I Waldkirch
1 – Der Konflikt
Der helle Hemdkragen bildete einen scharfen Kontrast zu Dieter Menks Halsfarbe. Das ließ nichts Gutes erwarten. Die Stimme der jungen Prozessingenieurin klang verunsichert. „Technisch gesehen dürfte das eigentlich kein Problem sein, aber eine weitere Investition lässt sich wahrscheinlich nicht umgehen.“
Menk brüllte unvermittelt los: „So was muss ich mir nicht antun! Das ist doch alles scheiße! Sie stehlen mir meine Zeit mit Ihrem eigentlich und wahrscheinlich!“
Angst kroch durch den Raum. Tims Blick in die Runde offenbarte ihm, dass die Kollegen betreten zu Boden schauten und jeder hoffte, nicht das nächste Opfer von Menks Wutausbruch zu werden. Die Hände der Prozessingenieurin zitterten und ihre Augen glänzten mehr, als ihr lieb war. Tränen und Wimperntusche bahnten sich ihren Weg.
„Jetzt heult die Tusse auch noch“, schrie Menk und schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Puls aller Anwesenden raste, aber äußerlich ließ sich keiner etwas anmerken. „Wer hat mir die angeschleppt?“ Menks Blick wanderte über seine Führungskräfte. Keiner blickte zu ihm auf, bis er zu Tim kam. „Was starren Sie mich so an? Hab ich die Ihnen zu verdanken?“ Tim holte Luft, aber Menk wollte keine Antwort hören. „Bin ich hier nur von Pfeifen umgeben? Muss ich alles selbst entscheiden?“ Die nachfolgende Stille war alles, nur nicht himmlisch.
Tims Antwort brach das Schweigen: „Jede Führungskraft hat die Mitarbeiter, die sie verdient.“ Menk schnellte herum. „Was haben Sie gesagt? Habe ich Sie zum Sprechen aufgefordert?“
„Wir sollten auf die Sachebene zurückkehren“, nutzte Tim die Sekunde Aufmerksamkeit, die er gewonnen hatte.
„Wer hier wohin zurückkehrt, entscheide immer noch ich.“ Menk baute sich drohend vor ihm auf. In den Augenwinkeln konnte Tim die Schadenfreude seiner Kollegen erkennen. Selbst schuld, dass es ihn erwischt hatte.
Dieter Menks Spitzname bei Maertens-Folien war „der Choleriker“, aber Tim hatte in den letzten sechs Monaten keinen Anlass zur Beanstandung gegeben. Er war nie Opfer von Menks Ausbrüchen geworden.
Auch wenn Tim ahnte, dass seine Intervention ihm zum Nachteil gereichte, wollte er das Niedermachen der jungen Mitarbeiterin nicht tatenlos hinnehmen. Für ihn hatte Führung mit Wertschätzung zu tun.
Nach dem Verkauf des Maertens-Folienwerkes in Waldkirch an die Gotar-Holding hatte Tims damaliger Chef das Unternehmen verlassen. Dieter Menk war kurz darauf neuer Werksleiter und damit sein Vorgesetzter geworden. Seitdem hatte Menk die direkte Kommunikation mit der Muttergesellschaft Gotar bei sich zentralisiert und alle Entscheidungen zur Chefsache gemacht. Tim hätte nie gedacht, dass es so schnell und einfach möglich war, einen engagierten und ehrgeizigen Mitarbeiter wie ihn zu demotivieren.
Tatsächlich hatte Tim erstmals in seinem Berufsleben Spuren von Demotivation an sich selbst entdeckt. Sein bisher einziger Unternehmenswechsel von Brackets zu Maertens war zwar auch nicht nur aus Spaß erfolgt, aber es war mehr die Herausforderung, die ihn zu Maertens getrieben, und nicht Demotivation, die ihn bei Brackets vertrieben hatte.
