Für Shamis
Das erste Mal erschien sie vor Abe im Wohnzimmer. In ihrer Hand trug sie ein Tablett mit Datteln, die von einem zarten Mantel aus Speck umhüllt waren. Es war Rosch ha-Schana, und so liefen die Dinge im Hause seines Freundes Larry Reinstein. Gezielte kleine Unverfrorenheiten wie diese machten ihn bei denen beliebt, die er beeindrucken wollte, und stießen jene vor den Kopf, die er nur aus Pflichtgefühl einlud, wie den Rabbi, der immer noch in Tallit und Kippa umherlief. Der Speck glänzte im Kerzenschein. Sie drückte das Tablett an seine Lende, als sie sich vorbeugte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »L’schana tova.« Er spürte ihre Lippen auf seiner Haut. Sie war Larrys Tochter.
»Du hast gar keine Ohrläppchen«, sagte sie, trat einen Schritt zurück und rieb die Haut an seinem Ohr zwischen ihren Fingern. »Ist mir noch nie aufgefallen. Eigenartig.«
»Vielleicht hast du nie genau genug hingeschaut«, sagte er.
Sie lächelte, dann wandte sie ihm ihre entblößte rechte Schulter zu. Ihre Bluse schien wie dafür entworfen, bei dieser Bewegung herabzugleiten. »Oh, ich glaube schon, dass ich genau genug hingeschaut habe«, sagte sie.
»Gerade eben, ja.«
»Ein oder zwei Mal schon«, sagte sie. »Vielleicht auch drei Mal.«
Ihr Lachen klang fast genau wie das ihres Vaters. Es war ein heiserer Ton, ein Windstoß, der ihrer Brust entfuhr. Sie trug eine tief ausgeschnittene schwarze Bluse und einen kurzen schwarzen Rock, der eine Handbreit über ihren Knien endete. Er konnte einfach nicht wegsehen. Shoshanna, seine Frau, ließ ihm ein solches Verhalten gerade noch durchgehen, aber nicht mehr. Sie hielten sich an den weisen Grundsatz: anschauen ja, anfassen nein.
»Hast du meine Frau gesehen?«, fragte er.
»Habe ich nicht. Ist schon komisch, oder?« Sie lächelte und strich mit ihrer freien Hand der Länge nach über seine Krawatte. »Ich schwärme für Seide.«
»Vielleicht ist sie mit den Mädchen im Garten«, sagte er.
»Ja, vielleicht«, sagte sie, ließ ab von seiner Krawatte und strich mit der Hand über seine Gürtelschnalle. »Sie ist eine hinreißende Frau, deine Gattin.«
»Das ist sie.«
»Meine Mutter und mein Vater sprechen oft von ihr.«
»Ich bin gesegnet«, sagte er.
»Du solltest Gott danken«, antwortete sie.
Er spürte, wie er rot wurde. Hinter ihnen skippte eines der Kinder, die auf der Feier herumsprangen, an der Stereoanlage zu einem neuen Song. Das neue Stück war zu laut für Rosch ha-Schana, und sofort eilten ein paar Erwachsene zu den Reglern. Sie stellte das Tablett mit den Datteln auf einen Tisch und stieg langsam aus ihren hochhackigen Schuhen. Aus dem kleinen Mädchen von früher war eine raffinierte junge Frau geworden. Er konnte weder Shoshanna noch die Kinder im Garten erkennen. Ohne ihre Absätze reichte sie ihm gerade bis zum Kinn.
»Erzähl mir etwas«, sagte sie.
»Für eine Rosch-ha-Schana-Feier geht es hier recht ungezwungen zu«, sagte er.
