Für Aaron
Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: »Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln.«
Es war schon immer ganz gleich, wann ich meine Großeltern besuchte. Ob ich vier, zehn oder fünfzehn Jahre alt war, spielte keine Rolle, sie blieben immer dieselben.
Die vielen Urlaube, die ich vor meiner Schauspielausbildung bei ihnen verbrachte, verschwimmen in meiner Erinnerung zu einer einzigen, die Jahre vernebelnden Zeitwolke. Was auch daran liegen mag, dass nur selten einzelne hervorstechende Ereignisse den Alltag meiner Großeltern unterbrachen. Ihr Leben selbst war das Ereignis. Jeder einzelne Tag stand für alle Tage und jeder dieser Tage war ein kleines Wunderwerk. Ein von ihnen zelebrierter Parcours, abgesteckt aus Ritual, Disziplin und Skurrilität.
Bis auf den Sonntag, an dem sie in die Kirche gingen oder zu Wanderungen aufbrachen, sahen alle ihre Tage exakt gleich aus. Ich habe mich oft gefragt, ob sie ihre Tage überhaupt jemals anders verbrachten, denn ich habe in all den Jahren nie etwas Unvorhergesehenes mit ihnen erlebt. Vielleicht war es sogar so, dass der zentrale Kern ihres Daseins darin bestand, Überraschungen zu vermeiden, und je älter sie wurden, desto penibler wurden sie in der Abfolge ihrer Handlungen. Ihr wunderschönes Haus in der Nähe des Nymphenburger Parks, das sie nur zwei Mal im Jahr länger verließen – zwei Wochen Lanzarote im Februar, zwei Wochen Dürnberg, ein Luftkurort in den österreichischen Alpen, im Spätsommer –, war der ideale Ort für ihre Zeiteinteilungen und Wege.
Mir fällt kein einziger Gegenstand im Hause meiner Großeltern ein, kein Möbel, keine Schale, kein Untersetzer, kein Teppich, der je den Platz gewechselt hätte. Ja selbst die Schlüssel am Schlüsselbrett hingen stets in derselben Reihenfolge so wie auch die Küchenmesser an der Magnetleiste jahrzehntelang ihre Formation wahrten. Sicher, es kamen im Laufe der Zeit ein paar Dinge dazu. Es wurde ein Platz für sie gesucht, und da blieben sie dann für immer. So als hätte die freie Stelle geduldig auf genau diesen Gegenstand gewartet.
Das Haus war immer blitzeblank-sauber. Da jedoch die Putzfrau, Frau Schuster, immer dieselbe blieb, die Bügelfrau alt und taub wurde, Herr Moser, der ebenfalls betagte Gärtner und Alleskönner, irgendwann nur noch im Schneckentempo den Rasenmäher kreuz und quer durch den Garten schob, schlichen sich Unebenheiten ein, die aber meine Großeltern durch ihr eigenes Noch-Älter-Sein nicht bemerkten. Wollmäuse in den Ecken, heruntergefallene Nüsse, schiefe Bügelfalten, ungemähte Raseninseln. Die Putzfrau wurde vergesslich, ließ überall ihr Zeug liegen und vollbrachte sogar einmal das Kunststück, den Staubsauger ohne ihn auszuschalten in den Schrank zurückzustellen. Stundenlang saugte er dort verzweifelt vor sich hin, bis mein Großvater sagte: »Spinn ich, oder brummt da was?«
Meine Großeltern waren immer sehr gut gekleidet, sehr gepflegt, sahen blendend aus. Sie waren auf fast schon exotische Weise kultiviert. Doch in dieser Kultiviertheit auch ein wenig weltfremd und aus der Zeit gefallen.
Meine Großmutter war Schauspielerin, hatte aber das Theaterspielen schon Mitte der Sechzigerjahre aufgegeben. Zu abgeschmackt sei alles geworden. Dieses Wort benutzte sie gerne, wenn sie über das heutige Theater sprach: abgeschmackt. Dabei hatte sie sich seit Jahren schon nichts mehr angesehen. Und sowenig sie sich, will man ihren Beteuerungen Glauben schenken, jemals auf eine Bühne zurückgesehnt hatte, so sehr war das Theatralische, ja, Dramatische in ihr alltägliches Dasein hinübergerutscht. Selbst wenn sie von den profansten Dingen sprach, verliehen ihre Sprechweise, ihre Kopfhaltung, ihre Gestik dem Gesagten etwas Grandioses. Wobei meine Großmutter nie schrill oder gar operettig wirkte. Nein, ihre gesamte Persönlichkeit tendierte zielsicher in Richtung großes Drama.
Es konnte passieren, dass sie wie von einem tiefen Schmerz durchdrungen den Blick in die Ferne schweifen ließ, so langsam die Arme hob, dass nicht einmal die goldenen Armreife aneinanderklackten, und erst, als sie sicher war, dass alle am Tisch gebannt zu ihr sahen, sagte: »Moooahhhh…«, und dann, nach einer langen, spannungsgeladenen Pause, »der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend.« Meine Mutter atmete dann stets enerviert aus. »Mein Gott, bitte, Mutter!« Immer wieder fielen meine Brüder und ich oder auch Gäste auf diese bedeutungsschwangeren Momente herein. Jedes Mal aufs Neue glaubte man, denn sie machte das wirklich hervorragend, es wäre sonst was passiert. Mitten in ein Gespräch hinein rief sie: »Täusch ich mich«, schlug sich die Hand vor den weit geöffneten Mund, verharrte, und dann, mit dunklem Zittertimbre, »oder zieht es hier ein wenig?«
Meine Großmutter hatte kurz nach dem Krieg einen schweren, ja, verhängnisvollen Unfall gehabt, dessen Folgen sich von da an wie ein Parasit in ihrem nur knapp dem Tode entronnenen Leben eingenistet hatten. Geblieben war ihr von dieser Katastrophe ein verkürztes, von Narben verunstaltetes Bein, das viel Aufmerksamkeit brauchte und jeden Morgen massiert und beweglich gehalten werden musste. Sie schloss sich ein, denn bei dieser unter Schmerzen abgehaltenen Bein-Gymnastik durfte niemand in ihrer Nähe sein. Schon als Kind habe ich, wann immer es ging, an der Tür gelauscht und dahinter das Wimmern und Stöhnen der Großmutter vernommen. Den Schmerz aus dem Bein herauszustreichen, ja, herauszuquetschen, schien ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein. Ein Leben lang blieb dieses Bein für meine Großmutter ein täglich aufs Neue frisch sprudelnder Schmerzquell, der niemals versiegen sollte.
