HANNAH TUNNICLIFFE | Der Duft von Tee
HANNAH TUNNICLIFFE | Der Duft von Tee
Zum Buch
Grace Miller ist Anfang dreißig und gerade mit ihrem Ehemann nach Macao ausgewandert, als sie erfährt, dass sie keine Kinder bekommen kann. Grace fühlt sich von der Welt im Stich gelassen, denn mit Pete eine Familie zu gründen war ihr großer Traum. Trost findet sie beim Backen – ein Talent, das sie von ihrer impulsiven, eigenwilligen Mutter geerbt hat. Als Grace durch Zufall ein leer stehendes Ladenlokal entdeckt, trifft sie eine mutige Entscheidung: Sie investiert ihre gesamten Ersparnisse und eröffnet das Lillian’s, ein kleines Café, das dank ihrer kunstvollen Macarons bei den Frauen Macaos zum Geheimtipp wird. Die Stammkundin Marjory sowie ihre Angestellten Rilla und Gigi wachsen Grace besonders ans Herz, und sie stehen ihr bei, als ihre Ehe in eine Krise gerät. Es ist die Kraft der Freundschaft, die Grace klarmacht: Sie muss sich mit ihrer Vergangenheit versöhnen, um endlich ihr Glück zu finden.
»Kulinarische Genüsse und Tunnicliffes besonderes Talent, mit Worten umzugehen, machen diesen Roman zum Lesevergnügen.«
Sydney Morning Herald
»Eine sinnliche Geschichte über Vertrauen, Freundschaft und Loslassen. Einfach mitreißend!«
Woman’s Day
Zur Autorin
Hannah Tunnicliffe wurde in Neuseeland geboren. Sie studierte Sozialwissenschaften und lebte danach in Australien, England, Macao und Kanada. Nachdem sie einige Zeit in der Personalwirtschaft und als Karriere-Coach arbeitete, wandte sie sich ihrem Traum, dem Schreiben, zu. Mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern lebt sie heute in Sydney, Australien. Der Duft von Tee ist ihr erster Roman.
HANNAH TUNNICLIFFE
Der Duft von Tee
ROMAN
Aus dem Englischen von Hanne Hammer
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel The Colour of Tea
bei Pan Macmillan Australia Ltd, Sydney
Deutsche Erstausgabe 06/2013
Copyright © 2011 der Originalausgabe by Hannah Tunnicliffe
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion | Kristof Kurz
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv | © shutterstock
Satz | Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-641-10116-9
V002
www.diana-verlag.de
Für Matt
Ich habe dich gefunden, und jetzt weiß ich es
Inhalt
Prolog
L’Arrivée – Ankommen
Süßer, rauchiger Karamell mit einer salzigen, buttrigen Sahnefüllung
Remède de Déliverance – Notfallmittel
Veilchen mit Sahne und einer schwarzen Johannisbeerfüllung
La Ville-Lumière – Stadt des Lichts
Banane à la Pariser Crêpe mit einer Ganache aus Haselnussschokolade
La Poudre à Canon – Gunpowder
Grüner Gunpowder-Tee mit einer süßen Mandarinenbuttercreme
Une Petite Flamme – Eine kleine Flamme
Espresso mit einer Ganache aus dunkler Schokolade und einem Stück Blattgold
Un Bon Début – Ein guter Anfang
Kokosnuss mit einer Passionsfruchtbuttercreme
Raiponce – Rapunzel
Bergamotte und Kardamom mit einer Ganache aus weißer Schokolade
L’Espoir – Hoffnung
Provenzalischer Lavendel mit einer süßen Feigenbuttercreme
Un Peu de Bonté – Eine kleine Gefälligkeit
Wassermelone mit einer Sahnefüllung
Rêve d’un Ange – Der Traum eines Engels
Weiße Schokolade mit einem Hauch von Zitronenschale und Zimt
Cœur Curatif – Das heilende Herz
Vanille mit Himbeerstückchen und Himbeerfüllung
Le Dragon Rouge – Der rote Drache
Drachenfrucht mit einer Füllung aus Zitronengrasbuttercreme
Cirque – Zirkus
Limette mit einer Schokoladenganache, bestäubt mit Blutorangenzucker
La Fièvre – Fieber
Rose mit einer Ganache aus dunkler Schokolade und scharfem Ingwer
Brise d’Été – Sommerbrise
