Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»My Name is Memory« im Verlag Riverhead Books
(Penguin Group USA), New York.
1. Auflage
Copyright © 2010 by Ann Brashares
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 bei carl’s books,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09029-6
www.carlsbooks.de
Meinem Liebsten Nate,
der die Gabe des Erinnerns besitzt
Nicht fordernd vom Himmel, daß er mir
zu Gefallen herunterkomme,
Sondern ihn allezeit ausstreuend mit vollen Händen.
WALT WHITMAN, »Gesang von mir selbst«
ICH LEBE SEIT mehr als tausend Jahren. Ich bin oft gestorben. Wie oft, habe ich vergessen. Mein Gedächtnis ist ungewöhnlich gut, aber es ist nicht perfekt. Ich bin ein Mensch.
Meine ersten Leben sind mir nur vage in Erinnerung. Die Bahn, die unsere Seele beschreibt, folgt dem Weg durch jedes unserer Leben. Sie ist makrokosmisch. Meine Kindheit? Ich hatte viele Kindheiten. Und selbst als meine Seele noch jung war, habe ich oft das Erwachsenenalter erreicht. Jetzt kommen die Erinnerungen in jeder Kindheit früher. Wir tun nur noch so, als ob. Befremdet betrachten wir die Welt um uns. Wir erinnern uns.
Wenn ich »wir« sage, meine ich damit mich, meine Seele, meine anderen Ichs, meine vielen vergangenen Leben. Wenn ich »wir« sage, meine ich aber auch die anderen, die wie ich dieses Gedächtnis besitzen, im Bewusstsein gespeicherte und den Tod überdauernde Erinnerungen an das Leben auf dieser Erde. Viele sind wir nicht, ich weiß. Vielleicht ein Mensch alle hundert Jahre, einer unter Millionen. Selten erkennen wir uns gegenseitig, doch glaubt mir, es gibt noch andere wie mich. Und sicher besitzt einer von ihnen ein noch außergewöhnlicheres Gedächtnis als ich.
Geboren und gestorben bin ich mehrmals und an vielen verschiedenen Orten. Die Abstände spielen keine Rolle. Ich war nicht in Bethlehem, als Christus geboren wurde. Die Pracht Roms habe ich niemals gesehen. Ich habe mich auch niemals vor Karl dem Großen verneigt. Zu dieser Zeit schuftete ich auf armseligen Feldern in Anatolien und sprach einen Dialekt, den die Bewohner der südlich und nördlich gelegenen Dörfer schon nicht mehr verstanden. Um für Aufregung zu sorgen, ist auf Gott und den Teufel Verlass. Die meisten Menschen aber bekommen die großen Ereignisse der Weltgeschichte nicht mit. Ich habe darüber in Büchern gelesen wie alle anderen.
Zuweilen fühle ich mich Häusern und Bäumen näher als den Menschen. Ich stehe da und betrachte das Kommen und Gehen der unzähligen Leute. Ihre Leben sind kurz, doch meines ist lang. Manchmal sehe ich mich selbst als einen Pfahl, fest in die Erde gerammt am Rande des Ozeans.
Ich hatte niemals ein Kind und bin niemals alt geworden. Ich weiß nicht, warum. Ich sah Schönheit in unzähligen Dingen. Ich habe meine große Liebe gefunden, und nur sie bleibt. Ich habe sie einmal getötet und bin viele Male für sie gestorben, und doch habe ich nichts erreicht. Immer suche ich sie, und immer erinnere ich mich an sie. Und ich hoffe, dass auch sie sich eines Tages an mich erinnert.
HOPEWOOD, VIRGINIA, 2004
SIE KANNTE IHN noch nicht sehr lange. Er war am Beginn der elften Klasse aufgetaucht. Sie lebte in einer kleinen Stadt, in einem kleinen Schulbezirk. Jahr für Jahr sah man in der Schule dieselben Gesichter. Er war ebenso wie sie in der elften Klasse, aber irgendwie wirkte er älter.
Es war ihr viel darüber zu Ohren gekommen, wo und wie er die letzten siebzehn Lebensjahre verbracht hatte, aber sie hatte so ihre Zweifel, dass an den Geschichten etwas dran war. Die anderen erzählten, bevor er nach Hopewood kam, sei er in der Psychiatrie gewesen. Sein Vater sitze im Gefängnis, und er lebe ganz allein. Seine Mutter sei umgebracht worden, so erzählte man sich, wahrscheinlich von seinem Vater. Irgendjemand behauptete, er trage immer lange Ärmel, weil er Brandmale an den Armen habe. Soweit sie wusste, hatte er sich niemals gegen diese Gerüchte verwehrt und auch keine eigene Version seiner Geschichte angeboten.
Und obwohl Lucy den Gerüchten keinen Glauben schenkte, so begriff sie doch, was eigentlich dahintersteckte. Daniel war anders, auch wenn er versuchte, diesen Eindruck zu zerstreuen. Seine Miene war stolz, aber er strahlte etwas Tragisches aus. Ihr schien, als hätte sich in seinem Leben niemand um ihn gekümmert und als wäre er sich dessen gar nicht bewusst. Einmal sah sie ihn am Fenster in der Cafeteria stehen, während die anderen laut quasselnd mit ihren Geschirrtabletts vorbeiklapperten und -drängten, er aber schien völlig verloren. In seinem Blick lag in diesem Moment etwas, als wäre er der einsamste Mensch auf der ganzen Welt.
Als er an der Schule auftauchte, wurde zunächst viel Aufhebens um ihn gemacht, denn er sah sehr gut aus. Er war groß, muskulös und wirkte ziemlich abgeklärt, und seine Klamotten sahen ein bisschen besser aus als die der meisten anderen Schüler. Wegen seiner Körpergröße zeigten auch die Football-Trainer zunächst Interesse an ihm, aber er ging nicht darauf ein. In der Kleinstadt gab es zu viel Langeweile, zu viele Hoffnungen, und bald begannen die Mitschüler über ihn zu reden. Zunächst waren die Gerüchte eher schmeichelhaft, aber dann machte er einige Fehler. Er ging nicht auf Melody Sandersons Halloween-Party, obwohl sie ihn persönlich auf dem Schulkorridor eingeladen und jeder sie dabei beobachtet hatte. Während des jährlichen Picknicks von elfter und zwölfter Klasse unterhielt er sich die ganze Zeit mit Sonia Frye, obwohl sie für Leute wie Melody zu den absoluten Außenseiterinnen gehörte. Sie alle lebten in einem brüchigen System sozialer Regeln und Gepflogenheiten, und schon als der erste Winter kam, fühlten sich die meisten Leute von ihm vor den Kopf gestoßen.