Wenn man sie fragte, »Wie geht es dir heute Morgen?«, antwortete sie verlässlich, »Sehr gut, mein Lieberling«. »Und wie geht es deinem Bein?« Daraufhin ebenso verlässlich, »Miserabel. Es ist heute schrecklich beleidigt«. Hunderte Male habe ich das gehört und mir sehr seltsam vorgestellt: das beleidigte Bein meiner Großmutter. Dieses jeden Morgen im Geheimen hinter der verschlossenen Tür gequälte Bein zog mich magisch an. Niemand durfte es sehen, kein Arzt und nicht einmal der Großvater. Es war angefüllt mit den schlimmsten Erinnerungen. Erinnerungen, welche meine Großmutter durch einen unverhältnismäßigen Ehrgeiz, eine brutale gegen sich selbst gerichtete Rücksichtslosigkeit beim Massieren auszulöschen versuchte.
Dagegen war die allmorgendliche Gymnastik meines Großvaters, der emeritierter Professor der Philosophie war, eine abstruse Gymnastiksimulation. Er trat mit schlohweißen, von der Nacht aufgestellten Haaren auf den Balkon hinaus. Im Sommer, in Unterhose, sah er aus wie ein vom Heiligen Geist erleuchteter Eremit. Er war überraschend behaart. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann er seine Turnvater-Jahn-Gedächtnis-Choreografie. Durch sein hohes Alter waren diese Übungen nur noch Andeutungen der sicherlich einst mit Schwung und Elan geturnten Bewegungen. Auf seinen altersdürren Streichholzbeinen machte er ein paar Minikniebeugen. Ging dabei aber nur Zentimeter in die Knie. Dann legte er sich die Hände in die Hüften und ließ sie sachte kreisen. Wie ein leicht schwuler Gelehrter sah er dabei aus. Ein klappriges Männchen auf dem Balkon mit Morgensonne im Haar. Er streckte die weißen Arme in die Höhe, machte eine Windmühle, und drehte den markanten Kopf hin und her. Manche Übungen waren kaum wahrzunehmen und minutenlang stand er einfach nur da und turnte innerlich.
Dann kam der sichtbare Höhepunkt. Er griff sich mit beiden Händen unter eine Kniekehle und zog sich das Bein vor die Brust. Er hielt es einen Moment fest, ließ es wieder los, streckte es und legte das Bein seitlich auf dem Balkongitter ab. An seinem schmalen Brustkorb traten die Rippen hervor, sehr langsam ließ er den Kopf in den Nacken sinken, hob die Hände hoch in die Luft, bewegte dazu leicht die Finger. Mit Blick gen Himmel öffnete er den Mund und schien auf eine göttliche Gabe zu warten.
Nach der Anstrengung des Aufstehens, dem ausgiebigen Gurgeln einer geheimnisvollen Gurgellösung und der täglichen Gymnastik duschten beide jeden Morgen in ihren separaten Badezimmern.
In den Bädern meiner Großeltern waren überall Haltegriffe in die Wände gedübelt. Ich habe diese sich ständig verändernden Haltegriffpositionen immer gerne betrachtet, da sie Auskunft gaben über die unterschiedlichen und fortschreitenden Gebrechen meiner Großeltern. Einmal sah ich durch Zufall meinen Großvater morgens im Bad. Nackt. Wie ein uralter grauhaariger Gibbon hangelte er sich von Haltegriff zu Haltegriff.
Hatten die Großeltern den Frühstückstisch erreicht, waren sie bereits völlig erschöpft, sahen aber blendend aus. Immer eine Mischung aus gut gebräunt und rosig. Meine Großmutter trug am Morgen meist rosa Hosenanzüge. Sie liebte Rosa. Das Zimmer, in dem ich schlief, hieß »das rosa Zimmer«. Schon als Kinder wurden wir dort einquartiert. Es war das Zimmer meiner Großmutter. Hierher zog sie sich zurück oder verbrachte halbe Nächte, wenn mein Großvater zu sehr schnarchte oder ihre innere Unruhe sich selbst durch starke Schlafmittel nicht besiegen ließ. Es war ihr rosa Refugium. Die Wände waren rosa. Rosenquarzweintrauben und anderes Rosenquarzobst lagen in einer hauchdünnen Rosenquarzschale. Die Lampenschirme in Zartrosa. Das Bett war stets rosa bezogen. Durch die rosa Stoffjalousie fiel mattrosa Licht auf den altrosa Teppichboden.
Mein Großvater trug schon beim Frühstück helle Anzüge mit Weste und nach dem Haarewaschen, montags und freitags, ein Haarnetz. Die Haushälterin hatte morgens bereits völlig geräuschlos den Tisch gedeckt. Immer, wenn ich aufwachte, war sie schon lange da. Doch bevor sie zu frühstücken anfingen, gab es für beide um Punkt neun ein Glas Champagner. Dadurch ging es ihnen immer gleich viel besser. Nach dem Frühstück gab es für die Unmengen Tabletten, die sie jeden Morgen aus ihren kleinen Schmuckdosen herausfummelten, noch ein Glas Champagner. Jeder von ihnen schluckte bestimmt fünfzehn Tabletten. Eine ganze Handvoll bunter Pillen. Mein Großvater nahm eine Pille nach der anderen und nach jeder einen winzigen Schluck. Meine Großmutter warf sie sich alle auf einmal in den Mund, trank das ganze Glas auf einen Zug aus, wobei der gewölbte Champagnerkelchrand ihre Zähne Furcht einflößend vergrößerte, und sagte danach gerne: »Die wissen schon, wohin sie sollen.«
Das Frühstück mit ihnen war immer sehr schön. Guter Filterkaffee. So stark hätte er mir sonst nicht geschmeckt, aber hier mochte ich ihn so. Ein Joghurt mit Leinsamen und Sanddornsirup. Getoastete Brötchenscheiben. Nie wären meine Großeltern auf die Idee gekommen, ein Brötchen in zwei Hälften zu schneiden. Die Brötchen wurden wie kleine Brote mit der Brotschneidemaschine in dünne Scheiben geschnitten und getoastet. Es gab nicht viele Dinge, über die meine Großeltern entsetzter sein konnten, als über zu dick geschnittene Brötchen oder Brotscheiben. Mein Großvater hielt sie gegen das Licht. Das war der Test. Man musste den Garten, die Magnolie durch die Brotscheiben sehen können. Auch wenn wir so taten, als würden wir ihr Dünne-Brotscheiben-Essen bewundern, hassten meine Mutter und ich es, und es reizte uns, die Scheiben zu dick zu schneiden. Mein mittlerer Bruder nannte diese Brotscheiben ›Folien‹. Nie war man nach dem Frühstück oder anderen Mahlzeiten bei meinen Großeltern satt. Und mein dicker Vater hatte ihre ganze zelebrierte Esskultur als eine reine Essenssimulation bezeichnet. Wenn er, was sehr selten geschah, von Schleswig nach München mitkam, ging er gleich nach diesem simulierten Essen in das nächstbeste Gasthaus, um, wie er es nannte, richtig zu essen.
