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»Light Years«, ein älterer Salter-Roman, machte sie ungeduldig. Sie legte das Buch zur Seite und las stattdessen ein

Sie hatte inzwischen einige Tage im Bett verbracht, mit hohem Fieber und Brustschmerzen, und im Zuge der notwendigen Untersuchungen war ein verdächtiger Knoten in ihrer Lunge festgestellt worden. Ein neuer Krebs vermutlich. Zwei hatte sie vor vielen Jahren hinter sich gebracht. Von der Bibel, deren Wert, wie auch sie glaubte, schwer zu schätzen war, erwartete sie in diesem Fall weder Trost noch Wegweisung. Aber wussten Boy Scouts, wie man auch beim dritten Mal da wieder rauskam?

Sie erwog für eine Weile, während sie Lepores scharfsinnigen Überlegungen zur Geschichte der amerikanischen Demokratie folgte, den Nachdruck der Erstausgabe des Boy Scout Handbook von 1911 zu kaufen, im Netz für kaum fünfzehn Dollar zu haben. Auf dessen Umschlag winkt ein Junge mit seinem Hut, und im Hintergrund schweben zwei Puff-Wolken über hohen Tannen und einem Haus, als sei jede Gefahr gebannt. Alles wird gut. Doch statt das Pfadfinderhandbuch zu Rate zu ziehen, das sicher auch ein Kapitel über Erste Hilfe und Lebensrettung enthielt, und weil sie nur schwer ein Buch halb gelesen weglegen konnte, kehrte sie zu Salters zähen Schilderungen des langsamen Vertrocknens einer Ehe in den »Light Years« zurück. Ausgerechnet dort las sie den Satz,

 

Seit sie den Satz gelesen hatte, dachte sie an den Tod. Leise sprach sie ihn immer wieder vor sich hin, wie eine Liedstrophe phrasiert. Manchmal, wenn sie in der brütenden Hitze zur Subway lief, pfiff sie unhörbar für alle außer sich selbst: Death in the summer / in a haggard city / from which everyone / wanted to flee, death / without meaning / without air. Sie dachte an diesen Satz, wenn sie in die Wohnung zurückkehrte, die sich zum Brutofen aufheizte, weil sie, um die Stromrechnung ihrer Freunde, die sie dort wohnen ließen, nicht übermäßig zu belasten, und gegen deren ausdrückliche Anordnung, die Klimaanlage ausstellte, wenn sie fortging. Die Wohnung lag der Sonne ausgesetzt in der zwölften Etage, wo die Fenster sich entsprechend den New Yorker Vorschriften erstmal nur einen Spalt weit öffnen ließen. Mehr geht nicht, dachte sie, doch von der Straße aus sah sie spätabends weit geöffnete Fenster in anderen Stockwerken. Die Kindersicherung. Doch sie fand nicht heraus, wie sie zu lösen war.

Keine Luft. Als es noch heißer wurde, gab sie ihren Widerstand gegen die künstliche Kühlung auf. James Salter, von dem sie einige Interviews zu seinem neuen Buch gelesen hatte, hatte ein Haus in Bridgehampton, wo er der Hitze ausweichen konnte, mit einem Spaziergang am Meer, so stellte sie sich das vor, oder einem Schläfchen hinter geschlossenen Gardinen. Death in the summer, in a haggard city. Erinnerte er sich überhaupt daran, diesen Satz geschrieben zu haben? Vor fast vierzig Jahren? Hätte

 