Nur Lucy nicht. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Sie mochte Melody und ihre coole Mädchentruppe nicht besonders, aber sie war vorsichtig. Sie hatte bereits einige Minuspunkte und wollte nicht zu den Außenseitern gehören. Das konnte sie ihrer Mutter nach allem, was die mit ihrer Schwester durchgestanden hatte, nicht antun. Außerdem mochte Lucy keine komplizierten Jungen. Sie mochte sie einfach nicht.
Sie hatte die merkwürdige Vorstellung – genauer gesagt, war es eine Art Fantasie –, dass sie ihm helfen könnte. Sie wusste, wie das Leben innerhalb und außerhalb der Schulmauern funktionierte, und wusste, wie man beides meisterte. Sie spürte, dass er an einer größeren Last trug als die meisten Menschen, und aus dieser Gewissheit heraus erwuchs ein eigenartiges, schmerzliches Mitgefühl für ihn. Sie wollte gern glauben, dass er sie vielleicht brauchte und sie ihn vielleicht als Einzige verstand.
Er ließ auf keinerlei Weise erkennen, dass er das genauso sah. In fast zwei Jahren hatte er nicht ein einziges Mal mit ihr gesprochen. Nur einmal war sie auf sein Schuhband getreten und hatte sich entschuldigt, worauf er sie anstarrte und einige Worte murmelte. Hinterher fühlte sie sich unwohl und verstimmt, und ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Augenblick zurück, und sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was er gesagt hatte, und versuchte zu begreifen, was er gemeint haben könnte. Aber am Ende entschied sie, dass sie nichts falsch gemacht hatte und dass es sein Problem war, wenn er um drei Uhr nachmittags mit offenen Schnürsenkeln im Korridor der zwölften Klasse herumlief.
»Findest du, ich grüble zu viel?«, fragte sie Marnie. Die sah sie an, als würde sie ihr am liebsten die Haare ausraufen.
»Ja, ich finde, du grübelst zu viel. Wenn man über dich einen Film drehen würde, dann hätte der den Titel ›Ich grüble zu viel‹.«
Darauf hatte sie gelacht und sich später ihre Gedanken gemacht. Marnie hatte das nicht aus Gemeinheit gesagt. Marnies Zuneigung war stärker und ehrlicher als die aller anderen Menschen, die sie kannte, ihre Mutter vielleicht ausgenommen, die ihr sehr viel Liebe entgegenbrachte, wenn auch nicht auf ehrliche Art. Marnie konnte es nicht mit ansehen, dass sie so viel von ihren Gefühlen für jemanden aufwendete, dem sie so offensichtlich egal war.
Lucy hingegen hielt ihn insgeheim für ein Genie. Er tat und sagte nichts, um sie in dieser Ansicht zu bestärken. Aber einmal hatte sie während der Englischstunde neben ihm gesessen und ihm verstohlene Blicke zugeworfen, während die Klasse über Shakespeare redete. Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er, über sein Heft gebeugt, aus dem Gedächtnis Sonette niederschrieb. Eines nach dem anderen, in einer wunderbar geschwungenen Handschrift, die sie an Thomas Jefferson denken ließ, wie er die Unabhängigkeitserklärung entwarf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte, als befände er sich irgendwo, nur nicht in dem beengten Klassenzimmer mit der flackernden Neonbeleuchtung und dem winzigen Fenster. Woher kommst du nur?, fragte sie sich. Wie bist du ausgerechnet hier gelandet?
In einem Anfall von Kühnheit fragte sie ihn einmal, welche Hausaufgaben sie in Englisch aufhätten. Er wies lediglich auf die Tafel, auf der stand, dass sie sich auf ein in der nächsten Stunde zu verfassendes Essay zu The Tempest vorbereiten sollten. Dabei sah er sie an, als wollte er etwas sagen. Sie wusste, dass er nicht zu schüchtern war, sie hatte gehört, wie er sich mit anderen unterhielt. Sie wollte ihm einen aufmunternden Blick zuwerfen, aber als sie in seine hellgrünen Augen sah, wurde sie plötzlich verlegen, und sie richtete ihren Blick auf den Boden und schaute erst wieder auf, als die Unterrichtsstunde zu Ende war. Das geschah ihr nicht oft. Normalerweise besaß sie genügend Selbstvertrauen. Sie wusste, wer sie war und wohin sie gehörte. Sie war mehr mit Mädchen aufgewachsen, aber über ihre Kontakte zur Studentenvertretung, der Töpferwerkstatt und zu Marnies beiden Brüdern hatte sie viele Jungen kennengelernt, mit denen sie inzwischen befreundet war. Bei keinem fühlte sie sich so wie in Daniels Gegenwart.
Und dann gab es die Begegnung am Ende der elften Klasse, als sie dabei war, ihren Schulspind auszuräumen. Bei dem Gedanken, dass sie ihn den ganzen Sommer lang nicht sehen würde, wurde ihr schwer ums Herz. Sie hatte das verrostete Auto ihres Vaters, einen weißen Blazer, nicht gut geparkt. Es befand sich einige Häuserblocks von der Schule entfernt und stand mit zwei Rädern auf dem Randstein. Auf dem Bürgersteig lagen Stapel mit Unterlagen und Büchern aus ihrem Spind sowie ein Karton mit ihren Töpferarbeiten, und sie versuchte vorsichtig die Autotür zu öffnen.
Zunächst nahm sie Daniel nur aus dem Augenwinkel wahr. Er schien kein besonderes Ziel zu haben, und er trug auch nichts bei sich. Er stand einfach nur mit herunterhängenden Armen da und schaute sie mit verlorenem Gesichtsausdruck an. Er sah traurig aus und ein wenig geistesabwesend, so als hielte er seinen Blick im gleichen Maße nach innen wie auch auf sie gerichtet. Sie wandte sich ganz um und sah ihm in die Augen. Diesmal fuhr keiner von ihnen erschreckt auf. Er stand da, als versuchte er sich an etwas zu erinnern.
Ein Teil von ihr wollte ihm zuwinken oder einen vermeintlich witzigen und originellen Kommentar abgeben, doch ein anderer Teil hielt den Atem an. Es schien, als würden sie sich wirklich kennen, und als hätte sie nicht nur ein Jahr lang unaufhörlich an ihn gedacht. Es schien, als würde er darauf vertrauen, dass sie einen Augenblick lang einfach nur so dastehen würde, so als ob es so viele wichtige Dinge gäbe, die sie sich hätten sagen können, dass sie am Ende nichts zu sagen brauchten. Dann warf er ihr einen unsicheren Blick zu und ging seiner Wege, und sie fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Später versuchte sie Marnie die Begegnung als Beweis dafür zu schildern, dass sie einander tief verbunden waren, aber Marnie winkte ab und behauptete, sie bausche wie üblich alles zu sehr auf.