Meine Großeltern aßen ihr Leben lang nur selbst gekochte Marmeladen. In der Speisekammer standen Gläser, die so alt waren wie ich. Noch von der bereits verstorbenen Tante Tia eingekocht. Waldhimbeermarmelade von 1967. Diese Speisekammer war gleichermaßen Schatzkammer wie Grabkammer.
Am Neujahrstag aßen meine Großeltern stets Schildkrötensuppe. Als diese verboten wurde, kauften sie in allen ihnen bekannten Feinkostläden die Bestände auf. Einen ganzen Vormittag waren sie mit dem Taxi unterwegs. Ihre Ausbeute waren an die hundert Konserven, womit sie für einige Zeit ausgesorgt haben sollten.
Nach dem Frühstück lasen meine Großeltern Zeitung. Sie bekamen jeden Morgen zwei Süddeutsche Zeitungen, da sie gerne gleichzeitig das Feuilleton lasen und sich permanent gegenseitig auf interessante Stellen hinwiesen. Nach dem Zeitunglesen gingen beide in ihren über alles geliebten Garten. Mit welcher Ausdauer meine Großeltern jeden Tag diesen Garten bestaunten, hatte für mich als Kind etwas Groteskes. Auf ihren Rundgängen verharrten sie vor den immer selben Blüten. »Schau nur, Hermann, die Iris!« »Ja, und da, Inge, kommt sogar noch eine Knospe!« »Moahhhh.« Und selbst an den bereits verblühten Sträuchern legten sie stets kleine Gedenkmomente ein. »Weißt du noch, wie herrlich die Zaubernuss geblüht hat dieses Frühjahr, Hermann.« »Sehr zeitig, das Frühjahr kam früh dieses Jahr.« »Die muss der Moser mal wieder schneiden!« Auf der großen Wiese wuchsen oft Walnussbäumchen, da die Eichhörnchen vom Park herüberkamen und hier ihre Beute vergruben oder verloren. »Der Moser muss die Bäumchen rausziehen, sonst haben wir hier bald einen Walnusswald.« Das Herzstück des Gartens war eine mehrstämmige Magnolie. Vier glatte Stämme erhoben sich harmonisch geschwungen bis zum Dach hinauf. Wenn die schon aufgeblühte Magnolie Frost bekam und sich schwarz verfärbte oder gar Schnee auf die offenen Blüten fiel, verzweifelte meine Großmutter, konnte den Garten nicht mehr betreten und schluckte noch eine extra Pille gegen ihren – so nannte sie es selbst – »Magnolienschmerz«.
Der große Gegenspieler der Magnolie war eine wuchernde Glyzinie. Jahrelang hatte sie vor sich hin geschwächelt, dann jedoch mit ihren Wurzeln eine karge Erdschicht durchstoßen, und kletterte plötzlich eines Frühjahrs bis zu den Balkongittern hinauf. Meine Großeltern sprachen von ihr wie von einer unzähmbaren Bestie, nannten sie die ›grüne Hydra‹. Die Wurzeln würden die Kellermauern durchbrechen, und die Ranken seien so stark, dass sie die Gitter vor den Fenstern verbiegen oder sogar ganz vom Haus herunterreißen könnten. Wenn die Glyzinie allerdings blühte, versank die gesamte Gartenseite der Villa unter der Pracht der blau-lila Dolden und sie brachten es Jahr für Jahr nicht übers Herz, sie zu kappen. Ansonsten sorgte Herr Moser für Ordnung im Garten. Alle Mittel waren erlaubt, und in dem unter einer riesigen Hängebuche verborgenen Gartenschuppen gab es kaum einen Behälter, auf dem kein Totenkopf war.
Nach dem Gartenrundgang ging mein Großvater in sein Arbeitszimmer. Trotz seines hohen Alters arbeitete er jeden Tag von zehn bis eins. Als er zu alt zum Arbeiten wurde und immer weniger sehen konnte, ging er trotzdem noch jeden Morgen in dieses Zimmer und saß dann einfach so an seinem Schreibtisch herum. Inmitten seiner riesigen Bibliothek. Auf der einen Seite wandfüllend die philosophischen Bücher, auf der anderen Seite die theologischen. Ein ganzes Regalbord voller Bibeln, Gesangs- und Gebetbücher. Die Porträts von Schelling und Fichte blickten auf ein wurmstichiges Holzkreuz aus dem 15. Jahrhundert. Anklopfen musste man dennoch.
