Nadia Bolz-Weber

„Ich finde Gott
in den Dingen,
die mich wütend
machen“

Pastorin der Ausgestoßenen

Aus dem Amerikanischen
von Christian Rendel

Mit einem Vorwort
von Christina Brudereck

„Dies ist ein erstaunliches Buch … ansteckend, ehrlich, packend … ein seltenes Geschenk … ich merke, ich komme ins Schwärmen, aber so ist das nun einmal, wenn ein Buch einen inspiriert und bewegt und berührt, so wie dieses.

Rob Bell, Autor

„Pastorin Nadia Bolz-Weber spricht die Wahrheit über unser Menschsein aus, die wir allzu oft am liebsten verleugnen. Sie verkündet die radikale Kraft der Gnade Gottes um Jesu willen, die wir so oft lieber verwässern, als täglich darin zu ertrinken. Ja, lesen Sie auf eigene Gefahr.“

Mark Hanson, Vorsitzender Bischof

der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika

„Dieses witzige, unverblümte Buch voller Wahrheit ist auf genau die richtige Weise anstößig. … Es erinnert mich daran, warum ich eigentlich Christ bin, und ich hatte nach dem Lesen Tränen der Dankbarkeit in den Augen.“

Rachel Held Evans, Bloggerin und Autorin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-803-3

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

First published by Jericho Books, Hachette Book Group, New York, NY 10017,

under the title “Pastrix. The Cranky, Beautiful Faith of a Sinner & Saint”

© 2013 by Nadia Bolz-Weber. All rights reserved

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Einbandgestaltung: Medienteam Vreden

Titelfoto: Courtney Perry

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

Für Dick und Peggy

Inhalt

Cover

Titel

Zitate

Impressum

Widmung

Anmerkung des Übersetzers

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Christina Brudereck

Herbst 2005

1. Das Ruderteam

2. Gottes Tante

3. Albion Babylon

4. La Femme Nadia

5. Danke, ELCA!

6. Sturm und Demütigung

7. Ich habe dich nicht wegen diesem WahrheitsBullshit angerufen

8. Klinische Seelsorgeausbildung

9. Eunuchen und Zwitter

10. Zuckerwatte

11. Der christliche Pirat

12. Der haitianische Kreuzweg

13. Dämonen und Schneeengel

14. Fußabtreter und zerknautschte Talare

15. Gespenster im Himmelreich

16. Schmutzige Fingernägel

17. Anders auf die falsche Art

18. Er ist ein Vollchaot, aber er ist unser Vollchaot

19. Bier und Choräle

Danksagungen

Fußnoten

Anmerkung des Übersetzers:

Die Autorin verwendet, im Einklang mit den Gepflogenheiten der lutherischen Kirche in den USA, die Begriffe „Kommunion“ und „Eucharistie“, wo deutschsprachige Lutheraner vom „Abendmahl“ sprechen würden.

Nadia Bolz-Weber

Pastrix (pas · triks) Subst.

  1. Beleidigende Bezeichnung fantasieloser Kreise in der Kirche für Frauen im Pastorenamt.
  2. Weibliche Kirchensuperheldin: Trinity aus Matrix mit Beffchen. „Was war das für ein Geräusch?“ „Eine Pastrix hat gerade einen Dämon per Dropkick in den siebten Höllenkreis befördert!“
  3. Der wunderliche, wunderbare Glaube einer heiligen Sünderin.

– NewWineskinsDictionary.com

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Authentisch. Auffällig. Außenseiterin, anerkannt. Alkoholikerin, trocken. Autorin, ausgezeichnet. Attraktiv. Aufgeweckt. Amerikanerin. Berufen. Begabt. Bissig, manchmal. Beherzt. Botin! Christin. Charmant, oft. Davongekommen. Damenhaft, nein, gar nicht. Ehrlich, ja, überaus. Echt. Emergent. Empathisch. Entlarvend. Einladend. Eigenwillig. Engagiert. Exzentrisch, ja. Fein. Forsch. Frei. Frech. Fehlbar. Fromm. Gescheitert. Gnade. Gnade. Gnade ist die Größte. Gottvoll. Geistreich. Geradeheraus. Grenzgängerin. Gläubig und glaubhaft. Herz. Was für ein herzlich riesiges Herz! Hoffnung, wie ihr Name bedeutet. Humorvoll. Herausfordernd. Heilige. Mit Hund. Interessant. Interessiert. Jesusliebhaberin. Klerikal, etwas. Kirchenkritisch. Kirchentreu. Kreativ. Klug. Kämpferin. Lutherisch. Ja, Lutheranerin. Launig. Lustig. Mutig. Mutig. Mutter, was aus Rücksicht auf ihre Kinder kaum erwähnt wird. Missionarin. Menschenfreundin. Nadia eben. Originell. Offen. Priesterlich. Mit Piercing. Pastorin. Predigerin. Pfingstlich. Provozierend. Querdenkerin. Respektlos, bei allem Respekt. Risikofreudig. Schön. Sünderin. Sympathisch. Städterin. Tattoo. Ach ja, die Tattoos! Theologin. Trotzig, zum Glück. Unbefangen. Unvollkommen. Unverhohlen. Unterhaltsam. Verrückt, etwas. Verständnisvoll, sehr. Wahrhaftig. Weiblich. Weltoffen. Würdigend, sehr. Zart. Zynisch. Ja, zynisch, aber nicht gemein. Zerrissen. Zerbrechlich. Zugänglich. Zeugin.

