Terra Utopia – Band 33
Wilfried Hary - Zukunftsträume
1. eBookAuflage – Juni 2015
© vss.verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.pixabay.com/
Lektorat: Heinz Domenik
Zukunftsträume
WILFRIED HARY
Ich schürzte die Lippen und blies die Regentropfen von meiner Nasenspitze. Mein Blick ging die breite, kerzengerade Landstraße entlang. Unaufhörlich trommelte der Regen sein Stakkato auf den nassen Asphalt.
Ein Seufzer. Gerade jetzt, da ich notwendig Hilfe brauchte, stand ich einsam hier. Die Landstraße, normalerweise gut befahren, blieb leer.
Ich wandte mich ab und öffnete den Wagenschlag. Drinnen war es wärmer und weniger feucht. Ich schüttelte das Wasser von meinem Mantel und ließ mich auf den Fahrersitz sinken.
Es war tatsächlich gemütlicher, doch lief ich Gefahr, von einem Vorbeifahrenden übersehen zu werden, da ich nach der Motorpanne den alten Dodge halb in einen Seitenweg geschoben hatte.
Ich sah durch die regennasse Frontscheibe hinaus auf den verschwommen wirkenden Wald. Es schien, als habe es schon immer geregnet und würde nie mehr aufhören.
Im nächsten Augenblick stieß ich den Wagenschlag wieder auf und sprang hinaus. Motorengeräusch!
Da war er auch schon: ein Wagen, der rauschend den Regen teilte. Ich winkte wie verrückt. Hoffentlich wurde ich gesehen.
Die besten Hoffnungen blieben nicht unerfüllt. Das Fahrzeug hielt direkt vor meinen Füßen.
Ich eilte zur Beifahrerseite. Die Tür wurde von innen aufgestoßen. Ich beugte mich hinein.
Erst dachte ich, es wäre ein kleiner Junge - so schmal und zierlich wirkte der Fremde. Aber die feinen Falten in dem rosigen Gesicht belehrten mich.
„Na, was ist ?“ piepste er mit einer Fistelstimme. „Wohl noch nicht nass genug ? Hereinspaziert !“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich setzte mich hinein, zog fröstelnd die Schultern zusammen und streckte meine Hand aus.
Er übersah sie
„Eine Panne? Hätten sich besser ein anderes Wetter ausgesucht!“ Sein Lachen klang fast hysterisch. Ich erschauerte und betrachtete den Fremden von der Seite.
„Leider ist die alte Mühle nur in einer Werkstatt zu reparieren. Hing zu lange daran. Hätte sie eher abstoßen sollen.“ Unwillkürlich übernahm ich seinen eigenartigen Redestil.
Der Jungenhafte entgegnete nichts. Er fuhr an.
„He, Moment!“ rief ich. „Muss den Wagen noch abschließen!“
„Na, wer soll den denn stehlen - bei dem Wetter und wo er doch defekt ist, nicht wahr?“
Das Argument überzeugte mich.
Der Fremde schnalzte mit der Zunge. „In die Zukunft müsste man sehen können. Dann würde einem so etwas nicht passieren.“
„Zukunft?“
Er wiegte bedächtig den Kopf.
Ich schluckte zweimal und beschloss, das Thema zu wechseln.
„Sagen Sie, nehmen Sie öfter einen Anhalter mit?“
„Kommt ganz darauf an. Schließlich ist in dieser Hinsicht bereits eine Menge passiert.“ Ich begann, mich stärker zu fühlen, betrachtete noch einmal den Kleinen, der auf einem dicken Kissen saß, damit er über den Rand des Steuers hinwegblicken konnte.
„Wie ist es mit mir? Haben Sie keine Bange, ich könnte plötzlich eine Waffe ziehen und Sie zu etwas zwingen, das Sie nicht wollen?“
Der Kleine grinste mitleidig.
„Das würden Sie gewiss nicht tun!“
„Was macht Sie so sicher?“
„Ihre Gedanken! Sie liegen offen vor mir - so offen wie ein Buch!“
Mein Selbstbewusstsein schwand, als hätte es der Regen weggespült. „Wie bitte?“
„Außerdem sprach ich von einem Blick in die Zukunft. Mit dieser Möglichkeit wären Sie niemals mitten im Wald und mitten im schönsten Unwetter hängengeblieben. Stimmt doch, oder?“
„Langsam, Fremder!“ Ich winkte mit beiden Händen ab. „Sie behaupten also, meine Gedanken lesen und in die Zukunft blicken zu können?“ Ein Verrückter! dachte ich. Mein Gott, worauf habe ich mich denn hier eingelassen? Ein Unglück kommt selten allein!
