Years«, ein älterer Salter-Roman, machte sie ungeduldig. Sie legte das Buch zur Seite und las stattdessen ein paar Kapitel aus »The Story of America« von Jill Lepore, das mit den Sätzen beginnt: »Wenn Sie 1938 einen Dollar und 72 Cent übrig hatten, konnten Sie dafür ein Exemplar von ›Der Aufstieg der amerikanischen Demokratie‹ kaufen, einen 700-Seiten-Wälzer ungefähr so groß wie eine Bibel – oder ein Pfadfinderhandbuch. Der Wert einer Bibel ist schwer zu schätzen, aber das Boy Scout Handbook war für 50 Cent ein prima Kauf und sehr nützlich, wenn Sie auf einer einsamen Insel gestrandet waren. Und das nicht nur, weil es ein Kapitel darüber enthielt, wie man ohne Streichhölzer Feuer macht.«
Sie hatte inzwischen einige Tage im Bett verbracht, mit hohem Fieber und Brustschmerzen, und im Zuge der notwendigen Untersuchungen war ein verdächtiger Knoten in ihrer Lunge festgestellt worden. Ein neuer Krebs vermutlich. Zwei hatte sie vor vielen Jahren hinter sich gebracht. Von der Bibel, deren Wert, wie auch sie glaubte, schwer zu schätzen war, erwartete sie in diesem Fall weder Trost noch Wegweisung. Aber wussten Boy Scouts, wie man auch beim dritten Mal da wieder rauskam?
Sie erwog für eine Weile, während sie Lepores scharfsinnigen Überlegungen zur Geschichte der amerikanischen Demokratie folgte, den Nachdruck der Erstausgabe des Boy Scout Handbook von 1911 zu kaufen, im Netz für kaum fünfzehn Dollar zu haben. Auf dessen Umschlag winkt ein Junge mit seinem Hut, und im Hintergrund schweben zwei Puff-Wolken über hohen Tannen und einem Haus, als sei jede Gefahr gebannt. Alles wird gut. Doch statt das Pfadfinderhandbuch zu Rate zu ziehen, das sicher auch ein Kapitel über Erste Hilfe und Lebensrettung enthielt, und weil sie nur schwer ein Buch halb gelesen weglegen konnte, kehrte sie zu Salters zähen Schilderungen des langsamen Vertrocknens einer Ehe in den »Light Years« zurück. Ausgerechnet dort las sie den Satz, der ihr sagte, wo sie stand. Nicht auf einer einsamen Insel ohne Streichhölzer zur Hand, sondern mitten in New York mit dieser Aussicht: »Tod im Sommer, in einer trostlosen Stadt, aus der jeder fliehen wollte, Tod ohne Sinn, ohne Luft.«
Seit sie den Satz gelesen hatte, dachte sie an den Tod. Leise sprach sie ihn immer wieder vor sich hin, wie eine Liedstrophe phrasiert. Manchmal, wenn sie in der brütenden Hitze zur Subway lief, pfiff sie unhörbar für alle außer sich selbst: Death in the summer / in a haggard city / from which everyone / wanted to flee, death / without meaning / without air. Sie dachte an diesen Satz, wenn sie in die Wohnung zurückkehrte, die sich zum Brutofen aufheizte, weil sie, um die Stromrechnung ihrer Freunde, die sie dort wohnen ließen, nicht übermäßig zu belasten, und gegen deren ausdrückliche Anordnung, die Klimaanlage ausstellte, wenn sie fortging. Die Wohnung lag der Sonne ausgesetzt in der zwölften Etage, wo die Fenster sich entsprechend den New Yorker Vorschriften erstmal nur einen Spalt weit öffnen ließen. Mehr geht nicht, dachte sie, doch von der Straße aus sah sie spätabends weit geöffnete Fenster in anderen Stockwerken. Die Kindersicherung. Doch sie fand nicht heraus, wie sie zu lösen war.