Yuzu mit einer dunklen Kirschfüllung
Saison Orageuse – Sturmzeit
Zitrone und Ingwer mit einer braunen Buttercremefüllung
Verre de Mer – Meerglas
Pistazie mit einer Buttercremefüllung
Une Vie Tranquille – Ein ruhiges Leben
Ananas mit einer Buttertoffeeganache
Pardon – Vergebung
Pflaume und Hibiskus mit einer Schokoladenganache
Thé pour Deux – Tee für zwei
Pink Earl Grey mit einer Ganache aus dunkler Schokolade
Un Petit Phénix – Ein kleiner Phönix
Zimt mit einer Ganache aus dunkler Chilischokolade
La Foi – Glaube
Walderdbeere gefüllt mit einer rosa Grapefruitbuttercreme
Prenez ce Baiser – Nimm diesen Kuss
Honigwabe mit einer Ganache aus Milchschokolade
Les Sœurs – Die Schwestern
Pfefferminz mit einer Ganache aus dunkler Schokolade
Le Retour – Die Heimkehr
Herbe Mango mit einer Buttercremefüllung
La Môme Piaf – Der kleine Spatz
Pfirsich und Maronen mit einer Williams-Birnen-Buttercreme
La Promesse – Das Versprechen
Orange Pekoe bestäubt mit Goldpulver und einer Mascarponefüllung mit Rosengelee
Epilog
Macarons
Danksagung
Prolog
Als wir in Macao eintrafen, neigte sich das Jahr des Goldenen Schweins dem Ende zu. Das Jahr des Goldenen Schweins wiederholt sich nur alle 60 Jahre, und es bringt großes Glück. Als wir also am Ende dieses Jahres des Goldenen Schweins in unsere neue Heimat Macao kamen, tanzten dicke, fette Schweine durch die Werbeanzeigen der Banken, hingen glänzende Cartoonschweine in chinesischen Pyjamas in der örtlichen Bäckerei, und in den Postfilialen wurden kleine goldene Schweine als Souvenirs zum Verkauf angeboten. All diese Schweine mit ihren dicken Schnauzen und ihrem pausbäckigen Grinsen waren irgendwie tröstlich. Willkommen in Macao!, grunzten sie. Es wird dir hier gefallen. Uns gefällt es auch! Ich war bereit, jegliches Glück dankbar anzunehmen, das ein goldenes Schwein mir bringen konnte.
Macao: die Knollennase Chinas, eine Halbinsel und zwei Inseln, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette, obwohl Sand und Schlamm den seidigen Ozean zwischen ihnen beinahe verdrängt haben. Vom Fortschritt verschlungen, wie fast alles in Macao. Vom Fortschritt und vom Glücksspiel. Dieses kleine Land, das nur 28 Quadratkilometer groß ist und früher einmal ein verschlafener portugiesischer Außenposten war, ist heute der einzige Ort in China, wo man eine Münze in einen Spielautomaten werfen oder einen Chip auf einen nierenförmigen Rasen aus weichem, grünem Filz legen kann. Das Las Vegas des Ostens. Glänzende Lichter, eine kleine Stadt, schnelles Geld.
Am 8. Januar 2008 verließen wir die Fähre aus Hongkong. Das Datum hatte einen guten Klang. Ein reiner Tisch, ein neuer Anfang. Wir kamen mit Koffern voller leichter, luftiger Kleidung, die wir gewöhnlich für den kurzen, aber intensiven britischen Sommer reserviert hatten. Wir stürzten uns voll naivem Optimismus in das Abenteuer unseres neuen Lebens. Mein australischer Ehemann und seine rothaarige, rotwangige englische Rose. Wir waren wie große Kinder.
Der Winter war in mehr als einer Beziehung hart. Der Januar war einer der kältesten seit Beginn der Aufzeichnungen, und wir froren in unseren sommerlich dünnen Kleidern. Jeden Morgen hatte der Himmel die Farbe von Milch. Die Wohnung hatte keine Zentralheizung, und nach einer Weile wurde uns klar, dass wir einen Luftentfeuchter brauchten. Die Wände erblühten in dunklem Schimmel, der sich wie ein wachsender Bluterguss ausbreitete. Abends konnte ich meine Finger nicht mehr spüren. Es war die Art feuchter Kälte, die sich tief in die Knochen gräbt und einfach nicht mehr weichen will.