Das alles steckt in dieser Frau und in diesem Buch. Von A bis Z, Seite 1 bis zum Schluss ein Gewinn und ein Genuss. Für die Gemeinde ein Muss. Für alle wunden Seelen ein heilsamer Kuss.

Christina Brudereck

Herbst 2005

„Scheiße“, dachte ich, „ich komme zu spät zum NT-Seminar.“ Auf der I-25 in Denver ging nichts mehr. Der Verkehr floss nicht nur zäh, sondern gar nicht. Aus irgendeinem Grund (höchstwahrscheinlich Misanthropie) gehe ich immer davon aus, dass Staus und Verkehrsbehinderungen nicht auf Baustellen oder Unfälle zurückzuführen sind, sondern auf die menschliche Dummheit, so als hätte irgendjemand plötzlich vergessen, wie man Auto fährt, oder beschlossen, mitten auf der Schnellstraße anzuhalten und am Wegesrand Blümchen zu pflücken.

Um meine bodenlose Verachtung für den menschlichen Schwachsinn, der dazu führte, dass wir hier alle auf dem Freeway festsaßen, in andere Kanäle zu steuern, unternahm ich einen meiner zahllosen Versuche, mich „geistlicher“ zu verhalten, und bemühte mich, im Augenblick zu leben und irgendetwas Schönes zu finden, um mich abzulenken. Nach der landschaftlichen Schönheit Colorados muss man nicht erst lange suchen – man müsste sie schon absichtlich ignorieren. Aber das vergesse ich oft. Der Himmel strahlte an jenem Tag in jenem klaren Blau, das sich einfach nicht wiedergeben oder auch nur einigermaßen beschreiben lässt. Die meisten menschlichen Versuche, dieses spezielle Blau abzubilden, sind zwar gut gemeint, aber sie haben keine Tiefe. Man muss es einfach erleben. Und an diesem Herbsttag füllte es den ganzen Himmel bis in den letzten Winkel aus, nur hier und da unterbrochen von einer bauschigen kleinen Kitschpostkartenwolke.

Der Himmel sah so prachtvoll aus, dass ich alle meine Fensterscheiben herunterkurbelte und mich nach vorn beugte, um durch die Windschutzscheibe mehr sehen zu können. Ein LKW-Fahrer neben mir zwinkerte mir zu und beäugte meine tätowierten Arme – bestimmt ahnte er nicht, dass das große Tattoo auf meinem Unterarm Maria Magdalena darstellte und dass ich eine lutherische Theologiestudentin war und bald lutherische Pastorin werden würde. LKW-Fahrer, Motorradfahrer und ehemalige Strafgefangene lächeln mir viel häufiger zu als beispielsweise Investmentbanker. Ich lächelte zurück, wandte meinen Blick dann wieder dem blauen Himmel über mir zu und verlor mich in Gedanken an die unfassbar unendliche Weite des Weltalls. Die Schönheit unseres Himmels ist eigentlich nur eine hübsche Methode der Erde, um uns vor dem Schrecken der Gewaltigkeit und Unerforschlichkeit zu schützen, die jenseits davon liegt. Die Grenzenlosigkeit des Universums ist zutiefst beunruhigend, wenn man darüber nachdenkt. Es ist zu groß, und wir sind zu klein. In diesem Moment konnte ich plötzlich nur noch einen Gedanken fassen: Was fällt mir eigentlich ein? Theologie? Allen Ernstes? Wie groß ist angesichts dieses riesigen, unerforschlichen Universums wohl die Wahrscheinlichkeit, dass diese Geschichte von Jesus wahr ist? Komm schon, Nadia. Es ist ein bescheuertes Märchen.

Und beim nächsten Atemzug dachte ich: Nur, dass ich es mein ganzes Leben lang immer wieder als wahr erfahren habe.

Irgendwann hat mir mal jemand gesagt, mein Glaube an Jesus wecke in ihm den Verdacht, dass ich intellektuell gesehen nachts am Daumen lutsche. Aber so gerne ich es manchmal auch täte, ich kann nun einmal nicht so tun, als hätte ich nicht mein Leben lang die befreiende, alles ins Wanken bringende Liebe eines Gottes voller Überraschungen erlebt. Auch wenn mein Verstand bisweilen dagegen protestiert, kann ich doch meine Erfahrungen nicht verleugnen. Diese Sache ist für mich real. Manchmal erfahre ich Gott, wenn jemand mir die Wahrheit sagt, manchmal in Momenten, in denen ich Irrtümer einsehe, manchmal durch die Liebe zu jemandem, den ich gar nicht liebenswert finde, manchmal durch eine Versöhnung, die sich anfühlt, als ob sie von irgendwo außerhalb von mir selbst kommt. Aber fast immer nimmt meine Begegnung mit Gott die Gestalt einer Art Tod und Auferstehung an.