Keine Luft. Als es noch heißer wurde, gab sie ihren Widerstand gegen die künstliche Kühlung auf. James Salter, von dem sie einige Interviews zu seinem neuen Buch gelesen hatte, hatte ein Haus in Bridgehampton, wo er der Hitze ausweichen konnte, mit einem Spaziergang am Meer, so stellte sie sich das vor, oder einem Schläfchen hinter geschlossenen Gardinen. Death in the summer, in a haggard city. Erinnerte er sich überhaupt daran, diesen Satz geschrieben zu haben? Vor fast vierzig Jahren? Hätte er ihn in ihrem Gesumme wiedererkannt? Sich über die primitive Tonfolge amüsiert, in die sie ihn packte? Sie musste selbst lachen, wenn sie merkte, was sie da tat, weil es sie daran erinnerte, wie sie früher, als Teenager und sehr junge Frau, manche Popsongs gesummt hatte, die in ihren Ohren klangen, als bezögen sie sich nur auf sie, so oder so. Daddy, Daddy, it was just like you said / Now that the living outnumber the dead. Speak my language.
Als sie das zum ersten Mal hörte, mit dem typischen Laurie-Anderson-Echo – Speak my language – Speak my language – Speak my language –, da spürte sie, wie sehr sie sich wünschte, ihr Vater hätte ihr einen Satz hinterlassen, an den sie sich erinnern konnte. Sie hatte, als er im Sterben lag, noch versucht, ihm diesen einen Satz, den sie nicht vergessen würde, oder einen Händedruck oder irgendeine andere Art der Zuwendung abzupressen, hatte sich zu dem Sterbenden, der schon ganz klein geworden war, ins Bett gelegt und gesummt und ihm die Schulter gestreichelt, aber er hatte nicht reagiert, und am nächsten Tag war er tot. Jahrzehnte später aber, als auch seine Witwe gestorben war, fand sie im Schreibtisch in der Wohnung der beiden eine Klarsichthülle mit drei Dokumenten – ihrem Diplomzeugnis, dem Abriss einer akademischen Arbeit, dem sie ein Stipendium verdankte, und einer Visitenkarte von einem Job, den sie lange schon verlassen hatte. Sie wurde nicht schlau aus dieser kleinen Sammlung, hatte keine Ahnung, warum er diese Dinge aufbewahrt hatte, aber nicht ihre Briefe, die Bilder, die sie ihm gemalt, die Notenblätter, die sie für ihn beschrieben hatte, als er einmal anfing, Klarinette spielen zu lernen. Ihr Vater hatte ihr nichts hinterlassen außer einer großen Leere im Magenbereich knapp unter dem Herzen und einer Sehnsucht, die in diesem Leben nicht zu stillen war.
Sie dachte daran, dass sie im Laufe ihres Lebens Abermillionen Sätze gehört, gelesen und wieder vergessen hatte, die jetzt vielleicht nützlich wären, und wie sich einige unsortiert im Gedächtnis ablagerten und dann ganz unerwartet wieder ins Bewusstsein stiegen. What made her think her fingernails could open locks the rain rained on? Ein Satz von Toni Morrison. Wie lange würde sie an die Sätze von James Salter denken, einem Autor, der sie nur wenige Wochen lang mit seinen Büchern begleiten und zu dem sie vielleicht nie wieder zurückkehren würde? Würde sie irgendwann wieder vergessen, wie dieser eine Satz vom Tod im Sommer in dieser ausgelaugten Stadt plötzlich in ihr Leben eingedrungen und einem Gefühl, das sie noch gar nicht richtig spürte, Ausdruck gegeben hatte?
Death in the summer. Erst viel später, als sie wieder in Deutschland war, bemerkte sie, dass der Tod, dem sie da gar nicht mehr so nahe war, in ihr einen Raum besetzt hatte, und ihr früheres Leben verblasste. Ganz unvorstellbar, dorthin zurückzugehen. Sie sehnte sich nicht nach dem Tod. Aber seit einem Tag, an den sie sich nicht genau erinnerte, irgendwann in ihrem Krankenhausbett, in dem sie die Wochen nach der Operation in dieser New Yorker Wohnung ihrer großzügigen Freunde verbrachte, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, sie hätte gestorben sein sollen. Wie all die anderen. »No consolation please for feelin’ funky / I got to get my head above my knees / But it makes me mad and mad makes me sad / and then I start to freeze«. Lou Reed, der so viele Tode überlebt hatte, starb in seiner New Yorker Wohnung im Herbst, der diesem Sommer folgte. Inmitten der Schönheit der Natur, wie Laurie Anderson im Nachruf auf ihren Mann schrieb. New York in den letzten Wochen, bevor der Winter kommt, kann ein wunderbarer Ort zum Sterben sein, dachte sie. Aber im Herbst war sie nicht mehr dort.