„Ich bin weder ein Verrückter, noch haben Sie sich auf etwas eingelassen!“ fistelte der Kleine ärgerlich.
Hätte er mir ins Gesicht geschlagen, wäre die Wirkung gewiss nicht anders gewesen.
„Sie-Sie...“
„Nun gut, ich sehe Ihre Skepsis. Mein Vorschlag: Denken Sie einmal an einen bestimmten Gegenstand!“ Ich wollte es nicht, aber vor meinem geistigen Auge tauchte ein Wecker auf.
„Na ja, so ein riesiges Ding brauchen Sie schon! Ich weiß, Sie kommen morgens nicht gut aus den Federn. Wie war das letzte Woche? Aha, verschlafen! Da nutzt der beste Wecker manchmal nichts. Überlegen Sie genau: Haben Sie ihn wirklich am Abend zuvor aufgezogen? Na, na? Oweh! Sie wissen es selbst nicht genau. Aber ich! Soll ich es Ihnen sagen?“
„Aufhören!“ schrie ich. Beide Hände preßte ich gegen meinen Schädel, als wollte ich verhindern, dass weitere Gedanken heraus sickerten.
„Tut mir aufrichtig leid. Habe Sie wohl erschreckt.“ Wieder einmal schnalzte er mit der Zunge. „Wie schon gesagt, das mit der Anhalterei ist so eine Sache. Da muss man vorsichtig sein. Man weiß nie, wen man antrifft.“
Ich hatte Angst, erbärmliche Angst - ohne es zu verheimlichen. Der Fremde wirkte zerbrechlich. Ein einziger Fausthieb hätte ... Nein, ich konnte es nicht. Es ging etwas von ihm aus, das man nicht greifen konnte. Sollte ich es Aura nennen?
„In Ordnung!“ würgte ich schließlich hervor. „Was wollen Sie mit mir anstellen?“
Er zuckte die Schultern.
„Ich las Sie auf, weil ich einen Gesprächspartner brauchte. Außerdem wollte ich helfen. Ist das unehrenhaft?“
„Natürlich nicht!“
„Werde mich mit Ihnen auch laut unterhalten, um Ihre Furcht nicht noch zu vergrößern.“
„Und Sie können wirklich in die Zukunft blicken?“
„Ich darf Sie doch bei Ihrem Voramen nennen, Henry?“
„Nur zu!“
„Gut, danke! Hm, in die Zukunft blicken ist der falsche Ausdruck. Formulieren wir es so: Ich reise durch die Zeit!“
„Das - das ist unmöglich! Das wird es nie geben, sonst - sonst hätte uns längst jemand aus der Zukunft besucht, aus einer Zeit, wo man.. Die Stimme versagte mir den Dienst, denn der Fremde lachte schallend.
„Mein lieber Henry, was würden Sie sagen, wäre ich ein solcher Besucher?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde es Ihnen erklären, ehe Sie der Verstand völlig im Stich lässt: Es ist unmöglich, einen Gegenstand durch Raum und Zeit zu schicken! Nur dem Geist sind diese Grenzen nicht gesetzt. Ich bin nicht der erste, der in die Vergangenheit reist. Tausende taten es vor mir schon!“
Ich hatte das unbändige Verlangen, aus diesem Alptraum zu erwachen. Deshalb kniff ich mir wie ein Wahnsinniger in den Arm. Es nutzte nichts.
Der Kleine mit der Fistelstimme fuhr ungerührt fort: „Der Mann, den Sie hinter dem Steuer sitzen sehen, bin ich nicht selbst. Ich habe nur aus der Zukunft Besitz von ihm ergriffen!“
Ich stöhnte laut und anhaltend.
„Keine Angst, Henry, dem Mann geschieht dabei nichts. Später wird er sich nicht einmal daran erinnern. Ich kann nicht ewig in ihm bleiben. So lange reichen meine telepathischen Energien nicht aus. Es ist nämlich sehr anstrengend.“
„Wie - wie lange sind Sie denn schon in diesem - diesem Körper?“ Ich lauschte den Worten nach und wollte nicht glauben, dass sie von mir stammten.