»Du bist nicht besonders lustig, oder?«
Er fasste sich ans Ohr. »Weißt du, man sagt, keine Ohrläppchen zu haben sei ein Zeichen für angeborene Brillanz.«
»Du hast also keinen Humor, aber hältst dich für brillant?«
»Dein Vater und ich haben gutes Geld damit verdient, zweitklassiges Essen zu verkaufen«, sagte er. »Das bedeutet, einer von uns muss brillant sein.«
»Ich denke, hierzu ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte sie, wandte den Blick ab und kniff die Augen zusammen. »Wie auch immer, ich mag deine komischen Ohren.«
»Wo ist eigentlich der Schnaps?«, flüsterte er. »Ich hab nirgendwo welchen gesehen.«
»Meine Mutter versucht, mit dem Trinken aufzuhören«, sagte sie mit einem Blinzeln. »Wir versuchen, ihr dabei zu helfen.«
»Das ist verständlich«, sagte Abe. Jackie Reinstein war eine berüchtigte, wenn auch liebenswerte Trinkerin. »Du hast nicht zufällig heimlich was gebunkert, College Girl?«
»Um ehrlich zu sein, Mr. Rivkin, es könnte sein«, sagte sie. »Folgen Sie mir.«
Abe hatte sie all die Jahre über kaum zu Gesicht bekommen. Als Mädchen war sie verklemmt gewesen und hatte wegen ihrer vorstehenden Zähne eine Zahnspange getragen, vom Tag ihrer Bar-Mizwa an bis zu dem Tag, an dem sie die Highschool abschloss. Er war froh über die Veränderung, die er sah. Sie ging voran. Mit der Hand am Geländer folgte er ihr die Kellertreppe hinab. In ihrer Hand baumelten die High Heels. Dann ging alles sehr schnell. Sie trat auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter, die andere auf seine Gürtelschnalle, und flüsterte ihm wie eine Ärztin, die zur Betäubung schreitet, ins Ohr: »Entspannen, bitte.« Einen Augenblick später drängte er sie rückwärts gegen den Billardtisch.
Er war nicht der Typ Mann, der etwas Derartiges tat. Im Grunde seines Herzens war er sich da hundertprozentig sicher. Würde er jemals zu so einem Mann werden, dann doch nicht mit der Tochter seines besten Freundes, wie überwältigend sie in ihrer Bluse und in ihrem Rock auch aussah, und später, ohne Bluse und Rock. Er hatte den Billardtisch seines Freundes immer geschätzt, aber nie hatte er ihn auf diese Weise benutzen wollen. Er befürchtete vielmehr, er könne ein tief sitzendes Tabu verletzt haben. Dazu noch an einem Feiertag. Ganz bestimmt würde er so eine Sünde niemals während der Hohen Feiertage begehen. Er war vielleicht der fehlbarste und am wenigsten praktizierende Jude in ganz Westchester County, aber immerhin kannte er die Zeiten, wann Gott zu ehren war. Abgesehen davon war er sich im Klaren, dass sich dieser Vorfall nicht wiederholen durfte. Jeder weitere Akt, eine Zugabe oder eine nochmalige Verabredung, wären katastrophal töricht. Abe Rivkin war, trotz all seiner Mängel, ein Mann, der ungern falsch handelte. Letzten Endes war er ein Geschäftsmann, und dies, das wusste er, war ein schlechtes Geschäft.
Ihr Name war Jane Reinstein.
Am nächsten Tag erschien sie draußen vor seinem Büro auf dem Lower Broadway, es war windig. Sie war wunderschön. Das konnte niemand bestreiten, auch wenn er im Laufe des vergangenen Tages gehofft hatte, es wäre nicht so, und er wünschte, die Lust, die er in Larrys Keller verspürt hatte, würde verschwinden. Er kannte keinen Mann, der von einer Geliebten nicht ins Unglück gestürzt worden war. Egal wie, es nahm immer ein böses Ende, wenn der Schwanz eines Mannes dort landete, wo er nicht hingehörte. Wenn es im Leben eine Maxime gab, an die man sich halten sollte, dann war es diese.
Er blieb in der Eingangshalle stehen, um sie zu beobachten. Sie trug einen schwarzen Regenmantel, den sie in der Taille lose zugebunden hatte. Es war die Art von Mantel - unten kurz und oben offen -, die den Gedanken zuließ, nichts trenne ihn von der Haut seiner Trägerin. Es war ein angenehmer Gedanke. Ihr Gesicht war faltenlos, nur von einem Hauch Make-up bedeckt, und, was am wichtigsten war, es ging kein Unheil von ihm aus. Er war stolz auf seine Fähigkeit, dies wahrnehmen zu können. Für jeden halbwegs anständigen Geschäftsmann war eines von höchster Bedeutung: Er musste erkennen können, wenn ihm jemand etwas nehmen wollte. In ihrer einen Hand hielt sie eine schwarz-weiße Lederhandtasche, die andere umklammerte einen gelben Regenschirm. Seit Jahren hatte ihn die Gegenwart einer Frau nicht mehr verunsichert.
