1.
Ich hatte schon das Telefon in der Hand, um die ganze Sache abzusagen: die reservierten Hotelzimmer, die Blumen, den aufgeblasenen Fotografen, die alberne bombastische Torte.
Als ich mein rosafarbenes Notizbuch aufschlug, das einen akribischen Schlachtplan für den großen Tag enthielt, segelte ein Bündel bonbonfarbener Visitenkarten und ausgeschnittener Zeitschriftenartikel zu Boden, aber mir war die Unordnung ausnahmsweise egal.
Ich war blind vor Wut, von einem glühenden Urinstinkt getrieben, etwas zu zerschlagen, in Stücke zu reißen, zu zerstören. Mein Zorn stand in krassem Gegensatz zu den femininen Blumenarrangements und Luxusartikeln aus meinem Notizbuch. Langsam, aber sicher verdichtete sich mein Ärger, braute sich zusammen wie ein Wirbelsturm, der unaufhaltsam durch den bisher so geordneten Verlauf unseres gemeinsamen Lebens fegen würde, der die Trümmer unserer Beziehung in die Höhe reißen und vor sich hertreiben würde. Wenn ich schnell und unbeherrscht genug reagierte, traf ich Daniel vielleicht unvorbereitet und überraschte ihn auf freiem Feld, bevor er in Deckung gehen konnte.
Ich bin der Tornado unter den Verlobten, der Hurrikan unter den Bräuten – fürchtet euch vor meinem Zorn!
In der letzten halben Stunde dieses Vormittags hatten wir so gebrüllt, dass ich jederzeit eine Einmischung besorgter Nachbarn fürchtete, gefolgt von einem auf den Boden geschleuderten Verlobungsring (ich), einem in die Ecke gepfefferten Notizbuch (ich) und einer nicht unerheblichen Menge an Kraftausdrücken (überraschenderweise ebenfalls ich). Ich konnte zunächst überhaupt nicht weinen. Während Daniel sich ins Badezimmer zurückzog, um tief durchzuatmen, holte ich das Notizbuch wieder hinter dem Sofa hervor, wo es gelandet war, nachdem Daniel es beinahe an den Kopf bekommen hatte, und wählte die ersten fünf Ziffern der Telefonnummer von Blooming Marvellous, dem Blumenladen, den wir mit unserer Hochzeitsdekoration beauftragt hatten. Ich war fest entschlossen, Stanley, dem schwulen Floristen, mitzuteilen, dass wir nun doch weder die von ihm vorgeschlagenen Schwertlilien mit versilberten Stielen und Blütenblättern noch die absolut trendigen Blumendiademe für die Braujungfern brauchen würden. Vielen Dank für Ihre Mühe, ich bin sicher, Sie verstehen das!
Aber dann fingen der Finger, mit dem ich die Nummer wählte, und mein Kinn gleichzeitig an zu zittern, und das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Ich begann so heftig zu weinen, dass ich ohnehin vor lauter Schniefen und Schluchzen kein vernünftiges Wort herausgebracht hätte, sobald ich Stanleys hochnäsige Stimme am anderen Ende der Leitung vernommen hätte. Mich – ausgerechnet mich – hatte eine simple Aneinanderreihung von Wörtern sprachlos gemacht, eine einfache, direkte Frage: »Was wünschen Sie sich zur Hochzeit?« Geäußert von dieser Frau, vor dreißig Minuten.
Tränen schossen mir in die Augen, und meine Stimme ertrank.
Ich ließ die Hand mit dem Telefon auf den Tisch sinken und stand eine gefühlte Ewigkeit lang reglos da, während ich davonfloss wie die Niagarafälle bei Hochwasser oder ein Gletscher zur Schneeschmelze. Dann hob ich die Hand und knallte das Telefon mit einer Heftigkeit auf die Station, dass mein Arm vibrierte und ein Ruck durch meinen ganzen Körper ging. Das fühlte sich schon besser an. Mein Zorn kehrte zurück, ein neuer Wirbelsturm braute sich zusammen.
Ich wiederholte das Ganze aus immer größerer Höhe, bis das Telefon mit einem befriedigenden Knall zerbarst. Wie so oft folgte auf Gemetzel tiefe Stille. Das Wohnzimmer schien die Luft anzuhalten. Ich schniefte und atmete schwer und tat dann etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte. Ich hörte auf zu denken, putzte mir die Nase an meiner Strickjacke ab, schnappte mir den Autoschlüssel und meinen bereitstehenden Koffer und verließ das Haus.
Noch heute staune ich darüber, wie schnell und heftig das alles über die Bühne ging. Als ich wieder zu mir kam, saß ich im Auto und fuhr die Straße entlang, weg von Dan, weg von unserem Haus. Bis zu diesem Tag waren Wutanfälle und hysterische Ausbrüche eher untypisch für mich gewesen. Normalerweise erhob ich noch nicht einmal die Stimme. Und Flüche kamen noch viel seltener vor. Du verdammtes Arschloch von einem Lügner! Ich war immer stolz auf meine umgängliche Art gewesen, auf meine Beherrschung, meine Vernunft, meine stilvolle Eloquenz. An diesem Vormittag überraschte ich mich selbst am meisten.
Ich war seit meiner Geburt im Prinzip ein Ausbund an Ruhe und Gelassenheit gewesen. »Unbekümmert« hatte mich meine Mutter genannt, als ich ein Kleinkind mit rosigen Wangen und großen blauen Augen gewesen war. Während andere Zweijährige ihre Mütter zur Verzweiflung brachten, saß die kleine Jennifer zufrieden mit einem Stoffbuch auf dem Teppich und bestaunte stundenlang freundlich blickende Bauernhoftiere. Mit sieben Jahren erhielt ich von meiner Mutter das Prädikat »friedlich«, und nachdem ich ohne nennenswerte Probleme die Pubertät durchlaufen hatte, galt ich als »vernünftig«.