Als sie das zum ersten Mal hörte, mit dem typischen Laurie-Anderson-Echo – Speak my language – Speak my language – Speak my language –, da spürte sie, wie sehr sie sich wünschte, ihr Vater hätte ihr einen Satz hinterlassen, an den sie sich erinnern konnte. Sie hatte, als er im Sterben lag, noch versucht, ihm diesen einen Satz, den sie nicht vergessen würde, oder einen Händedruck oder irgendeine andere Art der Zuwendung abzupressen, hatte sich zu dem Sterbenden, der schon ganz klein geworden war, ins Bett gelegt und gesummt und ihm die Schulter gestreichelt, aber er hatte nicht reagiert, und am nächsten Tag war er tot. Jahrzehnte später aber, als auch seine Witwe gestorben war, fand sie im Schreibtisch in der Wohnung der beiden eine Klarsichthülle mit drei Dokumenten – ihrem Diplomzeugnis, dem Abriss einer akademischen Arbeit, dem sie ein Stipendium verdankte, und einer Visitenkarte von einem Job, den sie lange schon verlassen hatte. Sie wurde nicht schlau aus dieser kleinen Sammlung, hatte keine Ahnung, warum er diese Dinge aufbewahrt hatte, aber nicht ihre Briefe, die Bilder, die sie ihm gemalt, die Notenblätter, die sie für ihn beschrieben hatte, als er einmal anfing, Klarinette spielen zu lernen. Ihr Vater hatte ihr nichts hinterlassen außer einer großen Leere im Magenbereich knapp unter dem Herzen

 

Sie dachte daran, dass sie im Laufe ihres Lebens Abermillionen Sätze gehört, gelesen und wieder vergessen hatte, die jetzt vielleicht nützlich wären, und wie sich einige unsortiert im Gedächtnis ablagerten und dann ganz unerwartet wieder ins Bewusstsein stiegen. What made her think her fingernails could open locks the rain rained on? Ein Satz von Toni Morrison. Wie lange würde sie an die Sätze von James Salter denken, einem Autor, der sie nur wenige Wochen lang mit seinen Büchern begleiten und zu dem sie vielleicht nie wieder zurückkehren würde? Würde sie irgendwann wieder vergessen, wie dieser eine Satz vom Tod im Sommer in dieser ausgelaugten Stadt plötzlich in ihr Leben eingedrungen und einem Gefühl, das sie noch gar nicht richtig spürte, Ausdruck gegeben hatte?

Death in the summer. Erst viel später, als sie wieder in Deutschland war, bemerkte sie, dass der Tod, dem sie da gar nicht mehr so nahe war, in ihr einen Raum besetzt hatte, und ihr früheres Leben verblasste. Ganz unvorstellbar, dorthin zurückzugehen. Sie sehnte sich nicht nach dem Tod. Aber seit einem Tag, an den sie sich nicht genau erinnerte, irgendwann in ihrem Krankenhausbett, in dem sie die Wochen nach der Operation in dieser New Yorker Wohnung ihrer großzügigen Freunde verbrachte, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, sie hätte gestorben sein sollen. Wie all die anderen. »No consolation please for feelin’ funky / I got to get my head above my knees / But it makes me mad and mad makes me sad / and then I start to freeze«. Lou Reed, der so viele Tode überlebt hatte, starb in seiner New Yorker Wohnung im Herbst, der diesem Sommer folgte. Inmitten der Schönheit der Natur, wie Laurie Anderson im

 

 

 

 

 

 

 

Sie hatte sich mehrere Wochen Urlaub genommen, eine Art Mini-Sabbatical, um wieder einmal länger am Stück in der Stadt zu sein. Es war die Zeit gekommen, ihr Leben zu überdenken. An etwas Neuem zu arbeiten. Einem Buch, vielleicht einer Erzählung aus Harlem, oder auch an etwas ganz anderem, das sich ergeben würde, wenn sie die Augen offen hielt. Sie war bereit für jede Inspiration. Sie verdiente ihr Geld mit Schreiben, und sie schrieb, was so anfiel, Reportagen, Gebrauchsanweisungen, Empfehlungen. Sie reiste viel und berichtete dann davon, was sie erlebt

Jetzt bedauerte sie das sehr. Jetzt, da sie seit einiger Zeit spürte, dass ihr in diesen, ihren eigenen Texten etwas zu kurz kam, das ihr wichtig war, und sie vermutete, vielleicht war für sie die Zeit einfach vorbei, solche Sachen zu schreiben. Vielleicht wollte sie nicht mehr so viele Texte schreiben, auf jeden Fall aber andere, doch welche, das wusste sie noch nicht genau.