Die Diagnose hatte sie zunächst gar nicht so tiefgreifend erschreckt. Sie dachte, sie wisse, was auf sie zukommt. Es war das dritte Mal in fünfzehn Jahren, ein vermutlich bösartiger Tumor in der Lunge. Zwei Mal hatte sie die Operationen ganz gut überstanden, beim ersten Mal gefolgt von Chemo- und Strahlentherapie. Beim zweiten Mal, zwei Jahre später, saß der Krebs auf der anderen Seite und war kaum sieben Millimeter groß, mit glatten Rändern, ungefährlich, wenn er einmal draußen war. Sie hatte damals in New York gelebt, hatte die besten Ärzte, die besten Chancen. Dreizehn Jahre lang, auch als sie längst wieder in Deutschland wohnte, zeigten tatsächlich alle CTs keine Veränderung. Bis jetzt, wieder in New York.
Sie hatte sich mehrere Wochen Urlaub genommen, eine Art Mini-Sabbatical, um wieder einmal länger am Stück in der Stadt zu sein. Es war die Zeit gekommen, ihr Leben zu überdenken. An etwas Neuem zu arbeiten. Einem Buch, vielleicht einer Erzählung aus Harlem, oder auch an etwas ganz anderem, das sich ergeben würde, wenn sie die Augen offen hielt. Sie war bereit für jede Inspiration. Sie verdiente ihr Geld mit Schreiben, und sie schrieb, was so anfiel, Reportagen, Gebrauchsanweisungen, Empfehlungen. Sie reiste viel und berichtete dann davon, was sie erlebt hatte, was es zu sehen und zu essen gab und wie die Menschen, denen sie begegnete, sich verhielten und präsentierten, und ob sie genug von allem hatten, was sie zum Leben brauchten. Fast immer kam sie mit vollem Herzen aus diesen oft fernen Ländern zurück, fast immer war sie zu kurz da gewesen, um dauerhafte Verbindungen zu knüpfen, fast immer dachte sie später mit Bedauern an verpasste Gelegenheiten zurück, sich stärker einzulassen oder zurückzukehren. Ihr war vieles entschlüpft, das sie hätte festhalten wollen. Sie hatte nicht einmal ordentliche Aufzeichnungen und hatte sich schon früh angewöhnt, alle Notizen fortzuwerfen, wenn sie einmal geschrieben hatte, wofür sie bezahlt wurde. Sie hatte kein Archiv der eigenen Gedanken, der eigenen Sätze, keine Ablage für ihre Erlebnisse, noch nicht einmal Fotos, nur ein paar, von ganz wenigen Gelegenheiten.
Jetzt bedauerte sie das sehr. Jetzt, da sie seit einiger Zeit spürte, dass ihr in diesen, ihren eigenen Texten etwas zu kurz kam, das ihr wichtig war, und sie vermutete, vielleicht war für sie die Zeit einfach vorbei, solche Sachen zu schreiben. Vielleicht wollte sie nicht mehr so viele Texte schreiben, auf jeden Fall aber andere, doch welche, das wusste sie noch nicht genau.
Deshalb war sie in New York. Um das herauszufinden. Auszuprobieren. Oder das Schreiben auch ganz bleiben zu lassen. Wichtig war, allein zu sein, Veränderungen einzuleiten. In dieser Stadt zu sein. Obwohl sie mehr Freunde in Europa hatte, obwohl ihre Familie in Deutschland wohnte, obwohl sie in Frankfurt mit S. zusammenlebte und dort ihr Büro hatte, war ihre Heimat immer noch New York. Der einzige Ort, an dem sie sich einigermaßen sicher fühlte, seit sie einmal viele Jahre dort gelebt hatte.
Freunde, die das wussten, hatten ihr die Wohnung in Harlem angeboten, einem Stadtteil, den sie fast gar nicht kannte. Sie unterrichteten beide an der Columbia University, wohnten aber nur während des Semesters in der Stadt, die sie nur bedingt liebten. A haggard city from which everyone wanted to flee. Sie zogen die Natur vor, und da sie ein herrliches Anwesen in Maine besaßen, verließen sie New York mit Beginn des Sommers und kehrten erst im Herbst zurück.
Ihre Wohnung zu beziehen, war ein großzügiges Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte – zwei Stockwerke im Penthouse eines für die Gegend etwas zu schicken Apartmenthauses auf der Lenox Avenue, mit Blick auf die Washington Bridge auf der einen, auf ein weitläufiges project auf der anderen Seite.