Um die Situation zu entspannen, sagte Tim mit ruhiger Stimme: „Lassen Sie uns das im kleinen Kreis besprechen.“ Weiter kam er nicht, da Menks Kopfinnendruck, zumindest der Farbe seines Gesichts nach, kein weiteres Wort duldete.
„Haben Sie was mit der? Oder sind Sie neuerdings auch ein Freund von Scheiße, wie Ihre stumpfen Kollegen?“
Tim ließ Menk nicht aus den Augen: „Herr Menk, lassen Sie uns auf die Sachebene zurückkehren.“
„Ich war auf der Sachebene, bis ihr mir diese, diese … Mir fällt kein passendes Wort für so viel Unfähigkeit ein.“ Tim stand auf und blickte Menk in die Augen.
„Wir können auf der Sachebene diskutieren, aber Beleidigungen hinnehmen ist nicht Teil meines Arbeitsvertrags.“ Tim ging zu der weinenden Prozessingenieurin hinüber und bat sie, mit ihm den Raum zu verlassen.
„Tim Simon, wenn Sie diesen Raum verlassen, zerreiße ich Ihren Arbeitsvertrag in tausend Stücke“, brüllte Menk.
Tim nahm die Prozessingenieurin am Arm und verließ mit ihr den Besprechungsraum. In der Tür drehte er sich ein letztes Mal um. „Herr Menk, jeder Vorgesetzte hat die Mitarbeiter, die er verdient.“
2 – Der Minister
„Ich will diesen Kerl nicht mehr sehen“, polterte Dieter Menk ins Telefon. Peter von Marienthal, einer der drei Geschäftsführer und Inhaber der Gotar-Holding, hielt sich den Hörer weit vom Ohr weg.
„Bei Ihrer Lautstärke brauchen wir nicht zu telefonieren, da höre ich Sie auch so hier in Rüdesheim.“ Vielleicht war er durch das Geschrei seines jüngsten Sohnes lärmempfindlicher geworden. Vielleicht war er auch nur generell von Dieter Menk genervt. Er hatte Menk damals nicht einstellen wollen, aber sein Bruder Heinrich hatte ihn gedrängt, den durchsetzungsstarken Manager von einem anderen Folienhersteller abzuwerben.
Da Heinrich morgens wieder einmal nicht zur Arbeit erschienen war, hatte Peter nun Menks Klage über Tim Simon am Hals.
Peter von Marienthals Gedankenwelt drehte sich aktuell allerdings um andere Probleme. Von den vier Beteiligungen der Gotar-Holding warfen zurzeit nur die Maertens-Folien in Waldkirch und die Standardfolien in Darmstadt Gewinne ab. Die Spezialfolien in Wiesbaden und das Chemiewerk in Offenbach schrieben seit Jahren Verluste. Zu allem Überfluss hatte der Werksleiter in Wiesbaden vor wenigen Tagen einen Schlaganfall erlitten. Nun war der Standort führungslos, bis er, seine Mutter Sofia und sein Bruder Heinrich einen Nachfolger benannt hatten.
„Was werfen Sie Herrn Simon konkret vor?“
„Er untergräbt meine Autorität, redet dazwischen und verteidigt Schlechtleister“, klagte Menk.
Peters Sekretärin schob sich diskret durch den Türspalt und raunte: „Der Minister auf Leitung zwei.“
„Herr Menk, ich muss jetzt Schluss machen. Mein Bruder meldet sich, sobald er wieder im Büro ist.“
Wütend schnaubte Dieter Menk eine Verabschiedung und legte auf.
„Herr Minister, was kann ich für Sie tun?“, fragte Peter und lächelte ins Telefon. Er traf den Wirtschaftsminister regelmäßig im Golfklub. Ein Anruf in der Firma war ungewöhnlich.
„Peter, ich will nicht lange drum herum reden. Eben wurde ich von einer vertraulichen Quelle darauf angesprochen, dass Sie sich mit dem Gedanken tragen, die Spezialfolien in Wiesbaden zu verkaufen. Wie hoch ist der Wahrheitsgehalt dieser Information?“
Ärger überkam Peter. Zum einen war es nicht sein Wunsch, die Spezialfolien zu verkaufen, sondern der seines Bruders, und zum anderen war diese Information noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Nur die drei Inhaber sollten von der Diskussion um den Verkauf wissen.
