Auch diesmal danke ich meiner Frau Cathy, die bei diesem Buch noch größere Geduld als sonst mit mir haben musste. Ganz schön wild, unsere elf gemeinsamen Jahre, wie?
Auch meinen drei Söhnen – Miles, Ryan und Landon – gebührt Dank. Sie helfen mir, alles in den richtigen Relationen zu sehen. Es ist eine Freude, zu sehen, wie ihr heranwachst.
Meine Agentin Theresa Park von Sanford Greenburger Associates hat mich bei jedem Schritt begleitet, und das ist ein großes Glück für mich. Ich kann es nicht oft genug sagen: Danke, vielen Dank für alles, du bist unübertroffen!
Die Zusammenarbeit mit meinem Lektor Jamie Raab von Warner Books ist auch diesmal fantastisch gewesen! Was soll ich sagen? Zum Glück stehst du mir mit gutem Rat zur Seite – glaub nicht, dass es für mich eine Selbstverständlichkeit ist. Ich hoffe, dass wir noch lange, lange zusammenarbeiten werden.
Ich danke Larry Kirshbaum, dem Verleger von Warner Books, der zudem ein sehr freundlicher Mann ist, und Maureen Egen, die nicht nur ein Juwel, sondern ein strahlender Brillant ist. Ihr beide habt meinem Leben eine entscheidende Wendung gegeben, und das werde ich nie vergessen.
Und schließlich erhebe ich mein Weinglas und sage Dank all denen, die mir auf dem Weg hierher geholfen haben: Jennifer Romanello und allen anderen in der Werbeabteilung bei Warner; Flag, der die wunderbaren Umschläge für meine Bücher entworfen hat; meinem Anwalt Scott Schwimer; Howie Sanders und Richard Green von der United Talent Agency, zwei der Besten auf ihrem Gebiet; Denise diNovi, der fabelhaften Produzentin von »Message in a Bottle« (die Hauptgestalt in diesem Roman ist übrigens nach ihr benannt); Courtenay Valenti und Lorenzo Di Bonaventura von Warner Brothers; Lynn Harris vom New Line Cinema; dem Produzenten Mark Johnson …
Nicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in 46 Ländern erscheinen, gilt Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Mehrere seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Seine bisherigen Bücher sind alle bei Heyne erschienen.
Am Morgen war Taylor mit Kyle zum Angeln gegangen. Denise war im Haus geblieben. Sie hatte ein paar Dinge zu tun, bevor Judy zum Lunch kam, außerdem brauchte sie eine kleine Verschnaufpause. Kyle ging inzwischen in die Vorschule, und obwohl er im vergangenen Jahr gute Fortschritte gemacht hatte, war es nicht so leicht für ihn, sich an die Schule zu gewöhnen. Sie arbeitete immer noch täglich mit ihm, machte Sprachübungen und bemühte sich nach Kräften, ihm auch andere Fähigkeiten beizubringen, die er im Zusammenleben mit Gleichaltrigen brauchte. Zum Glück hatte der Umzug in ihr neues Haus ihn nicht aus der Bahn geworfen. Sein neues Zimmer, das viel größer war als das in ihrem ersten Haus in Edenton, gefiel ihm gut, und er liebte den Blick aufs Wasser. Sie musste zugeben, dass sie auch angetan davon war. Von ihrem Platz auf der Veranda aus konnte sie Taylor und Kyle mit den Angeln in der Hand auf der Kaimauer sitzen sehen. Sie lächelte vor sich hin und fand, dass sie sehr natürlich zusammen aussahen. Wie Vater und Sohn – und das waren sie ja auch.
Nach der Hochzeit hatte Taylor Kyle adoptiert. Kyle war bei der kleinen Trauung in der Episcopal Church der Ringträger gewesen. Aus Atlanta waren ein paar Freunde gekommen und Taylor hatte seine Freunde aus der Stadt eingeladen. Melissa war die Brautjungfer und Judy tupfte sich in der ersten Reihe die Tränen ab, als die Ringe getauscht wurden. Nach der Hochzeitsfeier fuhren Taylor und Denise nach Ocracoke und verbrachten ihre Flitterwochen in einer kleinen Frühstückspension mit Blick über das Meer. An ihrem ersten Ehemorgen standen sie vor Sonnenaufgang auf und gingen am Strand entlang. Während die Tümmler auf den Wellen ritten, sahen Taylor und Denise zu, wie die Sonne aufging. Taylor stand hinter ihr und hatte die Arme um ihre Taille gelegt und Denise lehnte ihren Kopf zurück und fühlte sich warm und sicher, während der neue Tag sich vor ihnen entfaltete.
Als sie von der Hochzeitsreise zurückkamen, überraschte Taylor Denise mit Plänen für ein Haus, die er gezeichnet hatte. Es war ein anmutiges einstöckiges Landhaus am Wasser mit einer breiten Veranda und Fenstersitzen, einer modernen Küche und Holzböden. Sie kauften außerhalb der Stadt ein Grundstück und begannen binnen eines Monats mit dem Bau. Kurz vor dem Beginn des Schuljahres zogen sie ein.
Denise hörte auf, im Eights zu arbeiten. Hin und wieder gingen sie und Taylor zum Essen dorthin und plauderten mit Ray. Er war so wie immer und schien nicht älter zu werden, beim Abschied scherzte er, dass Denise jederzeit wieder bei ihm anfangen könnte. Doch trotz Rays Gutmütigkeit hatte sie keine Sehnsucht danach.
Obwohl Taylor immer noch gelegentlich aus Albträumen hochschreckte, erwies er sich Denise gegenüber als hingebungsvoller Ehemann. Trotz seiner Aufgaben im Zusammenhang mit dem Hausbau kam er jeden Mittag nach Hause und arbeitete nie nach sechs. Im Frühling übte er mit Kyles T-Ball-Team, in dem Kyle weder der beste noch der schlechteste Spieler war, und die Wochenenden verbrachten sie als Familie. Im Sommer hatten sie einen Ausflug nach Disney World gemacht und zu Weihnachten hatten sie sich einen gebrauchten Jeep Cherokee gekauft.
