Nicholas Sparks
Wie ein einziger Tag
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Bettina Runge
Dieser Roman nahm seine heutige, endgültige Form mit Hilfe zweier Menschen an, denen ich für all das, was sie für mich getan haben, danken möchte:
Theresa Park, der Literaturagentin, die mich aus der Versenkung holte. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Ihre Geduld und die vielen Stunden, die Sie mit mir gearbeitet haben. Ich werde Ihnen dafür immer dankbar sein.
Jamie Raab, meiner Lektorin. Danke für Ihre Klugheit, Ihren Humor und Ihre Gutmütigkeit. Sie haben dies zu einer wundervollen Erfahrung für mich gemacht, und ich freue mich, Sie meine Freundin nennen zu dürfen.
Der Autor
Nicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt mit seiner Frau und den fünf gemeinsamen Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in 47 Ländern erscheinen, gilt Nicholas Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Viele seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt, 2004 auch Wie ein einziger Tag.
Alle Bücher von Nicholas Sparks sind bei Heyne erschienen. Ein ausführliches Werkverzeichnis finden Sie am Ende dieses Buches.
Große Autorenwebsite unter www.nicholas-sparks.de.
Wer bin ich? Und wie, so frage ich mich, wird diese Geschichte enden?
Die Sonne geht auf, und ich sitze an einem Fenster, das beschlagen ist vom Atem eines vergangenen Lebens. Einen schönen Anblick biete ich heute Morgen! Zwei Hemden, eine warme Hose, ein Schal, zweimal um den Hals gewickelt und hineingesteckt in einen dicken Wollpullover, den meine Tochter mir vor dreißig Jahren zum Geburtstag gestrickt hat. Der Thermostat in meinem Zimmer ist so hoch gestellt wie möglich, und gleich hinter mir befindet sich noch ein kleiner Heizofen. Er knackt und ächzt und speit heiße Luft wie ein Märchendrache, und doch zittert mein Körper noch immer vor Kälte, einer Kälte, die nicht von mir weichen will, einer Kälte, die sich achtzig Jahre lang in mir ausgebreitet hat. Achtzig Jahre, denke ich so manches Mal, und obwohl ich mich längst mit meinem Alter abgefunden habe, wundert es mich immer noch, dass ich seit dem Tag, da George Bush Präsident wurde, nicht mehr am Steuer eines Autos saß. Ich frage mich, ob es jedem in meinem Alter so ergeht.
Mein Leben? Es ist nicht leicht zu erklären. Sicher war es nicht so aufsehenerregend, wie ich es mir erträumt hatte, doch hat es sich auch nicht im unteren Drittel abgespielt. Es lässt sich wohl am besten mit einer sicheren Aktie vergleichen, stabil, mehr Höhen als Tiefen, und langfristig gesehen mit Aufwärtstrend. Ein guter Kauf, ein glücklicher Kauf, was wohl nicht jeder von seinem Leben behaupten kann. Doch lassen Sie sich nicht irreführen. Ich bin nichts Besonderes, gewiss nicht. Ich bin ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnlichen Gedanken, und ich habe ein ganz gewöhnliches Leben geführt. Mir wurden keine Denkmäler gesetzt, und mein Name wird bald vergessen sein, doch ich habe jemanden geliebt, mit Herz und Seele, und das war mir immer genug.
Die Romantiker würden es eine Liebesgeschichte nennen, die Zyniker eine Tragödie. Für mich ist es ein bisschen von beidem, und ganz gleich, wie man es letztendlich bezeichnet, es ändert doch nichts an der Tatsache, dass es um einen großen Teil meines Lebens geht und den Weg, den ich gewählt habe. Ich kann mich nicht beklagen über diesen Weg und die Stationen, an die er mich geführt hat; über andere Dinge vielleicht, doch der Weg, den ich gewählt habe, war immer der richtige, und ich würde mich immer wieder für ihn entscheiden.
Die Zeit macht es einem leider nicht leicht, beharrlich seinen Weg zu gehen. Doch auch wenn der Weg immer noch gerade verläuft, so ist er jetzt mit Geröll übersät, das sich im Verlauf eines Lebens nun einmal anhäuft. Bis vor drei Jahren wäre es leicht gewesen, darüber hinwegzusehen, jetzt aber ist es unmöglich. Eine Krankheit hat meinen Körper erfasst; ich bin nicht mehr stark und gesund, und ich verbringe meine Tage wie ein alter Luftballon, schlaff, porös, immer weicher mit der Zeit.