Lenox Avenue ist eine seltsame Straße. Eigentlich die Verlängerung der Sixth Avenue, heißt sie hier oben im Norden der Stadt Malcolm X Boulevard, und sie verändert von einer Straßenecke zur nächsten ihr Gesicht. In einigen ist die Gentrifizierung auf dem Vormarsch, in anderen inzwischen vollzogen, in wieder anderen scheint sich seit den Siebzigern gar nichts getan zu haben, außer dass jemand im Herbst das Laub zusammengekehrt hat.
Zwischen der Subway Station an der Kreuzung dieser Avenue mit der 125. Straße und dem Apartment liegt im selben Straßenblock ein gutes französisches Restaurant, in dem die auffällig attraktiven schwarzen Kellner selbstverständlich »Bonjour« sagen, beim »Je vous en prie« ihrem karibischen Akzent freien Lauf lassen, mit den Gästen an der Bar flirten und bei alldem derart effektiv sind, dass man nach einer halben Stunde wieder gehen kann, wenn man will. Oder den Abend verbringen. Das Lokal macht im Sommer die Türen auf, dehnt sich auf den breiten Bürgersteig aus, rückt das Klavier an die Schwelle und drumherum ein kleines Orchester mit Sänger oder Sängerin, und jenseits der Tische bleiben die Menschen stehen, rufen Hallo, summen ein bisschen mit und gehen weiter. Oder stehen herum, bis jemand vorbeikommt, der sich dazustellt. Im Laufe des Sommers machte ein mobiler Blumenladen am Straßenrand auf, der vor allem tropische Topfblumen, Farne und Orchideen im Angebot hatte. Für Schnittblumen war es viel zu heiß. Direkt daneben im selben Block ist auch noch Platz für ein weithin gepriesenes Restaurant, in dem nur schwer eine Reservierung zu bekommen ist, wenn man zu Essenszeiten essen will, und in das Gäste aus dem Village anreisen, um einen Abend lang zu schauen.
Aus dem Village nach Harlem! Das ist ja wie zu Zeiten des Cotton Club, dachte sie. Den es immer noch gibt, sie ging aber nicht hin, obwohl sie eines Tages las, es habe eine Opernaufführung dort gegeben, heimlich sozusagen, mit Sängern und Tänzern, die sich unter das übliche Clubgeschehen mischten, was ihr interessant erschien. Es hatte wohl eine Weile gedauert, bis alle Gäste kapierten, dass es jetzt eine Oper gab, in der sie mitspielten.
Um sechs oder um halb elf bekommt man auch dort einen Tisch, wo eigentlich, wie alle sagen, gar nichts zu machen ist. In diesem lässigen roten Lokal ganz in der Nähe ihrer Wohnung auch. Die Musik ist jazzig, live und laut und die Mischung der Gäste einzigartig – alle Rassen und Geschlechter, alle Kreuzungen, alle Paarungen. Die meisten aufwendig, oft glamourös angezogen, wie es Menschen tun, die sich zeigen wollen, selbstbewusst, verspielt, offen für alles, was Harlem in der Nacht zu bieten hat.
An der Bar saß jeden Abend ein schöner Mann mit glänzender Glatze und gezwirbeltem Schnurrbart im Smoking und lächelte alle an, als wäre er der Gastgeber. Und an den heißen Abenden dieses Sommers gab es immer ein paar Gäste, die vor dem Lokal auf dem Bürgersteig tanzten, nur wenige Schritte entfernt von denen des französischen. Sie konnte nicht ausmachen, wie groß die Konkurrenz zwischen den beiden Lokalen war. Ihr schien, es gab genug Geschäft für beide.
Die ersten beiden Tage, nachdem sie die Wohnung ihrer Freunde bezogen hatte und in der Gewissheit lebte, eine lange Weile freier Zeit läge vor ihr, verbrachte sie damit, die Aussicht zu verdunkeln, indem sie einige Fenster mit schwarzer Pappe verklebte und andere mit billigen Vorhängen versah. Die nahtlosen Fensterflächen nach Westen und nach Norden boten phantastische Blicke, solange die Sonne im Osten blieb, was vorhersehbar nur für wenige Stunden am frühen Morgen der Fall war. Danach waren Licht und Sonne eine Qual, und sie ahnte, es würde mit fortschreitendem Sommer schlimmer kommen. Sie hoffte, sie würde diesen Frevel gegen die Absichten des Architekten, weite Ausblicke zu schaffen, auf die ihre Freunde stolz waren, spurlos rückgängig machen können, bevor sie die Wohnung in einigen Wochen wieder verließ.