Diese lobend gemeinten Adjektive waren absolut zutreffend und forderten mich auch nicht dazu heraus, sie trotzig zu widerlegen. Mir war es schlicht zu peinlich und zu würdelos, hysterisch zu toben und herumzuschreien, wie es die anderen Mädchen taten. Ich verstand meine Mitschülerinnen nicht, die sich ständig zankten, heimlich miteinander tuschelten und ihren Feindinnen eisige Blicke zuwarfen. Später an der Uni ging es ebenso weiter, und auch meine Arbeitskolleginnen schienen einen Großteil ihrer Zeit damit zu verbringen, sich aus unglücklicher Liebe in der Toilette die Augen auszuheulen, oder sich gegenseitig am Fotokopierer die kalte Schulter zu zeigen, weil die eine angeblich einen verächtlichen Blick auf den Hintern der anderen geworfen hatte.
Vielleicht hatte ich einfach Glück gehabt, weil ich mein Leben lang von ausgeglichenen Menschen umgeben gewesen war, die »es gut mit mir meinten« und die »das Herz am rechten Fleck« hatten. Meine Familie besteht ausschließlich aus Organisatoren, nicht aus Aggressoren – wir sind praktisch, freundlich, unkompliziert und nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Daher war ich immer der Ansicht gewesen, dass sich Probleme grundsätzlich vermeiden ließen, indem man erst nachdachte, bevor man handelte, und, wenn man doch einmal in Schwierigkeiten geriet, mit Logik und Bedacht vorging und den eigenen Standpunkt ruhig und ausführlich erklärte.
Natürlich ärgerte auch ich mich manchmal und hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber in solchen Momenten griff ich auf eine Methode zurück, die meine Mutter wie ein Mantra zu wiederholen pflegte: Einfach bis zehn zählen und dann noch einmal in Ruhe darüber nachdenken. Dieser Leitsatz leistete mir im Alltag immer wieder gute Dienste, und selbst wenn es manchmal ein wenig brodelte in meinem Inneren, blieb meine Oberfläche glatt wie die See an einem windstillen Tag, während ich dachte: Was die für einen Aufstand machen! Oder: Was soll das Theater? Also wirklich!
Die letzten achtundzwanzigeinhalb Jahre hatten mich also in keiner Weise auf meine Reaktion an diesem scheinbar normalen Oktoberfreitag vorbereitet.
Der Tag, an dem ich zum Hurrikan Jennifer wurde, hatte harmlos angefangen. Dan und ich hatten uns den Freitag freigenommen, um übers Wochenende zu verreisen, und gegen elf Uhr morgens saß ich angezogen im Wohnzimmer und las Zeitung, während ich meine zweite Tasse Tee des Tages trank und mir mein übliches ballaststoffreiches Frühstück aus Naturjoghurt, Bioaprikosen und kleingeschnittener Banane schmecken ließ. Sonnenstrahlen fielen durch unser großes Erkerfenster ins Zimmer. Es war kühles, trockenes Wetter vorhergesagt, und das galt auch für unsere Beziehung.
Am Vorabend hatten Dan und ich eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt, aber er vermied es geflissentlich, sie zu erwähnen. Stattdessen sprach er über das Wetter und überlegte laut, ob er einen dickeren Pullover einpacken sollte, für den Fall, dass der Wind am Nachmittag auffrischte.
Ich wusste natürlich, dass etwas nicht stimmte. Er wusste ebenfalls, dass ich es wusste, wollte es aber nicht wahrhaben. Die gedämpften nächtlichen Telefongespräche, wenn er glaubte, ich würde schlafen. Die plötzliche »wichtige Konferenz« in London. Eine Quittung für Blumen, die ich nie bekommen hatte.
Natürlich hatte er immer eine plausible Erklärung parat, wenn ich ihm Fragen stellte, und konnte meine Zweifel mit logischen Argumenten zerstreuen. Aber ich war nicht dumm und ließ mich nicht so einfach an der Nase herumführen. Also hatte ich vor, ihn bei nächster Gelegenheit erneut darauf anzusprechen, aber wenn es eins gab, was Dan auf die Barrikaden brachte, dann ein Überfall aus dem Hinterhalt beim Frühstück. Wenn ich ihn noch vor seinem ersten Kaffee in die Enge trieb, erreichte ich damit nur, dass er davonstürmte und sich irgendwo verkroch. Dann war ich in der Bittstellerposition und musste ihn anflehen, wiederzukommen und die Sache mit mir auszudiskutieren. Außerdem wollte ich keinen ausgewachsenen Streit riskieren, bevor wir in unser gemeinsames Wochenende aufgebrochen waren. Also wartete ich.
Dan zog gerade den frisch gemahlenen Kaffee aus der Mühle und verstreute dabei das Pulver auf der ganzen Arbeitsplatte. Als sein Handy, das zum Aufladen auf dem Fensterbrett lag, zu klingeln begann, warfen wir uns gegenseitig einen Blick zu, der bedeutete: Wer ist denn das schon wieder? Kann man nicht ein Mal seine Ruhe haben?
»Lass es einfach klingeln«, sagte Dan und legte einen Papierfilter in die Kaffeemaschine ein. »Heute ist unser freier Tag.«
Aber mir fällt es schwer, ein klingelndes Telefon einfach zu ignorieren, also stand ich mit einem Seufzer auf und ging dran. Ich erwartete einen Kollegen von ihm, der noch eine letzte Frage hatte, oder eine Computerstimme, die verkündete, dass Dan einen Luxusurlaub gewinnen könne, wenn er folgende kostenpflichtige Nummer wähle.
Stattdessen war sie am Telefon.
»Hallo?«, fragte ich mit der freundlichen, ruhigen, kompetenten Telefonstimme, die ich mir bei der Arbeit antrainiert habe, um Vertrauen zu erwecken und den Eindruck von Harmlosigkeit zu vermitteln.