Das Mysterium des Universums (desselben Universums, das mich immer noch dazu bringt, mich zu fragen, was ich eigentlich auf dem theologischen Seminar zu suchen habe und ob das alles nicht in Wirklichkeit nur ein Märchen ist) wurde von Gott erschaffen. Und Gott hat beschlossen, uns zu zeigen, wer er ist, indem er sich eine Haut überstreifte und als Jesus mitten unter uns unterwegs war. Und die Liebe und Gnade und Barmherzigkeit Jesu kamen uns so anstößig vor, dass wir ihn umbrachten. Am Abend, bevor das passierte, setzte sich Jesus mit einem Haufen totaler Nieten an einen Tisch, hielt ein Stück Brot hoch und sagte: Nehmt und esst, dies ist mein Leib für euch. Und dann ging er ans Kreuz. Aber der Tod konnte Gott nicht festhalten. Gott sagte „ja“ zu all unserem höflichen Abwinken, indem er von den Toten auferstand. Tod und Auferstehung. Das ist die christliche Geschichte, wie sie mir erzählt wurde, angefangen von Maria Magdalena, die sie als Erste erzählte; und sie hat sich durch meine Erfahrungen bestätigt.

In den folgenden Kapiteln habe ich nichts zu bieten als mein Bekenntnis – das Bekenntnis meiner eigenen realen Zerbrochenheit und das Bekenntnis meines eigenen realen Glaubens. Ich erzähle meine Geschichte nicht ganz chronologisch – die Zeit dreht das ganze Buch hindurch immer mal wieder eine Schleife –, sondern eher thematisch geordnet. Sie handelt von der Entwicklung meines Glaubens, vom Ausdruck meines Glaubens und von der Gemeinschaft meines Glaubens. Und die Geschichte handelt davon, wie ich diese Sache mit Jesus als wahr erlebt habe. Davon, dass es im christlichen Glauben, wenn er auch in der amerikanischen Kultur oft wüst entstellt wird, in Wirklichkeit um Tod und Auferstehung geht. Sie handelt davon, dass Gott immer wieder mit seiner Hand in die Gräber hineingreift, die wir uns selbst ausheben, und uns herauszieht, uns neues Leben gibt, mal auf dramatische, mal auf ganz unspektakuläre Weise. Dieser Glaube hat mir geholfen, trocken zu werden. Er hat mir geholfen (bzw. hilft mir bis heute), meine fundamentalistische Erziehung in der Church of Christ zu vergeben, und er verhilft mir dazu, dass ich nicht immer recht haben muss.

Die Fernsehprediger mit ihrem breiten Lächeln mögen Ihnen erzählen, bei der Nachfolge Jesu gehe es darum, schön brav zu sein, damit Gott Sie mit einem Haufen Geld und hübschen Preisen segnet, aber in Wirklichkeit ist die Sache viel grausiger und bedeutungsvoller. Es geht um geistliche Physik. Etwas muss sterben, damit etwas Neues leben kann.

Tod und Auferstehung – das immer wiederkehrende Erlebnis, die Leere zu sehen, darüber zu weinen, dass wir unfähig sind, sie auszufüllen oder auch nur zu verstehen, und dann darauf zu horchen, wie Gott uns beim Namen nennt, und Gottes Geschichte zu erzählen – das ist eine ziemlich knifflige Sache. Aber es ist meine Sache, und es ist mit Abstand das Schönste, wovon ich je erzählen könnte.

Kapitel 1

Das Ruderteam

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

– Matthäus 5,3 (Luther)

In meinen ersten trockenen Jahren verbrachte ich die meisten Montagabende in einem rauchgeschwängerten Gemeindesaal, wo ich mit ein paar Freunden, die ebenfalls trockene Alkoholiker waren, schlechten Kaffee trank. Bildnisse der Jungfrau Maria blickten auf uns herab, während Gebete, Verzweiflung, Zigarettenrauch und Hoffnung zur Saaldecke emporschwebten. Wir waren ein streitlustiger Haufen von Leuten, deren Leben sich in unterschiedlichen Stadien der Besserung befand. Da war Candace, eine Hausfrau aus der Vorstadt, die bei ihrem Debütantinnenball von Heroin high gewesen war; Stan, der depressive Dichter, der kein gutes Haar an sich selbst ließ und vor Gefühlen überströmte; und Bob, der Anwalt im Ruhestand, der schon trocken gewesen war, bevor Jesus auf die Welt kam, aber aus irgendeinem Grund immer noch ein bisschen obdachlos aussah.