Jetzt fehlte nur noch der weiße Staketenzaun und der würde in der kommenden Woche gezogen werden.
Als der Küchenwecker klingelte, stand Denise auf und ging in die Küche. Sie nahm die gedeckte Apfeltorte aus dem Ofen und stellte sie auf die Arbeitsfläche. Auf dem Herd brutzelte eine Hühnerkasserolle vor sich hin und sandte einen Geruch von würziger Brühe durch das Haus.
Durch ihr Haus. Das Haus der McAdens. Obwohl sie jetzt schon über ein Jahr verheiratet war, hatte der Klang des Namens immer noch einen Zauber für sie. Denise und Taylor McAden. Es klang schön, wenn sie es vor sich hin sagte.
Sie rührte in dem Topf, der seit über einer Stunde auf dem Herd stand, und das Fleisch löste sich langsam vom Knochen. Zwar weigerte Kyle sich nach wie vor, Fleisch zu essen, aber vor einigen Monaten hatte sie ihm Hühnchen zu probieren gegeben. Er hatte sich eine Stunde lang gesperrt, bevor er schließlich einen Bissen versuchte. Im Laufe der darauf folgenden Wochen hatte er allmählich etwas mehr Huhn gegessen. Und nun aßen sie als Familie und alle bekamen das Gleiche. Wie es sich für eine Familie gehörte.
Eine Familie. Das klang in ihren Ohren auch gut.
Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie Taylor und Kyle über den Rasen kommen. Sie gingen zum Schuppen, wo die Angelausrüstung untergestellt wurde. Denise beobachtete, wie Taylor seine Rute aufhängte und dann die von Kyle nahm. Kyle stellte den Behälter mit den Angelhaken auf den Boden und Taylor schubste ihn mit der Fußspitze in die Ecke. Im nächsten Moment kamen sie die Stufen zur Veranda herauf.
»Hallo, Mom«, sagte Kyle.
»Habt ihr was gefangen?«, fragte sie.
»Nein. Kein Fisch.«
Wie alles andere in ihrem Leben hatte sich auch Kyles Sprachfähigkeit enorm verbessert. Er sprach immer noch nicht perfekt, aber allmählich schloss sich der Abstand zwischen ihm und den anderen Kindern in der Vorschule. Und was noch wichtiger war: Sie machte sich nicht mehr so viele Sorgen darum.
Taylor gab Denise einen Kuss, während Kyle schon ins Haus ging.
»Und was macht der kleine Wicht?«, fragte Taylor.
Sie nickte zur Ecke der Veranda hinüber. »Der schläft noch.«
»Müsste er nicht langsam aufwachen?«
»Es wird nicht mehr lange dauern. Er hat bestimmt bald Hunger.«
Zusammen näherten sie sich dem Korb und Taylor beugte sich darüber und betrachtete das kleine Wesen genau. Das tat er ziemlich oft, als könnte er immer noch nicht glauben, dass er dazu beigetragen hatte, ein neues Leben in die Welt zu setzen. Zärtlich fuhr er seinem Sohn über das Haar, das, mit sieben Wochen, noch recht spärlich war.
»Er ist so friedlich«, flüsterte er fast ehrfürchtig. Denise legte Taylor eine Hand auf die Schulter. Sie hoffte, ihr Sohn würde ihm eines Tages ähneln.
»Er ist schön«, sagte sie.
Taylor blickte über die Schulter auf die Frau, die er liebte, dann sah er wieder seinen Sohn an. Er beugte sich weiter vor und küsste ihn auf die Stirn.
»Hast du das gehört, Mitch? Deine Mom findet dich schön.«
Warum war alles so gekommen? Warum hatte es von allen Kindern Kyle getroffen?
Nach dem Tanken fuhr Denise wieder auf den Highway, sie hatte immer noch einen Vorsprung vor dem Unwetter. In den nächsten zwanzig Minuten regnete es weiter, zwar nicht wolkenbruchartig, aber doch kräftig. Sie sah zu, wie die Scheibenwischer das Wasser zur einen, dann zur anderen Seite schoben, und fuhr weiter in Richtung Edenton, North Carolina. Ihre Cola light hatte sie zwischen der Handbremse und dem Fahrersitz eingeklemmt, und obwohl sie wusste, dass es ihr nicht gut tat, trank sie den Rest aus und wünschte sich auf der Stelle, sie hätte noch eine Dose gekauft. Sie hoffte, das zusätzliche Koffein würde sie wach halten und ihre Aufmerksamkeit von Kyle auf das Fahren lenken. Aber Kyle war immer da.
Kyle. Was konnte sie da sagen? Einst war er Teil von ihr gewesen, ab der zwölften Woche hatte sie seinen Herzschlag gespürt, in den letzten fünf Monaten ihrer Schwangerschaft konnte sie seine Bewegungen in sich fühlen. Nach der Geburt, noch im Kreißsaal, hatte sie ihn angesehen und war überzeugt, dass es auf der Welt nichts Schöneres gab. Das Gefühl war unverändert geblieben, obwohl sie keineswegs eine perfekte Mutter war. Inzwischen gab sie sich einfach allergrößte Mühe, nahm das Gute mit dem Schlechten und erfreute sich an den kleinen Dingen. Bei Kyle waren sie manchmal schwer zu finden.
In den letzten vier Jahren hatte sie sich bemüht, Geduld mit ihm zu haben, aber das war nicht immer leicht. Einmal, als er noch kaum laufen konnte, hatte sie ihm mit der Hand den Mund zugehalten, um sein Schreien zu unterdrücken, aber das war, nachdem er die ganze Nacht wach gewesen war und fünf Stunden lang geschrien hatte; und es gibt überall auf der Welt erschöpfte Eltern, die ein solches Fehlverhalten verzeihen würden. Danach hatte sie jedoch versucht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wenn sie merkte, dass sie an ihre Grenzen gelangte, zählte sie langsam bis zehn, bevor sie handelte, und wenn das nichts nützte, verließ sie das Zimmer, um ihre Fassung wieder zu gewinnen. Normalerweise half das, aber es war ein Segen und zugleich ein Fluch. Es war ein Segen, weil sie wusste, dass Geduld nötig war, wenn sie Kyle helfen wollte; es war ein Fluch, weil sie so ihre Fähigkeit als Mutter dauernd in Frage stellte.