„Woher haben Sie diese Information?“, versuchte es Peter mit einer Gegenfrage.
Wer es in den Rang eines Landesministers geschafft hatte, war allerdings zu gut geschult, um auf eine Gegenfrage einzugehen. „Sie wissen, dass das nichts zur Sache tut. Sagen Sie mir lieber, wie viel Wahrheit in der Information steckt. Ich möchte Sie ungern an die Landeszuschüsse beim Anbau der nördlichen Hallen in Ihrem Werk in Wiesbaden erinnern müssen.“
„Die Spefo, also die Spezialfolien, sind nicht so einfach rentabel darstellbar. Die Lohnkosten sind im Rhein-Main-Gebiet zu hoch, speziell für diesen Markt. Asiaten und Osteuropäer drängen uns mit Dumping-Preisen aus unserem Geschäft.“
„Also verkaufen Sie?“, beharrte der Minister auf seiner Frage.
„Entschieden ist noch nichts. Mein Bruder und meine Mutter drängeln, aber es gab noch keine Gespräche mit Banken oder Interessenten.“
„Wenn die 600 Arbeitsplätze verloren gehen, werden wir die Zuschüsse zurückfordern. Ist Ihnen das bewusst?“
Peter verwarf den Gedanken, den Minister an die Schmiergelder zu erinnern, die er damals als Bausenator bei der Vergabe der Nordhallen angenommen hatte. In der heutigen Konstellation würde Peter das nicht weiterhelfen, zumal sein Bruder bei der Vergabe an einen lokalen Bauunternehmer der größte Profiteur gewesen war.
„Ich denke, Sie treffen die richtige Entscheidung. Halten Sie mich auf dem Laufenden“, beendete der Minister das Gespräch.
Gegen Mittag traf Heinrich von Marienthal in den Geschäftsräumen der Gotar-Holding ein. Sein Bruder berichtete ihm von den Ereignissen des Vormittags, die eine Sondersitzung der drei Inhaber zur Folge hatte.
3 – Warum Erwartungen?
Sven Brakel musste lachen, auch wenn der Anlass eher traurig war. „Und du hast ihm die Brocken tatsächlich vor die Füße geworfen?“
„Gekündigt habe ich nicht. Ich bin lediglich aus dem Raum gegangen.“
„Bist du Menk danach noch einmal begegnet?“
„Nein, den Rest des Tages habe ich in meinem Büro verbracht und darauf gewartet, dass er anruft. Letztlich könnte er mir das Verlassen des Meetings als Arbeitsverweigerung auslegen.“
„Er wird dir nicht gleich kündigen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher, Sven. Als normaler Mitarbeiter wäre ich mit einer Abmahnung dabei, aber als leitender Angestellter kann Menk mir die fristgerechte Kündigung auf den Tisch legen und meine Fähigkeiten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen.“
„Ob du tatsächlich leitender Angestellter bist, würde ich nach dem Betriebsverfassungsgesetz bezweifeln, da du nicht eigenständig Personal einstellen bzw. freisetzen kannst“, suchte Sven nach tröstlichen Worten. „Paradox ist nur, dass du als Prediger des Leitsatzes, dass jeder Mitarbeiter nur so gut ist, wie er die Erwartungen seines Vorgesetzten erfüllt, selbst gegen die Erwartungen deines Vorgesetzten verstoßen hast.“
„Aber Sven, das haben wir doch schon öfter diskutiert. Der Leitsatz bedeutet nicht, dass der Mitarbeiter sklavisch alle Erwartungen seines Vorgesetzten erfüllen muss. Stell dir vor, du bist für die Buchhaltung verantwortlich und dein Geschäftsführer erwartet, dass du die Bilanz fälschst. Dann hast du immer noch zwei Möglichkeiten.“
„Klar, ich kann die Bilanz fälschen und bin ein guter Mitarbeiter, oder ich fälsche die Bilanz nicht und kann mir einen neuen Job suchen“, sagte Sven.