Marnies Rolle war es, Lucys Erwartungen zu dämpfen, und sie hatte auch einen Satz parat, den sie bei passender Gelegenheit gebetsmühlenartig wiederholte: »Wenn er dich wirklich gernhätte, würdest du es schon merken.« Lucy vermutete, dass sie diesen Satz irgendwo in einem Buch aufgeschnappt hatte.
Es war nicht nur so, dass Lucy ihm helfen wollte. So uneigennützig war sie nicht. Sie fühlte sich auf unwiderstehliche Weise von ihm angezogen. Die üblichen Dinge zogen sie an, aber auch eigentümliche Details, wie sein Nacken oder die Art, wie er seine Daumen an den Rand des Pults legte oder wie sein Haar auf einer Seite über dem Ohr abstand wie ein kleiner Flügel. Einmal fing sie seinen Geruch auf, und ihr wurde ganz anders. In jener Nacht konnte sie nicht einschlafen.
Die Wahrheit war, dass er ihr etwas bot, das kein anderer Junge an der Schule ihr bieten konnte: Er hatte Dana nicht gekannt. Dana hatte ihnen immer »zu schaffen gemacht«, so die zurückhaltenden Worte ihrer Mutter. Aber als sie beide noch klein gewesen waren, war sie Lucys Heldin. Sie war der klügste Mensch, dem Lucy jemals begegnet war, und sie konnte so schnell reden wie kein anderer. Und sie war immer mutig. Mutig und unbekümmert. Immer wenn Lucy etwas falsch gemacht hatte, auch wenn es sich um so Kleinigkeiten handelte, wie Schmutz ins Haus zu tragen oder Ketchup auf dem Fußboden zu verschütten, nahm Dana die Schuld auf sich. Selbst wenn Lucy sie anflehte, das nicht zu tun, ließ sie nicht davon ab, denn ihr machte es nichts aus, ausgeschimpft zu werden, Lucy aber schon.
Dana wurde zu einem Problem, als Lucy in der fünften und sie in der neunten Klasse war. Zuerst begriff Lucy nicht, was all das Getuschel der älteren Schüler und der Erwachsenen zu bedeuten hatte, aber sie wusste, dass es etwas war, für das man sich schämen musste. »Ich hatte deine Schwester«, würde der eine oder andere ihrer Lehrer mit bedeutungsschwerer Stimme sagen. Einige Kinder kamen nicht mehr zu ihr nach Hause zu Besuch und luden sie auch nicht mehr zu sich ein. Und sie begriff, dass ihre Familie etwas falsch gemacht hatte, aber sie verstand nicht so richtig, was es war. Nur Marnie hielt fest zu ihr.
In der siebten Klasse war Dana zu einem abschreckenden Beispiel geworden. Über ihre Eltern waren unzählige Gerüchte in Umlauf. Waren sie Alkoholiker? Hatten sie Drogen im Haus? Hatte ihre Mutter gearbeitet, als die Töchter noch klein gewesen waren? Irgendjemand sagte dann meist: »Aber eigentlich sind es doch ganz nette Leute«, und die Spekulationen waren vorerst beendet.
Ihre Eltern nahmen das alles mit gesenktem Kopf hin und forderten die Schuldzuweisungen damit geradezu heraus. Sie waren tief beschämt, und es war leichter, den Tadel zu ertragen, als gar nichts zu tun. Dana war das alles egal, aber der Rest der Familie fühlte sich schuldig und war zu jeder Entschuldigung bereit.
Lucy versuchte mitunter, sich loyal zu verhalten. Andere Male wünschte sie sich, mit Nachnamen Johnson zu heißen, denn von denen gab es vierzehn an ihrer Schule. Sie versuchte, Dana darauf anzusprechen, aber als das keinen Erfolg hatte, redete sie sich ein, dass ihr das alles nichts ausmachte. Wie viele Male kann man es ertragen, innerlich jemanden aufzugeben, den man liebt? »Lucy ist nicht wie die andere Broward«, hörte sie ihren Mathematiklehrer zum Schulberater sagen, als sie in die Highschool kam. Und sie fühlte sich furchtbar, weil sie sich an diese Aussage klammerte. Sie dachte, wenn sie sich nur genug anstrengen würde, könnte sie alles wiedergutmachen.
Wegen mangelnder Anwesenheit und aller möglicher Vergehen, die mit der Schule nichts zu tun hatten, wie Drogen, Gewalttätigkeit und weil sie den Jungen in der Toilette einen blies, fiel Dana in der Schule zurück. Auf dem Schreibtisch ihres Vaters sah Lucy einmal einen Brief, in dem stand, dass Dana bei dem nationalen Uni-Zulassungstest als geeignete Kandidatin für ein nationales Stipendium aufgrund besonderer Leistungen infrage komme. Schon merkwürdig, wozu Dana sich mitunter entschloss.
An ihrem vorletzten Schultag, genau eine Woche vor ihrer Abschlussfeier, ging Dana von der Schule ab. Beim Abschlussball tauchte sie dann wieder auf und legte inmitten der Feierlichkeiten einen dramatischen Abgang hin. Daniel war wahrscheinlich der einzige Junge aus Lucys Umfeld, der nicht dabei gewesen war, als Dana sich auf dem Rasen vor der Schule die Kleider vom Leib riss. Sie war umringt von Sanitätern, die versuchten, ihren Klauen fernzubleiben, während sie sie zum letzten Mal in die Klinik brachten.
Am Thanksgiving desselben Jahres nahm Dana eine Überdosis und fiel ins Koma. Sie starb friedlich am Weihnachtstag und wurde am Silvestertag bestattet. Bei den Trauerfeierlichkeiten waren neben ihrer Familie, Marnie, ihre beiden noch lebenden Großeltern und ihre verrückte Tante aus Duluth anwesend. Als Vertreter der Schule war Mr. Margum gekommen, der Physiklehrer und der Jüngste in der Lehrerschaft. Lucy war sich nicht sicher, ob er gekommen war, weil Dana in seiner Klasse sehr gut abgeschnitten hatte oder weil sie ihm einen geblasen hatte oder vielleicht auch beides.
Das Greifbarste an Danas schwieriger Hinterlassenschaft war eine weit über einen Meter lange Schlange namens Sawmill, die Lucy jetzt zu versorgen hatte. Was hätte sie sonst tun sollen? Ihre Mutter würde sich nicht darum kümmern. Woche für Woche taute sie tiefgefrorene Mäuse auf, die sie der Schlange mit zunehmendem Unbehagen verfütterte. Gewissenhaft tauschte sie die Wärmelampe aus. Sie dachte, dass Sawmill vielleicht ohne Danas belebenden Geist das Zeitliche segnen würde, und einmal entdeckte sie in dem Glaskasten seine ausgetrocknete und leblose Hülle, und für einen Augenblick, zwischen Schrecken und Erleichterung hin und her gerissen, glaubte sie, dass es jetzt so weit war. Aber er hatte sich lediglich gehäutet. Er hatte sich in sein hohles Stück Baumstamm zurückgezogen und sah so frisch aus wie nie zuvor. Plötzlich fielen Lucy wieder die grauen trockenen Schlangenhäute ein, die Dana an ihre Wand gehängt hatte, was auch ihr einziger Versuch geblieben war, ihr Zimmer zu dekorieren.