»Was für eine hübsche Überraschung«, sagte er und legte eine Hand auf ihre Schulter. Es schien ihm der passende Wink in Anbetracht dessen, was passiert war. »Bist du hier, um deinen Vater zu treffen?«
»Bin ich nicht«, sagte sie und zog ihn am Ellbogen. »Lass uns spazieren gehen, Abe.«
An der Ecke bogen sie in die Spring Street. Er und Larry hatten sich bei der Wahl ihres Firmensitzes für SoHo entschieden, weil es ihnen das meiste Ansehen bescherte. Sie hatten als Kinder am Rande der Armut gelebt und hatten seitdem eine Schwäche für Statussymbole. Die Miete war exorbitant hoch, aber, wie Larry gerne scherzte, es war ja nicht so, als hielte sich einer von ihnen eine Geliebte. Eine solche brächte nicht nur Ärger ins Haus, vor allem kostete sie bares Geld - das Abendessen im Le Cirque, das gemietete Porsche Cabrio für den Tagesausflug nach Montauk, die Nacht in der Honeymoon Suite im St. Regis, alles auf die Firmenkreditkarte -, das konnte das ganze freie Kapital eines Unternehmens versenken.
»Zuerst einmal«, sagte sie. »Wenn wir weitermachen wollen, wirst du mir ein Apartment in der Stadt besorgen müssen. Ich schleppe mich nicht den ganzen Weg nach Westchester, um dich zu sehen.«
»Willst du denn, dass wir weitermachen?«
»Oh, Abraham«, sagte sie und strich mit der Hand über seine Wange. »Sei nicht töricht.«
Sie drückte ihn gegen eine Wand und küsste ihn. Ihre Augen waren geschlossen. Seine waren offen. Er erblickte sein Spiegelbild in einem Schaufenster. Er sah ganz gut aus. Wie zwielichtig Janes Absichten auch sein mochten, er wollte ihr vorerst Glauben schenken. Er war witzig, das wusste er, und erfolgreich, und an guten Tagen sah er in Sakko und Hose ganz annehmbar aus.
»Ich weiß nicht, ob ich ein Apartment lockermachen kann, Liebling«, sagte er. »New York ist ein ganz schön teures Pflaster für eine Zweitwohnung.«
»Oh, bitte«, sagte sie mit einem Schmunzeln. »Du lügst.«
»Ich kann nicht einfach einen Scheck auf deinen Namen ausstellen«, sagte er.
»Ich bitte dich auch nicht, mir einen Scheck auszustellen«, sagte sie.
»Worum bittest du mich dann?«
»Zwack einfach was von der Spitze ab«, sagte sie und kniff ihm in den Bauch.
»Dein Vater wacht wie ein Luchs über die Zahlen«, sagte er. »Das weißt du.«
»Lüg mich nicht an, Abraham«, sagte sie. »Ich weiß, dass du die Ausgaben kontrollierst. Jeder weiß das.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Liebling«, sagte sie. »Du bist der gute Jude. Mein Vater ist der böse Jude. Das hat sich so ergeben.«
Er hielt inne und musterte sie, hier mit ihm auf der Straße, mitten am Nachmittag. Bei Licht betrachtet, dachte er, hätte sie auch eine vollkommen Fremde sein können. Sie berührte sanft den Rücken seiner Hand.
»Was sagst du?«, fragte sie.
»Falls ich das wirklich tun sollte, so unwahrscheinlich es auch ist«, begann er. »Wo sollte das Apartment denn sein?«
»Wo auch immer«, sagte sie. »Brooklyn ist gut.«
»Ich liebe Brooklyn«, sagte er.
Sie zog ihn nah zu sich heran, führte seinen Kopf an den Aufschlag ihres Regenmantels. »Sieh mal«, sagte sie und zog den Stoff über ihrer Brust zurück, um einen von Schwerkraft und Schwangerschaft unberührten Körper freizulegen.
»Das gibt Ärger«, sagte er. »Das gibt ganz sicher Ärger.«
»Sag mir, dass ich süß bin.«
»Das wäre gelogen.«
Er brachte sie ins Paulette, ein kleines Boutique-Hotel, das in den verschachtelten Straßen des West Village versteckt lag. Vor einem Jahr war er denselben Weg mit Shoshanna gegangen, um dort ihren zwanzigsten Hochzeitstag zu feiern. Noch tags zuvor hätte er es für ausgeschlossen gehalten, jemals etwas Derartiges zu tun, aber er fand das ganze Unterfangen - die Heimlichkeit, das Versprechen eines Nachmittags im Hotelzimmer, die Versuchung unter ihrem Regenmantel - so gewagt, dass es ihn in prickelnde Spannung versetzte. Im tiefsten Inneren hielt er sich für einen ernsthaften, intelligenten Mann. Was immer er erreichen wollte, hatte er sich zugetraut. Sogar diesem unter allen Umständen verbotenen Rendezvous fühlte er sich irgendwie gewachsen. Für ihn gab es im Leben nur zwei Seiten: Über die eine hatte er die Kontrolle, über die andere nicht.