„Zumindest zeigt das Beispiel, dass der Leitsatz auch bei sehr schrägen Erwartungen stimmt.“
Sven Brakel, sein ehemaliger Kollege bei Brackets, war inzwischen stellvertretender Geschäftsführer eines italienischen Zahnradherstellers und sein regelmäßiger Diskussionspartner, wenn es um das Thema Mitarbeiterführung ging.
„Hat Menk dir gegenüber seine Erwartungen erläutert?“, fragte Sven.
„Auch wenn es die wesentliche Schlussfolgerung aus dem Leitsatz ist, dass Vorgesetzte ihre Erwartungen erläutern sollen, hat sich Menk nie darum geschert. Er gehört zu der Sorte Vorgesetzter, die ihre Erwartungen nicht im Vorfeld diskutieren.“
„Aus welchen Gründen äußern Vorgesetzte wie Menk ihre Erwartungen eigentlich nicht?“
„Wenn ich mir Menk anschaue, dann will er nicht transparent werden. Er will im Nachhinein immer die Möglichkeit haben, seine Erwartungen anders auszulegen, um so seine Macht zu zeigen.“
„Und warum äußern andere Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht?“, fragte Sven weiter.
„Der häufigste Grund ist sicherlich, dass viele Vorgesetzte ihre eigenen Erwartungen überhaupt nicht kennen. Versuche es selbst einmal: Nimm ein leeres Blatt Papier und schreibe die zehn Erwartungen an deine Mitarbeiter auf, die dir besonders wichtig sind.“
Tim konnte Sven durchs Telefon lächeln sehen. Es war schwieriger, als es klang. „Dann bittest du deine Mitarbeiter, aufzuschreiben, was sie denken, was deine Erwartungen sind. Am Ende vergleicht ihr die zehn Erwartungen auf den Zetteln. Was denkst du, wie viele übereinstimmen?“
„Sicherlich nicht mehr als sechs“, vermutete Sven. „Spannend wäre das auch mit negativen Erwartungen“, entwickelte er die Idee weiter. „Schreibe die zehn Verhaltensweisen auf, die dich am meisten nerven, und diskutiere sie mit deinen Mitarbeitern.“
„Das ist eine gute Idee. Damit hätten wir zwei Gründe, warum Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht äußern. Aber es gibt garantiert noch mehr.“
„Denk nur an Dieter Menks Erwartungsliste. Was stände da ganz oben?“, fragte Sven.
„Ein Punkt auf der Liste von Menk wäre Gehorsam. Wir beide würden als Mitarbeiter sofort nach den Gründen fragen. Dann müsste Menk erklären, warum Gehorsam das Unternehmen erfolgreicher macht und welche Kennzahl er damit positiv beeinflussen will. Eine Diskussion, die in einem modern geführten Unternehmen nicht zu gewinnen wäre.“
„Eine Diskussion, die Menk sicher nicht führen möchte“, ergänzte Sven und fuhr fort: „Es gibt noch ein anderes Problem für dich als Vorgesetzten, wenn du Erwartungen gegenüber deinen Mitarbeitern äußerst.“
Tim war froh, mit Sven diskutieren zu können. Er zwang ihn, sich gedanklich weiterzuentwickeln. „Wenn ich bestimmte Erwartungen formulieren und erklären kann, warum diese Erwartungen einen Sinn ergeben, dann muss ich mich auch selbst daran halten.“
„Genau! Vier Gründe, Erwartungen besser nicht zu artikulieren, obwohl es eine Führungskraft erfolgreicher machen würde“, fasste Sven zusammen.