Kyle kam auf den Tag genau drei Jahre nachdem ihre Mutter an einem Blutgerinnsel im Gehirn gestorben war, zur Welt, und obwohl sie normalerweise nicht an Zeichen glaubte, konnte sie es dennoch nicht als Zufall betrachten. Kyle, dessen war sie sicher, war ein Geschenk Gottes. Kyle, das wusste sie, war ihr als Ersatz für ihre Familie geschickt worden. Außer ihm hatte sie niemanden auf der Welt. Ihr Vater war gestorben, als sie vier war, sie hatte keine Geschwister, alle ihre Großeltern waren tot. Kyle war der Einzige, auf den sie all die Liebe, die sie zu geben hatte, richtete. Aber das Schicksal ist undurchschaubar, das Schicksal ist nicht vorhersehbar. Obwohl sie Kyle mit Zuneigung überschüttete, war es doch nicht genug. Jetzt führte sie ein Leben, das sie sich so nicht vorgestellt hatte, ein Leben, in dem sie Kyles tägliche Fortschritte sorgfältig in einem Heft vermerkte. Jetzt führte sie ein Leben, das allein ihrem Sohn gewidmet war. Kyle beklagte sich natürlich nicht darüber, wie sie die Tage verbrachten. Kyle war anders als andere Kinder, er beklagte sich nie über etwas. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel.
»Woran denkst du, Schatz?«
Kyle sah dem Regen zu, der an die Scheibe gedrückt wurde, den Kopf zur Seite gedreht, seine Decke auf dem Schoß. Er hatte nichts gesagt, seit sie im Auto saßen, und beim Klang ihrer Stimme wandte er den Kopf.
Sie wartete auf seine Antwort. Es kam keine.
Denise Holton lebte in einem Haus, das einst ihren Großeltern gehört hatte. Nach deren Tod hatte ihre Mutter es geerbt und schließlich war es an Denise übergegangen. Es war nichts Besonderes – ein kleines, windschiefes Haus auf drei Hektar Land, das in den zwanziger Jahren gebaut worden war. Die beiden Schlafzimmer und das Wohnzimmer waren so schlecht nicht, aber die Küche bedurfte dringend einer neuen Ausstattung und das Badezimmer hatte keine Dusche. Die Holzböden der vorderen und hinteren Veranda hingen durch und ohne den tragbaren Ventilator hätte sie manchmal das Gefühl, sie würde bei lebendigem Leibe gebraten. Aber da sie mietfrei wohnen konnte, war es genau das, was sie brauchte. Seit drei Monaten war es ihr Zuhause.
In Atlanta zu bleiben, wo sie aufgewachsen war, wäre unmöglich gewesen. Nach Kyles Geburt hatte sie das Geld, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, gebraucht, um bei ihm zu Hause zu bleiben. Damals hatte sie geglaubt, es sei eine zeitlich begrenzte Arbeitspause. Wenn er ein bisschen älter war, so ihr Plan, wollte sie wieder als Lehrerin arbeiten. Das Geld würde ihr ausgehen und dann würde sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Außerdem hatte ihr das Unterrichten großen Spaß gemacht. Schon nach einer Woche hatte sie ihre Schüler und Kollegen vermisst. Inzwischen waren Jahre vergangen, sie war immer noch zu Hause mit Kyle und die Welt der Schule war nichts weiter als eine vage und ferne Erinnerung, eher ein Traum als etwas Wirkliches. Sie konnte sich an keine Unterrichtsstunde, an den Namen keiner ihrer Schüler mehr erinnern. Wenn sie es nicht genau wüsste, würde sie steif und fest behaupten, sie hätte nie als Lehrerin gearbeitet.
Die Jugend hält das Versprechen des Glücks bereit, aber das Leben die Wirklichkeit der Trauer. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Großeltern – alle tot, bevor sie selbst einundzwanzig war. In dem Alter war sie bei fünf verschiedenen Bestattungsinstituten gewesen, aber laut Gesetz war sie nicht alt genug, um in eine Bar zu gehen und in ihrem Kummer ein Gläschen zu trinken. Sie hatte mehr als ihren Anteil an Traurigkeit erlebt, aber Gott, so schien es, konnte es dabei nicht bewenden lassen. Wie die Qualen des Hiob hörten auch ihre nicht auf. »Ein ihrem Bildungsniveau entsprechender Lebensstandard?« Vorbei. »Freunde von früher?« Man muss sie hinter sich lassen. »Eine befriedigende Arbeit?« Zu viel verlangt. Und Kyle, der süße, wunderbare Junge, für den sie all dies auf sich nahm – in vielerlei Hinsicht war er immer noch ein Geheimnis für sie.
Statt als Lehrerin zu arbeiten, bediente sie abends in einem Diner mit dem Namen »Eights«, einem gut besuchten Lokal am Ortsausgang von Edenton. Der Besitzer, Ray Toler, war ein Schwarzer um die sechzig, der das Lokal seit dreißig Jahren führte. Er und seine Frau hatten sechs Kinder großgezogen, die alle auf dem College gewesen waren. Kopien ihrer Abschlusszeugnisse hingen an der Wand und alle, die dort essen gingen, wussten darüber Bescheid. Dafür sorgte Ray. Er sprach auch gern über Denise. Sie war die Einzige, so erzählte er oft, die mit ihrer Bewerbung einen Lebenslauf eingereicht hatte.