 

Deshalb war sie in New York. Um das herauszufinden. Auszuprobieren. Oder das Schreiben auch ganz bleiben zu lassen. Wichtig war, allein zu sein, Veränderungen einzuleiten. In dieser Stadt zu sein. Obwohl sie mehr Freunde in Europa hatte, obwohl ihre Familie in Deutschland wohnte, obwohl sie in Frankfurt mit S. zusammenlebte und dort ihr Büro hatte, war ihre Heimat immer noch New York. Der einzige Ort, an dem sie sich einigermaßen sicher fühlte, seit sie einmal viele Jahre dort gelebt hatte.

Ihre Wohnung zu beziehen, war ein großzügiges Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte – zwei Stockwerke im Penthouse eines für die Gegend etwas zu schicken Apartmenthauses auf der Lenox Avenue, mit Blick auf die Washington Bridge auf der einen, auf ein weitläufiges project auf der anderen Seite.

Lenox Avenue ist eine seltsame Straße. Eigentlich die Verlängerung der Sixth Avenue, heißt sie hier oben im Norden der Stadt Malcolm X Boulevard, und sie verändert von einer Straßenecke zur nächsten ihr Gesicht. In einigen ist die Gentrifizierung auf dem Vormarsch, in anderen inzwischen vollzogen, in wieder anderen scheint sich seit den Siebzigern gar nichts getan zu haben, außer dass jemand im Herbst das Laub zusammengekehrt hat.

Zwischen der Subway Station an der Kreuzung dieser Avenue mit der 125. Straße und dem Apartment liegt im selben Straßenblock ein gutes französisches Restaurant, in dem die auffällig attraktiven schwarzen Kellner selbstverständlich »Bonjour« sagen, beim »Je vous en prie« ihrem karibischen Akzent freien Lauf lassen, mit den Gästen an der Bar flirten und bei alldem derart effektiv sind, dass man nach einer halben Stunde wieder gehen kann, wenn man will. Oder den Abend verbringen. Das Lokal macht im Sommer die Türen auf, dehnt sich auf den breiten Bürgersteig aus, rückt das Klavier an die Schwelle und

Aus dem Village nach Harlem! Das ist ja wie zu Zeiten des Cotton Club, dachte sie. Den es immer noch gibt, sie ging aber nicht hin, obwohl sie eines Tages las, es habe eine Opernaufführung dort gegeben, heimlich sozusagen, mit Sängern und Tänzern, die sich unter das übliche Clubgeschehen mischten, was ihr interessant erschien. Es hatte wohl eine Weile gedauert, bis alle Gäste kapierten, dass es jetzt eine Oper gab, in der sie mitspielten.

Um sechs oder um halb elf bekommt man auch dort einen Tisch, wo eigentlich, wie alle sagen, gar nichts zu machen ist. In diesem lässigen roten Lokal ganz in der Nähe ihrer Wohnung auch. Die Musik ist jazzig, live und laut und die Mischung der Gäste einzigartig – alle Rassen und Geschlechter, alle Kreuzungen, alle Paarungen. Die meisten aufwendig, oft glamourös angezogen, wie es Menschen tun, die sich zeigen wollen, selbstbewusst, verspielt, offen für alles, was Harlem in der Nacht zu bieten hat.