Die elfte Klasse war das erste Schuljahr, in dem Lucy etwas anderes sein wollte als nur Danas Schwester. Sie war hübsch, und die Jungen hatten ein etwas kürzeres Gedächtnis als die Mädchen, aber am Ende konnte sie alle für sich gewinnen.
Im Spätherbst wurde Lucy zur Sprecherin der elften Klasse gewählt. Und zwei ihrer Töpferarbeiten, eine Vase und eine Schale, wurden für eine Kunstausstellung in ihrem Bundesstaat ausgewählt. Doch jedem Augenblick der Freiheit und des Erfolgs stand ein anderer gegenüber, in dem sie sich schuldig und traurig fühlte. Sie verabscheute sich dafür, dass sie die anderen an der Schule brauchte, aber so war es.
»Weißt du, Lu, in der Schule habe ich überhaupt keine Freunde«, hatte Dana ihr einmal gesagt, als ob das tatsächlich eine Überraschung für sie wäre.
»Wahrscheinlich wird er gar nicht kommen«, prophezeite Marnie am Telefon, während sie sich beide für das große Highschool-Ereignis, den Abschlussball, fertig machten.
»Wenn er sein Abschlusszeugnis haben will, muss er erscheinen«, erwiderte Lucy, beendete dann das Gespräch und ging an ihren Kleiderschrank.
Marnie rief noch einmal an. »Und selbst wenn er kommen sollte, wird er wahrscheinlich kein Wort mit dir reden.«
»Vielleicht spreche ich ihn einfach an.«
Behutsam holte Lucy ihr lavendelfarbenes, schlicht geschnittenes Seidenkleid aus dem Schrank und nahm die Schutzhülle ab. Dann legte sie es vorsichtig auf ihr Bett und tauschte ihren normalen BH gegen einen mit Spitze verzierten cremefarbenen. Sie pinselte hellrosa Nagellack auf ihre Fußnägel und war eine Viertelstunde lang bemüht, ihre Fingernägel von Ton und Gartenerde zu befreien. Mit einem Lockenstab versuchte sie ihr Haar in Form zu bringen, wusste aber, dass die Locken bereits nach einer Stunde aus ihrem glatten, feinen Haar verschwunden sein würden. Während sie Eyeliner auftrug, stellte sie sich vor, wie Daniel sie dabei beobachtete, und unerwarteterweise rutschte sie mit dem Stift aus und stach sich damit ins Auge.
Peinlicherweise hatte sie oft derartige Fantasien. Bei allem, was sie tat, stellte sie sich Daniels Gegenwart vor und wie er seine Meinung und seine Gedanken dazu äußerte. Und obwohl sie niemals wirklich miteinander geredet hatten, hatte sie stets eine klare Vorstellung von seinen Kommentaren. Zum Beispiel gefiel es ihm nicht, wenn man zu viel Make-up auftrug. Den Fön fände er laut und überflüssig, der Wimpernformer wäre für ihn ein Folterinstrument. Er mochte, dass sie Sonnenblumenkerne aß, aber mit der Diet Pepsi war er nicht einverstanden. Während auf ihrem iPod Musik lief, wusste sie, welche ihm gefallen würde und welche nicht.
Ihr Kleid würde er hübsch finden, dachte sie, während sie es sich vorsichtig über den Kopf zog und der dünne Stoff an ihrem Körper herunterglitt. Aus diesem Grund hatte sie es ausgesucht.
Wieder rief Marnie an. »Du hättest mit Stephen auf den Ball gehen sollen. Er hat dich sehr freundlich gefragt.«
»Ich wollte aber nicht mit Stephen gehen.«
»Also, Stephen würde dir Blumen mitbringen, und er hätte sich mit dir fotografieren lassen.«
»Ich mag ihn nicht. Was soll ich dann mit den Bildern?« Sie ließ unerwähnt, dass die Sache mit Stephen vor allem deswegen keine gute Idee war, weil Marnie ein Auge auf ihn geworfen hatte.
»Und er würde auch mit dir tanzen. Stephen ist ein guter Tänzer. Daniel kannst du vergessen, dem ist es doch völlig egal, ob du da bist oder nicht.«
»Vielleicht ist das aber auch nicht so. Das kannst du nicht wissen.«
»Doch. Er hatte ausreichend Gelegenheit, sein Interesse zu zeigen, und hat sie nicht genutzt.«
Nachdem Lucy auch dieses Gespräch beendet hatte, stellte sie sich vor den Spiegel. Sie bedauerte es ein wenig, nicht an Blumen gedacht zu haben. Von dem Töpfchen auf ihrer Fensterbank nahm sie drei Veilchen, zwei lilafarbene und eins in Rosa, und steckte sie an eine Haarspange, die sie knapp über ihrem Ohr befestigte. Das sah schon besser aus, fand sie.
Viertel vor acht stand Marnie vor der Tür. Lucy wusste den Gesichtsausdruck ihrer Mutter, die gerade die Treppe hinunterkam, nur allzu leicht zu deuten.
Ihre Mutter hatte sich sehnlichst gewünscht, dass jemand wie Stephen Lucy abholen würde, jemand mit einem Smoking und einer Blume am Revers, und nicht schon wieder Marnie in ihren schwarzen Strümpfen voller Laufmaschen. Sie hatte zwei hübsche blonde Töchter gehabt, und weit und breit kein Junge im Smoking, der sich für sie interessierte. Als sie jung war, hatte es genügt, wie Lucy auszusehen.
Lucy spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Jetzt wusste sie, warum sie diese Fotos gern gehabt hätte. Ihre Mutter hätte dann ein Andenken an eine geschönte Variante ihres Elterndaseins. Lucy betete im Stillen ihre übliche Litanei an Argumenten herunter, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen: Sie nahm keine Drogen, sie hatte kein Zungenpiercing und auch kein Spinnen-Tattoo im Nacken. Sie hatte sich ein lavendelfarbenes Kleid angezogen, sich die Fußnägel rosa lackiert und Veilchen ins Haar gesteckt. Sie konnte nicht alles richtig machen.