Er blickte der Empfangsdame in die Augen, derselben Frau, die vor zwölf Monaten Shoshanna Komplimente über ihre Ohrringe gemacht hatte. Die Situation hatte etwas Anstößiges an sich. In seiner Ehe kamen solche Verwegenheiten schon lange nicht mehr vor. Auf dem Tresen stand ein Tellerchen mit Pfefferminzbonbons. Er nahm eins und steckte sich ein weiteres in den Mund. Er wollte gut schmecken. Auf dem Zimmer war Jane im Handumdrehen nackt.
Er entschied sich für Brooklyn Heights nicht einfach, weil es hübsch war, sondern weil es ihm als kleiner Junge fremdartig und extravagant vorgekommen war, allein den Wohlhabenden vorbehalten, wo jeder vermögend aussehende Mann im Kaschmirmantel und mit der Times unter dem Arm erhobenen Hauptes aus der U-Bahn stieg. Seine Mutter hatte einmal behauptet, dass in Brooklyn Heights wahrscheinlich jeder beliebige, willkürlich von der Straße aufgelesene Hund teureren Schmuck trug als sie selbst. An all das dachte er, als er sich auf den Weg zur Maklerin machte, vor allem an seine arme Mutter, die nun schon sein halbes Leben lang unter der Erde lag. Sie wäre stolz gewesen auf das Geld, das er verdiente, aber sie würde sich zweifellos schämen für das, was er zu tun im Begriff war. Die Straßen waren nicht allzu belebt, aber auch nicht verlassen, und er glaubte im Gesicht eines jeden Passanten zu sehen, dass sie um sein Vergehen wussten. Unweit des Büros der Maklerin blieb er an eine Laterne gelehnt stehen, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Er zündete sich eine Zigarre an. Das Rauchen gab ihm Zeit und ließ das Blut ins Gehirn strömen, wodurch er besser denken konnte. Eine gute Zigarre half auch, Schuldgefühle zu mildern.
Mit großer Freude ließ er seinen Blick über den Wohlstand vor seinen Augen schweifen: die Reihenhäuser der Pierrepont Street, die Zierkirschen an der Flusspromenade. In den Pflanzkübeln bauschten sich die Chrysanthemen, die Patisserien auf der Montague Street bliesen Zucker und Muskat und Zimt in den Wind. Wenn es auf der Welt einen Ort gab, mit einer wunderschönen jungen Frau zu schlafen, dann hier. Es schien weitaus lohnender, diesen heimlichen Triumph auszukosten, als an das Unrecht zu denken, das er beging.
Die Maklerin war eine ältere Dame mit weißem Haar und langen Fingern mit kurz gekauten Nägeln. Als sie ihn fragte, was ihn nach Brooklyn Heights ziehe, ließ er seine Finger knacken.
»Meine Frau verlässt mich«, sagte er. »Und sie hasst die Stadt.«
»Das tut mir leid zu hören«, sagte die Maklerin.
»So was passiert«, sagte er. »So ist das Leben.«
Er fühlte sich schrecklich bei diesen Worten. Er und Shoshanna hatten schon lange nicht mehr miteinander geschlafen, wie sie es ausdrückte, aber, soweit er wusste, hatten sie nie aufgehört, sich ehrlich zu lieben. Ihre Liebe hatte das Spiel der körperlichen Zuwendung überflüssig gemacht. Sie war schon seine Freundin gewesen, als er noch ein kleiner Junge war und sie Haus an Haus in der Division Street wohnten. Kein Mensch auf der Welt kannte ihn besser als sie. Wenn sie sich lieben wollten, konnten sie sich daran erinnern, wie es gewesen war, als ihre Körper jung waren. Es war wie ein Lied, das sie als Kinder mit Freude gesungen hatten, bis sie es im Schlaf beherrschten, und das sie jederzeit in ihrer Erinnerung abspielen konnten.
»Wie viel sind Sie denn bereit auszugeben?«, fragte die Maklerin.
»So viel wie nötig«, sagte er, griff in seine Aktentasche und legte einen Umschlag mit Geld auf den Schreibtisch. Die Geste war lächerlich, aber er konnte ihren Reiz nicht leugnen. Es war eine dieser Erfahrungen, die er unter anderen Umständen sofort Larry erzählt hätte.