Den Rest der Zeit an diesen ersten Tagen ging sie spazieren. Machte sich mit dem Viertel vertraut, lernte die unmittelbare Nachbarschaft kennen, wo in den Seitenstraßen die Leute am Abend Stühle auf den schmalen Bürgersteig stellten und dort ihr Abendessen einnahmen oder ein Bier tranken oder einfach nur saßen und redeten, während die Kinder noch ein bisschen hin und her rannten.
Sie spürte, sie würde bald krank werden. Eines Morgens ging sie hinunter zur 110. Straße an die Nordgrenze des Central Park. Sie wäre gern in dem riesigen Pool dort am Parkrand geschwommen, um ihr aufsteigendes Fieber abzukühlen, aber sie stellte fest, er öffnete erst im Juli und schloss Ende August schon wieder. Dabei wurde es jetzt, Mitte Juni, schon täglich heißer als 35 Grad.
Im August, als es für sie ganz unmöglich war, in einem öffentlichen Schwimmbad zu schwimmen, weil ihre Narbe frisch und sie auch sonst nicht in sportlicher Verfassung war, ging sie noch einmal vorbei. Die Stadt dampfte, jeder stöhnte. Aber das Schwimmbad sah erstaunlich leer aus, und die wenigen Kinder und Jugendlichen, die zu sehen waren, gaben kaum einen Mucks von sich. Sie hingen am Beckenrand herum, soweit sie das erkennen konnte, träge, von draußen sah sie niemanden, der schwamm. Kein einziger Weißer war zu sehen. Der Eingang, ein schmaler Gang aus blauen Brettern, war offen. Ein älterer Mann saß davor. Sie versuchte, an ihm vorbeizuschauen, aber der Gang bog nach links ab und ihr Blick traf nur auf eine blaue Bretterwand. Der Eintritt ist frei. »Kann ich kurz hineingehen und mir die Sache mal ansehen?«, fragte sie. Der Mann schüttelte den Kopf. Man muss einen Badeanzug dabeihaben und ein Vorhängeschloss für einen Spind. Locks the rain rained on. Sie stand mit leeren Händen da. Sie durfte nichts tragen in den ersten Wochen nach der OP und hatte sich angewöhnt, ohne Tasche aus dem Haus zu gehen. Der Wächter blieb hart.
Nur wenige Straßen südlich ihrer Wohnung entdeckte sie ein Kino. Es hatte einmal einunddreißig Kinos in Harlem gegeben, ein »Renaissance«, ein »Lyric« und ein »Odeon Theatre« und wie sie sonst noch hießen, sie hatte im Internet einen Plan mit lauter Pfeilen gesehen, auf dem sie alle genannt waren. Aber der Plan war alt. Von den einunddreißig ist nur eines übrig geblieben, ein mittelgroßes, ziemlich heruntergekommenes Multiplex mit neun Leinwänden für den neuesten Hollywoodtrash. Wochenlang war die Anzeigetafel über dem Eingang kaputt, man musste ins Foyer gehen, um zu sehen, was gerade gezeigt wurde. In diesen Wochen waren es nur die teuren Flops der Saison. Unter den Plakaten und vor den Kassenautomaten flatterten im Zug der Klimaanlage von draußen hereingewehte Plastiktüten, und leere Dosen rollten von einer zur anderen Seite, als sie einmal nachmittags hereinschaute und das Kino menschenleer vorfand. Jemand hatte immerhin gekehrt, aber den Abfall nur in einer Ecke zusammengefegt, und dieses Häufchen Dreck verteilte sich im kühlen Gebläse langsam wieder über den gesamten Raum. Abends aber war immer viel los.
Ein paar Tage später erst sah sie das Zimmerkino auf dem Malcolm X Boulevard. Sie musste schon einige Male an ihm vorbeigelaufen sein, ohne es zu bemerken. Erst als sie auf dem breiten Bürgersteig zurücktrat, um die Schilder über den Geschäften zu lesen, fiel es ihr auf. Die meisten Läden waren Friseursalons, in denen viele Frauen damit beschäftigt waren, kleine Zöpfe zu flechten, in stundenlangen Prozeduren mit herrlichen Ergebnissen. In anderen boten Männer, deren Alter sie unmöglich schätzen konnte, Elektromüll an, oder auch Koffer, Mützen, Schirme und billigen Flohmarktkram mit Auslagen auf dem Bürgersteig.