An der Bar saß jeden Abend ein schöner Mann mit glänzender Glatze und gezwirbeltem Schnurrbart im Smoking

 

Die ersten beiden Tage, nachdem sie die Wohnung ihrer Freunde bezogen hatte und in der Gewissheit lebte, eine lange Weile freier Zeit läge vor ihr, verbrachte sie damit, die Aussicht zu verdunkeln, indem sie einige Fenster mit schwarzer Pappe verklebte und andere mit billigen Vorhängen versah. Die nahtlosen Fensterflächen nach Westen und nach Norden boten phantastische Blicke, solange die Sonne im Osten blieb, was vorhersehbar nur für wenige Stunden am frühen Morgen der Fall war. Danach waren Licht und Sonne eine Qual, und sie ahnte, es würde mit fortschreitendem Sommer schlimmer kommen. Sie hoffte, sie würde diesen Frevel gegen die Absichten des Architekten, weite Ausblicke zu schaffen, auf die ihre Freunde stolz waren, spurlos rückgängig machen können, bevor sie die Wohnung in einigen Wochen wieder verließ.

Den Rest der Zeit an diesen ersten Tagen ging sie spazieren. Machte sich mit dem Viertel vertraut, lernte die unmittelbare Nachbarschaft kennen, wo in den Seitenstraßen die Leute am Abend Stühle auf den schmalen Bürgersteig stellten und dort ihr Abendessen einnahmen oder ein Bier tranken oder einfach nur saßen und redeten, während die Kinder noch ein bisschen hin und her rannten.

 

Sie spürte, sie würde bald krank werden. Eines Morgens ging sie hinunter zur 110. Straße an die Nordgrenze des

Im August, als es für sie ganz unmöglich war, in einem öffentlichen Schwimmbad zu schwimmen, weil ihre Narbe frisch und sie auch sonst nicht in sportlicher Verfassung war, ging sie noch einmal vorbei. Die Stadt dampfte, jeder stöhnte. Aber das Schwimmbad sah erstaunlich leer aus, und die wenigen Kinder und Jugendlichen, die zu sehen waren, gaben kaum einen Mucks von sich. Sie hingen am Beckenrand herum, soweit sie das erkennen konnte, träge, von draußen sah sie niemanden, der schwamm. Kein einziger Weißer war zu sehen. Der Eingang, ein schmaler Gang aus blauen Brettern, war offen. Ein älterer Mann saß davor. Sie versuchte, an ihm vorbeizuschauen, aber der Gang bog nach links ab und ihr Blick traf nur auf eine blaue Bretterwand. Der Eintritt ist frei. »Kann ich kurz hineingehen und mir die Sache mal ansehen?«, fragte sie. Der Mann schüttelte den Kopf. Man muss einen Badeanzug dabeihaben und ein Vorhängeschloss für einen Spind. Locks the rain rained on. Sie stand mit leeren Händen da. Sie durfte nichts tragen in den ersten Wochen nach der OP und hatte sich angewöhnt, ohne Tasche aus dem Haus zu gehen. Der Wächter blieb hart.

 

Nur wenige Straßen südlich ihrer Wohnung entdeckte sie ein Kino. Es hatte einmal einunddreißig Kinos in Harlem gegeben, ein »Renaissance«, ein »Lyric« und ein »Odeon Theatre« und wie sie sonst noch hießen, sie hatte im Internet einen Plan mit lauter Pfeilen gesehen, auf dem sie alle genannt waren. Aber der Plan war alt. Von den

 

Ein paar Tage später erst sah sie das Zimmerkino auf dem Malcolm X Boulevard. Sie musste schon einige Male an ihm vorbeigelaufen sein, ohne es zu bemerken. Erst als sie auf dem breiten Bürgersteig zurücktrat, um die Schilder über den Geschäften zu lesen, fiel es ihr auf. Die meisten Läden waren Friseursalons, in denen viele Frauen damit beschäftigt waren, kleine Zöpfe zu flechten, in stundenlangen Prozeduren mit herrlichen Ergebnissen. In anderen boten Männer, deren Alter sie unmöglich schätzen konnte, Elektromüll an, oder auch Koffer, Mützen, Schirme und billigen Flohmarktkram mit Auslagen auf dem Bürgersteig.