Ray verstand, was es bedeutete, arm zu sein, er war ein Mann, der Freundlichkeit zeigen konnte und der wusste, wie schwer das Leben für alleinerziehende Mütter war. »Hinter der Gaststube ist ein kleines Zimmer«, sagte er, als er sie einstellte. »Sie können Ihren Sohn mitbringen, solange er Ihnen nicht zwischen den Füßen rumläuft.« Tränen traten ihr in die Augen, als er ihr das Zimmer zeigte. Es standen zwei Betten darin, es gab ein Nachtlicht, es war ein Raum, in dem Kyle sicher schlafen konnte. Als sie am nächsten Abend mit ihrer Schicht anfing, legte sie Kyle in dem kleinen Zimmer schlafen; Stunden später lud sie ihn in ihr Auto und nahm ihn mit nach Hause. Seitdem hatte sich an diesem Ablauf nichts geändert.
Sie arbeitete an vier Abenden in der Woche eine Fünf-Stunden-Schicht und verdiente kaum genug, um davon zu leben. Vor zwei Jahren hatte sie ihren Honda verkauft und einen alten, aber zuverlässigen Datsun angeschafft und mit dem Differenzbetrag ihre Kasse aufgebessert. Dieses Geld, sowie alles, was ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, war inzwischen längst ausgegeben. Sie war Meisterin im Haushalten, Meisterin im Sparen geworden. Seit dem vorletzten Weihnachten hatte sie sich keine neuen Kleider gekauft; ihre Möbel waren zwar ordentlich, aber sie stammten aus einem anderen Leben. Sie abonnierte keine Zeitschriften, sie hatte kein Kabelfernsehen, ihre Stereoanlage war ein altes Gerät aus Collegezeiten. Der letzte Film, den sie im Kino gesehen hatte, war »Schindlers Liste«. Sie führte selten Ferngespräche mit ihren Freunden. Sie hatte 238 Dollar auf der Bank. Ihr Auto war neunzehn Jahre alt und hatte so viele Meilen auf dem Buckel, dass es fünfmal dem Erdumfang entsprach.
Nichts von alledem war jedoch wichtig. Allein Kyle war wichtig.
Aber noch nie hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte.
Wenn Denise nicht im Diner arbeitete, saß sie abends gewöhnlich in dem Schaukelstuhl auf der hinteren Veranda mit einem Buch auf dem Schoß. Sie las gern draußen, wo das an- und abschwellende Zirpen der Zikaden beruhigend war in seiner Monotonie. Ihr Haus war umgeben von Eichen und Zypressen und Hickorynussbäumen, die alle dicht mit Louisianamoos bewachsen waren. Manchmal, wenn das Mondlicht genau im richtigen Winkel einfiel, sprangen Schatten über den Kiesweg, die wie exotische Tiere aussahen.
In Atlanta hatte sie zum Vergnügen gelesen. Ihr Geschmack reichte von Steinbeck und Hemingway bis zu Grisham und Stephen King. Obwohl die Bücher dieser Autoren auch in der Stadtbibliothek standen, lieh sie sie nicht mehr aus. Stattdessen benutzte sie die Computer in den Leseräumen, auf denen die Bibliotheksbenutzer freien Zugang zum Internet hatten. Sie schlug bei den klinischen Forschungsberichten der großen Universitäten nach und ließ sich die relevanten Artikel ausdrucken. Der Ordner, den sie dafür angelegt hatte, war inzwischen fast zehn Zentimeter dick.
Auf dem Fußboden neben ihrem Stuhl lag ein Stapel Psychologiebücher. Ihre Anschaffung war teuer und riss ein erhebliches Loch in ihr Budget. Sie gab die Hoffnung nicht auf, und nachdem sie sie bestellt hatte, wartete sie gespannt darauf, dass sie eintrafen. Diesmal, dachte sie jedes Mal, würde sie etwas herausfinden, was sie weiterbringen würde.
Wenn die Bücher geliefert wurden, saß sie stundenlang darüber und studierte sie intensiv. Während die Lampe ihren stetigen Schein auf das Buch warf, las sie die Aufsätze, von denen die meisten Informationen enthielten, die sie schon kannte, aber sie ließ sich dennoch Zeit. Hin und wieder machte sie sich eine Notiz, manchmal knickte sie auch einfach die Seite um und markierte eine Stelle. So verging eine Stunde, manchmal waren es zwei, bevor sie endlich das Buch zuklappte und den Abend beschloss. Dann stand sie auf und streckte ihre steif gewordenen Glieder. Wenn sie die Bücher auf ihrem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer abgelegt hatte, sah sie nach Kyle und ging dann wieder nach draußen.
Ein Kiesweg führte zwischen den Bäumen hindurch zu einem zerbrochenen Zaun, der das Grundstück begrenzte. Mit Kyle ging sie diesen Weg am Tag, in der Dunkelheit ging sie ihn allein. Fremde Geräusche drangen von überall her zu ihr: Von oben kam der Schrei einer Eule, da drüben raschelte es in den Sträuchern, neben ihr huschte etwas über einen Ast. Eine Meeresbrise bewegte die Blätter und das Rauschen klang wie das Meer; Mondlicht fiel durch die Äste. Aber der Weg führte geradeaus, sie kannte ihn gut. Hinter dem Zaun drängte sich der Wald dicht um sie. Mehr Geräusche, weniger Licht, aber sie ging trotzdem weiter. Schließlich wurde die Dunkelheit fast erdrückend. Doch dann konnte sie das Wasser hören, der Chowan war nah. Noch eine Baumgruppe, eine scharfe Biegung nach rechts und plötzlich war es, als hätte sich die Welt vor ihr entfaltet. Der Fluss, breit und behäbig, lag vor ihr. Mächtig, ewig, schwarz wie die Zeit. Dann verschränkte sie die Arme, sah zu ihm hinab und ließ die Ruhe, die er verströmte, über sich hinwegspülen. Sie blieb immer nur ein paar Minuten, selten länger, weil Kyle im Haus war.
Und sie seufzte und wandte sich vom Fluss ab; sie wusste, es war Zeit zu gehen.