»Du liebe Güte«, meinte Marnie, nachdem sie Lucy von Kopf bis Fuß betrachtet hatte. »War das wirklich alles nötig?«
»Was alles?«
»Vergiss es.«
»Was alles?«
»Gar nichts.«
Lucy hatte es übertrieben, darum ging es. Sie sah an ihrem Kleid hinunter auf die goldfarbenen Schuhe. »Das ist vielleicht das letzte Mal, das ich ihn sehe«, erklärte sie niedergeschlagen. »Ich habe keine Ahnung, wie es dann weitergeht. Aber er soll sich an mich erinnern.«
»Ich kann diesen Song nicht ausstehen. Lass uns nach draußen gehen.«
Lucy folgte Marnie, die keinen der Songs leiden konnte, aus der Schulaula. Draußen wippte Lucy dann geräuschvoll auf ihren goldfarbenen Schuhen hin und her und betrachtete den dunkelroten Lippenstiftabdruck auf Marnies Zigarettenfilter. Marnie beugte sich vornüber, um sich die Zigarette wieder anzuzünden, und Lucy sah am Scheitel das zarte Blond ihrer nachwachsenden Haare, die aus den übrigen dunkel gefärbten Strähnen hervorstachen.
»Daniel ist nirgendwo zu sehen«, kommentierte Marnie eher verstimmt als triumphierend.
»Mit wem ist Stephen hier?«, konterte Lucy und klang dabei gehässiger als beabsichtigt.
»Halt die Klappe«, erwiderte Marnie, die gerade ebenfalls mit ihrer Enttäuschung zu schaffen hatte.
Für eine Weile folgte Lucy ihrer Aufforderung und betrachtete, wie der Rauch aus der Zigarette aufstieg und sich in der Luft verteilte. Im Geiste sah sie Daniels Zeugnis auf dem Tisch an der Wand der Turnhalle, und die Vorstellung setzte ihr zu, als wäre sie zurechtgewiesen worden. Er würde wirklich nicht auftauchen. Er machte sich nichts aus ihr. Das Make-up in ihrem Gesicht fühlte sich an wie eine starre Maske. Am liebsten hätte sie es abgewaschen. Sie sah an ihrem Kleid hinunter, für das sie ein ganzes Semester in dem Bagelladen hatte arbeiten müssen. Was wäre, wenn sie ihn niemals wiedersah? Bei dem Gedanken fühlte sie fast so etwas wie Panik in sich aufsteigen. Das konnte einfach nicht alles gewesen sein.
»Was war das?«, fragte Marnie und wandte plötzlich den Kopf.
Lucy hörte es auch. Aus der Schule waren laute Rufe zu hören und dann ein Schrei. In der Nähe einer Highschool war immer viel Geschrei zu hören, aber dieses ging einem durch Mark und Bein.
Marnie sah so aufgeschreckt aus, wie Lucy es nur selten an ihr bemerkt hatte. Vor den Haupteingängen drängelten sich mittlerweile die Menschen, und es waren laute Rufe zu hören. Lucy fuhr zusammen, als das Geräusch von splitterndem Glas zu ihr drang. Irgendetwas stimmte da nicht.
Woran denkt man, wenn Glas birst und Menschen angsterfüllt schreien? Da gab es nicht viel zu überlegen. Marnie war hier bei ihr, und ihre Mutter war zu Hause in Sicherheit. Also dachte Lucy an Daniel. Was, wenn er noch irgendwo dort drin war? Vor den Eingängen stauten sich immer mehr Menschen, und das Geschubse nahm zu. Sie musste wissen, was dort vor sich ging.
Sie benutzte einen Seiteneingang. Der Korridor war dunkel, und sie folgte den Schreien der Menschenmenge. Als sie auf den Korridor der zwölften Klasse traf, hielt sie kurz inne. Aus der Ferne hörte sie, wie noch mehr Glas zu Bruch ging. Auf dem Fußboden bemerkte sie dunkle Schlieren und wusste instinktiv, was das war. Hier war mehr Blut zu sehen, das langsam in eine Richtung floss. In ihrer Benommenheit schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass der Boden doch eigentlich ganz flach sein sollte. Sie ging ein paar Schritte weiter und hielt dann erschrocken inne. Weiter hinten lag eine Gestalt in der Dunkelheit, während alle anderen wegrannten. Offensichtlich stammte das Blut aus diesem Körper auf dem Boden.
»Was ist passiert?«, rief sie den Flüchtenden hinterher.
Mit zittrigen Fingern kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Handy. Als sie das Telefon gerade aufgeklappt hatte, hörte sie von draußen viele Sirenen auf einmal. Jemand griff sie am Arm und wollte sie wegziehen, aber sie schüttelte die Hand ab. Das Blut floss auf eine ihrer Zehen in der goldenen Sandale zu. Jemand trat in die dunklen Schlieren und hinterließ Spuren auf dem Linoleumboden, und irgendwie war alles nicht so, wie es sein sollte.
Vorsichtig näherte sie sich dem auf dem Boden Liegenden und versuchte dabei, nicht in Blut zu treten. Sie beugte sich vor, um das Gesicht zu betrachten. Es war ein Junge aus der elften Klasse; sie kannte ihn lediglich vom Sehen. Sie ging neben ihm in die Hocke und berührte ihn am Arm. Mit jedem Atemzug entfuhr ihm ein Stöhnen. Wenigstens war er noch am Leben. »Alles okay?«, fragte sie, obwohl das Gegenteil offensichtlich war. »Es kommt bald Hilfe«, versicherte sie ihm mit zittriger Stimme.
Mit einem Mal hörte sie sich nähernde Schritte. Die Polizei war eingetroffen. Sie schrien alle an, verriegelten die Eingänge und befahlen allen, Ruhe zu bewahren, obwohl die Polizisten selbst alles andere als ruhig waren.
»Ist ein Krankenwagen draußen?«, fragte sie, doch nicht laut genug, und so wiederholte sie ihre Frage. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weinte.
Zwei Polizisten rannten auf den liegenden Jungen zu, und sie trat ein paar Schritte zurück. Wieder hörte sie, wie in Funkgeräte gebrüllt wurde. Dann kam ein Notarztteam, und sie machte Platz.
»Kommt er durch?«, fragte sie, aber wieder viel zu leise, um eine Antwort zu erhalten. Sie wich noch weiter zurück, bis sie nichts mehr sehen konnte.
Eine Polizistin packte sie grob am Arm. »Sie bleiben hier«, befahl sie, obwohl Lucy keine Anstalten gemacht hatte, fortzulaufen. Sie führte sie in die Aula für Naturwissenschaften und wies auf eine Tür auf der rechten Seite. »Gehen Sie da rein und bleiben Sie da, bis einer der Detectives kommt, um Sie zu befragen. Sie rühren sich nicht vom Fleck, haben Sie mich verstanden?«
Sie öffnete die Tür zum Chemielabor, wo sie in der zehnten Klasse mit dem Bunsenbrenner Versuche durchgeführt hatten.