Hier nimmt meine Geschichte ihren Anfang. Mit unserem Leben in der Kälte, im letzten Monat vor dem bevorstehenden Jahr der Ratte. Als wir nicht länger vor der Wirklichkeit davonlaufen konnten; als uns die Realität, die uns den ganzen Weg von Melbourne nach London und von London nach Macao gefolgt war, endlich aufspürte und zur Strecke brachte. Nach dieser langen Flucht waren wir nun nicht mehr in der Lage, uns in den bedeutungslosen Details unseres Lebens zu verstecken – wer macht Frühstück und würdest du bitte daran denken, die Wäsche aus der Reinigung zu holen.
Es war Zeit für mich, ein eigenes Leben zu finden. Aus nichts etwas zu machen. Es war das Ende der Hoffnung und auch ihr Anfang.
L´Arrivée – Ankommen
Süßer, rauchiger Karamell mit einer salzigen, buttrigen Sahnefüllung
Genau so eine Reise würde meine Mutter machen: an einem fremden Ort in einen Bus steigen, wo die Sprache ein Meer bedeutungslosen Unsinns und die Schrift noch verwirrender ist; allein bis auf reihenweise herumwirbelnder, starrender Gesichter. Mama würde das gefallen. Dunkle Augen, die das rote Haar und die blasse Haut angaffen. Die warmen, zusammengepferchten Körper, die sich unbekümmert aneinanderdrängen, wenn die Wagenräder durch die Schlaglöcher im Asphalt rumpeln. Ich dagegen bin nervös und fühle mich leicht seekrank, klammere mich an meine Handtasche und murmele nutzlose Entschuldigungen auf Englisch, wenn ich jemandem im Weg stehe. Ich fühle mich wie ein Eisbär im Outback, wie Pete es ausdrücken würde.
Macao wird von dem schmutzigen Busfenster eingerahmt. Als wir von der Insel Taipa über die Brücke auf die Halbinsel fahren, ist es, als würden wir direkt in den weißen, nebligen Himmel tauchen. Der Bus hält mehrmals an und bremst dabei so spät, dass die Leute wie die Kegel übereinanderfallen. Niemand beklagt sich. Wir kommen am Casino Lisboa vorbei, das in dem Orange eines schlechten Cocktails gestrichen ist und runde Fenster im Stil der Sechzigerjahre hat. Dann an dem funkelnagelneuen Gran Casino Lisboa, dessen Ananasform direkt aus dem Boden zu schießen scheint. Die eckigen Kronblätter schwingen sich hoch in den Himmel. Die Kugel seines Fundaments leuchtet wie ein großer gewölbter Bildschirm, auf dem ständig Werbung, Fische, rollende Münzen und Hinweise auf Sonderangebote aufblitzen. Die aussteigenden Fahrgäste tragen alle die gleichen weißen Hemden und schwarzen Hosen. Als sie an mir vorbeidrängen, drücke ich meine Handtasche fest an meine Seite, spüre, wie sich die Ecken meines Reiseführers in meine Rippen bohren. Als wir die Stadtmitte erreichen, werden die Straßen enger und schwerer zu befahren. Die meisten Gebäude hier sind altersgraue Wohnblöcke. Dunkle Rinnsale tropfen von Fensterrahmen, und verblasste Kleider hängen ordentlich auf Miniaturwäscheleinen. Mopeds flitzen wie Wespen durch den Verkehr, Männer sitzen auf den Bürgersteigen und schlürfen Nudeln aus Plastikschalen. Sie heben kaum die Köpfe angesichts des Lärms: Fehlzündungen, Autohupen, das metallische Kreischen protestierender Bremsen. Heute ist es etwas wärmer. Der Frost lässt endlich nach. Ich ziehe mir den Schal vom Hals und stopfe ihn in die Tasche. Eigentlich will ich nach San Malo, doch da ich kein Kantonesisch kann, kann ich auch niemanden nach dem Weg fragen. Wenigstens wird so niemand versuchen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Das ist zumindest eine kleine Annehmlichkeit.