Im Auto, immer noch vor dem Unwetter herfahrend, dachte Denise daran, wie sie in der Praxis dem Arzt gegenübergesessen hatte, während er die Ergebnisse des Tests mit Kyle aus dem Bericht vorlas.
»Das Kind ist männlich und zum Zeitpunkt der Tests vier Jahre und vier Monate alt … Kyle ist ein hübscher Junge ohne sichtbare körperliche Mängel am Kopf oder im Gesichtsbereich … kein Kopftrauma, soweit bekannt … die Schwangerschaft wurde von der Mutter als normal beschrieben …«
So fuhr der Arzt ein paar Minuten fort, fasste die Ergebnisse der verschiedenen Tests zusammen und kam dann zu seiner Schlussfolgerung.
»Obwohl der IQ im normalen Bereich liegt, ist sowohl die rezeptive als auch die expressive Sprachentwicklung des Kindes stark beeinträchtigt … möglicherweise liegt eine allgemeine akustische Auflösungsschwäche vor, obwohl eine Ursache dafür nicht festgestellt werden kann … die sprachlichen Fertigkeiten des Kindes entsprechen schätzungsweise denen eines Zweijährigen … über zukünftige Sprach-und Lernfähigkeit kann zu diesem Zeitpunkt keine Prognose gemacht werden …«
Kaum besser als bei einem Kleinkind, konnte sie nicht umhin zu denken.
Als der Arzt fertig war, legte er den Bericht zur Seite und sah Denise mitleidvoll an.
»Anders ausgedrückt«, sagte er langsam, als hätte sie nicht verstanden, was er soeben vorgelesen hatte, »Kyle hat Probleme beim Erlernen von Sprache. Aus irgendwelchen Gründen – wir kennen sie nicht – kann Kyle nicht seinem Alter gemäß sprechen, obwohl sein IQ normal ist. Außerdem versteht er Sprache nicht in dem gleichen Ausmaß wie andere Vierjährige.«
»Ich weiß.«
Die Sicherheit, mit der sie antwortete, verblüffte ihn. Denise hatte den Eindruck, dass er entweder Widerspruch, eine Entschuldigung oder eine Liste vorhersehbarer Fragen erwartet hatte. Als er merkte, dass sie weiter nichts sagen wollte, räusperte er sich.
»Hier ist eine Notiz, die besagt, dass sie ihn noch von jemand anders haben beurteilen lassen.«
Denise nickte. »Das ist richtig.«
Er blätterte in den Papieren. »Die Berichte liegen dieser Akte nicht bei.«
»Ich habe sie Ihnen nicht gegeben.«
Er zog die Augenbrauen leicht in die Höhe.
»Warum nicht?«
Sie griff nach ihrer Handtasche, nahm sie auf den Schoß und dachte nach. Schließlich sagte sie: »Kann ich offen sprechen?«
Sie warf einen Blick auf Kyle, bevor sie sich wieder dem Arzt zuwandte. »Bei Kyle sind in den vergangenen zwei Jahren immer wieder falsche Diagnosen gestellt worden – alles von Taubheit über Autismus und allgemeine Entwicklungsstörungen bis hin zu einer akustischen Auflösungsschwäche. Im Laufe der Zeit stellten sich alle diese Diagnosen als nicht zutreffend heraus. Wissen Sie, wie schwer es für eine Mutter ist, sich diese Dinge über ihr Kind anzuhören, ihnen monatelang Glauben zu schenken, alles darüber zu lesen und es schließlich zu akzeptieren, um dann gesagt zu bekommen, dass es ein Irrtum war?«
Der Arzt antwortete nicht. Denise sah ihm in die Augen und hielt seinen Blick fest, bevor sie fortfuhr:
»Ich weiß, dass Kyle Probleme mit der Sprache hat, und Sie können mir glauben, dass ich alles über akustische Auflösungsschwäche gelesen habe. Um ehrlich zu sein, ich habe wahrscheinlich ebenso viel darüber gelesen wie Sie. Dennoch wollte ich seine Sprachfähigkeiten von einem unabhängigen Dritten testen lassen, um genau zu erfahren, wo er Hilfe braucht. In dieser Welt muss er auch mit anderen sprechen können, nicht nur mit mir.«
»Also … dann habe ich Ihnen nichts Neues gesagt.«
Denise schüttelte den Kopf. »So ist es.«
»Macht er bei einem Programm mit?«
»Ich arbeite mit ihm zu Hause.«
Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Geht er zu einem Sprach- oder Verhaltenstherapeuten, zu Experten, die mit Kindern wie ihm gearbeitet haben?«
»Nein. Er ist über ein Jahr dreimal die Woche bei einem Therapeuten gewesen, aber das hat offenbar nicht geholfen. Er kam einfach nicht vorwärts, deswegen habe ich ihn letzten Oktober rausgenommen. Jetzt mache ich es allein.«
»Ich verstehe.« Er sagte das in einem Ton, der ausdrückte, dass er mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden war.
Sie sah ihn aus schmalen Augen an.
»Sie müssen eins wissen – obwohl diese Einschätzung zeigt, dass Kyle auf dem Stand eines Zweijährigen ist, ist das eine Verbesserung. Bevor ich anfing, mit ihm zu arbeiten, hat er überhaupt keine Fortschritte gemacht.«
Das lag drei Stunden zurück, Denise war auf dem Highway und fuhr nach Hause; ihre Gedanken schweiften zu Brett Cosgrove, Kyles Vater. Er war ein Mann, der Blicke auf sich zog, der Typ, dem auch Denise nachsah: groß und schlank, mit dunklen Augen und schwarzen Haaren. Sie hatte ihn auf einer Party gesehen, von Menschen umgeben, offensichtlich daran gewöhnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Damals war sie dreiundzwanzig gewesen, ledig, in ihrem zweiten Berufsjahr als Lehrerin. Sie fragte ihre Freundin Susan, wer er sei. Sie erfuhr, dass Brett für ein paar Wochen in der Stadt war und für eine Investment-Bank arbeitete, deren Namen Denise inzwischen vergessen hatte. Es war unerheblich, dass er nicht in der Stadt wohnte. Sie sah in seine Richtung, er sah zu ihr herüber und ihre Blicke trafen sich in den nächsten vierzig Minuten immer wieder, bis er zu ihr kam und sie ansprach.