Sie zeigte ihm eine Einzimmerwohnung, nicht weit vom Fluss entfernt. Sie verfügte über eine kleine Küchenzeile und ein Fenster, das auf die Skyline der City hinausging. Der Blick auf die berühmten Gebäude war verdeckt von klobigen, anonymen Einheitsbauten aus Stahl und Glas, die mittlerweile am Fuß der Insel standen. Einen Moment lang stand er da und betrachtete das frühherbstlich bewegte Wasser des East River, die Autos im Stau auf der Brücke. In einem der gegenüberliegenden Vorgärten stand eine Eiche, deren Zweige sich durch das Stahlgitter einer Feuerleiter hindurchwanden. Die Maklerin lehnte im Türeingang, kritzelte etwas auf einen Block und kaute an ihren Fingernägeln. Er stellte sich vor, wie er Jane durch diese Tür hereinführen, ihr den Regenmantel abnehmen, sie auf dem Boden vögeln würde. Er würde eine kleine Stereoanlage und einen Fernseher kaufen. Sie würde hier ihre Zigaretten rauchen und sie in den Topfpflanzen ausdrücken, die sie auf die Fensterbank stellen würde. Der Beginn seiner Ehe hatte ganz ähnlich ausgesehen: ein kleines Apartment in Brooklyn mit einer Matratze auf dem Boden und kaltem Abendessen vor dem Fernseher. Er wusste, Shoshanna war keine Frau, die über seine Untreue in Wut geriete. Sie war eine Frau, die in sich zusammensinken, sich abwenden und sich verschließen würde.
»Es ist nicht das Taj Mahal«, sagte die Maklerin. »Aber es ist frisch gestrichen.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Setzen Sie den Mietvertrag auf.«
Er blieb noch ein paar Minuten länger. Die Wohnung war sauber, aber durch die Abdrücke an den Wänden und das abgenutzte Parkett wirkte sie dermaßen gewöhnlich, dass er eine gewisse Enttäuschung nicht leugnen konnte. Der Glanz dieser Affäre begann merklich zu verblassen. Es kam ihm lächerlich vor, dass er etwas anderes erhofft hatte. Ein altes Apartment in Brooklyn Heights war am Ende das Gleiche wie sein Gegenstück fünfzehn Kilometer weiter südlich in Bensonhurst. Irgendwo, nur ein paar Kilometer entfernt, lebte jetzt ein junges Paar in der Wohnung, in der er und Shoshanna sich geliebt und gestritten, in der sie ihre erste Tochter gezeugt hatten. Er hatte sich nie vorstellen können, in solch eine Lage zu geraten. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt, ein Schmock zu werden. Es war drei Uhr nachmittags. Er wusste, seine Frau holte gerade die Kinder von der Schule ab.
Shoshanna wartete bereits mit dem Abendessen, als er zur Tür hereinkam. Als sie sich kennenlernten, hatte sie eine Stelle im öffentlichen Dienst angestrebt, aber das Leben in Westchester hatte ihr den ungezügelten Ehrgeiz ihrer gemeinsamen Jugend ausgetrieben. Ein Ausdruck permanenter Enttäuschung lag nun auf ihrem Gesicht, und an den meisten Tagen glaubte Abe, es sei die Spur irgendeines Charakterurteils über ihn, das sie bisher nur nicht ausgesprochen hatte. Auf dem Couchtisch ausgebreitet lag eine Auswahl ihrer neuesten Lektüre. Sie verschlang alles über Politik und hielt ihm dann gerne Vorträge. Ihre Themen waren vielfältig und allesamt fernab von Abes Interessen. Sie konnte mit derselben Leichtigkeit über Energieeinsparung oder die drohenden Folgen der chinesischen Übernahme von amerikanischen Staatsanleihen sprechen wie über die diversen Teenager, die in ihre Töchter vernarrt waren. Sie war weitaus intelligenter als er, aber daran hatte er sich gewöhnt. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss. Sie fasste ihn am Arm.
»Gerade habe ich einen höchst beunruhigenden Anruf bekommen«, sagte sie und führte ihn in die Küche.
Seine beiden Töchter, Leah und Rose, saßen schon am Esstisch. Sie waren elf und dreizehn und hatten angefangen, ihn für seine Ignoranz gegenüber der ihnen alles bedeutenden Popkultur offen zu verachten. Er nahm seinen Platz am Kopf der Tafel ein. Shoshanna hatte Lamm gekocht. Er roch Rosmarin und frische Minze.
»Larry hat angerufen«, sagte sie.
»Ach ja? Und was wollte er?«
Er dachte an Jane und an ihren Körper, an den bitter-salzigen Geschmack ihrer Haut, und wie sie die Augen geschlossen hatte, als sie ihn auf der Spring Street küsste - so begierig und vertrauensvoll, wie ein junges Mädchen. Käme Shoshanna je dahinter, wäre das eine Sache, aber Larry Reinstein wäre glatt in der Lage, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.