Durch die Fenster sah sie zuerst nur die roten und blauen Lichter der Polizeiautos. Sie bahnte sich einen Weg zwischen Stühlen und Tischen, um mehr zu erkennen. Auf dem Rasen hinter der Schule, wo sie bei gutem Wetter normalerweise ihre Freistunden verbrachten, waren jetzt bestimmt zehn Polizeiautos in wildem Durcheinander geparkt. Immer wenn die roten Lichter der Wagen über den Rasen strichen, konnte sie sehen, wie die Reifen die Grasnarbe aufgerissen hatten, und dieser Anblick steigerte noch ihr Entsetzen.
Sie konnte kaum etwas erkennen, aber sie erinnerte sich, wie sie in dem Klassenzimmer zum Waschbecken gelangte. Sie hätte auch den Lichtschalter suchen können, aber sie wollte sich nicht den Blicken der Menschen draußen vor den Fenstern aussetzen. Sie drehte den Hahn auf, lehnte sich nach vorn und wusch sich Make-up und Tränen vom Gesicht. Sie benutzte ein steifes braunes Papiertuch, um sich abzutrocknen. Dabei fiel eines der Veilchen aus ihrem Haar. Sie hatte gedacht, sie wäre allein in dem Raum, bis sie eine Gestalt wahrnahm, die in einer Ecke an einem Schulpult saß. Sie bekam es mit der Angst. Und doch ging sie darauf zu, während ihre Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten.
»Wer ist da?«, fragte sie mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Flüstern war.
»Daniel.«
Sie hielt inne. Die Lichter von draußen beleuchteten ihr Gesicht.
»Sophia«, sagte er.
Sie ging näher auf ihn zu, damit er sehen konnte, wen er vor sich hatte. »Nein, ich bin’s, Lucy.« Ihre Stimme zitterte leicht. Draußen verblutete ein Junge, und außerdem war sie enttäuscht, dass er immer noch nicht wusste, wer sie war.
»Komm, setz dich.« Stoisch, resigniert sah er sie an; als wäre es ihm lieber, wenn sie Sophia hieße.
Sie tastete sich an den Zimmerwänden vor und bahnte sich ihren Weg über Stühle, Jacken und Taschen, die Schüler dort abgestellt hatten. Für die Ereignisse dieser Nacht trug sie das falsche Kleid. Er saß direkt an der Wand auf einer jener Pult-Stuhl-Kombinationen, bei denen Stuhl und Tisch direkt miteinander verbunden sind. Er saß da, als würde er auf etwas warten.
Sie war sich nicht sicher, wie sie sich hinsetzen sollte, also zog sie einen weiteren dieser Pult-Stühle an seinen heran, sodass die beiden Pulte sich gegenüberstanden wie Yin und Yang. Als sie in seine Nähe kam, begann sie zu zittern. Auf ihren bloßen Armen fühlte sie eine Gänsehaut. Verlegen zupfte sie die verbliebenen Veilchen aus dem Haar.
»Dir ist kalt«, sagte er. Er blickte auf die beiden kleinen Blumen auf ihrem Pult.
»Kein Problem«, antwortete sie. Ihre Gänsehaut kam wirklich nicht von der Kälte.
Er sah auf die Kleider, die auf den Stühlen und Pulten herumlagen. Dann zog er sich seine weiße Sweatshirtjacke aus, auf der vorne ein Falke prangte, und hielt sie ihr hin. Sie legte sie sich über die Schultern, ohne in die Ärmel zu schlüpfen oder den Reißverschluss zu schließen.
»Weißt du, was passiert ist?«, fragte sie und lehnte sich vor. Ihr Haar fiel ihr über die Schultern und berührte fast seine Hände.
Er legte seine Hände flach vor sich auf das Pult, wie er es oft in der Englischstunde getan hatte. Es waren die Hände eines Mannes, nicht die eines Jungen. Er schien sie zur Ruhe zu zwingen. »Einige aus der elften Klasse haben die Halle der zwölften und den Korridor auseinandergenommen. Ein paar von ihnen hatten Messer dabei, und dann ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Ich glaube, zwei von ihnen sind leicht verletzt, und ein Junge ist niedergestochen worden.«
»Ich hab ihn gesehen, er lag auf dem Boden.«
Er nickte. »Er wird durchkommen. Es hat ihn am Bein erwischt. Es blutet furchtbar, aber er wird durchkommen.«
»Bestimmt?« Sie fragte sich, woher er das so sicher wissen konnte.
»Ist der Notarzt schon da?«
Sie nickte.
»Dann ist das kein Problem. Er kommt durch.« Er sah aus, als ob er mit den Gedanken woanders wäre.
»Das ist gut.« Ob gerechtfertigt oder nicht, sie glaubte ihm und fühlte sich schon besser. Sie schloss den Mund, damit ihr Zähneklappern aufhörte.
Er langte nach unten und holte etwas aus einer Tasche, die auf dem Boden gestanden hatte. Es war eine halbvolle Flasche Whiskey. »Die hat jemand dagelassen.« Er ging zum Waschbecken und nahm einen Plastikbecher von einem Stapel. »Hier.«
Bevor sie irgendetwas erwidern konnte, hatte er ihr schon eingeschenkt. Er stellte den Becher genau vor sie hin und kam ihr dabei so nahe, dass sie seine Wärme spürte. Sie hatte Mühe zu atmen, und ihr wurde schummrig. Sie fuhr sich über den Hals und wusste, dass sich ihre Haut dort rötete, wie immer, wenn sie sich sehr aufregte.
»Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist«, sagte sie und übersah, wie sehr ihre Worte sie verrieten.
Er nickte. »Ich bin später gekommen. Ich habe das Geschrei schon vom Parkplatz aus gehört. Ich wollte sehen, was los war.«
Sie hätte gern einen Schluck Whiskey getrunken, aber er sollte nicht merken, wie sehr ihre Hände zitterten. Vielleicht war ihm das bewusst, denn er wandte sich von ihr ab und einer Arbeitsfläche zu, wo er einen der Brenner anzündete. Sie beobachtete, wie am Rand Feuerfunken tanzten, bevor die Flamme sich stabilisierte. Die Glastür reflektierte ihr Licht und sandte einen schwachen, schwankenden Schein in den Raum. Sie nahm schnell einen Schluck und spürte in ihrem kalten Mund ein Brennen und Kratzen. Trotz der Alkoholdämpfe, die aus dem Becher aufstiegen, versuchte sie, die Augen offenzuhalten. Sie war es nicht gewohnt, Whiskey zu trinken.