„Jetzt hast du mir zwar nicht mit Menk weitergeholfen, aber ich weiß jetzt, warum Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht klar formulieren“, beendete Tim schmunzelnd das Telefonat und nahm sich ein leeres Blatt Papier. Allerdings schrieb er nicht die besprochenen zehn Erwartungen an seine Mitarbeiter auf, sondern das Ergebnis seines Gesprächs mit Sven:
Was habe ich heute gelernt?
Warum äußern Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht?
- Vorgesetzte kennen ihre eigenen Erwartungen nicht
- Vorgesetzte wollen nicht transparent werden
- Vorgesetzte können den Sinn ihrer Erwartungen nicht erklären
- Vorgesetzte müssen ihre eigenen Erwartungen leben (Vorbild)
Dann kehrten seine Gedanken zu Dieter Menks letzten Worten zurück. Lag sein Arbeitsvertrag bereits als Puzzle im Schredder? Musste er sich auf einen neuen Lebensabschnitt vorbereiten? Egal, wie die Sache ausging, er wollte aus der Erfahrung mit Menk zumindest lernen.
Schon einmal hatte Tim die Zusammenfassung seiner täglichen Lernerfahrungen geholfen. Er wollte seinen Weg aus der Welt der Wissensriesen und Umsetzungszwerge auch dieses Mal festhalten, wenn er ihn tatsächlich finden sollte.
4 – Entscheidung bei Gotar
„Damit hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, freute sich Heinrich von Marienthal.
Peter war nicht wohl bei der Sache, aber seine Mutter Sofia hatte ihn überstimmt. Besser ein Bauernopfer, als selbst schlecht dastehen, dachte sich Peter und fragte: „Wer spricht mit Herrn Simon?“ Dieter Menk kam nicht in Frage und Peter wollte seinen Bruder Heinrich die Botschaft nicht überbringen lassen. Die Familie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Der Stammbaum der von Marienthals ließ sich bis 1545 zurückverfolgen. Alles, nur keine schlechte Presse!
* * *
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Tim schreckte hoch. Seit zwei Tagen konnte er sich nicht mehr konzentrieren. Die Ungewissheit zerfraß ihn. „Entschuldige, wofür brauchst du den Container?“, fragte Tim. Aber die Erklärung seines Teamleiters ging erneut an ihm vorbei.
Er war Dieter Menk seit dem Meeting nicht mehr begegnet, schlimmer, er hatte nicht ein Lebenszeichen von Menk erhalten, keine Mail, keinen Anruf, keine Einladung zu einem Gespräch.
„Soll ich später noch einmal vorbeikommen?“
Verwirrt schaute Tim auf seinen Mitarbeiter, der bereits in der Tür stand. „Wieso?“
„Weil dein Telefon klingelt.“ Jetzt erst merkte Tim, dass sich sein Handy durch den Vibrationsalarm Richtung Tischkante bewegte.
„Mach, was du für richtig hältst.“
„Mache ich immer“, antwortete der Mitarbeiter grinsend, „aber die Qualitätsprüfer werden zu dir kommen und sich beschweren.“
„Dann schicke ich sie zu dir“, antwortete Tim und grinste zurück. Ein Blick auf das Display – 06722 – Rüdesheim! Sein Puls schoss in die Höhe. Er meldete sich ordnungsgemäß mit Firma, Name und einem freundlichen „Was kann ich für Sie tun?“.
„Peter von Marienthal am Apparat. Herr Simon, ich bitte Sie, um 16 Uhr zu uns nach Rüdesheim zu kommen.“ Eine Bitte war das, nicht und die Strecke Waldkirch – Rüdesheim bedeutete über 300 Kilometer Autofahrt.
„Gibt es ein konkretes Thema, das ich vorbereiten soll?“, versuchte Tim noch einige Indikatoren für den Verlauf seiner Zukunft zu bekommen.
„Sie benötigen nichts. Allerdings muss ich Sie zu Stillschweigen verpflichten.“
„Auch gegenüber Herrn Menk?“, fragte Tim.