»Er hat ziemliche Probleme mit Jane«, sagte sie.
»Tatsächlich?«
»Vielleicht magst du ihn mal anrufen.«
»Ich habe schon zwei Töchter, um die ich mich sorgen muss.«
»Ich denke trotzdem, dass du ihn anrufen solltest.«
»Ich sehe den Kerl jeden verdammten Tag. Ich rede morgen mit ihm.«
»Sie steckt in allerhand Schwierigkeiten. Und sie ist notorisch pleite. Es ist seine Frau. Wäre Jackie nicht die ganze Zeit so betrunken, hätte sie ihre Tochter vielleicht richtig aufgezogen.«
»Wie pleite ist sie denn?«, fragte er.
»Sie hat einen riesigen Schuldenberg angehäuft«, sagte sie. »Ein wahnwitziger Betrag. Fünfzigtausend oder so.«
Er lächelte seinen Töchtern zu. Sie verdrehten die Augen. Es war ihre Art, ihn zu begrüßen. Er liebte seine Kinder. Sie waren wunderschön und klug und sarkastisch und würden eines Tages großartige, starke Frauen abgeben. Sie ließen sich nichts gefallen, weder von ihm noch von ihrer Mutter. Dies, dachte er, war die wichtigste Lektion, die er seinen Kindern fürs Leben mitgeben konnte.
»Jane Reinstein ist ein Flittchen«, sagte Rose. Sie war die ältere Tochter. »Hast du gesehen, was sie an Rosch ha-Schana anhatte? Rabbi Scheinman hat sie die ganze Zeit angestarrt. Stell dir das mal vor!«
»Hüte deine Zunge«, sagte Shoshanna.
»Also, ich finde sie hübsch«, sagte Leah. »Ich finde, sie sieht aus wie eine jüdische Barbie.«
»Tut sie nicht«, sagte Rose. »Weißt du, wer wie eine jüdische Barbie aussieht?«
»Ja, weiß ich«, sagte Leah. Sie war die gewitztere von beiden. »Jane Reinstein.«
»Du nervst mich«, sagte Rosie.
»Nur weil du gern Jane Reinsteins beste Freundin wärst, brauchst du nicht so gemein zu mir sein«, sagte Leah.
Er fühlte sich herabgesetzt bei der Vorstellung, Jane könne hinter seinem Geld her sein. Dennoch schien ihm der Gedanke erschreckend naheliegend und offenkundig, und gerade deshalb hielt er ihn für wenig plausibel. Er hatte gerade zehntausend Dollar in bar für ein gemeinsames Apartment ausgegeben. So viel kostete eine doppelte Monatsmiete plus Kaution heutzutage eben. In seinem Leben hatte er unzählige Geschäfte abgeschlossen, die er, auf ihre Art, als riskanter empfunden hatte als dieses. Nicht umsonst hielt er sich eine barometrische Aversion gegen Bockmist zugute, eine Fähigkeit, die er seit seiner Kindheit vervollkommnet hatte. Wenn er in all den Jahren etwas gelernt hatte, dann war es, sein Geld zusammenzuhalten. Wollte Jane Reinstein ihm tatsächlich an die Brieftasche, er würde sich sicher zu helfen wissen. Es gab nur wenig im Leben, davon war er überzeugt, was er nicht bewältigen konnte.
»Wirst du ihn zurückrufen und mit ihm darüber reden?«, fragte Shoshanna.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Es war wichtig, bei allem, was Jane Reinstein betraf, einen gelassenen Eindruck zu machen. Er nahm einen Bissen vom Lamm. Seine Frau war eine gute Köchin, wenn auch keine großartige, aber eine bessere als seine Mutter. Gutes Essen war alles, was ein Mann verlangen konnte.
»Worüber?«
»Über Jane Reinstein, Dad«, sagte Leah.
»Richtig«, sagte er.
»Findest du sie nicht hübsch?«, fragte Leah. »Ich schon. Sie hat glatte Haare. Glaubst du, sie könnte mir beibringen, wie man die Haare glatt bekommt?«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, wandte er sich an Shoshanna. »Sie scheint ein nettes Mädchen zu sein.«
»Also«, sagte seine Frau. »Larry macht sich Sorgen. Er hat dich um Rat gebeten. Du solltest ihm helfen. Er war dir auch immer ein guter Freund.«
»Was für einen Rat denn?« Er wurde laut. »Wie wär’s, wenn er sie einfach mal machen lässt. Sie ist verdammt noch mal erwachsen, Himmelsakrament. Wenn sie ein paar Schulden machen will, dann lass sie doch.«
Er hatte den Tisch zum Schweigen gebracht. Seine Töchter blickten auf ihre Teller. Sein erhitzter Körper verriet ihm, dass sein Gesicht rot angelaufen war. An diesem Problem musste er unbedingt arbeiten.