»Trinkst du auch was davon?«, fragte sie, als er sich wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte. Ihre Knie berührten die von Daniel. Sie hatte den Eindruck, dass er eigentlich nichts trinken wollte. Aber dann sah er sie an, und sein Blick fiel weiter auf den Becher. Er langte danach, und zu ihrer Überraschung setzte er ihn an genau der Stelle an die Lippen, wo auch sie getrunken hatte, und nahm einen tiefen Schluck. Sie hatte erwartet, dass er einen Becher für sich einschenken würde, aber nicht, dass sie beide denselben Becher teilen würden. Was würde Marnie dazu sagen? Seine Vertraulichkeit traf sie unvorbereitet. Sie saß mit ihm da, unterhielt sich mit ihm und trank mit ihm. Das alles war so schnell geschehen, dass ihre Gefühle damit nicht Schritt halten konnten.
In einem Anflug von Wagemut nahm sie einen weiteren Schluck aus dem Becher. Mittlerweile war es ihr gleichgültig, ob er bemerkte, wie sehr sie zitterte. Ihre Hand hielt den Becher an jener Stelle, die er vorher mit seiner Hand berührt hatte, und ihre Lippen lagen nun genau dort, wo vorher seine den Becher berührt hatten.
Kannst du dir vorstellen, wie sehr ich dich liebe?
Er lehnte sich wieder zurück. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete er ihr Gesicht. Unter den Tischen berührten sich ihre Knie. Sie wartete darauf, dass er etwas sagen würde, aber er schwieg.
Nervös drückte sie an dem Becher in ihrer Hand herum und quetschte ihn zu einem Oval zusammen. »Ich dachte schon, das Schuljahr wäre vorbei und jeder würde seiner Wege gehen, ohne dass wir ein einziges Wort miteinander gewechselt hätten«, sagte sie mutig. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Worte in der Stille des Raums nachhallten, und das gefiel ihr gar nicht. Sie wünschte, er würde etwas darauf antworten, um sie zu übertönen.
Er lächelte sie an. Ihr schien, als hätte sie dieses Lächeln niemals zuvor an ihm gesehen. Er war schön. »Das hätte ich nicht zugelassen.«
»Nein?« Vor lauter Überraschung kam sie nicht umhin, nach dem Grund zu fragen. »Und warum?«
Er betrachtete sie weiter eingehend, so als hätte er ihr vieles zu sagen, wüsste aber nicht, ob er schon dazu bereit wäre. »Ich wollte die ganze Zeit schon mit dir reden«, begann er langsam. »Aber ich war mir nicht sicher … wann der richtige Augenblick dafür sein würde.«
In einem Anfall von kindischer Unbesonnenheit wünschte sie sich, dass Marnie seine Worte hören könnte.
»Aber heute ist ein komischer Abend und vielleicht nicht der beste Moment«, fuhr er fort. »Heute Abend wollte ich nur sichergehen, dass du okay bist.«
»Ach, wirklich?« Sie machte sich Sorgen, dass ihr Übereifer mitleiderregend auf ihn wirken könnte.
Aber er lächelte wieder auf die gleiche Art. »Selbstverständlich.«
Sie nahm noch einen Schluck und reichte ihm leicht angetrunken den Becher, so als wären sie alte Freunde. Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel Zeit sie damit verbracht hatte, an ihn zu denken, ihn sich vorzustellen und jede seiner Gesten und Blicke aufs Kleinste zu erforschen? »Worüber wolltest du mit mir sprechen?«
»Nun.« Er schien sie zu mustern, aber sie hatte keine Ahnung, worauf er es abgesehen hatte. Er nahm noch einen tiefen Schluck. »Wahrscheinlich sollte ich das sein lassen. Keine Ahnung.« Er schüttelte den Kopf und wurde ernst. Sie war sich nicht sicher, ob er damit das Whiskeytrinken meinte oder ein Gespräch mit ihr.
»Was solltest du sein lassen?«
Sein Blick wurde so eindringlich, dass sie sich fast ein bisschen fürchtete. Sie hatte sich nichts mehr gewünscht, als dass er ihr in die Augen blicken würde, aber das hier war zu viel. Es war, als ob eimerweise Wasser über einen ausgedorrten Boden geschüttet würde.
»Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Es gibt so vieles, was ich dir sagen wollte, aber ich will nicht …«, er unterbrach sich, um die richtigen Worte zu finden, »… ich will dich nicht völlig überfordern.«
Noch nie hatte ein Junge so mit ihr geredet. Da war nichts von dem üblichen Geschwätz, dem Geflirte, da war kein dick aufgetragener Charme, sondern ein Blick, der sie versengte. Er war anders als alle, denen sie bislang begegnet war.
Sie schluckte einmal kräftig, um sich zu beruhigen. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie ihm hemmungslos ihr Herz ausschütten. Sie würde also versuchen, Haltung zu bewahren. »Hast du eine Ahnung, wie sehr ich an dich gedacht habe?«
Sie saßen sich gegenüber, und ihre Knie berührten sich. Als er die Beine spreizte, fuhr sie mit einem Bein dazwischen, bis sie einander fast berührten. Ihr Knie war in seinem Schritt und das seine zwischen ihren Beinen. Ihr Knie war unbedeckt, und sein Knie befand sich unter ihrem Rock und war gegen ihre Unterhose gepresst, wo ihre Nerven verrückt spielten. Das alles war einfach unglaublich, vielleicht war es nur ihre Fantasie, die ihr diese Bilder aus purer Lust vorgaukelte.
»Stimmt das?«, fragte er. Mit einem Mal wusste sie, dass er sie ebenso heftig begehrte wie sie ihn.
Er umfasste ihren Nacken und zog sie sanft zu sich. Sie holte tief Luft, und zu ihrer Verblüffung legte er seine Lippen auf ihre. Er küsste sie, und sie verlor sich fast in der Wärme und dem Geruch seines Körpers. Sie war so weit nach vorne gelehnt, dass sie spürte, wie die Tischkante gegen ihre Brüste, ihre Rippen und ihr heftig klopfendes Herz drückte.
Mit seinem Arm stieß er den Becher mit Whiskey um. Nur am Rande nahm sie wahr, wie die Flüssigkeit auf den Boden spritzte und sich unter ihren Füßen zu einer Lache ausbreitete, aber das war ihr egal. Sie wollte, dass er sie weiter küsste, wenn nötig, bis an ihr Lebensende, doch gleichzeitig fühlte sie, wie eine dunkle Vorahnung auf sie zurollte. Für eine Weile gelang es ihr, diesen Eindruck zu verdrängen, aber dann traf er sie mit voller Wucht.
Es war ein Gefühl und zugleich eine Erinnerung, die gewaltsam aufeinanderprallten. Es war wie ein Déjà-vu, nur ungleich intensiver. Plötzlich fühlte sie sich benommen und voller Angst. Sie öffnete die Augen und löste sich aus seiner Umarmung. Dann suchte sie seinen Blick. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Wer bist du?«, flüsterte sie.