Zog ich wahllos ein Buch aus einem dieser Regale und blätterte es an einer beliebigen Stelle auf, so konnte ich sicher sein, auf seine in einer winzigen Schrift mit gespitztem Bleistift an den Rand geschriebenen Anmerkungen zu stoßen. Hunderte von Büchern, Tausende von Seiten hatte er im Laufe seines Lebens mit Kommentaren versehen. Ich konnte weder so klein schreiben noch so Kleines lesen. Es waren für mich Hieroglyphen einer unsagbar fremden Gedankenwelt. Was mich von früh auf beeindruckte, aber auch belastete, war die unfassbare Disziplin und Konzentrationsfähigkeit, die mir aus diesen zigtausend wie ins Papier geritzten Anmerkungen entgegenflog. Wie konnte ein Mensch nur, fragte ich mich schon als Kind und dann noch verstärkt als Jugendlicher, so akribisch sein. Auf den Bücherrücken stand Kant, Schelling, Kierkegaard oder Fichte, und in den Büchern gab es kaum eine Seite, auf der sich mein Großvater keine Notizen gemacht hatte. Oft quetschte er seine Gedanken auch zwischen die Zeilen. Über ganze Buchseiten legte sich eine zweite handgeschriebene Seite. Sobald der Platz nicht mehr ausreichte, waren Zettel eingelegt. Säuberlich aus nicht mehr gebrauchten Papieren von ihm selbst zurechtgeschnittene Einlegezettel. Sparsamkeit und Gedankenflut.
Ich verstand nichts. Weder die Kommentare noch die Texte selbst. Der Großvater bewegte sich zeit seines Lebens in einer für mich vollkommen unerreichbaren Disziplin- und Ideenwelt. Er war im Vorstand verschiedener Institutionen wie der Katholischen Akademie, der Görres-Gesellschaft, des Deutschen Bildungsrates oder der Fichte-Gesamtausgaben-Kommission.
Seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, schrieb er Artikel zu philosophischen Themen für ein sich von Buchstabe zu Buchstabe dahinschleppendes Staats-Lexikon. Trocken sagte er Sätze wie »Na, das R werde ich wohl nicht mehr erleben« oder »W wie Würde würde ich schon noch gerne machen«. Seine Mitarbeiter waren nicht viel jünger als er, und auf dem langen Weg zum Z verstarb der ein oder andere. Dadurch hatte die Sache einiges an Schwung eingebüßt. Immer seltener wurde das Erreichen eines neuen Buchstabens mit einem extra Glas Champagner gefeiert. »Heute«, sagte dann mein Großvater, »haben wir endlich nach drei Jahren das M abgeschlossen.« »Über was hast du da geschrieben?« »Über Moral und Mäeutik.«
Um Punkt eins gab es Mittagessen. Gutes, einfaches Essen. Vorab immer eine Suppe. Im Laufe der Woche machte die Suppe eine sehr spezielle Wandlung durch. Da an jedem Tag der Rest der Suppe vom Vortag in die neue Suppe gemischt wurde, verdoppelte diese sozusagen am zweiten Tag ihr Geschmackserlebnis. Am Dienstag schmeckte die Suppe dann schon dreifach und am Freitag war sie ein hochkomplexes Suppengemisch geworden. Wenn man am Freitag konzentriert in die Suppe hineinschmeckte, konnte man die ganze Woche Revue passieren lassen, und mein Großvater sagte hin und wieder, wenn er von der Freitagssuppe aß: »Diese Woche hatten wir wirklich ausgezeichnete Suppen, Inge!« Samstag gab es dann keine Suppe und am Sonntag wurde das Ganze mit einer klaren Ochsenschwanzsuppe von Neuem begonnen. Zum Hauptgang gab es häufig einen kleinen Salat mit sehr süßem Dressing aus Honig, Limettensaft und Sahne. Immer frisches Gemüse, nie gekocht, immer nur pochiert. Dazu Fisch, gerne Saibling, Wild, Zunge mit heißen Pfirsichen. Nie wären meine Großeltern auf die Idee gekommen, einen Auflauf zu essen. Meine Großmutter verachtete alles, was mit Käse überbacken wurde. Auch Nudeln aßen sie nie. Für uns Kinder war das hart. Pizza und Fischstäbchen waren ihnen unbekannt. Mein Großvater mochte es, wenn auf seinem Teller Ordnung herrschte. Hier der Rosenkohl, da die Kartoffeln, dort der Fisch. Zwischen den einzelnen Zutaten sollte der Teller zu sehen sein. Wenn ich als Kind, bevor ich zu essen begann, das Fleisch kleinsäbelte, dann die Kartoffeln mit der Gabel zermanschte und mit viel Soße zu einem Brei vermengte, sah mich mein Großvater an, als würde ich sein herrlich strukturiertes Gehirn gleich mit zerstampfen. Zum Essen gab es natürlich Wein. Kalten Weißwein. Mein Großvater gab den Weinkenner, kostete den Wein und befand ihn stets für gut. Dabei haben sie nie einen anderen Weißwein zum Mittagessen getrunken als den sogenannten »Ruwer«. Auf dem Etikett war das Weingut abgebildet, in dem man angeblich auch essen konnte. Immer und immer wieder, Hunderte von Mittagessen, befand mein Großvater diesen Wein für gut, und auf das Etikett weisend sagte er jedes Mal aufs Neue: »Hab ich euch eigentlich schon erzählt, dass man dort sehr gut essen kann?« Ich hatte mich von den zwei Gläsern Champagner des Frühstücks recht gut erholt und freute mich stets auf den Weißwein.
Immer gab es einen Nachtisch. Meistens Obst, was wir als Kinder für Betrug gehalten hatten. Obst war definitiv kein Nachtisch. Nach jedem Gang läutete meine Großmutter ein kleines Glöckchen und die Haushälterin kam herein. Mir war das immer peinlich, mich so bedienen zu lassen. Die Haushälterin war, und das blieb auf ewig ein Rätsel, immer barfuß. Doch darüber konnten meine Großeltern herzlich lachen. So etwas war ihnen vollkommen egal. Und doch hatten es die Haushälterin und die anderen in die Jahre gekommenen Angestellten nicht leicht. Nicht, dass meine Großmutter unfreundlich gewesen wäre, nein, im Gegenteil, sie war sogar ausnehmend höflich. Doch in dieser Höflichkeit war eine perfide Herablassung versteckt und allein ihre Schönheit war eine Verunsicherung für alle im Hause Tätigen.