»Wer sind Sie denn?«, fragte die Frau selbstsicher zurück. Sie sagte nicht: Könnte ich bitte mit Soundso sprechen?, oder: Ist das nicht die Nummer von Soundso? Nein. Dass sie das Sie betonte, verriet, dass sie überrascht war, nicht Dans Stimme zu hören. Ich war nicht die Person, mit der sie gerechnet hatte. Sie hatte einen ausländischen Akzent – ganz leicht nur, aber unverkennbar. Ich bin es gewohnt, auf Stimmen zu achten. Manchmal verrät der Tonfall mehr als tausend Worte. Wenn ich gewusst hätte, dass dieser eine Anruf meine Welt für immer aus den Angeln heben würde, hätte ich aufmerksamer auf die Stimme dieser Frau geachtet und mir jede Einzelheit eingeprägt. Stattdessen wollte ich das Gespräch so schnell wie möglich beenden.
»Wer spricht da bitte?«, sagte ich, wobei meine Stimme aus alter Gewohnheit immer noch fröhlich und freundlich klang.
Die Frau zögerte kurz und sagte dann vorsichtig: »Könnte ich bitte mit Dan sprechen? Das ist doch seine Nummer, oder?«
Die plötzliche Höflichkeit der Frau ärgerte mich mehr als ihre anfänglich kühle Selbstsicherheit. Mein Misstrauen war geweckt.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind«, wiederholte ich.
»Das ist auch besser so«, gab sie zurück, wobei ein leichter Hauch von Belustigung zu hören war. »Und wer sind Sie?«
»Ich bin seine Verlobte!«, antwortete ich mit Nachdruck, und meine Stimme war jetzt ein wenig lauter als notwendig. Dan, der gerade Tassen aus dem Schrank holte, während der Kaffee blubbernd in die Kanne tropfte, hob fragend die Augenbrauen.
Ich hatte mich noch immer nicht an das Wort Verlobte gewöhnt und benutzte es nur selten, aber das flaue Gefühl, das sich plötzlich wie eine dunkle Vorahnung in meinem Bauch einnistete, löste höchst ungewöhnliche Besitzinstinkte in mir aus. Ich spürte, dass dieses Gespräch kein erfreuliches Ende nehmen würde.
Nach einem langen, beklemmenden Moment des Schweigens lachte die geheimnisvolle Frau leise auf und sagte: »Ah, das erklärt einiges. Er hat Ihnen offensichtlich nichts von uns erzählt. Das ist zwar schmerzlich, aber irgendwie auch verständlich.«
»Mit wem spreche ich, bitte?«, wollte ich erneut von ihr wissen. Allmählich verlor ich meine Gelassenheit.
»Sie sind also seine Verlobte«, fuhr sie ungerührt fort. »Dann sollte ich Sie vielleicht fragen, was Sie sich von mir zur Hochzeit wünschen.«
»Ich will endlich wissen, wer Sie sind«, wiederholte ich.
Dan machte jetzt ein besorgtes Gesicht und gab mir mit einem Winken zu verstehen, dass ich ihm das Handy geben sollte.
»Ich bin Sophie«, antwortete die Frau leichthin, und in dieser Antwort lag eine Selbstverständlichkeit, als hätte sie sich gerade als Premierminister oder als David Beckham zu erkennen gegeben, weshalb keine weiteren Erklärungen erforderlich waren.
Sophie? Wir kannten keine Sophie. Zumindest kannte ich keine. »Sophie, und weiter?«, fragte ich ein wenig schrill. »Und was meinten Sie mit ›uns‹? Von wem hat er mir nichts erzählt?«
»Diese Frage sollten Sie vielleicht lieber Dan stellen.« Ich konnte ihr Lächeln natürlich nicht sehen, aber ich spürte es.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich wie benommen, aber ich befand mich immer noch in meinem eigenen Wohnzimmer, und meine schwarzen Wildlederstiefel standen fest auf unserem violetten Teppich, es war also nicht zu befürchten, dass ich den Halt verlor. Aber dann fiel mein Blick auf Dans schuldbewusstes, entsetztes Gesicht, und mir war klar, was das bedeutete. Während die Zimmerwände vor mir zurückwichen und der Boden unter mir nachgab, während mein Verstand wild fuchtelnd um sein Gleichgewicht kämpfte, verstand ich, wer Sophie war. Und ich verstand, was das »uns« bedeutete.
O Gott, wie furchtbar, wie vorhersehbar, wie klischeehaft.
Ich brauchte fünf Sekunden, bis ich diese Information verarbeitet hatte, und eine weitere Sekunde, bis in meinem Gehirn ein Kurzschluss stattfand und das Zimmer in schwindelerregendem Tempo wieder seine normalen Ausmaße annahm. Meine Knie wurden weich, und ich geriet kurzzeitig ins Wanken.
Dann beendete ich mit ruhiger Stimme das Gespräch und legte Dans Handy auf dem Tisch ab, bevor ich tief Luft holte und das Notizbuch nach ihm warf. Darauf ließ ich den Verlobungsring folgen, der ihn an der Wange traf. Und schließlich begann ich zu brüllen und hörte nicht mehr auf.
Er war zutiefst erschrocken, verständlicherweise. Dass ich eine Erklärung von ihm verlangte, ihn mit Vorwürfen überschüttete, vielleicht sogar in Tränen ausbrach, muss er erwartet haben (»Wer ist diese Frau? Warum, Dan? Warum?«), aber nicht, dass meine unerschütterliche Rationalität und meine ruhige Gelassenheit wie weggeblasen waren und an ihre Stelle ein Urschrei trat, eine völlig entfesselte Wut.
Er versuchte natürlich, vernünftig mit mir zu reden, mir ein wirres Ammenmärchen aufzutischen, sich Erklärungen für die Hotelrechnung und die Quittung über siebenundzwanzig Lilien auszudenken, die ich gefunden hatte. Er hob meinen Verlobungsring vom Boden auf und flehte mich an, ihm doch bitte zuzuhören, aber je mehr er redete und je mehr Lügen seinen Mund verließen und in einer kleinen Prozession durch die Luft schwebten, desto wütender wurde ich.