Wir redeten über Gott und den Zorn, den Groll und die Vergebung – immer schön von Kraftausdrücken untermalt. Wir waren nicht so sehr ein Narrenschiff als vielmehr ein Ruderboot voller Idioten. Ein kleines Ruderteam, das sich wild paddelnd in die Riemen legte, mal füreinander, mal jeder für sich, und wenn einer von uns über Bord sprang, mussten wir anderen umso kräftiger paddeln.

Als ich 1992 zu dem „Ruderteam“ stieß, wie ich es tatsächlich bald nannte, arbeitete ich in einem Klub in der Innenstadt als Standup-Komikerin. Ich war kaputt, erst seit ein paar Monaten trocken, und gab mir alle Mühe, wieder heil zu werden. Da ich mir eine Therapie nicht leisten konnte, schien mir die zweitbeste Lösung zu sein, mich auf die Bühne zu stellen und sarkastische, zynische Sprüche von mir zu geben. Außerdem bin ich wirklich witzig, wenn es mir dreckig geht.

Das ist nicht gerade etwas Ungewöhnliches. Wenn man alle Komiker der Welt an einem Ort versammeln und dann alle Alkoholiker, Kokainsüchtigen und Manisch-depressiven wieder wegschicken würde, dann bliebe … nun ja … außer Carrot Top fällt mir keiner ein. So eine Affäre mit der Finsternis bringt manche Leute dazu, die Wahrheit auf ungeschminkte, schräge Weise zu sehen, so als richteten sie eine Schwarzlichtlampe aufs Leben, um seine ganze Absurdität zum Leuchten zu bringen. Komiker sprechen eine Wahrheit aus, die man nur von der Schattenseite der Psyche her sehen kann. Komik ist bestenfalls Prophetie und gesellschaftliche Traumdeutung. Schlechtestenfalls besteht sie nur aus Witzen über Schwänze.

Als ich noch als Komikerin arbeitete, sagten normale, nichtkomische Leute oft zu mir: „Wow, wie schaffst du das nur, dich einfach nur mit einem Mikrofon vor so viele Leute zu stellen?“ Worauf ich dann antwortete: „Wow, wie schaffst du das nur, dein Haushaltsbuch zu führen und jeden Morgen zur Arbeit aufzustehen?“ Jedem von uns fallen im Leben andere Dinge schwer. Vor Hunderten von Leuten zu sprechen, war für mich längst nicht so ein Riesenakt wie einen Termin beim Zahnarzt zu vereinbaren.

Als Komikerin auf der Bühne zu stehen, kostete mich so gut wie überhaupt keine Mühe, denn auf der Schattenseite fühlte ich mich zu Hause – da, wo alles in Ironie und Sarkasmus mariniert, bis es so weit ist, gegrillt und einem nackten Kaiser serviert zu werden. Ich fand regelmäßig Engagements, kam aber in der Comedyszene nicht sehr weit. Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens brachte ich die anderen Komiker viel häufiger zum Lachen als das eigentliche Publikum, für das ich nur Verachtung übrig hatte (was die Sache vielleicht erklärt). Dazu kam, dass ich keinen besonderen Erfolgsdrang verspürte: Sobald es anstrengend wurde, verdrückte ich mich. Aber der Hauptgrund, warum es mit der Comedy bei mir nicht so recht klappte, war, dass ich allmählich gesünder wurde und einfach nicht mehr so witzig war. Weniger unglücklich = weniger witzig. Während ich trocken wurde und versuchte, mich auf Gott zu stützen und mich ehrlich meinen Unzulänglichkeiten zu stellen, wuchs in mir die Bereitschaft, mich verletzlich zu zeigen. Das machte mich zur leichten Beute im Künstler-Aufenthaltsraum eines Comedyklubs, der im Grunde eine Brutstätte des emotionalendarwinistischen Überlebenskampfes ist. Deshalb hatte ich keine Lust, dort sehr viel von meiner Freizeit zu verbringen. In anderer Hinsicht konnte es irgendwie auch toll sein, mit Komikern abzuhängen. Im Vergleich zu den meisten von ihnen war ich ein Urbild psychischer Gesundheit. Ich freundete mich mit einem drahthaarigen, kontaktfreudigen Komiker namens PJ an – und mit anfreunden meine ich, dass ich gelegentlich mit ihm schlief –, der einen scharfen, wenn auch unglaublich verdrehten Verstand besaß. PJ war nicht gerade der Typ fürs Gentleman’s Quarterly. Statt gut geschnittener Jeans zog er eine bedauerliche Kombination aus ausgeleierten Shorts, Button-down-Hemden und Sportsandalen vor. Er hatte etwas ausgesprochen Wildes an sich, das ihn ein bisschen hundeähnlich erscheinen ließ. Obwohl er praktisch keinerlei Stil besaß, war in PJs sozialem Leben der Bär los. Er liebte die Frauen, das Leben, den Schnaps, die Nacktmagazine, das Pokern und die Comedy, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Außerdem arbeitete er parallel zu seiner Standup-Karriere an seiner Doktorarbeit in Kommunikationswissenschaften, was ihm allerdings durch die erwähnte Fülle seiner Laster nicht gerade erleichtert wurde. Eines Tages lud ich ihn zum Ruderteam ein, und für die nächsten acht Jahre blieb er ein treues Mitglied und lud nach dem Treffen oft zum Pokerspielen bei sich zu Hause ein.