Wer kann erklären, was dann geschah? Hormone? Einsamkeit? Die Stimmung des Moments? Was immer die Gründe waren, sie verließen die Party kurz nach elf, tranken noch etwas in der Hotelbar und unterhielten sich dabei mit witzigen Anekdoten, kokettierten mit dem, was dann geschehen könnte, und landeten zusammen im Bett. Sie sah ihn nur dieses einzige Mal. Er ging wieder nach New York, wo er sein Leben hatte. Wo er, so vermutete sie, auch eine Freundin hatte, die zu erwähnen er vergessen hatte. Und sie hatte ihr Leben.
Im ersten Moment schien die Episode nicht so wichtig, aber einen Monat darauf, als sie eines Dienstagmorgens auf dem Fußboden im Badezimmer hockte, die Arme um die Toilettenschüssel geschlungen, war es schon um einiges wichtiger. Sie ging zum Arzt, der bestätigte, was sie längst wusste.
Sie war schwanger.
Sie rief Brett an, erreichte seinen Anrufbeantworter und bat ihn zurückzurufen; drei Tage später rief er endlich an. Er hörte zu, dann seufzte er und es klang genervt. Er bot ihr an, für eine Abtreibung zu bezahlen. Als Katholikin, sagte sie, käme das für sie nicht in Frage. Verärgert fragte er sie, wie das habe geschehen können. »Ich glaube, du weißt die Antwort darauf schon«, hatte sie geantwortet. Er fragte, ob sie sicher sei, dass das Kind von ihm sei. Sie schloss die Augen und versuchte ruhig zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen. Ja, es sei seins. Wieder bot er ihr Geld für eine Abtreibung. Wieder sagte sie nein. Was solle er ihrer Meinung nach tun, fragte er sie. Er solle gar nichts tun, sagte sie, sie sei einfach der Meinung, er solle es wissen. Er würde Einspruch erheben, wenn sie Unterhalt forderte, sagte er. Sie sagte, das erwarte sie nicht von ihm, aber sie müsse wissen, ob er in dem Leben des Kindes eine Rolle spielen wolle. Sie hörte sich seinen Atem am anderen Ende der Leitung an. Nein, sagte er schließlich. Er war mit jemandem verlobt.
Seitdem hatte sie nie wieder mit ihm gesprochen.
In Wahrheit war es leichter, Kyle gegenüber einem Arzt zu verteidigen als sich selbst gegenüber. In Wahrheit machte sie sich größere Sorgen, als sie sich anmerken ließ. Obwohl er große Fortschritte gemacht hatte, war das Sprachverhalten eines Zweijährigen nichts, worüber man jubeln konnte. Kyle würde im Oktober fünf.
Trotzdem, sie würde sich nicht geschlagen geben. Nie würde sie sich geschlagen geben, obwohl die Aufgabe, die sie mit ihm übernommen hatte, die schwerste war, die sich ihr je gestellt hatte. Nicht nur gestaltete sie seinen normalen Tagesablauf – sie machte ihm sein Essen, ging mit ihm in den Park, spielte mit ihm zu Hause, zeigte ihm die Umgebung und so weiter –, sondern sie arbeitete auch mit ihm und übte mit ihm Sprechen, vier Stunden jeden Tag, sechs Tage in der Woche. Zwar hatte er eindeutig Fortschritte gemacht, seit sie mit ihm übte, doch waren sie keineswegs gleichmäßig. An manchen Tagen sagte er alles nach, was sie ihm vorsprach, und an anderen Tagen tat er es nicht. An manchen Tagen verstand er neue Begriffe mit Leichtigkeit, an anderen schien er weiter zurück als sonst. Meistens konnte er Fragen mit »was« und »wer« beantworten; Fragen mit »wie« und »warum« verstand er überhaupt nicht. Und was die Fähigkeit zu einem Gespräch anging, das einen vernünftigen Austausch zwischen zwei Menschen ermöglichte, so war das nichts weiter als eine wissenschaftliche Hypothese und ging weit über seine Fähigkeiten hinaus.
Den Nachmittag zuvor hatten sie am Ufer des Chowan zugebracht. Er hatte Freude daran zu beobachten, wie die Boote auf dem Weg zur Batchelor Bay durch das Wasser pflügten, und es war eine Abwechslung in seinem Tagesablauf. Normalerweise war er, wenn sie zusammen arbeiteten, auf einem Stuhl im Wohnzimmer angeschnallt. Der Stuhl half ihm, sich zu konzentrieren.
Sie hatte sich eine schöne Stelle ausgesucht. Hickorynussbäume säumten das Ufer und die Farnwedel waren gegenüber den Stechmücken in der Überzahl. Sie saßen auf einer Wiese voller Klee, nur sie beide. Kyle blickte aufs Wasser. Denise machte sich in einem Notizbuch sorgfältig Aufzeichnungen über seine Fortschritte und schrieb gerade ihre letzte Beobachtung auf. Ohne aufzusehen sagte sie:
»Siehst du ein Boot, Schatz?«
Kyle antwortete nicht. Stattdessen hob er sein Spielzeugflugzeug in die Luft und tat so, als ließe er es fliegen. Ein Auge hatte er geschlossen, das andere war auf das Spielzeug in seiner Hand gerichtet.
»Kyle, Schatz, siehst du ein Boot?«
Er machte mit dem Mund ein Motorengeräusch nach, als würden die Düsen voll aufgedreht. Er beachtete sie gar nicht.
Sie sah über das Wasser. Es waren keine Boote in Sicht. Sie berührte leicht seine Hand, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Kyle? Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
»Fuseu.«
»Ich weiß, das ist ein Flugzeug. Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
Er hob das Flugzeug etwas höher, ein Auge war immer noch darauf gerichtet. Dann sprach er wieder.