„Oh, seit einer halben Stunde!“
„Das ist doch ...“
„Ja, genau, es ist das erste Mal, dass ich mich in dieser Zeit befinde. Nehme ich wenigstens an. Henry, Raum und Zeit sind unendliche Einheiten. Ein ungeheurer Zufall, dass ich ausgerechnet an dem Zeitpunkt landete, als Sie am Straßenrand...“ Er zuckte die Schultern. „Wirklich unglaublich. Ich bin immer wieder fasziniert.“
„Sie haben von anderen gesprochen, die durch die Zeit reisen. Wie kommt es, dass ich noch keinen getroffen habe außer Ihnen?“
„Ich sagte aber auch, dass eine solche Reise nicht von Dauer ist. In der unendlichen Fülle von Zeitlinien ist es unmöglich, einen bestimmten Punkt wieder herauszufinden. Das Ziel bleibt stets ungenau.“
„Vielleicht wurden manche Propheten in der Vergangenheit von einem Geist besucht?“ schlug ich vor.
„Meistens sind die Menschen, die vorgeben, in die Zukunft sehen zu können, Scharlatane. Manchmal jedoch trifft es zu. Sie werten aus, was sie erfahren haben.“
„Und Sie steuern immer so perfekt einen Gastkörper als wäre er Ihr eigener?“
„Keinesfalls, lieber Henry. Meistens ziehe ich die Rolle des stillen Beobachters vor - ob freiwillig oder durch die Umstände gezwungen. Es ist eigentlich immer anders. Diesen Körper übernahm ich so vollkommen, weil der Mann, den Sie vor sich sehen, niemals angehalten hätte. Und Sie sind doch ein ausgezeichneter Gesprächspartner, nicht wahr?“ Es platzte einfach aus mir heraus: „Was wird uns die Zukunft bringen? Wie sieht es da aus?“
Er amüsierte sich. Seine Augen blickten scheinbar in weite Ferne. Und während der Regen unaufhörlich gegen die Frontscheibe trommelte, sagte er zu mir: „Ich war schon einmal in diesem Jahrhundert, von Ihnen aus gesehen, in der Zukunft. In dieser Zeit war die Macht der Publikationen ungeheuer stark. Man überschüttete den Konsumenten mit Werbung - und dann mit Tipps und Testergebnissen. Ein Lob dem Dienst im Sinne des Verbrauchers!“
Es klang zu gehässig, um ernst gemeint zu sein.
„Es gab Auswüchse. Alles, was gut ist, wird im Überfluss zum Nachteil. Zufällig wohnte ich einer Szene bei, die für ein Beispiel geeignet wäre. Soll ich Ihnen die kleine Geschichte erzählen?“
Im nächsten Augenblick tauchte vor meinem geistigen Auge ein Bild auf - wie in einem unglaublich deutlichen Traum...
Dr. Müller hatte sich, trotz seiner relativen Jugend und der neuen Praxis, als Rechtsanwalt bereits einen Namen gemacht. Ja, sein Name war sogar so bekannt, dass ihn eines Tages einer der leitenden Redakteure einer Zeitschrift besuchte und sich als Rolf Prüfer vorstellte. Wie zutreffend der Nachname des Besuchers war, stellte sich während des folgenden Gesprächs heraus.
„Wissen Sie, Doktor“, meinte der neue Klient nach der gegenseitigen Begrüßung und nachdem er vor dem wuchtigen Schreibtisch Müllers Platz genommen hatte, „mein Besuch hat einen recht diffizilen Charakter.“ Er räusperte sich.
„Obwohl Ihnen die Tätigkeit unserer Zeitschrift durchaus bekannt sein dürfte, lassen Sie mich erklären: Wir befassen uns hauptsächlich mit Warentests. Dabei bleiben wir stets neutral. Unsere Leser sollen aus bester Hand über alles informiert werden, was der nationale und internationale Markt zu bieten hat.
Sie müssen verstehen, dass es Firmen gibt, die unsere Tests beeinflussen wollen - durch Bestechung vielleicht oder durch andere Maßnahmen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Angenommen, wir testen Seifen von drei Firmen. Es wird kaum ausbleiben, dass eine der Firmen an uns herantritt, um sich - sagen wir - erkenntlich zu zeigen. Es beeinflusst unser neutrales Urteil keineswegs. Wir weisen das Angebot scharf zurück.
Weiter: Unsere Tests ergaben tatsächlich, dass die Seife vori der Bestechungsfirma besser ist als die anderen. Wäre es nicht dumm von uns gewesen, hätten wir nicht vor Bekanntgabe der Ergebnisse das Geld angenommen?“
Müllers Haltung versteifte sich. „Soll das heißen, Sie - Sie reden von einem konkreten Fall?“
Rolf Prüfer lächelte befremdet. „Muss ich unsere Neutralität noch einmal betonen? Wir warten ganz einfach ab, was unsere Tests ergeben! Nie würden wir es wagen, etwas von einer Firma anzunehmen, die minderwertige Ware auf den Markt bringt. Das müssen Sie mir glauben!“
„Betrug!“ murmelte Rechtsanwalt Dr. Müller fassungslos. „Das ist Betrug!“
Rolf Prüfer machte eine wegwerfende Geste.