Auch vor den Geschäften sitzen die Menschen in Harlem gern auf dem Bürgersteig herum. Sie rufen über die Straße, »Hey Hazel, how a’ ya«, winken, grüßen, dösen vor sich hin, einen Ventilator neben dem Stuhl, mit einer verknuddelten Verlängerungsschnur quer über den Bürgersteig an einer Steckdose im Laden hängend. Es gab auch einen Eisenwarenhandel, in dem sie an einem der ersten Tage eine sehr lange Vorhangstange mit einer Feder drin gekauft hatte. Die wollte sie zwischen die Rahmen der riesigen Fenster oben in der Wohnung klemmen und dunklen Stoff darüberhängen, um die Sonne draußen zu halten. Eine bunt geschminkte Frau in erstaunlich knappen Shorts mit einem eckig wirkenden Mann mit weiten Pupillen und unsicheren Bewegungen an ihrer Seite, die vom Fensterputzmittel und Küchenpapier bis zu Schuhanzieher und Taschenlampe eine breite Palette von Waren in ihren Korb fallen ließ, fasste sie am Arm und meinte mit dröhnender Stimme, aber doch irgendwie vertraulich: »That’s a helluva long stick you’re having!« Es war eine anzügliche Bemerkung, und sie lachte sich mit dem Rest der Leute im Laden halb tot. Es gab auch einen Supermarkt und ein paar Reinigungen.
Und eben das Kino. Maysles Cinema. Sie ging hinein und fragte eine junge Frau, die in dem schmalen Foyer ein paar Flugblätter zusammenschob, ob das Kino etwas mit Albert Maysles zu tun habe, dem Überlebenden der Maysles-Brüder Albert und David, den in den sechziger und siebziger Jahren berühmt gewordenen Dokumentarfilmern? Oder ob es zu deren Ehren so hieße? Nein, nein, erfuhr sie, Albert Maysles selbst habe es vor einigen Jahren gegründet, er arbeite noch fast täglich nebenan in den oberen Stockwerken an eigenen Filmprojekten, außerdem unterstütze er junge Dokumentarfilmer aus der Gegend. Aber heute, gerade jetzt, sei er leider nicht da.
Ein berühmter Mann, ein Pionier des direct cinema, dachte sie, betreibt in hohem Alter dieses winzige Kino? Auf dem Malcolm X Boulevard? Sie schätzte, er müsse weit in seinen Achtzigern sein, und sie fragte sich, ob überhaupt noch jemand mit seinem Namen etwas anfangen konnte. Mit den Titeln seiner früher weithin bekannten Filme, »Gimme Shelter« mit den Rolling Stones etwa, spektakulär damals, weil auf diesem Film über das völlig aus dem Ruder laufende Konzert der Stones in Altamont zu sehen ist, wie Meredith Hunter, ein zugedröhnter Hippie, der eine Schusswaffe zieht, von Sicherheitskerlen der Hell’s Angels zusammengetreten und erstochen wird?
»Rape! Murder! It’s just a shot away, it’s just a shot away!«. Nie hat jemand diese Schreie, mit denen »Gimme Shelter« beginnt, wahrhaftig schreiender ausgestoßen als Merry Clayton, die heute nur noch in der Kirche singt. Oder »Grey Gardens«, der Film mit der verrückten und irgendwie mit Jackie Kennedy verwandten Little Edie und ihrer Mutter Edith Beales, gedreht auf Long Island, bevor die Hamptons auf so exquisite Weise ordinär wurden. Kannte die noch jemand?
Vor einigen Jahren hatte sie sich einmal an Albert Maysles gewandt. Er wohnte, so dachte sie, wie Lauren Bacall, die sie unbedingt treffen wollte, im Dakota Building an der 72. Straße, Ecke Central Park West, jenem Haus, vor dem John Lennon erschossen wurde. Sie wollte damals über die berühmten Menschen in diesem Haus und die Geschichte des Gebäudes schreiben, aber alle, die sie besuchen und befragen wollte, lehnten ab. Albert Maysles hatte auf ihren Brief nicht einmal geantwortet. Vielleicht lebte er da auch schon gar nicht mehr im Dakota, sondern bereits in Harlem. Sie hatte sich schließlich wenigstens zwei leer stehende Apartments anschauen können, Objekte mit einem Marktwert von vielfachen Millionen. Damit das klappte, hatte sie der Maklerin eines Immobilienvermittlers mit Schlüssel zum Dakota eine von A bis Z erfundene Geschichte aufgetischt, der diese mit undurchdringlicher Miene lauschte, ohne sie infrage zu stellen. Von einem Haus in Kairo erzählte sie, das sie nun leider auflösen müsse, weil ihr Mann versetzt würde, von einer Sammlung wertvoller Antiken, die einen herausgehobenen Platz finden müsse, und andere phantastische Details, die sie bald wieder vergaß.