Peter von Marienthal blieb geschäftsmäßig: „Nein, Herr Menk weiß Bescheid. Kann ich mit Ihnen rechnen?“
„Ich werde da sein.“
Genau 310 Kilometer bis zur eigenen Inquisition. Tim wäre lieber mit der Bahn gefahren, aber dreimal umsteigen war ihm zu riskant. Ob es noch eine Verhandlung gab oder er direkt die Kündigung vorgelegt bekam? War es sinnvoll, Widerstand zu leisten?
War er zu Beginn der Autofahrt noch deprimiert, erwachte mit jedem Kilometer in Richtung Norden sein Optimismus. Warum sollte er sich an eine Firma oder an einen Job klammern? Jedes Unternehmen hat die Mitarbeiter, die es verdient. Okay, er hatte Frau und Kind, aber Klara konnte ebenfalls das Familieneinkommen sicherstellen. Er würde sich um ihren gemeinsamen dreijährigen Sohn Moritz kümmern, während Klara wieder als Produktmanagerin in der Pharmaindustrie arbeiten ginge. Mit seiner Qualifikation müsste er auch jederzeit etwas Neues finden, nur eben nicht vor der Haustür. Mangelnde Mobilität ist der Karrierekiller Nummer eins, ging es ihm durch den Kopf.
* * *
Mein erster und letzter Besuch im Headquarter, schade, dachte Tim, als er das herrschaftliche dreistöckige Gebäude ein gutes Stück oberhalb des Rheinufers sah. Ein schlichtes Bronzeschild wies ihm den Weg zur Tiefgarage. Zwischen S-Klasse, Lexus und 7er BMW wirkte sein Mittelklassewagen fehl am Platz. In seinem Standardanzug fühlte er sich auf den Fluren der Gotar-Holding wie eine Taube unter Papageien, oder war er der Papagei und die anderen die Tauben?
Der Weg zu Peter von Marienthals Büro wirkte wie ein Laufsteg, zumindest, was die Kleidung der umherstolzierenden Assistentinnen und Praktikanten anging. Das Gebäude erstickte durch zu wenig Tageslicht jegliche positive Stimmung.
„Nehmen Sie Platz“, forderte Peter von Marienthal Tim auf. Der altehrwürdige Besprechungstisch war mit sechs Stühlen ausgestattet. Tim wählte einen Platz mit Blick aus den großen Fenstern, die eine Panoramasicht über den Rhein boten.
„Das ist mein Platz“, stellte der Firmeninhaber fest. Tim zuckte und wechselte auf den gegenüberliegenden Platz. Auf Spielchen hatte er keine Lust. „Wollen Sie einen Kaffee?“
Tim ahnte, dass das der teuerste Kaffee seines Lebens werden würde, aber ein „Nein“ hätte seine Situation auch nicht verbessert. „Gern.“ Von Marienthal öffnete die Tür zu seinem Sekretariat und bat um Kaffee und Gebäck, dann nahm er Tim gegenüber Platz.
„Sind Sie zufrieden mit Ihren Aufgaben bei Maertens?“
Tim stutzte. Es gab nichts zu verlieren. „Heute nicht mehr so wie vor einem halben Jahr.“ Unglücklich formuliert, ärgerte sich Tim sofort, da der Kauf von Maertens-Folien durch die Gotar-Holding genau ein halbes Jahr her war. Er wollte ausdrücken, dass er mit dem neuen Vorgesetzten unglücklich war, nicht mit den neuen Inhabern.
„Was hat sich verändert?“, fragte Peter von Marienthal unbeeindruckt weiter.
„Ich habe einen neuen Vorgesetzten, der einfach andere Erwartungen als der alte Vorgesetzte hat.“ Tim bemühte sich um eine neutral klingende Erklärung.
„Was sind das für andere Erwartungen?“
Tim wiederholte, was er Sven Brakel am Telefon erzählt hatte.
„Sie wollen also selbst mehr entscheiden?“
„Es geht mir nicht darum, dass ich entscheide, sondern, dass meine Meinung etwas zählt.“
„Und was würden Sie gern machen?“
Das war eine so offene Frage, dass Tim nicht sofort wusste, was er antworten sollte. Die anklopfende Sekretärin war eine willkommene Störung. Zwei Kaffee und vier mundgerechte Windbeutel wurden serviert.