Auch vor den Geschäften sitzen die Menschen in Harlem gern auf dem Bürgersteig herum. Sie rufen über die Straße, »Hey Hazel, how a’ ya«, winken, grüßen, dösen vor sich hin, einen Ventilator neben dem Stuhl, mit einer verknuddelten Verlängerungsschnur quer über den Bürgersteig an einer Steckdose im Laden hängend. Es gab auch

 

Und eben das Kino. Maysles Cinema. Sie ging hinein und fragte eine junge Frau, die in dem schmalen Foyer ein paar Flugblätter zusammenschob, ob das Kino etwas mit Albert Maysles zu tun habe, dem Überlebenden der Maysles-Brüder Albert und David, den in den sechziger und siebziger Jahren berühmt gewordenen Dokumentarfilmern? Oder ob es zu deren Ehren so hieße? Nein, nein, erfuhr sie, Albert Maysles selbst habe es vor einigen Jahren gegründet, er arbeite noch fast täglich nebenan in den oberen Stockwerken an eigenen Filmprojekten, außerdem unterstütze er junge Dokumentarfilmer aus der Gegend. Aber heute, gerade jetzt, sei er leider nicht da.

 

Ein berühmter Mann, ein Pionier des direct cinema, dachte sie, betreibt in hohem Alter dieses winzige Kino? Auf dem Malcolm X Boulevard? Sie schätzte, er müsse weit in

 

»Rape! Murder! It’s just a shot away, it’s just a shot away!«. Nie hat jemand diese Schreie, mit denen »Gimme Shelter« beginnt, wahrhaftig schreiender ausgestoßen als Merry Clayton, die heute nur noch in der Kirche singt. Oder »Grey Gardens«, der Film mit der verrückten und irgendwie mit Jackie Kennedy verwandten Little Edie und ihrer Mutter Edith Beales, gedreht auf Long Island, bevor die Hamptons auf so exquisite Weise ordinär wurden. Kannte die noch jemand?

 

Vor einigen Jahren hatte sie sich einmal an Albert Maysles gewandt. Er wohnte, so dachte sie, wie Lauren Bacall, die sie unbedingt treffen wollte, im Dakota Building an der 72. Straße, Ecke Central Park West, jenem Haus, vor dem John Lennon erschossen wurde. Sie wollte damals über die berühmten Menschen in diesem Haus und die Geschichte des Gebäudes schreiben, aber alle, die sie besuchen und befragen wollte, lehnten ab. Albert Maysles hatte auf ihren Brief nicht einmal geantwortet. Vielleicht lebte er da auch schon gar nicht mehr im Dakota, sondern bereits in Harlem. Sie hatte sich schließlich wenigstens zwei leer stehende Apartments anschauen können, Objekte mit einem Marktwert von vielfachen Millionen. Damit das klappte, hatte sie der

Eine der Wohnungen, die ihr die Maklerin gezeigt hatte, war fast vollkommen schwarz gestrichen, mit einer plumpen schwarz glänzenden Art-déco-Bar aus lackiertem Chrom oder sonst etwas Teurem in der Eingangshalle, als bekäme jeder Gast als Erstes einen Martini. In den dahinterliegenden Räumen tastete sie mit ausgestreckten Armen herum, um einen Lichtschalter zu finden. Ihr kamen alle möglichen schmutzigen Phantasien in den Sinn, was in dieser Wohnung passiert war, als noch jemand hier lebte, und in allen spielten Menschen in spitzen Bustiers und Lackstiefeln eine Rolle, die sie sich in dunstiger Beleuchtung vorstellte. Die Maklerin entschuldigte sich, sie war nur vertretungsweise da und kannte die Gegebenheiten nicht. In der zweiten leeren Wohnung folgte eine vermuffte holzgetäfelte Zimmerflucht auf die nächste, als sei hier immer nur gestorben worden, und die Wände schienen sich gegen eine drückende Düsternis zu stemmen. Als sie zum Fenster ging und es aufriss, sah sie auf der anderen Seite des Hofs auf derselben Etage Lauren Bacall. Sie hatte ein Geschirrtuch in den Bund ihres Rocks gesteckt und trocknete eine Tasse ab.