Seine Augen weiteten sich und richteten sich dann auf ihr Gesicht. »Erinnerst du dich?«
Sie brachte es nicht über sich, ihn weiter anzusehen. Der Raum begann sich um sie zu drehen, und sie schloss die Augen. Aber auch jetzt sah sie ihn deutlich vor sich, so als wäre sein Bild aus der Erinnerung aufgestiegen. Er lag auf einem Bett, und sie blickte auf ihn hinunter, und sie spürte dabei eine Verzweiflung, deren Grund sie nicht begriff.
Mit seinen Händen hielt er die ihren fest umklammert. Als sie die Augen öffnete, war sein Blick so eindringlich, dass sie es kaum ertragen konnte.
»Erinnerst du dich?« Er sah sie an, als hänge sein Leben von ihrer Antwort ab.
.
Eigentlich hätte man glauben sollen, dass jemand wie er, der schon so viel gelebt und so viel gesehen hatte, mehr Weitsicht und Geduld aufbringen würde. Aber zu viel hatte sich angestaut, zu groß waren seine Bedürfnisse gewesen. Sie war bei ihm gewesen, und er hatte sich nicht beherrschen können. Er hatte sich eingebildet, dass sie ihm nur in die Augen zu schauen brauchte, und schon würde sie sich erinnern; dass Liebe alles andere unwichtig machen würde. Der Whiskey hatte sein Wunschdenken noch beflügelt.
Niemand erinnert sich, nur ich.
Normalerweise hielt er diesen Gedanken unter Verschluss, aber heute Nacht ließ er ihm freien Lauf, und das Gefühl der Einsamkeit, das diese Erkenntnis mit sich brachte, war manchmal schier unerträglich.
Er lief über Felder und eine zweispurige Straße hinunter. Dann ging er am Fluss entlang, froh, in der Nähe von etwas zu sein, das noch älter war als er. Dieser Fluss hatte ein Gedächtnis, das weit zurückreichte, aber anders als er behielt der Fluss Erinnerungen weise für sich. Er dachte an den Appomattox-Feldzug und die Schlacht um High Bridge. Wie viel Blut war dort am Fluss vergossen worden? Und doch floss das Wasser weiter, als wäre nichts geschehen. Es reinigte sich und vergaß. Aber wie konnte man sich reinigen, wenn Vergessen unmöglich war?
Ich will das alles nicht mehr. Ich will ihr das nicht mehr weiter antun. Ich will allem ein Ende machen.
Es gab niemanden, der ihn davon abhielt. Eine richtige Familie hatte er nicht. In seinem vorhergehenden Leben hatte er Glück gehabt und war in eine wunderbare Familie geraten, aber er hatte alles unbedacht aufs Spiel gesetzt, um Sophia zu folgen. Der Verlauf seines jetzigen Lebens war daher nicht verwunderlich – eine drogensüchtige Mutter, die ihn verließ, bevor er drei Jahre alt war, und eine Ziehfamilie, die genau das war, was er verdiente. Die letzten beiden Jahre hatte er allein gelebt, und die Hoffnung hatte ihn aufrechterhalten. Um eines Tages vielleicht wieder bei ihr zu sein, hatte er unverdiente Annehmlichkeiten aufgegeben, jetzt aber hatte er auch diese letzte Hoffnung verloren.
Wie würde es sein, wenn er einfach nicht mehr auf die Welt käme? Das war eine der wenigen Erfahrungen, die er noch nicht gemacht hatte. Würde es dann anders sein, zu sterben? Würde man dann endlich Gott begegnen?
Er ließ sich am Flussufer nieder, und die kalte Nässe der Erde setzte ihm zu. Warum spielten derartige Kleinigkeiten selbst jetzt noch eine Rolle?, fragte er sich. Gleichgültig, wie lange man lebte. Es war wie bei einem zum Tode Verurteilten, der immer noch auf die Uhr schielt. Gleichgültig, was man anstellte, die kleinen alltäglichen Handlungen und Gefühle schienen sich niemals den großen Ereignissen unterordnen zu wollen.
Vom Ufer klaubte er dreckverschmierte Steine auf, die klein genug waren, um in seine Hosentaschen zu passen. Größere warf er ins Wasser und lauschte auf das nachgiebige Plätschern des Wassers, wenn die Steine hineinplumpsten, oder auf das hohle Geräusch, wenn sie unten auf die Flusskiesel prallten. Er stopfte sich Steine und Dreck in die Taschen seiner guten Hose und ermahnte seinen Verstand, stillzuhalten und nicht zu widersprechen. Auch in die Brusttaschen seines Hemdes steckte er ein paar kantige Steine und schämte sich ein bisschen für seine Inszenierungskünste in einem Augenblick wie diesem. Es gab keinen Moment, der so wichtig gewesen wäre, dass er alle anderen Empfindungen zunichtegemacht hätte.
Nur der Augenblick, als du sie geküsst hast.
Entscheidungen wie diese hatten mehr Würde, wenn sie in der Vergangenheit oder Zukunft stattfanden oder sich im Leben anderer Leute abspielten. Sein kleinliches Spatzengehirn hatte ihn wieder mal runtergezogen, und die einzige Rettung lag im Vergessen. Sein Fluch war es, sich an ganze Lebensabschnitte voll solcher Augenblicke zu erinnern.
Nachdem er sich ausreichend mit Steinen beschwert hatte, trottete er die Straße bis zur Brücke hinunter. Dort über dem Wasser war die Luft dunkler und kühler. Aus dem Dunkel tauchten auf einer Uferseite die Scheinwerfer eines Autos auf, aber es fuhr geradeaus vorüber. Er lief zur Brückenmitte, kletterte auf das Geländer, setzte sich hin und ließ die Beine baumeln. Er blickte über das Wasser und fühlte sich merkwürdig jung. Die Steine in den Taschen schnitten ihm in die Haut, aber es fühlte sich an wie der Schmerz eines anderen.
Er erhob sich und balancierte in seinen Schuhen mit den steifen Sohlen auf dem Geländer. Mit den Armen hielt er das Gleichgewicht. Warum war es so wichtig, zu springen und nicht hinunterzustürzen, wenn es am Ende doch aufs Gleiche hinauslief? Die Luft war so feucht, dass sein Gesicht sich nass anfühlte. Ein weiteres Auto fuhr vorüber.
Von den vielen Dingen, die er hätte mitnehmen können, hielt er lediglich einen Fetzen von Lucys lavendelfarbenem Ballkleid in der Hand. Immer noch stieß ihm der saure Geschmack des Whiskeys auf. Er sah ihren verängstigten Blick vor sich, während sie sich von ihm loszureißen versuchte, und wie er sie nicht gehen lassen wollte und damit eine über Jahrhunderte genährte Hoffnung zerstörte. Und obwohl ihm dies bewusst gewesen war, hatte er nicht anders handeln können.
Und mit diesem Gedanken fand er sein Gleichgewicht wieder und sprang in die Tiefe.