»Dünfuseu.«
Sie seufzte. »Ja, es ist ein Düsenflugzeug.«
»Fuseu.«
Sie sah sein Gesicht an, so vollkommen, so bildschön, so normal. Mit dem Finger drehte sie sein Gesicht zu sich her.
»Auch wenn wir draußen sind – wir müssen trotzdem üben, okay? … Du musst das tun, was ich sage, sonst gehen wir ins Haus, zu deinem Stuhl. Das willst du doch nicht, oder?«
Kyle mochte seinen Stuhl nicht. Wenn er erst einmal angegurtet war, konnte er nicht mehr raus und kein Kind, Kyle eingeschlossen, mochte das. Doch Kyle, voller Konzentration, ließ sein Spielzeugflugzeug weiter vorwärts und rückwärts fliegen und richtete es an dem vorgestellten Horizont aus.
Denise versuchte es noch einmal.
»Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
Nichts.
Sie zog eine Süßigkeit aus der Tasche.
Kyle sah sie und griff danach. Sie hielt sie so, dass er nicht rankam.
»Kyle? Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
Er wisperte: »I se tei Boo.«
Denise beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn und gab ihm die Süßigkeit.
»Sehr gut, Schatz, sehr gut. Das hast du gut gemacht! Du machst das sehr gut!«
Kyle ließ ihr Lob über sich ergehen und aß seine Süßigkeit, dann nahm er sich wieder sein Flugzeug vor.
Denise vermerkte seine Worte in ihrem Notizbuch und fuhr mit der Übung fort. Sie sah hoch und überlegte, was er an dem Tag noch nicht gesagt hatte.
»Kyle, sag: ›Der Himmel ist blau.‹«
Ohne zu zögern sagte er:
»Fuseu.«
Sie saßen immer noch im Auto, noch zwanzig Minuten bis nach Hause. Sie hörte, wie Kyle sich in seinem Sitz bewegte, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Bald war es wieder still im Auto und sie gab sich Mühe, keinerlei Geräusche zu machen, bis sie sicher war, dass er wieder eingeschlafen war.
Kyle.
Der Tag davor war typisch gewesen für ihr Leben mit ihm. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, zwei Schritte zur Seite, ein ständiges Ringen. Er konnte mehr als früher, aber er war immer noch viel zu weit zurück. Würde er je aufholen?
Draußen standen dunkle Wolken am Himmel, der Regen fiel ohne Unterlass. Auf dem Rücksitz träumte Kyle, seine Augenlider zuckten. Wie seine Träume wohl aussahen, fragte sie sich. Waren sie tonlos, wie ein Stummfilm, der in seinem Kopf ablief, nichts weiter als Bilder von Raumschiffen und Düsenjägern, die durch den Himmel kreuzten? Oder träumte er mit den wenigen Wörtern, die er kannte? Sie wusste es nicht. Manchmal, wenn er schlief und sie neben seinem Bett saß, stellte sie sich vor, dass er in seinen Träumen in einer Welt lebte, wo jeder ihn verstand, wo die Sprache wirklich war, vielleicht nicht Englisch, aber eine Sprache, die für ihn einen Sinn ergab. Sie hoffte, dass er davon träumte, mit anderen Kindern zu spielen, mit Kindern, die auf ihn reagierten, die nicht vor ihm zurückschraken, weil er nicht sprechen konnte. In seinen Träumen war er, so hoffte sie, glücklich. Das wenigstens konnte Gott tun, oder?
Sie fuhr auf dem leeren Highway und war allein. Auch mit Kyle hinten im Auto – sie war dennoch allein. Sie hatte dieses Leben nicht gewählt, es war das einzige Leben, das ihr angeboten wurde. Sicher, es hätte alles noch schlimmer sein können, und sie bemühte sich, das nicht aus dem Auge zu verlieren. Aber die meiste Zeit war es nicht leicht.
Hätte Kyle diese Probleme auch, wenn sein Vater da wäre? Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, konnte sie nicht sicher sein, aber sie wollte es eigentlich nicht glauben. Sie hatte einmal einen von Kyles Ärzten gefragt und er hatte gesagt, er wisse es nicht. Eine ehrliche Antwort – eine, die sie erwartet hatte –, aber danach hatte sie eine Woche lang Schlafprobleme gehabt. Weil der Arzt die Idee nicht schlicht von sich gewiesen hatte, nistete sie sich in ihrem Kopf ein. War sie in irgendeiner Weise verantwortlich für Kyles Probleme? Diese Gedanken hatten zu weiteren Fragen geführt. Wenn nicht der fehlende Vater, war es vielleicht etwas, das sie in der Schwangerschaft falsch gemacht hatte? Hatte sie sich schlecht ernährt, sich nicht genügend geschont? Hätte sie mehr Vitamintabletten nehmen sollen? Oder weniger ? Hatte sie ihm häufig genug vorgelesen, als er ganz klein war? Hatte sie ihn zu wenig beachtet, als er sie besonders nötig brauchte? Die möglichen Antworten auf diese Fragen waren schmerzlich und mit schierer Willenskraft verdrängte sie sie aus ihrem Kopf. Aber manchmal, zu später Stunde, kamen sie wieder. Wie eine Flechte, die sich durch den Wald fortpflanzt, ließen sie sich nicht für immer unterdrücken.
War sie irgendwie für all das verantwortlich?
In solchen Momenten ging sie leise über den Flur in Kyles Schlafzimmer und sah ihn an, wie er schlief, mit einer weißen Decke um den Kopf geschlungen, ein Spielzeug in der Hand. Während sie ihn anblickte, war ihr Herz voller Kummer, aber sie empfand auch Freude. Einmal, als sie noch in Atlanta war, hatte jemand sie gefragt, ob sie Kyle bekommen hätte, wenn sie gewusst hätte, was ihnen beiden bevorstand. »Natürlich«, war ihre spontane Antwort gewesen. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das ehrlich war. Trotz seiner Probleme war Kyle ein Segen für sie. Würde sie eine Liste mit Gründen für und gegen ein Leben mit ihm aufstellen, dann war die Seite mit den Gründen dafür nicht nur länger, sondern auch bedeutungsvoller.