Und dann explodierte ich, schoss aus dem Boden und reckte mich zum Himmel, durchbrach mit nuklearer Heftigkeit die Wolken. Kurz darauf ließ ich den Motor an und fuhr davon, während Dan ein paar Sekunden zu spät aus dem Badezimmer geschossen kam und wild gestikulierend und mit bestürztem Gesicht am Gartentor stand. Die Randbezirke von Cardiff, die M4, Port Talbot, Swansea – das alles rauschte an den Fenstern meines Ford Focus vorbei wie Studiobilder in einem alten Film, während ich fluchend und mit der Handfläche das Lenkrad malträtierend Richtung Westen fuhr.
Ohne mir dessen bewusst zu sein, raste ich eine Stunde die Küste entlang, bis ich die Halbinsel Gower erreicht hatte, wo ich in eine kleine, halb überwucherte Landstraße einbog und schließlich die letzte Kurve meiner Fahrt nahm. Urplötzlich brach die Landmasse vor mir ab, und das Meer winkte mir mit salzigen Fingern entgegen, während die Nachmittagssonne den Himmel in gleißendes Licht tauchte.
Vor mir lag mein Ziel, und sein Anblick war so schmerzlich schön, dass ich anhielt, das Autofenster herunterließ und die klare Meeresluft einatmete, um meinen vom Gebrüll wunden Hals zu kühlen.
Das Hotel hieß Watch-House und thronte auf einem Klippenvorsprung, unter dem die Brandung an die gischtnassen Felsen schlug. Geheimnisvoll ragte das historische Gebäude aus dem Sprühnebel und erinnerte krumm und verwinkelt an den Schauplatz eines alten Seefahrerromans. Über dem Schornstein schwebte eine nach oben hin dünner werdende Rauchschwade, die nach Herbst und Gemütlichkeit roch. Ich war auf der Stelle verzaubert.
Durch die windschiefen Fenster fiel sanftes Licht nach draußen, die antike Holztür zur Hotellobby stand offen und gab den Blick auf einen brennenden Kamin frei, der fast zu behaglich wirkte, um real zu sein. Unter dem Gesims des Schieferdachs nisteten Tauben und hießen mich mit ihrem Gurren willkommen. Dieser Ort war absolut vollkommen. Oder hätte es zumindest sein sollen. Dan hatte ihn anhand einer Hotelbeschreibung ausgesucht, die er im walisischen Hotelführer Cool Cymru entdeckt hatte. Das Watch-House war in der Reisebeilage der Times und in der Zeitschrift Elle lobend erwähnt worden und bot zehn Luxussuiten, Spa-Anwendungen auf den Zimmern und ein preisgekröntes Restaurant, in dem nur biologisch angebaute Lebensmittel aus der Region auf den Tisch kamen.
Das Wochenende war als romantischer Entspannungstrip vor der Hochzeit gedacht gewesen, als kleine Flucht vor dem Arbeitsstress und dem riesigen Projekt, zu dem sich die Hochzeitsvorbereitungen allmählich auswuchsen. Ich hatte mich umso mehr darauf gefreut, als Dan eigentlich nicht der romantische Typ war, der mich spontan irgendwohin entführte oder mit Blumen überraschte. Er hielt solche Gesten für einfallslos, für einen reinen Konsumhype. Also verzichtete er grundsätzlich darauf, vermutlich um sich vom Rest der Masse »abzuheben«.
Aber zwischen uns herrschte nun schon seit einiger Zeit angespannte Stimmung, und die Hochzeitsplanung machte alles nur noch schlimmer. Der Aufenthalt im Watch-House sollte Balsam für unsere strapazierten Nerven sein, Aromatherapie für erregte Gemüter, entspannende Massage für ewige Streitereien.
Nachdem Dan mir eröffnet hatte, dass er mich für ein Wochenende entführen wollte, hatte ich mir im Internet immer wieder voller Vorfreude unsere Suite angesehen, die Henry-Morgan-Suite, die wie alle Zimmer der ehemaligen Hafenmeisterei den Namen eines Seefahrers oder Schiffes trug. Henry Morgan, der berüchtigte Pirat und Gouverneur von Jamaika, stammte nämlich – was viele nicht wissen – ursprünglich aus Wales. Im Hotel gab es außerdem noch eine Black- Bart-Suite (oder in einheimischer Mundart Barty Ddu-Suite), die nach dem walisischen Piraten Bartholomew Roberts benannt war, eine Captain-Flint-Suite (nach dem Kapitän aus Die Schatzinsel) und eine Mary-Celeste-Suite, die ich mir nicht unbedingt ausgesucht hätte, weil sie ihren Namen dem berühmten Geisterschiff verdankte.
Zum Glück waren die Suiten nicht mit verstaubten Stoffen und Motiven aus der Seefahrt überfrachtet, was diesem »pittoresken Juwel an der Küste Gowers«, wie das Hotel im Führer genannt wurde, bestimmt nicht gutgetan hätte. Stattdessen herrschte »maritimer Chic, wie er eleganter nicht vorstellbar ist«. Beim Lesen der Beschreibung hatte ich das Wochenende in diesem »versteckt gelegenen Kleinod« regelrecht herbeigesehnt und es kaum noch erwarten können, nach einem ausgiebigen Spaziergang am windumtosten Strand bis zur Nase in luxuriösem Badeschaum zu liegen, in der Hoffnung, dass Dan sein »einfallsloses« Verhalten beibehielt und mich drei Tage lang mit Champagner und zärtlichen Worten verwöhnte. Vielleicht gelang es ihm so, mir wieder ins Gedächtnis zu rufen – oder mich vielmehr überhaupt erst davon zu überzeugen –, dass diese Hochzeit die richtige Entscheidung und nicht nur der logische nächste Schritt in unserer langjährigen Beziehung war.
Und nun stand ich an diesem strahlenden Oktobernachmittag allein in der Postkartenidylle, einsam und verlassen, mit Wut im Bauch und verquollenen Augen.