Ich schaue weiter aus dem Fenster, suche nach den Orientierungspunkten, die laut dem, was ich gelesen habe, demnächst auftauchen sollen. Wir erreichen ein Viertel mit schwarzen und weißen portugiesischen Pflastersteinen in durchdachten Wirbeln und Wellen und historischen Gebäuden anstelle von Wohnblöcken und glitzernden Kasinos. Die Fensterbretter sind cremefarben, die Fassaden bonbonrosa oder zitronengelb – Ostereierfarben. Nicht so leuchtend wie auf dem Foto in dem Buch, aber ich erkenne sie wieder.
»San Malo!«, ruft der Fahrer, und ich springe auf, stoße gegen Leute, die die Farbe meines Haars anstarren, anstatt mir in die Augen zu schauen.
Überall drängen sich Touristen, jede Gruppe schleppt Taschen voll Souvenirs mit sich herum und folgt entweder einem Mann oder einer Frau mit breitkrempigem Hut und einer hochgehaltenen gelben Fahne. Ich kann über die Menge blicken, dunkle Köpfe wuseln um mein Kinn. Ich habe Pete versprochen, dass ich heute die Wohnung verlasse und diese neue Stadt erkunde, in der wir jetzt leben. Mein Vorwand, das Haus nicht zu verlassen, war, dass ich auf die Lieferung unserer Couchgarnitur warten würde, die aus irgendeinem Grund nicht zusammen mit unseren restlichen Möbeln eingetroffen ist. Aber wir wissen beide, dass ich auf ganz etwas anderes warte. Anfang der Woche hat er mich im Badezimmer erwischt, wie ich tief in der Wanne mit heißem Wasser versunken Ein Baby kommt gelesen habe. Er musste zweimal hinsehen und hat dann so getan, als hätte er nichts bemerkt, hat seine haselnussfarbenen Augen von mir abgewandt und beiläufig vorgeschlagen, dass ich mal an die »frische Luft« gehen und mir ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen soll. Jetzt merke ich, dass ich mich so daran gewöhnt habe, mich in der Wohnung zu verstecken, dass mich die vielen Leute und die ganze Aufmerksamkeit, die mir zuteilwird, regelrecht überwältigen. Ich biege in eine Seitenstraße ab, weg von dem Geschnatter, dem Geglotze und der lärmenden Geschäftigkeit und versuche den Tempel zu finden, der in dem Reiseführer erwähnt wird.
Schon bald stehe ich vor großen Holztüren, auf die zwei kriegerähnliche Götter mit hervortretenden Augen und langen, im Wind flatternden und sich kräuselnden Bärten gemalt sind. Der Lärm der Menge ist verstummt; die schwarzen und weißen Pflastersteine hier sind verblasst und haben Risse. Der Tempel war leicht zu finden – es scheint, als hätten meine Füße den Weg bereits gekannt. Ich bleibe bei einem beschnittenen eingetopften Baum am Eingang stehen. Seine Nadeln zittern. Weihrauchschwaden quellen aus den Türen. Ich gehe die schmalen Stufen hinauf, obwohl mein Kopf und mein Herz von Zweifel erfüllt sind. Der dunkle Innenraum ist mit Statuen und Gold, Früchten und Bildern vollgestopft. Von Kerzen tropft honigfarbenes Wachs auf den Betonboden. Über meinem Kopf verbrennt Räucherwerk. Die Schwaden senken sich in dicken, safrangelben Spiralen wie seltsame goldene Schlangen von der Decke. Eine Katze huscht an mir vorbei, ihr Fell ein Mischmasch aus Schwarz, Rotbraun und Weiß. Ich keuche auf, und sie dreht sich um und sieht mich mit runden Augen an. Jemand im Inneren schnaubt verächtlich.
»Das ist nur Molly. Sie wohnt hier.« Eine chinesische Stimme, die englische Worte spricht.
Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Gestalt im schummrigen Licht erkennen zu können – es ist eine junge Frau in einem engen Trainingsanzug. Sie kauert ähnlich der Katze auf dem Boden und kaut Kaugummi. Ihre Augen sind dick mit Eyeliner umrahmt. Ihr Gesichtsausdruck liegt irgendwo zwischen Neugier und Langeweile, schwer zu sagen, was gerade überwiegt.
»Wollen Sie meine Tante besuchen?«
»Ist sie die Wahrsagerin?«
»Ja ja«, sagt sie schleppend, ohne zu nicken. »Hier lang.«
Sie richtet sich auf und geht in einen kleinen Hof an der Seite des Tempels. Staubflocken tanzen in der kalten Luft. Sie hält ein mit Strasssteinen besetztes Handy in der Hand, an dem ein schmales goldenes Amulett wie ein Pendel hin und her schwingt. Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu und deutet auf eine ältere Frau. Die Wahrsagerin ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Vielleicht hatte ich die weibliche Version eines bärtigen Lao-Tse in einem flatternden Seidenpyjama erwartet. Diese Wahrsagerin jedoch trägt Jeans und hockt auf einem Stuhl. Ihr nussbraunes Gesicht ist zu einer ärgerlichen Grimasse verzogen.
»Keine Sorge«, sagt die Frau in dem Trainingsanzug zu mir. »Sie hat nur schlechte Laune. Ich werde für Sie übersetzen. Ihr Englisch ist furchtbar, also sagen Sie mir einfach, was Sie wissen wollen.« Ihr Blick schweift zu meiner linken Hand, die den Griff meiner Handtasche umklammert. Dann sehen mir diese dunkel gerahmten Augen wieder direkt ins Gesicht. »Verheiratet?«
»Ja.«
»Okay, also, Geld, Gesundheit, was auch immer. Sagen Sie mir, was Sie wissen wollen, und ich werde sie fragen. Verstanden?«
Ich kenne die Frage genau, doch sie bleibt mir im Hals stecken. Wir starren uns ein paar Sekunden an, und ich frage mich, ob ich nicht besser wieder gehen sollte.
»Klar«, murmele ich.
Sie reicht mir einen Plastikhocker, auf den ich mich setzen kann, während die Wahrsagerin mir ins Gesicht sieht. Ihr Haar ist schwarz gefärbt und hat nahe der Kopfhaut einen silbernen Ansatz. Sie mustert mich, als würde sie nach Makeln suchen. Ihr Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Nervös blicke ich auf ihre Füße hinunter. Auf ihre Sandalen mit den goldenen Riemchen sind schlampig falsche Gucci-Logos gestickt. Sie berührt mit der Hand mein Kinn. Ihre Fingerspitzen fühlen sich ledern auf meiner Haut an.
»Was ist das für eine Art von Wahrsagerei?«
»Sang Mien«, antwortet meine Übersetzerin. »Gesichterlesen«.
Die Wahrsagerin greift nach meiner Schulter, um mich näher zu sich heranzuziehen. Ich spüre, wie meine Wangen erröten, als könnte sie meine Gedanken lesen, meine sehnlichsten Wünsche und meinen schlimmsten Kummer.
»Oh«, sage ich.
»Okay, sie ist jetzt so weit«, sagt die junge Frau gähnend. Sie zieht ihren Hocker über die Fliesen zu uns herüber. Ihre Tante bellt einen Satz, und sie übersetzt.
»Ihr Gesicht ist sehr quadratisch«, beginnt sie.
Ich nicke. Man könnte mein Gesicht beschönigend als »breit« bezeichnen, das weiß ich selbst.
»Das bedeutet, dass Sie praktisch veranlagt sind. Die Form Ihrer Augen sagt, dass Sie nicht so optimistisch sind, aber Sie haben … Intuition, ein bisschen Kreativität. Ein kräftiges Kinn heißt, Sie besitzen Entschlossenheit und können dickköpfig sein. Aber Sie sind großzügig …«
Es folgt eine kurze Pause. Die Wahrsagerin starrt ihre Nichte durchdringend an, die auf der Suche nach dem passenden Ausdruck in die Luft guckt.
»Ich kenne das richtige Wort nicht. So ähnlich wie nichts tun, das sich zu sehr vom Normalen abhebt, niemandem Ärger machen. Verstehen Sie?«
Ich nicke. Angepasst, denke ich. Damit hat sie auch recht. Das bin ich, im Gegensatz zu Mama.