Das dreckige Geschirr musste von der Haushälterin, bevor es in die Spülmaschine eingeräumt wurde, gründlich vorgewaschen werden. Im Grunde war das Geschirr schon sauber, wenn es nach einem exakt einzuhaltenden System in die Spülmaschine einsortiert wurde. Während dieses Vorwaschens saß meine Großmutter in der Küche und sah mit ihren blitzenden, im Alter wieder vollkommen scharf gewordenen Augen auf Missgeschicke lauernd der sich mühenden Haushälterin zu. Wenn dann zwangsläufig etwas herunterfiel und zerbrach, rief sie mit ihrer vormals berufsbedingt, jetzt immer noch kräftigen Stimme »Mooahhhhh!«, lächelte freundlich und sagte: »Nicht schlimm, nicht schlimm, sehr alt, sehr wertvoll, aber nicht schlimm.« Auch bemerkte sie gerne, wenn mir beim Frühstück durch ihren prüfenden Blick das Ei vom Löffel auf den Boden glitt: »Wirf ruhig weg – ach, hast schon.«
Stets geriet man unter den beobachtenden Blicken meiner Großeltern in eine unangenehme Anspannung. Auch die Gäste, die häufig kamen, wurden davon ergriffen. Ich habe sechzigjährige ehemalige Studenten meines Großvaters gesehen, mittlerweile selbst habilitierte Philosophieprofessoren, die kerzengerade wie Klippschüler auf der Sesselkante saßen und sich mit zitternden Fingern eine einzelne Erdnuss nahmen, die mein Großvater trotz aller Hinweise meiner Großmutter unbeirrt »Kameruner« nannte.
In der Küche gab es in der Wand ein kleines Bullauge, nicht größer als der Boden einer Flasche, durch das man die Besucher vor dem Haupteingang beobachten konnte. Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten. Ehepaare trafen letzte Abmachungen, Frauen zogen ihren Spiegel aus der Handtasche oder zupften ihren Männern Haare von der Mantelschulter. Dann nickten sie sich zu, holten tief Luft und drückten den Klingelknopf. So laut wie die Schulglocke in einer Erich-Kästner-Verfilmung bimmelte es los. Es war sogar vorgekommen, dass eine ehemalige Schauspielschülerin meiner Großmutter den Finger wieder vom Klingelknopf zurückzog, einen Moment kopfschüttelnd dastand, sich kurz umsah und heilfroh den Rückzug antrat.
Je älter sie wurde, desto häufiger geschah es, dass auch meiner Großmutter Dinge herunterfielen, sie etwas auf dem Tisch umstieß und zerbrach. Da wurde sie still vor Zorn und schüttelte über sich selbst den Kopf. So als wäre ihre Ungeschicklichkeit ein Unheil offenbarendes Zeichen.
Herr Moser war durch dieses fast tägliche Zerschlagen von Geschirr zu einer Koryphäe im Kleben von Scherben geworden. Stunden verbrachte er am Küchentisch meiner Großeltern mit den zum Teil winzigen Bruchstücken und seinem hochgepriesenen Sekundenkleber. Sekundenkleber wurde sein Ein und Alles. Sekundenkleber war die Revolution, der Quantensprung. Ja selbst feinstes, in kleinste Teile zersplittertes Nymphenburger Porzellan setzte Herr Moser wieder zusammen. Die Scherben von irreparabel zertrümmertem Geschirr sammelte er in einer Schachtel. Und tatsächlich gelang es ihm, eine nicht mehr lieferbare Suppenschüssel aus diesem Scherbenhaufen aus unterschiedlichsten Gefäßen – Tellern, Tassen und Schüsseln – zusammenzukleben und auferstehen zu lassen. Meine Großmutter machte: »Moooahhhhh«, denn Moooahhhhh konnte auch höchste Anerkennung bedeuten, und stellte die Suppenschüssel weit hinten in den Schrank.
Wenn ich nach dem Essen in die unumstößliche Mittagsstunde verabschiedet wurde, konnte ich oft nur noch eine halbe Seite lesen. Das Essen und der Wein zu völlig ungewohnter Zeit bewirkten, dass ich in einen tiefen Schlaf fiel und geweckt werden musste. Fast immer hatte ich dann Kopfweh und nahm mir aus dem überquellenden Medizinschrank ein Aspirin. Auch da gab es, ähnlich wie in der Speisekammer, Medikamente, die dreißig Jahre und älter waren. Mein Großvater hielt die Verfallsdaten auf Medikamenten für einen Trick der Pharmaindustrie. Genauso wie die Schildkrötensuppe horteten meine Großeltern Medikamente, an die sie glaubten, die aber schon lange vom Markt genommen worden waren.
Mit zwölf oder dreizehn hatte ich mehrere Hühneraugen an meiner rechten Fußsohle und zeigte sie meiner Großmutter. Schon der übertrieben kräftige Zugriff der immer aufs Penibelste gepflegten Großmutterhände hätte mir eine Warnung sein sollen. Sie packte meinen Fuß, studierte ihn genau, drückte jedes Hühnerauge mit dem Daumen, und selbst als ich vor Schmerz aufjaulte, kannte sie kein Mitleid.