Eine der Wohnungen, die ihr die Maklerin gezeigt hatte, war fast vollkommen schwarz gestrichen, mit einer plumpen schwarz glänzenden Art-déco-Bar aus lackiertem Chrom oder sonst etwas Teurem in der Eingangshalle, als bekäme jeder Gast als Erstes einen Martini. In den dahinterliegenden Räumen tastete sie mit ausgestreckten Armen herum, um einen Lichtschalter zu finden. Ihr kamen alle möglichen schmutzigen Phantasien in den Sinn, was in dieser Wohnung passiert war, als noch jemand hier lebte, und in allen spielten Menschen in spitzen Bustiers und Lackstiefeln eine Rolle, die sie sich in dunstiger Beleuchtung vorstellte. Die Maklerin entschuldigte sich, sie war nur vertretungsweise da und kannte die Gegebenheiten nicht. In der zweiten leeren Wohnung folgte eine vermuffte holzgetäfelte Zimmerflucht auf die nächste, als sei hier immer nur gestorben worden, und die Wände schienen sich gegen eine drückende Düsternis zu stemmen. Als sie zum Fenster ging und es aufriss, sah sie auf der anderen Seite des Hofs auf derselben Etage Lauren Bacall. Sie hatte ein Geschirrtuch in den Bund ihres Rocks gesteckt und trocknete eine Tasse ab.
Das alles war Jahre her. Als sie jetzt den Namenszug »Maysles Cinema« las, dachte sie, die Welt ist gerecht. Sie würde Albert Maysles treffen. Sie würden über das Kino sprechen, und er würde ihr von den Rolling Stones und von den Hell’s Angels und dem Toten in Altamont erzählen, von den Beatles, die er auch gefilmt hatte und davon, wie er Edith und Little Edie in Grey Gardens kennenlernte, und wie es dazu kam, dass er im Alter in Harlem ein schmales Haus kaufte und darin ein Zentrum für den Dokumentarfilm einrichtete. An einem der nächsten Abende würde sie in eine Vorstellung gehen.
Es war Samstag, sie hatte überlegt, am Nachmittag eine Karte zu kaufen, weil sie mit großem Andrang rechnete, aber da war die Tür verrammelt. Am Abend schließlich versammelten sich elf Menschen. Damit war das Kino zu einem guten Drittel voll. Popcorn war gratis. Und gezeigt wurde »Homegoings« von Christine Turner, ein Dokumentarfilm über den fingerfertigsten Bestattungsunternehmer des Viertels. Isaiah Owens heißt er, wie der Prophet.
Ein Bestattungsunternehmer ist nichts Ungewöhnliches in Harlem. In etwa jedem dritten Haus, so schien es ihr, hat einer sein Geschäft. Auf fast allen ihrer Spaziergänge sah sie die schwarzen langen Limousinen mit den weißen Spitzengardinen in Einfahrten oder Auffahrten stehen. Einmal war die Tür zur Garage dahinter offen, und sie starrte auf zehn oder fünfzehn Särge, die kreuz und quer übereinandergestapelt waren. Es gibt fast so viele Bestatter in Harlem wie Kirchen, und die Menschen geben zu Lebzeiten sehr viel Geld dafür aus, später als Tote manierlich auszusehen.
Isaiah Owens ist ein Mann mit einem Herzen so groß wie die Aufgabe, die er sich gestellt hat: mit den Toten Feste des Lebens zu feiern. Sie war bereits mehrfach an seinem Geschäftslokal auf dem Malcolm X Boulevard vorbeigelaufen. Sie hatte gelesen, er gelte als der Beste seines Fachs des Balsamierens und Zurechtmachens von Leichen, nicht für die Ewigkeit, sondern für die paar Stunden, die Verwandte und Freunde weinend, singend, still, bestürzt, gefasst, ihrerseits feierlich herausgeputzt am offenen Sarg vorbeigehen und Halleluja flüstern. Manchmal beugt sich einer in den Sarg hinab und gibt dem Toten noch eine Nachricht mit, so leise ins Ohr gelegt, dass kein anderer sie hören kann.