 

Das alles war Jahre her. Als sie jetzt den Namenszug »Maysles Cinema« las, dachte sie, die Welt ist gerecht. Sie würde Albert Maysles treffen. Sie würden über das Kino

 

Es war Samstag, sie hatte überlegt, am Nachmittag eine Karte zu kaufen, weil sie mit großem Andrang rechnete, aber da war die Tür verrammelt. Am Abend schließlich versammelten sich elf Menschen. Damit war das Kino zu einem guten Drittel voll. Popcorn war gratis. Und gezeigt wurde »Homegoings« von Christine Turner, ein Dokumentarfilm über den fingerfertigsten Bestattungsunternehmer des Viertels. Isaiah Owens heißt er, wie der Prophet.

Ein Bestattungsunternehmer ist nichts Ungewöhnliches in Harlem. In etwa jedem dritten Haus, so schien es ihr, hat einer sein Geschäft. Auf fast allen ihrer Spaziergänge sah sie die schwarzen langen Limousinen mit den weißen Spitzengardinen in Einfahrten oder Auffahrten stehen. Einmal war die Tür zur Garage dahinter offen, und sie starrte auf zehn oder fünfzehn Särge, die kreuz und quer übereinandergestapelt waren. Es gibt fast so viele Bestatter in Harlem wie Kirchen, und die Menschen geben zu Lebzeiten sehr viel Geld dafür aus, später als Tote manierlich auszusehen.

 

Isaiah Owens ist ein Mann mit einem Herzen so groß wie die Aufgabe, die er sich gestellt hat: mit den Toten Feste des Lebens zu feiern. Sie war bereits mehrfach an seinem Geschäftslokal auf dem Malcolm X Boulevard

 

Isaiah Owens hat schon als Kind Beerdigung gespielt. Sein Beruf ist seine Leidenschaft. Im Film erzählt er, es gebe nur eine Aufgabe, vor der er sich fürchte: seine Mutter für ihre letzte große Reise herzurichten. Dann kommt diese Mutter ins Bild, eine muntere Achtzigjährige, deren Hände mit ihren gepflegten Fingern und spitz gefeilten Nägeln jedes Schloss öffnen könnten, auf das der Regen hinabregnet, und sie sagt Ja und lacht, als Tote ließe sie nur ihren Sohn an sich heran. Der wisse alles über Haare, Augenbrauen und schlaffe Lider, über Münder, die geschlossen bleiben, und Köpfe, die nicht nach hinten sacken sollen. Er gibt acht auf alle Details. Und sieht selbst aus wie der Wächter am Tor zur Unterwelt, wenn er einmal vor seine Tür tritt. Aber von den Stufen seines Hauses aus blickt er in die Welt hier oben, in der er bis auf Weiteres die Tradition von Trauermärschen mit Kutschen und Trompeten hütet, von Memorials, von Feiern des lebendigen Jetzt mit einer geschminkten Leiche in der Mitte.

 

Obwohl er nur ein paar Häuser vom Kino entfernt lebte, kam Isaiah Owens nicht zur Vorstellung. Damit hatte sie seltsamerweise fest gerechnet. Der junge Mann an der Kasse konnte sich nicht mehr erinnern, ob er einige

 

Sie traf Albert Maysles den ganzen Sommer über nicht. Wahrscheinlich fuhr er weiter mit dem Zug durch Amerika, und jetzt, vermutete sie, war es zu spät. Für sie. Gimme shelter, das Lied hatte sie oft gesummt in diesem Sommer. Wenn sie an seinem Kino vorbeiging. Wenn sie an ihre Freunde dachte, in deren Wohnung sie lebte. Wenn sie dachte, wie komme ich in einem Stück hier wieder raus.

 

 

 

 

 

 

»Die Heilung aber wird eine Weile dauern«, sagte die Chirurgin, die sie schon vor dreizehn Jahren operiert hatte und sie nun mit dem nicht sehr fröhlichen Satz begrüßte: »A visit from the past!«