Die Inspektion geht weiter. Sie sagt mir, dass meine Ohren darauf schließen lassen, dass ich schnell lerne, aber zur Schüchternheit neige. Dann starrt sie meine Nase an. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Meine Hakennase sorgte schon zu Schulzeiten für Spott und Gelächter.
»Ihre Nase zeigt, dass Sie unabhängig sind, Ihr eigener Boss sein können.«
Das hätte mal jemand den Mädchen in der Schule sagen sollen, die mich damit aufgezogen haben.
»Die Tante sagt, dass Ihre Nasenform verrät, dass Sie mit Ihrer Arbeit den Leuten helfen.«
»Aha«. Ich bin mir nicht sicher, ob mein derzeitiger Beruf, wenn man denn überhaupt von einem Beruf sprechen kann, darin besteht, Menschen zu helfen. Als »mitausgereister Ehepartner« lässt er sich wohl am ehesten beschreiben. Immer dem nach, der die Brötchen verdient. Was mich an den Typen erinnert, der im Zoo hinter den Elefanten hertrottet. Und man kann sich ja denken, was der den ganzen Tag so macht … Pete war immer der Ehrgeizigere von uns beiden, also sind wir dorthin gezogen, wo er gebraucht wurde – wo die Kasinos ihn gebraucht haben. Vor diesem Umzug habe ich als Kellnerin in Cafés, Pubs, Restaurants und Hotelbars gearbeitet. Gerade genug, um Arbeitslosigkeit und Langeweile zu entgehen, aber auch nichts Weltbewegendes. Im weitesten Sinne ist das wohl auch »den Leuten helfen«. Man nennt es »Dienstleistungsbranche«, aber das ist nicht mit den Dienstleistungen von Ärzten und Feuerwehrleuten und Freiwilligen in Afrika zu vergleichen. Eigentlich bin ich die geborene Kellnerin, nicht nur weil ich Essen liebe, sondern weil ich schon früh gelernt habe, mich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern. Das liegt mir im Blut. Oder in der Nase, wie es scheint.
Ich setze mich auf dem Hocker zurecht, weil mir mein Hintern langsam wehtut, als die Wahrsagerin sich vorbeugt und nach einer meiner Hände greift. Sie studiert konzentriert die Linien in meiner Handfläche. Ihr Atem ist feucht und warm auf meiner Haut.
»Die Tante sagt, es gibt jemanden, den Sie lieben. Ich nehme an, das ist Ihr Ehemann, richtig? Nur einen, sagt sie.«
Ich nicke erneut. Das war nicht schwer zu erraten; wir sind lange genug verheiratet, dass der rotgoldene Ehering an der linken Hand praktisch mit meinem Finger verwachsen ist. Die Haut darunter ist milchig weiß und eingedellt.
»Ein guter Mann, aber ich sehe auch Traurigkeit. Bei ihm und bei Ihnen. Sie tragen sie hier mit sich herum.« Meine Übersetzerin deutet auf ihre Brust – auf ihr Herz, nehme ich an.
Ich nicke langsam.
»Sie werden ein gutes, gesundes Leben haben. Keine Geldprobleme. Sie werden eine Zeit lang in Macao bleiben, aber nicht zu lange.«
Die ältere Frau runzelt die Stirn, sieht zu mir auf und dann wieder auf meine Hand. Ich schlucke. Die junge Frau steckt ihr Handy in die Tasche und beugt sich vor. Eine erneute Salve auf Kantonesisch ertönt. Diesmal hat die Tante die Lautstärke etwas stärker aufgedreht. Ich beuge mich auch vor, als könnte ich dadurch ein, zwei Worte aufschnappen, aber ich verstehe rein gar nichts. Die Tante droht ihrer Nichte mit dem Finger.
»Schon gut, schon gut.« Sie verdreht die Augen. »Das macht sie ständig. Dann sagt sie etwas und meint vielleicht das genaue Gegenteil.« Sie runzelt die Stirn. »Sie spricht von Kindern.«
Ich schnappe nach Luft und hoffe, dass sie es nicht gehört haben. Ich wünschte, ich könnte meine Hand dem Griff der älteren Frau entziehen, aber sie starrt noch immer auf meine Handfläche.