Isaiah Owens hat schon als Kind Beerdigung gespielt. Sein Beruf ist seine Leidenschaft. Im Film erzählt er, es gebe nur eine Aufgabe, vor der er sich fürchte: seine Mutter für ihre letzte große Reise herzurichten. Dann kommt diese Mutter ins Bild, eine muntere Achtzigjährige, deren Hände mit ihren gepflegten Fingern und spitz gefeilten Nägeln jedes Schloss öffnen könnten, auf das der Regen hinabregnet, und sie sagt Ja und lacht, als Tote ließe sie nur ihren Sohn an sich heran. Der wisse alles über Haare, Augenbrauen und schlaffe Lider, über Münder, die geschlossen bleiben, und Köpfe, die nicht nach hinten sacken sollen. Er gibt acht auf alle Details. Und sieht selbst aus wie der Wächter am Tor zur Unterwelt, wenn er einmal vor seine Tür tritt. Aber von den Stufen seines Hauses aus blickt er in die Welt hier oben, in der er bis auf Weiteres die Tradition von Trauermärschen mit Kutschen und Trompeten hütet, von Memorials, von Feiern des lebendigen Jetzt mit einer geschminkten Leiche in der Mitte.
Obwohl er nur ein paar Häuser vom Kino entfernt lebte, kam Isaiah Owens nicht zur Vorstellung. Damit hatte sie seltsamerweise fest gerechnet. Der junge Mann an der Kasse konnte sich nicht mehr erinnern, ob er einige Wochen zuvor überhaupt zur Premiere da gewesen war. Auch Albert Maysles traf sie nicht an diesem Abend. Später las sie, er habe in jenem Sommer wieder einmal an seinem Film über Züge gearbeitet. Ein Teil davon mit dem Titel »Transit« ist schon seit Jahren fertig, und sie sah ihn sich einige Male im Internet an. Eine Sequenz zeigt eine junge Frau mit einer großen Zahnlücke, dicken Brillengläsern, rauchend und mit ihrem vielleicht vierjährigen Sohn neben sich im Zug auf dem Weg nach Philadelphia. Sie erzählt, sie habe ihre Mutter zum letzten Mal vor zwanzig Jahren gesehen. Jetzt hatte sie selbst ein Kind und fuhr mit diesem Zug, um ihre Mutter zu treffen, zum ersten Mal seit damals. Eine Frau aus Philadelphia habe sie angerufen und gesagt: »Ich bin deine Mutter. Nimm den nächsten Zug und komm her!« Solche Sachen passieren nur den Maysles, dachte sie. Alle ihre Filme funktionierten so. Sie waren da, um einen Film zu drehen, und irgendetwas Außerordentliches geschah dann zufällig. Ein Hippie wird erstochen, zum Beispiel. Eine Frau findet nach zwanzig Jahren ihre Mutter wieder. Unglaublich eigentlich. Sie trafen immer jemanden mit einer besonderen Geschichte. Albert Maysles fuhr in diesem Zug mit dieser Frau bis Philadelphia mit und filmte das Wiedersehen von Tochter und Mutter, und irgendwann wendet sich die Mutter aus der Umarmung mit ihrer Tochter zu ihm hin und sagt: »Isn’t she gorgeous?«
Sie traf Albert Maysles den ganzen Sommer über nicht. Wahrscheinlich fuhr er weiter mit dem Zug durch Amerika, und jetzt, vermutete sie, war es zu spät. Für sie. Gimme shelter, das Lied hatte sie oft gesummt in diesem Sommer. Wenn sie an seinem Kino vorbeiging. Wenn sie an ihre Freunde dachte, in deren Wohnung sie lebte. Wenn sie dachte, wie komme ich in einem Stück hier wieder raus.
Der Tumor sei klein, ganz unwahrscheinlich, dass er gestreut habe, ein Schnitt hinein in die alte Narbe über den Rippen, ein Griff durchs Mediastinum, und das Ding wäre draußen.
»Die Heilung aber wird eine Weile dauern«, sagte die Chirurgin, die sie schon vor dreizehn Jahren operiert hatte und sie nun mit dem nicht sehr fröhlichen Satz begrüßte: »A visit from the past!«