Wenn man PJ nicht gut kannte, wirkte er gar nicht so clever, aber hinter seinen unflätigen Tiraden verbarg sich ein genialer Intellekt. Seine Auftritte waren mit die versautesten in Denver. Viel Hochgestochenes kam darin nicht vor. Auf der Bühne stellte er sich dumm, und das konnte er hervorragend. Einmal rief ich PJ an, um mich zu erkundigen, was seine Doktorarbeit mache. „Läuft super“, sagte er, „aber keiner merkt, dass ich in meinem Büro an der Uni wohne.“

PJ war wie eine von diesen Stoffpuppen mit langen Röcken, die man von unten nach oben kehren kann, indem man den Rock umstülpt – und plötzlich ist sie keine Oma mehr, sondern der große böse Wolf. Richtig herum gehalten ist seine Puppe ein Einfaltspinsel mit losem Mundwerk, aber wenn man sie umdreht, wird ein Doktor der Kommunikationswissenschaften daraus. Die richtig herum gehaltene Puppe ist der immer zu Späßen aufgelegte und ausstrahlungsstarke Gastgeber einer wöchentlichen Pokerpartie, doch umgekehrt wird ein lebensuntüchtiger, depressiver Mensch daraus.

PJ passte goldrichtig ins Ruderteam, und er brachte Leben in die Treffen mit seinen brüllend komischen, finsteren Tiraden. „Heute Morgen wollte ich mich umbringen“, sagte er zum Beispiel, „aber dann fiel mir ein, wie bescheuert ich es fände, euch Armleuchtern einen Grund zu liefern, euch noch mehr um euch selbst zu drehen, als ihr es sowieso schon tut, also … “ Mit „also … “ beendete er die meisten seiner Sätze, so als wüssten wir alle, was in die nächste Lücke gehörte. Ich hielt mich gern in seiner Nähe auf, als könnte seine Aura auf mich abfärben und mich genauso schlagfertig und clever und sympathisch machen wie ihn.

Comedyklubs haben montags Ruhetag. Dafür stand uns nach unseren Ruderteamtreffen PJs Bude zum Texas-Hold’em-Pokerspiel offen. Ich bin ziemlich sicher, dass er, als er trocken wurde und den Fusel aus der Gleichung herausnahm, die Lücke einfach mit mehr Frauen, Poker und Comedy füllte. Die Montagabende bei PJ wurden zu einem düsteren Karneval mit lauter Komikern, trockenen Alkoholikern und Komikern, die trockene Alkoholiker waren. Das Pokerspiel dauerte bis spät in die Nacht, aber eigentlich drehte sich der Wettbewerb darum, wer die schlagfertigsten Sprüche machte. Wann immer ich konnte, schob ich den unvermeidlichen Stapel Schmuddelmagazine von PJs Klavierhocker und setzte mich hin, um ein paar Stunden lang aus vollem Halse zu lachen. Die fünfundzwanzig Dollar, die ich dabei jedes Mal an die anderen verlor, waren mir das allemal wert.

Doch hinter seinen akademischen Erfolgen, seinem hingerissenen Publikum im Comedyklub, den vielen Frauen und der Schar von Freunden nagte etwas an ihm. Über ein Jahrzehnt hinweg fraß eine Macht, ein Dämon oder eine Krankheit an unserem Freund PJ, die sich in einem Winkel seines Geistes eingenistet hatten und wie die Rote Armee entschlossen vorwärtsmarschierten, um immer mehr Gelände einzunehmen.

PJ wurde von einer Menge Leuten geliebt, die aber keine Ahnung hatten, wie sie ihm helfen konnten. Das Ruderteam wachte über seine letzten Jahre, während die moderne Pharmakologie an seiner psychischen Krankheit herumzerrte und -zupfte, ohne ihn je wirklich heilen zu können. Immer seltener erschien er an den Montagabenden, und jedes Mal sah er dünner aus. Es war, als hätte sein Körper begonnen, seiner Seele und seinem Geist zu folgen, die sich nach und nach verabschiedeten. Irgendwann rief er nicht mehr zurück.

Einige Tage, bevor er sich aufhängte, rief PJ mich an. Er wollte, dass ich für ihn betete. Es war zehn Jahre her, dass ich ihn kennengelernt hatte, und in der Zwischenzeit war ich zum christlichen Glauben zurückgekehrt. Ich glaube, ich war der einzige gläubige Mensch, den er kannte. Er stellte sich Fragen über Gott: War er für Gottes Liebe unerreichbar? Ich ließ all meine Coolness und meinen Sarkasmus fahren und betete am Telefon für ihn. Ich bat, er möge die ganz reale und immer verfügbare Liebe Gottes spüren. Ich betete, er möge die rückhaltlose Gewissheit bekommen, dass er ein geliebtes Kind Gottes war. Bestimmt habe ich noch eine Menge anderes Zeug gesagt. Ich wollte gern in der Lage sein, diesen Dämon auszutreiben, der unseren PJ im Griff hatte, von ihm Besitz genommen hatte, der ihn mit Lügen fütterte und das Licht der Liebe Gottes von ihm fernhielt.