„Ich meine beruflich“, führte Peter das Gespräch zurück auf den alten Pfad und nahm sich den ersten Windbeutel. Um Zeit zu gewinnen, nahm Tim ebenfalls einen Windbeutel – schließlich spricht man nicht mit vollem Mund.
„Meine Arbeit als Betriebsleiter macht mir sehr viel Spaß.“ Damit wollte Tim ausdrücken, dass nicht die Arbeitsinhalte sein Problem waren. Irgendwie lief das Gespräch anders, als er erwartet hatte.
„Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“
War das hier ein Vorstellungsgespräch? Oder wollte sein Gegenüber die Antwort „Nicht mehr bei Maertens!“ aus Tims Mund hören? „Herr Menk ist neu auf der Stelle, also gibt es wenig Alternativen“, signalisierte Tim, dass er sich Menks Position zutraute. Gleichzeitig bot er keine Alternative an.
„Unser Werksleiter in Wiesbaden ist krankheitsbedingt ausgefallen.“
Tim blickte zu Peter von Marienthal hinüber, der sich genüsslich den dritten Windbeutel einverleibte. War das ein Angebot? Tim verkniff es sich, den letzten Windbeutel als Pausenfüller zu nehmen.
„Wir haben entschieden, dass Sie den Standort übernehmen.“
Tim blieb die Luft weg. Beförderung statt Entlassung! Er konnte kaum glauben, dass Menk damit einverstanden war. Andererseits wurde dieser damit ein Problem los. Und in Menks Welt war Tim kein ernst zu nehmender Wettbewerber. Ihn als Werksleiterkollegen zu haben, musste ihm daher attraktiv erscheinen.
Das müsste ich noch mit meiner Frau besprechen, war Tims erster Gedanke. Aber er kannte den Unterschied zwischen Ergebnismitteilung und Mitbestimmung, und das war offensichtlich eine Ergebnismitteilung.
„Bis wann muss ich mich entschieden haben?“
Auch das war nicht die richtige Frage. Peter von Marienthal holte eine Unterschriftenmappe von seinem Schreibtisch und legte sie Tim vor. Der Vertrag bestimmte als Starttermin den 1. Juli, also in fünf Tagen. Tim konnte jetzt mit Hinweis auf Frau und Kind versuchen, Zeit für eine Entscheidung zu gewinnen, aber er ahnte, dass das nicht die Erwartung war. Er konnte sich mit Klara immer noch gegen den Vertrag entscheiden, auch wenn er jetzt unterschrieb. Das war zwar gegenüber der Gotar-Holding nicht nett, aber wer sagt, dass die Arbeitswelt immer nett ist? Mit zahlreichen Bedenken seinen Arbeitgeber in diesem Augenblick an der eigenen Wahl zweifeln zu lassen, verschlechterte seine Position nur.
„Was ist, wenn der derzeitige Werksleiter wieder zurückkommt?“
„Der aktuelle Stelleninhaber wird nicht zurückkehren wollen und können. Er hat aufgrund seiner gesundheitlichen Situation einen Aufhebungsvertrag unterschrieben“, antwortete Peter.
Zu schnelles Unterschreiben würde Leichtsinn signalisieren, also las sich Tim den dreiseitigen Vertrag durch. Von Marienthal saß geduldig am Besprechungstisch und bearbeitete seine zahlreichen Unterschriftsmappen.
Das Gehalt war üppig, 25 Prozent variabler Anteil nicht zu viel und die verlängerte Kündigungsfrist nachvollziehbar. Tim unterschrieb die beiden Ausfertigungen und schob sie über den Tisch.