»Oh mein armer Lieberling, ich glaub, da hab ich was für dich.« Sie stand auf und kam mit einer nach Alchemie aussehenden winzigen Phiole wieder. »Du wirst sehen. Das wirkt wahre Wunder.«
»Ist das denn überhaupt noch gut? Woher hast du das? Soll ich das schlucken?«
»Ach was, schlucken, das kommt direkt drauf.«
Wieder nahm sie meinen Fuß und hielt ihn mit aller Großmutterkraft fest. Wie in einem Schraubstock war er eingespannt und auf ihrer gebräunten Hand traten energisch die Sehnen hervor. Der Verschluss des Fläschchens entpuppte sich als Pipette, mit der sie ein paar Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit aufzog. Sie packte meinen Fuß noch stärker, was ich nur so deuten konnte, dass sie genau wusste, es würde jetzt schlimm für mich werden. Ich versuchte ihn wegzuziehen, mich zu befreien. Es folgte einer der Momente, in denen meine Großmutter sich verwandelte, blitzartig von der eleganten Grande Dame zur bösen Zauberin wurde. »Na, wirst du wohl stillhalten! Du Bursche, du!«, fauchte sie mich unverwandt an. Ich erstarrte. Sie riss sich meinen Fußballen ganz nah vor ihr Gesicht und träufelte mir die Tinktur auf die Hühneraugen. Im ersten Moment spürte ich nichts. Aber ich hörte etwas. Ein leises Zischen, so als ob man auf eine heiße Herdplatte spuckt. Es roch nach verbranntem Haar und angekokelten Fingernägeln. Ihr Gesicht hatte sich schon wieder in das teilnahmsvolle, wunderschön ebenmäßige Großmutterantlitz verwandelt. »Bravo, mein Lieberling, bravissimo. Das hätten wir geschafft. Du bist ja ein immens tapferer Kerl!«
In den ersten Stunden nach dieser Behandlung bekam ich aus meinem Turnschuh keine allzu beunruhigenden Schmerzbotschaften. Doch später am Abend schaffte ich es kaum die Treppe zum rosa Zimmer hinauf. Ich zog behutsam den Schuh aus. Sah die Socke. Sie war genau an den Hühneraugen-Stellen weggeätzt. Vier kreisrunde Löcher. Ich streifte sie ab und bog meinen Fuß herum. Da, wo früher mal die Hühneraugen gewesen waren, hatte ich jetzt schwärzlich verschrumpelte Kuhlen. Ich legte meine Fingerspitze auf eine der Stellen. Weich gab das verschmurgelte Fleisch nach. In den nächsten Tagen konnte ich kaum auftreten, doch dann, nach und nach, schlossen sich die ekelhaften Mulden wieder mit frischem rosafarbenen Fleisch und die Hühneraugen kamen nie wieder.
Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass meine Großeltern geradezu besessen waren von der Vielzahl ihrer Medikamente. Mein Vater, der Kinder- und Jugendpsychiater war, versuchte ihnen klarzumachen, dass die meisten ihrer Pillen überflüssig, ja, gefährlich seien, doch die Person ihres Vertrauens war eine uralte verschreibungsfreudige Ärztin.
Mein Großvater nahm, wenn er eine Erkältung bekam, sofort ein Antibiotikum, aber nur eine einzige Tablette. Davon, dass man Antibiotika zu Ende nehmen müsse, wollte er nichts wissen. Er sagte: »Was soll denn das heißen, ›zu Ende nehmen‹? Ich nehme ja auch nicht Aspirin ›zu Ende‹.«
Die nachmittäglichen Ruhestunden von zwei bis fünf Uhr zogen sich unendlich zäh dahin. Teilnahmslos hockte die Zeit im Haus der Großeltern in den Ecken herum, als wären diese drei Stunden apathische Insassen einer Anstalt. Hundertachtzig sedierte Minuten. Als Kind konnte man in diesen drei Stunden verloren gehen. Absolute Ruhe im Haus war das oberste Gebot. Ich war zum Stillsein verdammt und spielte in Strumpfhosen und grauen Rollkragenpullovern sterbenslangweilige, selbst erfundene Spiele. Ich frisierte mit dem Kamm die Fransen der Teppiche oder versuchte zwischen den Stuhlbeinen hindurch eine Orange durchs Zimmer zur gegenüberliegenden Wand zu rollen. Oder ich erfand Fernsehwerbung. Dafür stellte ich mich vor den Spiegel im Flur, nahm mir irgendeinen Gegenstand und pries ihn zum Verkauf an: »Sehen Sie diesen Regenschirm. Unser neuestes Modell. Er hat eine feingearbeitete Schnappmechanik. Ich spann ihn mal auf. Sehen Sie diesen großen Schirm und die feinen Speichen. Die sind aus Titan. Der Stoff ist kein Stoff. Es ist Fischhaut. Wasserdichte Fischhaut mit Titanspeichen. Dieser Holzgriff ist nicht aus gewöhnlichem Holz. Es ist versteinertes Holz, sogenanntes fossiles Holz. Diese Griffe werden handgemeißelt aus fossilem Holz mit Titanspeichen verschraubt und mit Fischhaut bezogen. Ein einzigartiger Schirm.« Egal wie unsinnig. Jede Minute wurde ein niederzuringender Gegner. Achtsam wie ein Bombenentschärfer ruckelte ich die zu unberechenbaren Quietschern neigende untere Büfettschublade heraus, in der meine Großeltern ihre Süßigkeiten deponierten. Köstliche Schweizer Schokoladen, ekelhafte kandierte Früchte und brandgefährliche Pralinen, in die ich oft hineinbiss und dann zum Klo rennen musste, da sich irgendein widerlicher alkoholischer Brei in meinen Mund ergossen hatte.
Wenn ich Glück hatte, rettete mich meine Mutter, brach ihre Mittagsstunde vorzeitig ab, kam zu mir und fragte leise: »Wollen wir in den Park?« Ich nickte und wälzte mich dann, sobald wir im Freien waren, völlig entfesselt in der Wiese oder drosch mit schweren Ästen auf Bäume ein. Rannte und rannte, bis ich wieder in meiner eigenen Zeitrechnung angekommen war.
An solchen Sommer- oder gleißenden Schneetagen wurde die sich endlos dahinziehende Stunde nach dem Mittagsschlaf bis zum Sechs-Uhr-Whisky von meiner Großmutter mit einem ordentlichen Schuss Rum in den Tee überbrückt oder sie zählte sich Unmengen abstruser Heiltropfen in die Daumenmulde. Es kam vor, dass meiner Großmutter dieses Tropfenzählen nicht schnell genug ging, sich die Essenz zierte und provokant langsam am Glasfläschchenrand zitterte, sodass sie plötzlich, mit den Zähnen den Plastikeinsatz herausbiss, auf den Couchtisch spuckte und einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche nahm. »Metavirulent«, »Meditonsin« oder »Esberitox« hießen diese als Gesundheitstropfen getarnten Nachmittagsschnäpse. Meine Großmutter hatte Flaschen in einer Größe, die ich nie in einer Apotheke zu sehen bekam, und dennoch kam sie nicht länger als zwei, drei Tage damit aus. Krank wurden meine Großeltern selten und sicher waren die vielen Alkoholika ein Grund für ihre Widerstandskraft. Bakterien, Viren und sonstige Erreger hatten es schwer, durch die hochprozentige Luft, die meine Großeltern umgab, bis zu ihnen vorzudringen. Ich stellte mir einen wild entschlossenen Virenstamm vor, der meiner Großmutter von der Haushälterin entgegengeniest wurde, sie wie ein Jagdgeschwader anflog, doch dann gebremst und von beißendem Alkoholatem unschädlich gemacht, betäubt abstürzte.