Anderthalb Wochen später saß ich in einem riesigen Hörsaal der Universität von Colorado in Boulder (wo ich mit meinen fünfunddreißig Jahren und als verheiratete Mutter von zwei Kindern endlich mein Studium abschließen wollte), als mein Handy klingelte. Ich rannte nach draußen, und die kalte Luft trieb mir die Tränen in die Augen.

Sean, ein Comedy- und Ruderkumpan, sagte: „Nadia, es geht um … um PJ, Liebes.“ „Scheiße“, sagte ich.

„Es tut mir leid“, sagte Sean. Es tat uns allen leid. „Kannst du die Trauerfeier für ihn machen?“

Und das war meine Berufung in den vollzeitlichen Dienst. Meine wesentliche Qualifikation? Ich war die einzige Fromme in unserem Haufen.

Die Trauerfeier fand an einem frischen Herbsttag vor vollem Haus im Klub „Comedy Works“ in der Innenstadt von Denver statt. Das Alkoholiker-Ruderteam und die Komiker von Denver, die Mitarbeiter der Comedyklubs und die Akademiker. Das waren meine Leute. Während ich die Traueransprache für PJ hielt, wurde mir klar, dass ich vielleicht dazu bestimmt war, ihre Pastorin zu sein.

Nicht, dass ich mir besonders heilig oder seelsorgerlich vorgekommen wäre. Aber dort in diesem Kellerraum, in dem es nach abgestandenem Bier und schlechten Witzen roch, schaute ich mich um und sah so viel Schmerz und Fragen und Verlust, dass niemand, auch ich nicht, wusste, wie damit fertig zu werden war. Und ich sah Gott. Gott mitten unter all den Komikern, die da mit verschränkten Armen an der Wand standen, als könnten sie sich mit ihren höhnischen Bemerkungen jegliche peinlichen Emotionen vom Leib halten. Gott dicht an der Seite der Frau, die dort die Bühnentreppe hinabstieg, nachdem sie sich ein bisschen zu offenherzig darüber geäußert hatte, was für ein heißer Liebhaber PJ gewesen sei. Gott mitten unter den Zynikern und Alkoholikern und Tunten.

Ich bin nicht die Einzige, die gleichzeitig die Schattenseite und Gott sieht. Es gibt eine Menge von uns, und wir sind zu Hause in den biblischen Geschichten von Antihelden und Leuten, die nichts kapieren, von Prostituierten und ungehobelten Fischern. Ist denn ein manisch-depressiver Alkoholiker so verschieden von diesem Figurenensemble? Hier, mitten in meiner eigenen Gemeinschaft von Schattenseitenbewohnern, konnte ich nicht mehr anders, als das Evangelium wahrzunehmen, die umwälzende Realität, dass Gott nicht weit weg ist, sondern hier in der Zerbrochenheit unseres Lebens. Und nachdem ich das gesehen hatte, konnte ich nicht mehr anders, als darauf hinzuweisen. Mir wurde klar, dass ich aus Gründen, die ich nie ganz verstehen werde, dazu berufen war, von dorther, wo ich bin, das Evangelium zu verkünden, und vom Evangelium her zu verkünden, wo ich bin.

Angefangen hatte es in der ersten Zeit meiner Trockenheit damit, dass ich mich widerstrebend darauf einließ, wieder mit dem Beten anzufangen. Das hatte zu meiner Rückkehr zum christlichen Glauben geführt, und nun sogar zu etwas noch Ungeheuerlicherem: Ich war zur Pastorin für meine Leute berufen.

Kapitel 2

Gottes Tante

Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still.

– 1. Timotheus 2,11 - 12 (Luther)

Fünfundzwanzig Jahre, bevor ich in einem Comedyklub eine Trauerfeier halten sollte, wurde ich getauft. Es war ein Sonntag im Frühjahr 1981, und ich hatte weiße Sandalen an. Der Prediger in seinem jeansblauen Polyesteranzug hatte seine Predigt mit einem Bekehrungsaufruf nach vorn beendet. Wenn du bereit bist, dein Leben dem Herrn zu übergeben, oder wenn du dich taufen lassen möchtest, dann komm jetzt nach vorn, während wir alle aufstehen und singen.

Die Leute standen auf und sangen, und ich ging durch den Mittelgang auf den Pastor zu. Ein anderer Mann überreichte mir eine Karte und einen kurzen Bleistift, als ich mich auf die gepolsterte Kirchenbank setzte. Nachdem ich angekreuzt hatte, dass ich mich taufen lassen wollte, trat wieder ein anderer Mann an die Kanzel, um es der Gemeinde bekannt zu geben.