Am folgenden Nachmittag kam er etwas früher als mit Jane verabredet in das Apartment in Brooklyn Heights. Er stand am Fenster und blickte hinaus auf seine neue, wunderschöne Straße, sah rote und schwarze Ziegel, Efeu und Zuckerahorn. Es regnete. Er zündete sich eine Zigarre an, schob das Fenster auf und ließ die kühle Luft hereinströmen. Normalerweise rauchte er nur, wenn er nervös war oder kurz davor, ein Geschäft zu besiegeln. Er war sich nicht sicher, was von beidem jetzt der Fall war. Die Clinton Street war voller Pfützen. Die Häuser am anderen Ufer des Flusses lagen in Nebel gehüllt, nur die Spitzen der Wolkenkratzer ragten aus dem Dunst. Er behielt seine Uhr im Blick. Ein paar Minuten bevor sie eintreffen würde, drückte er seine Zigarre aus, schaute kurz in den Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
Er beobachtete, wie ihr Taxi ankam. Sie trat hinaus auf die Straße, ihre schwarz-weiße Handtasche und den gelben Regenschirm in den Händen. Er horchte auf ihre Schritte im Treppenhaus, als sie die zwei Stockwerke hinaufstieg. Eine Zigarette rauchend kam sie zur Tür herein, ihr Regenmantel war tropfnass. Wieder sah es so aus, als sei er das einzige Kleidungsstück an ihrem Körper. Die kleine Wölbung ihrer Kniescheibe war deutlich unter dem Saum zu erkennen, wie auch die nasse Haut ihrer Brust, die zwischen den Aufschlägen des Revers hervorblinkte. Er fragte sich, ob sie überhaupt jemals Kleidung trug. Sie schaute sich um und lächelte beim Anblick der Matratze, die er früher am Tag herbeigeschafft hatte. Aus einer kleinen Stereoanlage klang Musik. Er hatte keine Ahnung gehabt, was er für sie auflegen sollte. Ein Verkäufer im Plattengeschäft hatte ihm dann etwas vorgeschlagen. Er fand die Musik schrecklich.
»Für wie viele Monate hast du eigentlich vorausbezahlt?«, fragte sie.
»Wie bitte?«
»Ich wollte nur mal wissen, was du dachtest, wie lange das mit uns so weitergeht?«
Er fummelte an seinem Zigarrenstummel und fragte sich, ob es zweckdienlich war, die Wahrheit auszusprechen. »Zwei Monate«, sagte er.
»Na toll!«, sagte sie stirnrunzelnd. Sie schlug sich mit der Hand auf die Brust. »Ich bin gekränkt.«
»Ich dachte, zwei Monate wären angemessen.«
»Hör dich mal an«, sagte sie, schob ihn zur Matratze und setzte ihn nieder. »Angemessen.«
»Gefällt sie dir?«, fragte er und legte seine Hände auf ihre Hüften.
»Klar«, sagte sie. »Sie ist klasse. Angemessen kühl.«
»Ich dachte, sie könnte dir gefallen«, sagte er. »Brauchst du sonst irgendetwas?«
»Was zum Beispiel? Schmuck vielleicht?«
»Du willst Schmuck?«, entgegnete er. Darauf war er nicht vorbereitet, er hoffte nur, sie würde kein Gold oder Diamanten verlangen.
»Kaufe deiner Geliebten nichts, was deine Frau nicht schon besitzt«, sagte sie und legte Tasche und Regenschirm auf dem Parkett ab. »Ist schlecht fürs Karma.«
»Woher solltest du das wissen?«, sagte er. »Du hattest nie eine Frau.«
»Aber ich kenne Shoshanna«, sagte sie. »Sie würde das nicht besonders gut aufnehmen.«
Er versuchte, darüber zu lachen, aber es gelang ihm nicht. Er nahm seine Hände von ihren Hüften.
»Also, wie fühlt man sich so als Fremdgänger?«, fragte sie.
Sie wandte sich von ihm ab, kickte ihre Stöckelschuhe quer durch das Zimmer und ging barfuß zum Fenster.