Von Marienthal reichte ihm mit ausdrucksloser Miene die Hand: „Auf gute Zusammenarbeit. Die firmeninterne Kommunikation Ihrer neuen Aufgabe erfolgt morgen um zehn Uhr. Sie können die Mitarbeiter, die Ihnen wichtig sind, ab neun Uhr in persönlichen Gesprächen informieren.“
„Was sind Ihre Erwartungen an mich als Werksleiter in Wiesbaden?“, wollte Tim noch wissen.
„Machen Sie den maximalen Gewinn.“ Von Marienthal lächelte und nahm sich den vierten Windbeutel.
5 – Abschied aus Waldkirch
Im abendlichen Berufsverkehr trat Tim die Rückfahrt an. Klara hatte ungeduldig auf seinen Anruf gewartet. Ihr blieb vor Überraschung die Sprache weg. Kein Wunder, denn sie hatte wie Tim mit einer Kündigung gerechnet. Dass es jetzt eine Beförderung geworden war, konnte sie nicht so recht glauben: „Da steckt doch noch etwas anderes dahinter, oder?“
Tim hatte keinen Beweis für Klaras Verdacht, aber, und das machte ihn nervös, auch keinen Gegenbeweis. Wahrscheinlich waren Klaras Antennen selbst auf die Entfernung besser als seine. Jedoch überwog Tims Stolz ihrer beider Bedenken.
Von einem notwendigen Umzug war Klara wenig begeistert, aber Freiburg war auch nicht ihre Heimat. „Solange Moritz nicht in der Schule ist, machen wir solche Eskapaden noch mit.“
„Für deinen Wiedereinstieg ist die Rhein-Main-Region sicherlich auch von Vorteil“, versuchte sich Tim in Standortwerbung. Ihm graute vor einer möglichen Wochenendbeziehung. Er wollte Moritz’ Kindheit nicht nur via Facebook erleben.
Am nächsten Morgen um neun Uhr saß Tim vor seiner Mannschaft, mit der er fast fünf Jahre lang zusammengearbeitet hatte. Die Enttäuschung war groß, die Überraschung nicht. Der Konflikt mit Menk und die Eskalation vor wenigen Tagen hatten nicht ohne Folgen bleiben können. Dass Tim einen guten Werksleiter abgeben würde, war für seine Mitarbeiter selbstverständlich.
Pünktlich um zehn Uhr erfolgte der Aushang. Menk selbst ließ sich nicht blicken. Egal, wir sehen uns sowieso in Zukunft regelmäßig bei den Werksleitermeetings, dachte Tim.
Ganz unvorbereitet wollte Tim nicht in Wiesbaden anfangen. Deshalb nutzte er einen Teil seiner restlichen Zeit in Waldkirch, um Informationen über den neuen Standort zu sammeln. Das Waldkircher Controlling konnte ihm diverse Kennzahlen für alle vier Gotar-Standorte zur Verfügung stellen. Tim schaute sich seine neue Herausforderung im Vergleich mit den drei Schwesterwerken an. Ein ungutes Gefühl überkam ihn bei der Analyse der Zahlen.
* * *
In der Nähe von Rüdesheim strahlte die Sonne knapp über die Reben auf die gut besuchte Terrasse des Restaurants Johannishof. Menk lachte laut, zu laut. Heinrich von Marienthal suchte reflexartig nach bekannten Gesichtern, entdeckte aber zum Glück niemanden. Der Oberkellner füllte die Weingläser nach und schaute fragend zu seinem Stammgast.
„Wir nehmen noch eine Flasche“, deutete Menk den Blick seines Gegenübers anders, als er gedacht war.
„Das reicht, Dieter!“
„Sag du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe!“, konterte Menk. „Erzähl mir lieber, wann du Tim Simon rauswirfst.“
„Wir werfen ihn nicht raus, wir verkaufen den ganzen Laden.“
„Was bleibt da für dich hängen?“
„Genug“, murmelte Heinrich. Ein Grinsen erstrahlte auf Menks Gesicht: „Das will ich hoffen.“ Daraufhin erhob er sein Glas und brüllte: „Bedienung, lassen Sie mal die Luft hier raus!“