„Ich möchte auf den Grund meines Hierseins zu sprechen kommen. Sehen Sie, Dr. Müller, dieselbe Firma, von der wir in der Seifensache das Geld angenommen haben, produziert auch Zannpasta. Nach unseren Ergebnissen entspricht sie nicht einmal dem unteren Durchschnitt. Und damit haben wir das Dilemma. Wir können auf die neuerliche Großzügigkeit nicht zurückgreifen. Schließlich haben wir unsere Grundsätze!“
Dr. Müller sagte kein Wort mehr. Er blickte nur ausdruckslos.
„Nun zu Ihnen, Dr. Müller. Diese besagte Firma beabsichtigt eine , Klage und stützt sich dabei auf die Seife. Das müssen Sie verstehen, Dr. Müller: Wir können uns einen solchen Skandal nicht leisten! Nicht zuletzt geht es um unsere Objektivität!“
Der Jurist hielt den Atem an.
„Aus zuverlässiger Quelle erfuhren wir, dass niemand anderes als Sie diese Firma vertreten sollen. Deshalb bin ich gekommen. Wir wollen Sie für uns gewinnen!“
Nun war es ausgesprochen. Der junge Rechtsanwalt wuchs langsam aus seinem Sessel zu einer drohenden Gestalt empor.
„Es reicht, Herr Prüfer! Verlassen Sie augenblicklich meine Praxis!“
Rolf Prüfer lächelte nachsichtig, während er zur Tür schritt.
Müller rief ihm nach: „Seien Sie versichert, dass ich alles tun werde, um Ihresgleichen das Handwerk zu legen!“
Prüfer blieb stehen und musterte den Juristen über die linke Schulter.
„Dr. Müller, ich habe vergessen zu erwähnen, dass wir nicht nur Waren testen. Neuerdings wenden wir uns auch anderen Dingen zu. Diesmal gibt es einen sehr interessanten Report, an dem wir mit Begeisterung arbeiten: >Was taugen unsere Rechtsanwälte?<. Als Aufhänger in dieser Story, die gewiss guten Anklang findet, haben wir eigentlich Sie ausersehen.“
Er wandte sich wieder der Tür zu, kam jedoch nicht weit. Ein überaus freundlicher Rechtsanwalt Dr. Müller hielt ihn am Arm auf und bot ihm Platz an in der besonderen Besucherecke.
Rolf Prüfer lächelte stärker und folgte der Einladung.
*
Ich machte große Augen.
„Ist das wirklich wahr?“ Im Nachhinein kam mir diese Frage etwas dümmlich vor.
Der Fremde rümpfte die Nase.
„Misstrauen? Ich habe mir erlaubt, Sie an meinen Gedanken teilhaben zu lassen, Henry. Zu umständlich, eine solche Geschichte in Worte zu fassen.“ Er machte eine Pause, während der er konzentriert auf die Straße blickte.
Mich interessierte sie nicht. Ich wollte auch nicht wissen, wo wir uns gerade befanden.
„Ich sagte Ihnen bereits“, fuhr er fort, „wir sind nicht in der Lage, genau dort wieder einzutauchen, wo wir die Zeitlinien zuletzt verlassen mussten. Es war eine meiner ersten Reisen. Der Aufenthalt war zugegebenermaßen kurz.“
„Und Sie konnten nicht eingreifen? Ich meine, wenn es wirklich einmal soweit kommt, dann ist das gewiss erst der Anfang. Was ist mit dem kleinen Mann auf der Straße? Wer...?“
„Mein lieber Freund Henry, ich kann Ihre Erregung durchaus begreifen, aber wir sind nun mal keine Manipulatoren, sondern Beobachter, und wir beobachten, weil es uns Spaß macht. Es ist Aufgabe der Zeit, sich selbst zu korrigieren.“
Ich lehnte mich ergeben zurück.
„Äh, Henry, wo soll ich Sie eigentlich absetzen?“
„Ich muss zu irgendeiner Werkstatt und meinen Wagen abschleppen lassen. Der nächste größere Ort vielleicht.“
Darauf hatte er nur gewartet - gewartet, um mir die nächste Geschichte zu erzählen. Richtig begierig war er, all das an den Mann zu bringen, was er erlebt hatte ... ,