»Vielleicht wird es eins geben …«
Die Pause scheint ewig zu dauern, die Staubflocken wirbeln durch die Luft und drehen sich um uns.
»Es ist eine zarte Linie. Sie bedeutet entweder eines oder gar keins.«
Die Wahrsagerin streichelt einfühlsam meinen kleinen Finger, als wollte sie ihren Worten damit Nachdruck verleihen. Ich blicke zwischen den beiden Frauen hin und her.
»Tja, keine Ahnung.« Die jüngere Frau zuckt mit den Schultern.
»Ich verstehe nicht«, sage ich zögernd.
»Ja, sie tut so, als würde das alles einen Sinn ergeben, aber was sie sagt, ergibt überhaupt keinen Sinn. Dann sagt sie, dass es am wichtigsten ist, sich keine Sorgen zu machen. Vielleicht ein Baby, das sagt sie.«
Ich fühle mich wieder traurig und seekrank. Dass ich mir keine Sorgen machen soll, ist ein lächerlicher Rat. Ich möchte noch mehr wissen; Tausende von Fragen überschlagen sich in meinem Kopf. Ich öffne den Mund, doch die Wahrsagerin kommt mir zuvor und redet auf ihre Nichte ein. Als die junge Frau beim stechenden Blick ihrer Tante den Kopf schüttelt, lässt diese meine Hand los, beugt sich vor und hebt die Stimme.
»Entschuldigung …«, sage ich, aber sie beachten mich nicht.
Jetzt hat die Tante ihrer Nichte die Hand auf das Knie gelegt und zeigt mit dem Finger auf sie. Das Gesicht der jungen Frau wird blass, und sie wendet sich ab. Weitere Worte auf Kantonesisch, rau und abgehackt. Ich sehe von einer zur anderen. Ihre Stimmen werden immer ärgerlicher und nachdrücklicher. Ich habe das Gefühl, etwas zu beobachten, das ich nicht sehen sollte. Als die Tante noch lauter wird, hebt das Mädchen den Blick. Ihre Pupillen sind so dunkel und hart wie schwarze Perlen und scheinen direkt in mich hineinzusehen.
»Darf ich fragen …«, beginne ich.
»Das ist alles – fertig«, sagt sie ein bisschen zu schnell und steht auf. Die Wahrsagerin redet noch immer, doch die junge Frau lächelt mich gezwungen an und ignoriert sie.
Ich verstehe den Fingerzeig. Ich stehe langsam auf, meine Beine, die vom Sitzen in der Kälte ganz steif geworden sind, geben fast unter mir nach. Sie reicht mir nicht die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich schwanke, als ich in meiner Handtasche nach meiner Geldbörse suche.
»Hundertfünfzig?«
»Ja.« Dann fügt sie hinzu: »Ohne Trinkgeld.«
»Äh, sicher.« Ich reiche ihr zwei Hundert-Hongkongdollar-Scheine. Sie sind neu und steif. Sie nimmt sie mit beiden Händen und hält inne, starrt mich mit diesen dunklen Augen an. Ihre Tante murmelt weiter vor sich hin, jetzt schüttelt sie den Kopf dazu. Meine Dolmetscherin dreht sich noch immer nicht zu ihr um, sondern hat den glasigen Blick weiter auf mich gerichtet.
»Behalten Sie den Rest«, sage ich.
»Danke«, antwortet sie matt.
Während ich den vom süßlichen Geruch des Räucherwerks erfüllten Tempel durchquere, spüre ich, wie meine Augen feucht werden. Vielleicht von der Helligkeit des Lichts draußen. Auch meine Brust ist wie eingeschnürt. Ich hole tief Luft.
Draußen bewegt sich die Menge noch immer wie ein einziger Körper, der größer ist als die Summe seiner Teile. Die Sonne steht wie ein Eidotter am weißen Himmel. Als ich die Hauptstraße erreiche, gehe ich an den Bushaltestellen vorbei und halte ein Taxi an. Ich sage dem Fahrer das Einzige, was ich auf Kantonesisch kann.
»Gee Jun Far sing.«