Aber sie liebte ihn nicht nur seiner Probleme wegen, sie hatte auch das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Es gab an jedem einzelnen Tag Momente, in denen sie zu seiner Verteidigung eilen und ihn entschuldigen wollte, um anderen zu erklären, dass er zwar normal aussah, aber dass in seinem Gehirn etwas falsch geschaltet war. Meistens tat sie es jedoch nicht. Sie beschloss, dass andere Menschen zu ihrem eigenen Urteil über ihn kommen sollten. Wenn sie nicht verstanden, wenn sie ihm keine Chance gaben, dann war es ihr Verlust. Denn trotz all seiner Schwierigkeiten war Kyle ein wunderbares Kind. Er tat anderen Kindern nicht weh; er biss nicht und zankte nicht mit ihnen, er kniff sie nicht, er nahm ihnen ihre Spielsachen nicht weg, er ließ andere mit seinen spielen, auch wenn er es eigentlich nicht wollte. Er war ein liebes Kind, das liebste, das sie kannte, und wenn er lächelte … Gott, er war einfach hinreißend. Wenn sie zurücklächelte, dann lächelte er immer weiter und für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, alles sei in Ordnung. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebe, und sein Lächeln wurde noch breiter, aber weil er nicht gut sprechen konnte, hatte sie manchmal das Gefühl, dass sie die Einzige war, die merkte, wie wunderbar er wirklich war. Und Kyle saß allein im Sandkasten und spielte mit seinen Autos, während die anderen Kinder ihn ignorierten.
Sie machte sich ständig Sorgen um ihn, und obwohl alle Mütter sich Sorgen um ihre Kinder machten, wusste sie, dass es nicht dasselbe war. Manchmal wünschte sie sich, sie würde jemanden kennen, der auch ein Kind wie Kyle hatte. Dann würde wenigstens jemand verstehen. Wenigstens hätte sie dann jemanden, mit dem sie sprechen könnte, mit dem sie vergleichen könnte, an dessen Schulter sie sich lehnen könnte, wenn sie einmal weinen musste. Wachten andere Mütter auch mit der bangen Frage auf, ob ihr Kind sich irgendwann einmal mit einem anderen Kind anfreunden würde? Ob es je einen Freund haben würde? Jemals? Fragten sich andere Mütter auch, ob ihre Kinder auf eine reguläre Schule gehen oder Sport treiben oder zum Schulball gehen würden? Mussten andere Mütter zusehen, wie ihre Kinder ausgeschlossen wurden, nicht nur von anderen Eltern, sondern auch von anderen Kindern? Begleiteten ihre Sorgen sie auch jeden Tag von neuem, ohne dass ein Ende abzusehen war?
Während sich ihre Gedanken entlang dieser vertrauten Windungen bewegten, fuhr sie mit dem alten Datsun jetzt über bekannte Straßen. Sie würde noch zehn Minuten brauchen. Um die nächste Kurve, über die Brücke, Richtung Edenton, dann links in die Charity Road. Danach noch eine Meile, und sie wären zu Hause. Es regnete nach wie vor und der Asphalt war schwarz und glänzend. Die Scheinwerfer warfen ihr Licht in die Ferne, das im Regen reflektierte – Diamanten, die aus dem Abendhimmel fielen. Sie fuhr durch das namenlose Sumpfland, ein geheimnisvolles Gebiet, so alt wie die Zeit und gänzlich unempfänglich für jede Entwicklung. Nur wenige Menschen lebten hier und sie wurden nur selten gesehen. Auf der Straße waren keine anderen Autos. Als sie mit ungefähr sechzig Meilen um die Kurve kam, sah sie es weniger als vierzig Meter vor sich auf der Straße stehen – ein voll ausgewachsenes Reh, den näher kommenden Scheinwerfern zugewandt, erstarrt in Unschlüssigkeit.
Sie fuhr zu schnell, um anhalten zu können, trat aber instinktiv auf die Bremse. Sie hörte das Kreischen der Reifen, spürte, wie die Reifen auf der regennassen Straße ihre Haftung verloren und wie der Wagen nach vorn katapultiert wurde. Immer noch rührte das Reh sich nicht. Denise konnte seine Augen sehen, zwei gelbe Murmeln, die in der Dunkelheit leuchteten. Sie würde mit ihm zusammenprallen. Denise hörte ihren eigenen Schrei, als sie das Steuerrad herumriss; die Vorderreifen rutschten erst und griffen dann doch. Das Auto schlitterte diagonal über die Fahrbahn und verpasste das Reh um dreißig Zentimeter. Das Reh löste sich aus seiner Erstarrung – zu spät, es spielte keine Rolle mehr – und sprang unversehrt und ohne einen Blick zurück davon.
Aber das Ausweichmanöver war zu viel für das Auto gewesen. Denise spürte, wie die Reifen von der Fahrbahn abhoben und mit voller Wucht wieder aufprallten. Die alten Stoßdämpfer stöhnten und krachten – ein zerbrochenes Trampolin. Die Zypressen standen keine hundert Meter von der Straße entfernt. Sie drehte heftig am Steuerrad, aber der Wagen fuhr weiter geradeaus, als hätte sie gar nichts gemacht. Ihre Augen wurden groß und sie atmete laut ein. Es kam ihr vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen, dann bei normaler Geschwindigkeit, dann wieder in Zeitlupe. Das Ende, das wurde ihr blitzschnell klar, stand schon fest, doch diese Erkenntnis dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. In dem Moment prallte sie gegen einen Baum; sie hörte das Bersten von Metall und das Splittern von Glas, als der Frontteil des Wagens auf sie zukrachte. Weil ihr Sitzgurt nur um ihre Hüften geschnallt war und nicht über ihre Schulter, prallte ihr Kopf hart auf das Steuerrad. Ein scharfer, bohrender Schmerz auf ihrer Stirn …
Dann nichts.