Spätestens um kurz vor sechs wurde ich durch Rufe wie »Lieberling, es ist so weit« geweckt. Denn um sechs gab es Whisky. Dieser Sechs-Uhr-Whisky war der Beginn des Abends. Schon ab fünf sahen meine Großeltern ständig auf die Uhr. Oft zählte mein Großvater die letzten zehn Sekunden vor sechs laut rückwärts. »Zehn, neun, acht, sieben … und so weiter«, und rief laut, »ah, Punkt sechs.« Dann öffnete er die Flasche und jeder bekam einen Whisky. Sie tranken ihn mit viel Wasser und ohne Eis. Es war nie ein besonders guter Whisky, weder rauchig noch torfig noch erdig, aber er schmeckte mir. Nirgendwo sonst trank ich Whisky, bei meinen Großeltern sehnte ich mich nach ihm genauso sehr wie sie. Zum Whisky rauchte meine Großmutter ihre erste Zigarette, Dunhill Menthol. Der Zigarettenrauch, der mir zu Kopf steigende Whisky schienen den Duft der Blumen zu intensivieren, denn die großen Vasen waren stets voller Blumen, sommers wie winters. Meistens Lilien, aber auch gerne Levkojen oder Pfingstrosen. Die von meiner Großmutter sorgfältig drapierten Blumen steckten mit intensivem Geruch ihre Duft-Territorien ab. Ging man den weiten Weg von der Küche durch die von meinen Großeltern so genannte Pantry, durch das Esszimmer bis ins Wohnzimmer, kam man an vier Vasen vorbei und durchschritt vier Duftschleusen. Der Lilienduft war eine regelrechte Wand, eine anästhesierende Wolke, die ich immer mehr durcheilte als genoss, die Rosen dagegen ließen mich langsamer gehen und tief einatmen. Um diese Duftwaben herum gruppierten sich jede Menge anderer Gerüche. Es gab keinen einzigen Ort im Haus meiner Großeltern, der nicht unverkennbar roch. Die unangefochtene Regentin der Düfte war aber meine Großmutter selbst, die sich, ein Leben lang mit »Shalimar« einparfümiert, in das tägliche Duftgefecht stürzte. Ich liebte diese »schwangere Flasche«, wie ich sie als Kind einmal tituliert hatte, diesen geriffelten Flacon mit dem rauen Glasstöpsel. Mit Schwung drehte meine Großmutter jeden Morgen die Flasche auf den Kopf und wieder zurück, zog den Stöpsel und stempelte sich selbst hinter den Ohren und auf den Hals, als wäre sie die wertvollste Briefmarke der Welt. Vor ihr gingen selbst die Lilien in die Knie. Hatte meine Großmutter die Lilienduftinsel durchschritten, roch es danach minutenlang nur noch nach ihr. Die Blumen zogen unterwürfig ihre Duftfühler ein und warteten auf das Verfliegen der Shalimar-Schleppe. Ging man hinter meiner Großmutter vom Keller durchs Erd- und Obergeschoss bis hinauf auf den Dachboden, roch man nur sie. Wenn es, was sehr selten vorkam, im Haus nach Essen stank, sich beispielsweise der furzartige Geruch von Blumenkohl aus der Küche herausgewagt hatte, gelang es meiner Großmutter mit ihrem Duft mühelos, Schneisen in den Gestank zu schlagen. Und tatsächlich konnte ich sie finden, ohne nach ihr zu rufen.
Noch heute gehe ich auf Flughäfen im Duty-free-Shop zu »Guerlain«, nehme mir einen Flacon »Shalimar« und lasse den Großmuttergeist aus der Flasche. Ein magischer Moment und so verwirrend, dass ich immer wieder aufs Neue darüber staune, dass sie beim Augenaufschlagen nicht direkt vor mir steht. Wenn ich durch Zufall diesem Duft begegne, in einem Fahrstuhl oder in der Menschentraube an der Garderobe eines Theaters, kommt es mir so vor, als wäre die so Einparfümierte eine Diebin, eine, die den Großmutterduft gestohlen hat und unbefugt benutzt. Der Shalimarduft gehört nur ihr allein. Gemeinsam mit den Blumen, dem Whisky, einer speziell spitz riechenden Käsecrackersorte und den Dunhill-Mentholschwaden verdickte das schwere Shalimarparfüm die Wohnzimmerluft. Im Laufe des Abends verdichteten sich die Gerüche zu einem gleichermaßen den Geist anregenden wie betäubenden, den Magen leicht schnürenden Gesamterlebnis.
Bis zu den Acht-Uhr-Nachrichten, die sie in einer mich jedes Mal aufs Neue fassungslos machenden Lautstärke hörten, trank man zwei oder sogar drei große Whiskys. Auch wenn ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass sie schon immer in dieser Wahnsinnslautstärke Nachrichten gehört haben, erinnere ich mich nicht daran, mit ihnen jemals bei erträglich eingestelltem Pegel vor dem Fernseher gesessen zu haben. Um kurz vor acht wurde eine Uhr eingeblendet und die letzten fünf Sekunden mit einem speziellen Ticken unterlegt. Allein schon dieses Ticken ließ mich den Kopf an die Rücklehne des Sessels drücken. Denn nun wusste ich, gleich würden dem Gong der Satz »Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau« und die Tagesschaufanfare folgen. Die Fanfare brach in das sonst mit Stille erfüllte Wohnzimmer der Großeltern wie eine Steinlawine herein. Es geschah nicht selten, dass mein Großvater, direkt nachdem der Tagesschausprecher mit dem Verlesen der ersten Nachricht begonnen hatte und mir schon die Ohren dröhnten, rief: »Was ist denn da los?« Erleichtert dachte ich, dass es selbst ihm viel zu laut sei, er aber brüllte: »Ich versteh kein Wort«, und drehte den Ton bis zum Anschlag hoch. Wie meine sonst sensible, ja, übersensible Großmutter das aushielt, war mir ein Rätsel. Denn der Grund für den Lautstärkenirrsinn war ganz eindeutig die Schwerhörigkeit des Großvaters. Dieser großelterliche Folterfernseher brüllte mir meine frühsten TV-Erinnerungen in tiefergelegene Gehirnschichten hinein. Die Entführung der israelischen Sportler bei den Sommerspielen 1972. Diese Erinnerung wurde allerdings nicht nur durch den schreienden Fernseher unauslöschlich in mich hineinversenkt. Unvergesslich bedrohlich, aber für einen Fünfjährigen auch durchaus faszinierend, waren die direkt über dem Haus im Tiefflug dahinrotierenden Hubschrauber auf dem Weg zum Olympiastadion.