Dann sagte ich ihnen, von welchem der Männer ich getauft werden wollte.

In der Gemeinde, in der ich meine Kindheit verbrachte, wurde gelehrt, ins „rechenschaftspflichtige Alter“ komme man mit etwa zwölf Jahren. Ins rechenschaftspflichtige Alter zu kommen hieß, dass man geistlich gesehen nicht mehr bei den Eltern mitversichert war. Mit zwölf fängt in geistlicher Hinsicht die Uhr an zu ticken. Man kann jetzt richtig und falsch unterscheiden, und deshalb muss man auch für jeden Mist, den man baut, Rechenschaft ablegen. Wenn man sündigt, obwohl man richtig und falsch unterscheiden kann, und dann stirbt, bevor man sich für die Taufe entscheidet, landet man für alle Ewigkeit im Höllenfeuer. In dieser Zeit fangen also Kinder an, sich für die Taufe zu entscheiden. Die Zeitspanne zwischen dem Eintritt ins rechenschaftspflichtige Alter und dem Tag, an dem man durch die Taufe reinen Tisch macht, ist manchmal voller Schrecken. Viele von uns beteten, bloß nicht bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, bevor wir getauft waren, so wie andere Leute beten, dass sie nicht krank werden, bevor sie über den Arbeitgeber krankenversichert sind. Zwölfjährige Kinder in der Church of Christ erleben eine Welle der Frömmigkeit, eine Große Erweckung, die nur aus Sechstklässlern besteht.

Da zwölf das rechenschaftspflichtige Alter war, galt zugleich auch, dass Jungen ab zwölf Jahren in der Sonntagsschule nicht mehr von Frauen gelehrt werden durften. Gemäß 1. Timotheus 2,12 war es Frauen nicht gestattet, Männer zu lehren. Folglich besaß ein zwölfjähriger Junge mehr Autorität als eine erwachsene Frau. Frauen durften nicht als Älteste dienen, predigen oder Gottesdienste leiten. Aus irgendeinem Grund besaßen wir nicht die Vollmacht, einem Mann den Kollektenteller zu reichen. Die Vollmacht hingegen, demselben Mann eine Stunde später beim Gemeindepicknick einen Teller mit Brathühnchen und Kartoffelsalat zu reichen, besaßen wir durchaus.

Dale Douglass war der erste männliche Sonntagsschullehrer, den ich hatte. Er war freundlich und witzig und scheitelte seinen dicken, sandblonden Haarschopf so tief über dem Ohr, dass es völlig unnötigerweise so aussah, als versuchte er, eine Glatze zu verbergen. Dale fing da an, wo die Frau, die uns im Jahr davor unterrichtet hatte (als sie noch die Vollmacht dazu besaß), aufgehört hatte: Er testete uns, um zu sehen, wie viele Fakten über die Bibel wir wussten. Ich wusste viele der Antworten, und es dauerte nur drei Wochen, bis er meine Eltern zu einem Gespräch einbestellte, um ihnen zu erklären, sie müssten meinetwegen etwas unternehmen. Ich beantwortete die Fragen zu schnell und nahm dadurch den Jungen in der Klasse die Chance, eine Antwort zu geben. Eins muss ich meinen Eltern lassen – insgeheim fanden sie das großartig. Immerhin legten sie mir nahe, den anderen auch ein wenig Raum zu lassen, aber im Grunde waren sie einfach nur begeistert, dass ich mich in der Bibel gut auskannte, und es wäre ihnen nie eingefallen, deswegen mit mir zu schimpfen.

Die Frühreife wich dem Sarkasmus, als ich die Fähigkeit entwickelte, die Lehren und die soziale Dynamik in der Gemeinde zu analysieren. Sobald ich merkte, dass es einen Unterschied gab zwischen dem, was die Leute sagten (jeder Sex außerhalb der heterosexuellen Ehe ist verboten), und dem, was sie taten (heimliche Affären untereinander), und ebenso einen Unterschiedzwischen dem, was sie lehrten (Frauen waren minderwertig und den Männern untergeordnet) und der Wirklichkeit, die ich in der Welt erlebte (wieso bin ich dann schlauer als mein Sonntagsschullehrer?), wusste ich, dass ich da rausmusste. Ich war ein starkes, cleveres und vorlautes Mädchen, und die Gemeinde, in der ich aufwuchs, konnte mit jemandem wie mir nichts anfangen, auch wenn die Leute mich liebten.

Als ich schließlich die Gemeinde verließ, stellte ich alles infrage, was ich je gelernt und gewusst hatte, und ging davon aus, dass ich mit Sicherheit eine „Nichtchristin“ sei. Allerdings schaffte ich es dennoch nicht, Atheistin zu werden, wie man es hätte erwarten können. Ich hatte nie aufgehört, an Gott zu glauben. Nicht wirklich. Immerhin aber musste ich für eine Weile bei seiner Tante abhängen. Man nennt sie die Göttin.