Stoisch schleifte ich meinen Koffer zum Eingang, bevor ich es mir doch noch anders überlegte. Was um alles in der Welt tat ich hier? Wollte ich wirklich in eine Luxussuite einziehen, die mich schmerzhaft daran erinnern würde, dass sich mein Zukünftiger soeben als mieser, untreuer Lügner entpuppt hatte? Aber wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich wollte Dan weder sehen noch mit ihm sprechen, wollte nicht noch mehr unsinnige Erklärungen und Ausreden hören. Außerdem war die Suite bereits bezahlt – inklusive Frühstück, dreier Abendessen und einer kostenlosen Flasche Wein. Vielleicht fand ich hier Zeit zum Nachdenken – und zum Durchatmen. Also holte ich tief Luft und betrat die beleuchtete Eingangshalle.
Die elegante Empfangsdame thronte auf einem hohen Stuhl und blätterte in der Vanity Fair. Sie trug ein schickes Ensemble aus schwarzem Rollkragenpullover und schwarzer Hose, und ihre verdächtig lackschwarzen Haare waren zu einem messerscharfen Bob geschnitten. Dazu hatte sie ein natürlich wirkendes Make-up aufgelegt, von dem ich wusste, dass es im Kosmetikladen ein Vermögen kostete. Sie klappte diskret die Zeitschrift zu, als ich näher kam, lächelte professionell und musterte dann teilnahmsvoll meine rotgeheulten Augen und meinen ramponierten Koffer. Ohne das offensichtliche Fehlen meiner Begleitung zu kommentieren, schob sie mir das Anmeldeformular zu, fragte mich, ob ich eine Morgenzeitung wünschte, und zeigte mir auf einem Plan die Notausgänge. Zum Glück war das Zimmer schon frei, sodass ich es sofort beziehen konnte.
»Die Henry-Morgan-Suite ist unsere schönste Suite und bietet ein besonders romantisches und intimes Ambiente«, zitierte sie aus dem Werbeprospekt, bevor sie mir endlich den Zimmerschlüssel gab, der an einem Stück Treibholz befestigt war. Dann blickte sie betreten zur Seite, weil sie offenbar gemerkt hatte, wie fehl am Platz diese Bemerkung war. »Abendessen gibt es um 19 Uhr. Für wie viele Personen darf ich reservieren?« Mit jeder Sekunde, die mein Schweigen andauerte, wanderten ihre Augenbrauen ein Stückchen weiter nach oben.
»Für eine, bitte«, brachte ich schließlich hervor.
»Natürlich, gerne.« Sie lächelte aufmunternd, als hätte ich ihr gerade anvertraut, dass ich auf das Ergebnis einer Krebsuntersuchung wartete. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie noch etwas brauchen. Einfach auf dem Zimmertelefon die Null wählen und nach Vivienne fragen.«
Die Suite war tatsächlich wunderschön – krumm und verwinkelt wie das ganze Gebäude, aber in wohltuend dezentem Cremeweiß, Hellblau und Taubengrau eingerichtet. Ein riesiger Flachbildschirm schwebte dunkel über einer antiken Frisierkommode, an der ein Jugendstilspiegel zum Ausfahren befestigt war. Durch das Sprossenfenster mit der breiten Fensterbank sah man, so weit das Auge blickte, wogendes Meer und blauen Himmel. Ein riesiges Doppelbett mit weicher Federdecke nahm den Großteil des Raumes ein.
Vivienne hatte nicht gelogen: Das Zimmer war intim. Und romantisch.
Ich sank auf eine samtbezogene Chaiselongue, schmiegte mich in eine handgewebte walisische Wolldecke und weinte salzige Tränen, die selbst die auflaufende Flut in den Schatten stellten.
»Warum, Dan? Warum? Wie konntest du nur? Wir hätten eigentlich zusammen hier sein sollen«, schluchzte ich in den feinen Wollstoff. Jetzt, wo ich einmal den Stecker gezogen und jede Zurückhaltung aufgegeben hatte, geriet ich regelrecht in einen Gefühlsrausch und fand, dass ich durch meine bisherige Selbstbeherrschung einiges verpasst hatte.
Nachdem ich mich eine Stunde lang meinen Tränen und meinem Selbstmitleid hingegeben hatte, stand ich auf, schnäuzte mich und beschloss, die Flasche Merlot aufzumachen, die als Geschenk des Hauses neben dem Bett wartete. Zwei Gläser Wein und sechs durchweichte Taschentücher später nahm ich überrascht den strengen Tonfall zur Kenntnis, den ich mir gegenüber anschlug. Es war, als stammte die Stimme, die da mit mir sprach, von jemand ganz anderem. Ich stellte mir eine Lehrerin aus den Vierzigerjahren mit hochgeschlossener Spitzenbluse vor, was seltsam tröstlich wirkte.
Du hast zwei Möglichkeiten, sagte die Stimme unnachgiebig. Entweder du bleibst wimmernd auf der Chaiselongue liegen und suhlst dich weiter im Selbstmitleid – was übrigens äußerst unattraktiv aussieht –, bis du schwach wirst, Dan anrufst und seinen Ausreden glaubst. Oder du duschst, ziehst dich an, besorgst dir etwas zu essen und fängst dich wieder. Bewahr dir wenigstens ein bisschen Würde und lass ihn eine Weile zappeln, damit er sich zur Abwechslung mal um dich Sorgen macht. Dieser verlogene, unehrliche …
Ich brachte die Stimme mit einem Schluck Wein zum Schweigen. Dann leerte ich den Rest des Glases in einem Zug und zog mich aus. Teure Kosmetikartikel und ein wunderschönes großes Badezimmer, in dem Captain Morgan und die Hälfte seiner Besatzung Platz gefunden hätten, erwarteten mich.
Am liebsten hätte ich Dan angerufen und ihn angefleht, mir zu sagen, dass alles nur ein Irrtum sei, aber ausnahmsweise zählte ich nicht bis zehn, sondern bis zwanzig und überlegte es mir anders.