Ich huste und schaue blinzelnd auf meine Uhr. Ich sehe, es ist Zeit. Ich erhebe mich aus meinem Sessel am Fenster, schlurfe durchs Zimmer, halte am Schreibtisch inne, um mein Tagebuch an mich zu nehmen, das ich wohl schon hundertmal gelesen habe. Ich blättere nicht darin. Ich klemme es mir unter den Arm und bin schon unterwegs zu dem Ort, zu dem ich gehen muss.
Ich laufe durch geflieste Flure, weiß mit grauen Sprenkeln. Wie mein Haar und das Haar der meisten Menschen hier, obwohl ich heute Morgen der einzige auf dem Korridor bin. Sie sind in ihren Zimmern, allein mit ihrem Fernseher, aber sie sind, wie ich, daran gewöhnt. Ein Mensch kann sich an alles gewöhnen, man muss ihm nur genug Zeit lassen.
In der Ferne höre ich gedämpftes Weinen, und ich weiß genau, von wem diese Geräusche kommen. Dann sehen mich die Krankenschwestern, und wir lächeln uns zu, tauschen Grüße. Sie sind meine Freunde, und wir unterhalten uns oft. Ich bin sicher, sie wundern sich über mich und über das, was ich Tag für Tag durchmache. Im Vorübergehen höre ich sie miteinander flüstern. »Da ist er wieder«, höre ich. »Ich hoffe, es nimmt ein gutes Ende.« Doch sie sprechen mich nie direkt darauf an. Sicher glauben sie, es würde mir wehtun, so früh am Morgen darüber zu sprechen, und da sie mich kennen, haben sie gewiss Recht.
Kurz darauf bin ich bei dem Zimmer angelangt. Die Tür steht offen für mich, wie immer. Es sind noch zwei Krankenschwestern darin, und auch sie lächeln, als ich eintrete. »Guten Morgen«, sagen sie mit fröhlicher Stimme, und ich nehme mir einen Augenblick Zeit, frage nach den Kindern, nach der Schule, den bevorstehenden Ferien. Wir sprechen vielleicht eine Minute, ohne auf das Weinen einzugehen. Sie scheinen es nicht wahrzunehmen; sie sind dagegen taub geworden, wie ich letztlich auch.
Danach sitze ich in dem Sessel, der sich meinem Körper angepasst hat. Sie sind jetzt fertig, und sie ist angezogen, aber sie weint noch immer. Ich weiß, sie wird sich beruhigen, wenn sie gegangen sind. Die morgendliche Hektik verstört sie jedesmal, und heute ist keine Ausnahme. Schließlich wird das Rollo hochgezogen, und die Schwestern gehen. Beide lächeln und berühren mich im Vorbeigehen. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.
Ich sitze da und sehe sie an, doch sie erwidert meinen Blick nicht. Das ist verständlich, denn sie weiß nicht, wer ich bin. Ich bin ein Fremder für sie. Ich wende mich, den Kopf gesenkt, ab und bitte Gott um die Kraft, die ich brauchen werde. Ich habe immer an Gott geglaubt, an Gott und an die Macht des Gebetes, obwohl mein Glaube, wenn ich ehrlich bin, eine Reihe von Fragen hat aufkommen lassen, die ich gern beantwortet hätte, wenn ich einmal gegangen bin.
Fertig jetzt. Die Brille aufgesetzt. Die Lupe aus der Tasche gezogen. Ich lege sie einen Augenblick auf den Tisch, während ich das Tagebuch aufschlage. Zweimal über die Kuppe des knotigen Fingers geleckt, um den abgenutzten Deckel zu wenden und die erste Seite aufzuschlagen. Dann die Lupe darübergehalten.
Kurz bevor ich anfange zu lesen, kommt jedesmal ein Augenblick, in dem mir der Atem stockt und ich mich frage, wird es diesmal geschehen? Ich weiß es nicht, ich weiß es nie vorher, und im Grunde ist es auch nicht wichtig. Es ist die Möglichkeit, nicht die Gewissheit, die mich fortfahren lässt, eine Wette mit mir selbst, könnte man sagen. Und auch wenn Sie mich für einen Träumer oder Narren oder sonstwas halten, glaube ich, dass alles möglich ist.
Alles spricht dagegen, das ist mir klar, vor allem die Wissenschaft. Doch Wissenschaft ist nicht die ganze Antwort, das weiß ich, das hat mich das Leben gelehrt. Und deshalb glaube ich, dass Wunder, wie unerklärlich, wie unglaublich sie auch sind, wirklich geschehen können, ungeachtet der natürlichen Ordnung der Dinge.
Und so beginne ich wieder, wie jeden Tag, laut aus meinem Tagebuch vorzulesen, damit sie es hören kann, in der Hoffnung, dass das Wunder, das mein Leben beherrscht, noch einmal wahr wird.
Und vielleicht, ja, vielleicht wird es diesmal geschehen.