Meine erste Begegnung mit dem Wiccakult hatte ich in den Bergen westlich von Denver auf einem braunen, grasbewachsenen Hügel, an dessen Fuß eine Jurte stand – ein rundes Nomadenzelt, in dessen Innern alle Lampen mit roten Tüchern verhängt waren, wodurch es darin aussah wie in einem Campingplatzbordell.

Ich war etwa zwanzig Jahre alt, als meine Freundin Renna (die vom Kopf bis zu den Zehenspitzen hetero ist) mich fragte, ob ich mit ihr zu einer lesbischen Hochzeit gehen wollte. „Ich kann mir nichts Besseres vorstellen“, antwortete ich, und so fuhren wir los und hörten unterwegs fünfundvierzig Minuten lang die Indigo Girls, um in die richtige Frauenpowerstimmung zu kommen. Auf dem Schoß hatte ich eine riesige Schüssel Erdbeeren. Offenbar gibt es bei lesbischen Hochzeiten oft ein Mitbringbüfett.

„Es ist eine Wicca-Hochzeit“, informierte mich Renna. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, aber es hörte sich „nichtchristlich“ an, genau wie ich, und ich vermutete, dass meine Eltern nicht viel davon halten würden. Außerdem würde es wahrscheinlich Hummus geben. Also war es mir recht.

Die Zeremonie gefiel mir sehr, und ich hatte noch nie so viele starke Frauen gesehen. Frauen mit gestrafften Schultern und kurz geschorenen Haaren, die nichts zu verbergen hatten. Wir standen im Kreis und sangen einfache Litaneien, und die beiden Bräute waren überglücklich wie andere Bräute auch, nur dass diese beiden im Stil eines Renaissancejahrmarktes gekleidet waren und sich gegenseitig heirateten. Es war die Rede von vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen, und wir fütterten uns gegenseitig mit Brot und Wein und sagten: „Mögest du niemals hungern und niemals dürsten.“ Es fühlte sich an wie eine Kommunionsfeier.

Irgendwie gab es mir ein sicheres Gefühl, unter lauter Frauen zu sein. Sie ließen mich bei Gottes Tante abhängen, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie mich mochte. Ich verbrachte ein paar Jahre mit diesen Frauen. Wir feierten den Wechsel der Jahreszeiten und teilten unser Leben miteinander, und immer gab es Mitbringbüfetts. Wir redeten über Beziehungen und Schwangerschaften, die keinen Bestand hatten, über Chefs und Mitbewohnerinnen, die uns nicht zu schätzen wussten, und darüber, wie viel Knoblauch an ein veganes Salatdressing gehört. Einmal brachte jede von uns zum Mitbringbüfett einen Nachtisch mit, und niemand sah ein Problem darin.

Eine Lehre gab es nicht. Wir redeten nie über Glaubensüberzeugungen, sondern lebten einfach nur zusammen und sprachen von der göttlichen Weiblichkeit in uns und in der Welt. Die Göttin, von der wir redeten, fühlte sich für mich nie wie ein Ersatz für Gott an, sondern einfach wie ein anderer Aspekt des Göttlichen. Gottes Tante eben.

Ich glaube, wenn ich anderen Christen von meiner Zeit mit der Göttin erzähle, erwarten sie von mir, dass ich sie als eine Lebensphase schildere, in der ich einen Irrweg ging, von dem ich nun zum Glück zu Jesus und zu meinem Verstand zurückgefunden habe. Aber so ist es nicht. Ich kann mir nicht denken, dass der Gott des Universums auf unsere Gottesvorstellungen beschränkt ist. Ich kann mir nicht denken, dass Gott sich nicht selbst auf unzählige Weisen jenseits des Symbolsystems des Christentums offenbart. Ich brauche gewissermaßen einen Gott, der größer und geschmeidiger und geheimnisvoller ist als das, was ich je begreifen oder mir ausdenken könnte. Sonst würde es sich so anfühlen, als ob meine Anbetung sich nur auf mein eigenes Begriffsvermögen des Göttlichen richtete.

Tatsächlich fühlte ich mich während der ganzen Zeit, in der ich fernab der Gemeinde unterwegs war, von Gott geführt. Die göttliche Quelle meines Lebens und meiner Identität wusste vielleicht, dass ich das Bedürfnis hatte, mich eine ganze Weile lang in einem weiblichen Gesicht Gottes zu sonnen, während ich der Gemeinde fern war, bevor ich heil zu ihr zurückkehren und fähig werden konnte, das göttliche Weibliche in meiner eigenen Tradition zu erkennen. Wenn die feministische Gelehrte Mary Daly recht hatte, als sie sagte: „Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott“, dann musste in mir einiges zurechtgerückt werden, nachdem ich meine ganze Kindheit lang immer wieder zu hören bekommen hatte, Gott sei männlich und ich nicht (aber Jimmy aus der sechsten Klasse da drüben schon!).

Jahre später, als ich Mitte dreißig und PJ schon gestorben war, wurde mir klar, was ich eigentlich mehr als alles andere wollte: eine Pastorin für meine Leute sein