Ich entdeckte ihn nach dem Abendessen.
Inzwischen war ich mehr als nur ein wenig beschwipst, aber dass ich mich benommen und irgendwie komisch fühlte, kam mir nach den Ereignissen des Vormittags nur logisch vor. Einen solchen Streit hatte es zwischen Dan und mir nie zuvor gegeben. Ich hatte niemals eine fremde Frau am Telefon ausgefragt, Gegenstände durchs Zimmer geworfen oder eine Verlobung gelöst, woher sollte ich also wissen, wie man mit so einer Situation umging?
Im offenen Kamin mit dem alten, geschwungenen Sims prasselte ein munteres Holzfeuer, das die wärmenden Rot- und Brauntöne der Hotelbar, die sich »Schmugglernest« nannte, noch unterstrich. Ich saß allein in einer Sitznische am Fenster und fühlte mich ein wenig unbehaglich, weil ich ohne Begleitung hier war. Zum Abendessen hatte es lauter Köstlichkeiten gegeben, die ich mir normalerweise niemals gönnen würde, weil sie so schlecht für die Figur sind: mit Brie gefüllte Pilze, Krebsschwänze in Rahmsoße und hausgemachten Käsekuchen mit Honigkruste.
Mit vollem Magen beäugte ich die verliebten Paare, die sich in den tränenreichen Stunden seit meiner Ankunft wie aus dem Boden schießende Pilze vermehrt hatten. Mit ihren glänzenden Haaren und ihren teuren, aber lässigen Freizeitpullovern bildeten sie im Hotelrestaurant und im kerzenbeleuchteten Schmugglernest ein Heer aus wohlhabenden, glücklichen Liebespaaren. Selbst die hoteleigenen Katzen, zwei riesige rote Exemplare, hatten sich auf der Fensterbank zärtlich aneinandergekuschelt.
Ein bisschen zu viel Idyll für eine einsame Frau, dachte ich traurig, auch wenn mir klar war, dass es hier für ein verliebtes Paar der Himmel auf Erden sein musste. Die Nacht und der Wein und das knisternde Feuer verstärkten die windumtoste Romantik dieses Ortes noch, und die späte Stunde schien wie gemacht für Vertraulichkeiten und zufällige Begegnungen.
Ich hatte den Roman Gasthaus Jamaika von Daphne du Maurier mit ins Schmugglernest genommen, den ich neben ein paar anderen säbelrasselnden Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem obligatorischen Lyrikband von Dylan Thomas und einer Sammlung walisischer Volkssagen in einem diskret in die Fensternische eingebauten Bücherregal auf meiner Suite entdeckt hatte. Inzwischen war ich bei meinem vierten Glas Merlot angekommen und erwartete regelrecht, dass ein regennasser Fremder durch die Tür der Bar trat, um uns Landratten furchterregende Geschichten vom Leben auf See zu erzählen. Er wäre mir hochwillkommen gewesen, wie alles, was mich die Realität vergessen ließ, den Umstand, dass ich allein hier war, und die Gründe dafür. Statt auf die Bremse zu treten und langsamer zu trinken, flüchtete ich mich in den Alkohol.
Und dann sah ich ihn. Er saß eingezwängt in einer Nische am Ende der Theke und war seinerseits in einen Roman vertieft, ohne der Tür oder den eng umschlungenen Pärchen in ihren Sitzecken auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen. Den Titel seines Buchs konnte ich nicht entziffern, aber der Einband und das Schriftbild verrieten, dass es sich um ein richtiges Buch handelte und nicht um einen reißerischen Kriegsroman im Stil von Hinter feindlichen Linien oder eine Sportlerbiographie. Hin und wieder riskierte ich einen flüchtigen Blick auf den Fremden, aber er sah nicht von seiner Lektüre auf, sondern schob sich nur hin und wieder die dunkelblonden halblangen Haare aus der Stirn.
Er wirkte lässig und entspannt, wie aus der Zeit gefallen im antiquierten Ambiente des Schmugglernests. Zu seiner ausgewaschenen Jeans trug er ein weites Surfer-T-Shirt und lederne Flip-Flops, und die Haut an seinen Füßen war noch tiefer gebräunt als der Rest seines Körpers. Um seine Augen zog sich ein Kranz aus Sonnenfältchen, die einen den kühlen walisischen Oktober vergessen ließen, und er nippte an einem echten einheimischen Ale – keinem Stella aus Belgien und auch keinem Cider. Zusammen mit dem Buch und seinem Aussehen war diese Getränkewahl ein vielversprechendes Zeichen. Ich hatte möglicherweise einen gebildeten Mann vor mir, einen Mann, der Geschmack hatte und vielseitig war, aber nicht oberflächlich.
Einmal ertappte er mich dabei, wie ich ihn anstarrte. Ich spürte, wie ich errötete. Für ungefähr vier Sekunden – so lange begegneten sich unsere Blicke – vergaß ich Dan vollkommen, und das erschien mir in diesem Moment durchaus wünschenswert. Wenn ich mir Mühe gab, konnte ich die vier Sekunden beim nächsten Mal vielleicht auf sechs ausdehnen, und dann auf zwölf, und wer weiß, wie lange noch. Mir gefielen seine Locken.
Als er meinen bewundernden Blick bemerkte, lächelte er freundlich, wandte sich aber rasch wieder seinem Buch zu. Ich legte meinen Roman neben mir auf die Sitzbank und zog einen Gedichtband von Robert Frost aus meiner Handtasche, den ich immer dabeihabe. Ich schlug ihn auf und versuchte, ihn beim Lesen so zu halten, dass der Fremde den Titel erkennen konnte. Er sollte mich nicht für eine durchgeknallte Leserin erotisch angehauchter historischer Literatur halten. Dafür war ich viel zu klug und vernünftig. Während ich mir Mühe gab, möglichst würdevoll und wohlüberlegt, gebildet und interessant zu wirken, wurde ich von Minute zu Minute beschwipster.
Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wünschte ich mir, dass er noch einmal hersah, und andererseits fürchtete ich mich davor, aus Angst, er könnte ein Gespräch darüber anfangen, dass wir die einzigen Singles in der romantischsten Bar der Welt waren und nur unsere Bücher hatten, um unsere einsamen Herzen zu trösten.
Dan und ich waren schon so lange ein Paar, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich reagieren würde, falls dieser Mann tatsächlich zu mir kam und ein Gespräch mit mir anfing. Bestimmt würde ich rot anlaufen und irgendetwas Unverständliches vor mich hin lallen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich dennoch längst verheißungsvolle Schwingungen in den dunklen Winkeln des Schmugglernests wahrgenommen, Schwingungen, die ihr Echo in meinem vollen Magen fanden, in meinen rosigen Wangen: eine Zufallsbegegnung, ein Richtungswechsel, eine Möglichkeit zur Rettung, zur Flucht, vielleicht sogar zur Rache. Jedenfalls zu etwas vollkommen Unvernünftigem, etwas Neuem.
Eine stürmische Nacht in einem uralten Pub, in dem sich zwei Augenpaare treffen und in dem vielleicht eine Liebesgeschichte ihren Anfang nimmt …
Noch bevor ich mich eingehender mit diesem Gedanken beschäftigen konnte, merkte ich, dass ich dringend auf die Toilette musste. Nachdem ich meine weingefüllte Blase entleert und noch ein wenig Lipgloss aufgetragen hatte, kehrte ich in die Bar zurück, zu allem bereit. Aber der Fremde war verschwunden. Mit Überraschung stellte ich fest, dass ich erleichtert war, aber gleichzeitig spürte ich einen kleinen Stich der Enttäuschung. Meine Wut und meine Unsicherheit wegen des Streits mit Dan hatten nicht verhindert, dass ich mit Interesse auf einen Fremden reagiert hatte, was ich noch gestern nicht für möglich gehalten hätte. Andererseits hatte ich gestern noch nichts von dieser Frau gewusst, und Dan war noch nicht der Mann gewesen, der er heute war.
Die Treppe des Hotels kam mir noch steiler und gewundener vor, als ich mich mühsam nach oben in mein Zimmer schleppte. Der Boden unter mir schien zu schlingern, aber irgendwie schaffte ich es in mein Kingsize-Bett, wo ich eine Zeit lang an die Dachgiebel der Henry-Morgan-Suite starrte. Das einzige sichtbare Zugeständnis an ihren berüchtigten walisischen Namenspatron war ein gerahmtes Reklameplakat für Captain Morgan’s Rum aus den Vierzigerjahren, das mich auf eine Idee brachte. Ich stand auf und holte mir zwei Fläschchen Rum aus der diskret versteckten Minibar. Um meine Leber würde ich mir morgen Gedanken machen. Ich hatte heute an einem Tag mehr getrunken als sonst in einer, vielleicht sogar in zwei Wochen. Gar nicht schlecht, dachte ich.
Von Schwindelgefühlen und Übelkeit überwältigt ließ ich mich zurück aufs Bett sinken und fing wieder an zu weinen und Dan und das Lügengerüst zu verfluchen, das er über Jahre hinweg aufgebaut hatte. Irgendwann schlief ich ein und träumte von einem Piraten mit Dreispitz auf dem Kopf, Flip-Flops an den Füßen und einer gebräunten Hand, mit der er sich die sonnengebleichten Locken aus den meergrünen Augen strich, bevor er sie mir durch den Nebel entgegenstreckte.
Als ich aufwachte, sickerte schwaches Tageslicht ins Zimmer, und die trippelnden Vogelkrallen auf dem Dach und die donnernden Wellen lieferten sich einen Wettstreit in meinem dröhnenden Kopf. Dan hatte mehrere Mailbox-Nachrichten hinterlassen und eine SMS geschickt. Ich beantwortete sie nicht.
Mein übliches dringendes Bedürfnis, mich nach einem Streit so schnell wie möglich mit Dan zu versöhnen und meine Welt wieder ins Gleichgewicht zu rücken, hatte sich auch mit dem neuen Tag nicht wieder eingestellt. Normalerweise sah eine Versöhnung bei uns so aus, dass ich den ersten Schritt machte und sagte: »Bitte lass uns wieder Freunde sein, Dan, ich ertrage es nicht, wenn wir streiten. Das ist es nicht wert.« Nie schaffte ich es, ihn »zappeln zu lassen«, wie es andere Frauen mit ihren Männern taten, weil meine Angst, dass Chaos über uns hereinbrechen würde, wenn wir nicht vernünftig miteinander redeten und uns wieder vertrugen, stärker war als mein Stolz.
Aber an diesem Morgen war mein Kopf kühl und leer. Ich genoss dieses neue Gefühl, schaltete mein Handy aus und ließ es im Hotelzimmer zurück. Mir fiel ein, dass mein Verlobungsring immer noch zu Hause auf dem Wohnzimmertisch lag.
Nach dem Frühstück kam die Sonne heraus, und ich spielte die elegante Kurzurlauberin und machte in meinem übergroßen kuschligen Cardigan einen Strandspaziergang, verspeiste ein Bio-Vanilleeis und sah mich in der winzigen Kunstgalerie eines alternden Hippies mit Dreadlocks um. Dann genehmigte ich mir eine Bruschetta und einen Cappuccino in einem kleinen Strandcafé und sah zu, wie die Wellen im grellweißen Mittagslicht ihre Gischt versprühten.
Ich wappnete mich in einem Pub mit zwei großen Gläsern Rotwein und einem Irish Coffee gegen die kühle Atlantikbrise und kaufte mir spontan ein neues Oberteil und ein paar bunte Holzperlenarmbänder in einer kleinen Surferboutique am Hafen.