Nie aßen meine Großeltern ihr Abendbrot am Esstisch. Immer wurden die am späten Nachmittag von der Haushälterin schon vorbereiteten Teller und Schälchen voller Köstlichkeiten auf die geschwungene Marmorplatte des Sofatisches gestellt. Auch beim Abendbrot spielte mein Großvater wieder den Weinkenner. Dabei tranken sie all die Jahre immer die gleichen zwei Weine. Sangre de toro oder Merlot. Und dann wurde sich unterhalten. Sich beim Rotwein zu unterhalten, war für meine Großeltern das Schönste. Diese Gespräche waren sehr besonders. Wenn sie den richtigen Grad von Trunkenheit und Angeregtheit erreicht hatten, liefen sie zu Hochform auf.
Meine Großmutter rezitierte ihre Lieblingsdichter, immer wieder Paul Celan, Nelly Sachs oder Matthias Claudius. Natürlich auswendig. »Bitte, Inge, würdest du so gut sein und uns den Claudius vortragen?« Er sah sie voller Liebe an, verlangte höflich, wie ein scheuer Bewunderer, nach ihrer Kunst. Aber sie ließ sich gerne bitten. »Um Gottes willen, nein, das kommt überhaupt nicht infrage. Das kann ich doch schon lange nicht mehr!« »Bitte, Inge, du machst das so wundervoll.« »Moooahhhhh, was ihr nur immer alle von mir wollt.« »Wenn du nicht willst, dann natürlich nicht. Niemand wird zu Claudius gezwungen.« »Herrschaftszeiten, also gut.« Toll war nicht nur, wie sie rezitierte, sondern auch, dass sie ihre Haltung nicht weiter veränderte. Sie blieb locker zurückgelehnt in ihrem Sessel sitzen, links die Zigarettenspitze, rechts das Weinglas schwenkend: »Der Mensch.« Schon das hatte gesessen. Kurz gesprochen, scharf. Ganz klar: Es ging um uns. Hier saßen wir, Menschen, nichts weiter. Das hatte sie alleine mit dem Titel geschafft. Man ahnte, dass der Mensch in diesem Gedicht etwas sehr Fragiles und Bedrohtes sein würde. Die erste Strophe ging sie sachlich an, unterkühlt geradezu, um sich dann von Zeile zu Zeile überraschend zu steigern:
Wenn mein Großvater aufs Klo ging, sagte meine Großmutter, sobald er das Zimmer verlassen hatte, wie schlecht es ihm zurzeit ginge. »Der Hermann, der hat es so schwer. Das geht nicht mehr lange gut. Er ist in einem desolaten Zustand.« Wenn dann allerdings meine Großmutter hinausging, sagte mein Großvater genau das Gleiche über sie. »Die Inge kann nicht mehr. Es wird alles zu viel für sie. Ihr Bein will einfach nicht mehr! Ich rechne mit dem Schlimmsten.« So gegen elf waren sie dann schon recht angetrunken. Aber lange nicht so betrunken wie ich. Ich vertrug viel weniger als sie.
Solvejgs LiedPeer Gynt
Das Ende des Abends kam in Sicht, wenn mein Großvater rief: »Jetzt gibt es Cointreau!« Dieser pappsüße Orangenlikör gab mir dann stets endgültig den Rest. Mein Großvater torkelte auf die Terrasse, um frische Luft zu atmen. Er brauchte immer viel Luft, da er nur noch einen Lungenflügel hatte. Der andere war durch einen Pneumothorax stillgelegt worden. Während des Krieges hatte er, um nicht an die Front zu müssen, ein Nierenleiden simuliert und sich im Krankenhaus mit Tuberkulose infiziert, wodurch er dann tatsächlich gerettet war.
Da sie beide – mal mehr, mal weniger – nur noch mühsam laufen konnten, hatten sie sich einen Treppenlift einbauen lassen. Jeden Abend wollten sie einander den Vortritt lassen. Hatten sie sich geeinigt, schwebten sie würdevoll winkend davon. In sanftem Schwung die lange Treppe hoch. Volltrunkene alte Engel.
Ich wälzte mich hin und her, allein im riesigen Frachtraum der Nacht. Diese Töne, fast schon wie Einbildungen, beflügelten meine Fantasie. Ich sah ausgehungerte Gestalten vor mir, die, ihre Kräfte übersteigend, an Kurbeln drehten, oder dadurch, dass sie sich trotz ihrer Schwäche in eisernen Hamsterrädern vorwärtsschleppten, eine futuristisch anmutende Nachtmaschine betrieben, vielleicht sogar das Getriebe der ganzen Welt warteten.
Am nächsten Morgen, Punkt halb acht klopfte meine Großmutter an meine Tür, um mich zu wecken. Sie sah wie immer blendend aus, duftete nach »Shalimar«. Auch mein Großvater sah zu mir herein, frisch wie nach drei Wochen Urlaub in den Bergen. Nie sah man ihnen an, dass sie so viel tranken. Doch ich war wie krank. Todkrank.
Und dann ging alles wieder von vorne los. Oft hörte ich, während ich meinen Kopf kaum vom rosa bezogenen Kopfkissen hochbekam, wie unten die barfüßige Haushälterin schon wieder den Korken aus der Champagnerflasche knallte. Nie war ich so zerrüttet wie nach ein paar Tagen bei meinen Großeltern.