Bei alldem war mein Kopf seltsam leer und weit. Alles schien zu plätschern und zu wogen: die Brandung, der Strand, der Himmel. Es war ein neues, angenehmes Gefühl, zur Abwechslung einmal völlige Leere im Kopf zu spüren, in die der Wind pfiff und mich mit Meeresgeräuschen anfüllte, und mit sonst nichts.
Am Abend war ich enttäuscht, als ich in die Hotelbar kam und sie nahezu leer vorfand. Zum Abendessen hatte es walisischen Lammeintopf und köstliche regionale Käsesorten gegeben, und jetzt war ich bereit, es mir mit meinem Buch und einem weiteren Glas Merlot im Schmugglernest gemütlich zu machen. Aber die romantisch-geheimnisvolle Stimmung vom Vorabend hatte sich verflüchtigt. Tom, der große, rot getigerte Kater, lag ausgestreckt auf der Theke, und seine Gefährtin war nirgendwo zu sehen. Ein gut situiertes grauhaariges Pärchen mit gebräunten Segler-Gesichtern hielt Kaffeebecher in den Händen und hatte sich mit farblich passenden Berghaus-Jacken aneinandergekuschelt, aber sonst waren keine Gäste in der Bar. Nach einem weiteren Glas Wein beschloss ich, loszuziehen und die umliegenden Pubs zu erkunden. Warum auch nicht? Ich war eine erwachsene Frau, die auf sich selbst aufpassen konnte.
In einen überlangen gestreiften Schal gewickelt marschierte ich die unbeleuchtete Landstraße entlang und erreichte nach mehreren Hundert Metern die Ausläufer des nächsten Dorfs. Ein halb zerfallener, von Sand und Wind gebleichter Burgfried ragte über die im Wind raschelnden Bäume, und über allem leuchtete der Mond, der auf den vorbeiziehenden Wolken zu reiten schien. Ich fühlte mich an ein Gedicht von Alfred Noyes erinnert, das wir in der Schule durchgenommen hatten. Es handelte von einem Straßenräuber, der auf seinem Pferd über das windgepeitschte Moor zu seiner Geliebten unterwegs ist, während über ihm der Mond über den Sturmhimmel reitet. Auch zu dieser Landschaft und dem wunderbar windigen Abend hätte ein berittener Straßenräuber gut gepasst.
Unterhalb der massiven Burgmauern funkelten mir die Lichter eines alten Pubs einladend entgegen. Das Mochyn Ddu wurde ebenfalls im Cool Cymru-Führer beschrieben: »anspruchsvolle kulinarische Köstlichkeiten und regionale Biersorten bei gemütlichem Kerzenschein«. Vom Messingtürklopfer bis zu den viktorianischen Buntglasfenstern sah der Pub tatsächlich aus wie einem Reiseprospekt entsprungen. Zögernd blieb ich vor der Tür stehen. Ich war noch nie abends allein in einem Pub gewesen, es sei denn, um auf eine Freundin zu warten, die sich verspätet hatte. Aber ich nahm all meinen Mut zusammen und machte die Tür auf.
Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich etwas grundlegend verändern würde, sobald ich über die Schwelle trat, dass ich mich auf einen Handel mit dem Schicksal einließ, während die Burg würdevoll auf mich herabblickte und der Wind abwartend verstummte. Ich kam mir vor wie die Heldin eines Märchens. Es war einmal eine junge Frau, die sich sagte: Ach, was soll’s? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Fortan lebte sie glücklich und zufrieden an einer abgelegenen Küste, und zwar ohne ihren Verlobten, diese verlogene Ratte.
Was schadete es, hier ein Bier zu trinken, bevor ich zurück auf mein Zimmer ging, um dort erneut meinen Frust in Wein zu ertränken? Was konnte mir an einem so schönen Ort in einer so schönen Nacht schon passieren?
Im Inneren des Pubs war es voll und laut. Paare mittleren Alters und Grüppchen junger Leute drängten sich um die kleinen Tische oder standen an der Bar, wo sie sich lachend und gestikulierend unterhielten. Während ich mir meinen Weg zur Theke bahnte, stand er plötzlich vor mir: Mr Ich-bin-Surfer-und-interessiere-mich-für-Literatur. Genau wie am Vorabend trug er Pullover, Flip-Flops und zerzaustes Haar, und in mir erwachte eine unerhörte, völlig irrationale Freude. Natürlich war von Anfang an er der Grund für meinen Ausflug ins Dorf gewesen, das war mir durchaus klar. Den ganzen Tag hatte ich mich danach gesehnt, ihn wiederzusehen. Ich hoffte, dass mein Gesicht nur freundliche Aufgeschlossenheit signalisierte und nicht verriet, dass ich innerlich vor Begeisterung Purzelbäume schlug. Er gab mir mit einem kurzen Lächeln zu verstehen, dass er mich erkannt hatte, und ich lächelte leicht beschwipst zurück und dankte den Schicksalsgöttern dafür, dass sie auch ihn an diesen Ort geführt hatten.
Wieder schien ich mir selbst von außen dabei zuzusehen, wie ich mich ihm windzerzaust und mit einem souveränen Lächeln auf den Lippen näherte, wie ich mit wehendem Schal und einem Glorienschein aus dunkelblonden Haaren um seine Aufmerksamkeit buhlte, wie meine Augen im Kerzenschein funkelten, dramatisch und verwegen.
Eine einzige Nacht kann vieles verändern, dessen war ich mir vage bewusst, aber ich hatte keine Angst davor. Ich wollte, dass etwas passierte, etwas, was nichts mit jenem verhängnisvollen Anruf zu tun hatte, mit dem Klang von Sophies Stimme oder dem Ausdruck auf Dans Gesicht. Ich wollte endlich etwas erleben, was nicht vorhersehbar und banal war.
Mein Wunsch wurde mir erfüllt. Ich sollte tatsächlich etwas erleben. Und wenn ich aufmerksam die Ohren gespitzt hätte, hätte ich vielleicht gehört, wie sich die Schicksalsgötter ins Fäustchen lachten.