»Ich fühle mich gut.«
»Wirklich? Wie war es, letzte Nacht neben deiner Frau zu schlafen?«
»War kein Problem«, sagte er. »Ich habe schon einige Erfahrung damit.«
»Aber du hast so was doch noch nie getan«, sagte sie.
»Woher willst du das wissen?«
»Es steht dir ins Gesicht geschrieben«, sagte sie mit einem Lächeln und ging auf ihn zu. Sie berührte seinen Lippenrand mit ihrer Fingerspitze. Er schloss die Augen.
»Tut es das?«
Sie lachte und griff sanft nach seiner Hand. »Ja, Liebling.«
»Vielleicht irrst du dich in mir.«
»Du willst also behaupten, du fühlst dich nicht schuldig?«
»Nun«, sagte er. »Ich nehme mal an, es hat mich schon irgendwie überrascht, wie leicht es mir gefallen ist. Aber vergiss nicht, ich bin älter als du, und für gewöhnlich habe ich meine Gefühle unter Kontrolle.«
»Du weißt ja, was man so redet«, sagte sie.
»Nein. Was redet man denn so?«
»Wenn man eine Affäre so locker nimmt, dann stimmt zu Hause etwas nicht.«
»Ach ja?«, sagte er. »Das wäre mir aber neu.«
Er fand sie entzückend und umwerfend und komplett daneben.
»Du fühlst dich also nicht elend?«
»Hör endlich auf, mich das zu fragen. Fühlst du dich elend?«, fragte er.
»Ab und zu mag ich es, wenn es mir beschissen geht«, sagte sie mit einem Lächeln. Der Anblick ihrer weißen Zähne, so gerade und perfekt aufgereiht, weckte Erinnerungen an sie als kleines Mädchen. Aber jetzt, merkte er, war nicht der Zeitpunkt für derlei Rückbesinnungen.
»Außerdem«, sagte sie. »Mir wurde das schlechte Gewissen anerzogen. Dir nicht? Ist es nicht das, was uns ausmacht? Dafür haben wir doch die Hohen Feiertage. Wir brauchen etwas, für das wir büßen können.«
»Wenn du es sagst.«
Sie lächelte. »Du weißt, ich mag dich sehr, Abraham. Wirklich.«
Sie gab sich gern hart, aber er erkannte nun, wie zart sie im Grunde war.
»Hier«, sagte sie. Sie legte seine Hände auf das Band, das ihren Regenmantel schloss. »Zieh daran.«
Er wollte es langsam angehen lassen, es genießen, aber er kam zu schnell zum Schluss. Mit ihr fühlte er sich wie ein Teenager. Danach zündete sie sich eine weitere Zigarette an. Sie lagen nebeneinander auf der Matratze. Er hatte vergessen, ein neues Laken aufzuziehen. Er begann, mit dem Finger über ihre Haut zu streichen.
»Ich will hier wohnen«, sagte sie.
»Da wette ich drauf«, sagte er.
Sie griff nach seinem Finger, drückte an ihm herum und bog ihn langsam nach hinten. Er war stärker als sie und hätte Widerstand leisten können, aber es amüsierte ihn, ihr dabei zuzusehen. Ihr Vater hatte mit ihm genau das Gleiche getan, als sie Kinder waren und sie auf der Treppe vor ihrer Mietskaserne horchten, wie Red Barber im Radio die Spiele der Dodgers ankündigte.
»Hast du gehört?«, fragte sie.
»Ich weiß«, sagte er. »Du willst hier wohnen. Die Wohnung ist schön, die Gegend ist schön. Hast du Lust, spazieren zu gehen?«
»Nein«, sagte sie und rollte sich lachend auf ihn. Sie fuhr mit ihren Fingern durch die Haare auf seiner Brust. »Wirklich, ich will hier wohnen. Ich werde meine Sachen hierherholen.«
»Das wüsste ich aber«, sagte er.
»Ich weiß ja nicht, was dir mein Vater über mich erzählt hat«, sagte sie.
»Lass uns nicht über Larry reden«, sagte er. »Nicht, während ich hier ohne Unterwäsche liege.«
»Ich bin ein schlaues Mädchen.«
»Aber natürlich«, sagte er
»Ich bin schlauer als du«, sagte sie.
»Glaubst du wirklich?«, sagte er, zog sie hoch und küsste sie auf den Mund.
Sie erwiderte seinen Kuss nicht. Er war sicher, dass er ihr an Geist überlegen war, aber es war ihr ein Leichtes, ihm mit einer einzigen abweisenden Geste die Selbstsicherheit zu nehmen. Sie stand auf und ging zum offenen Fenster. Sein Schal und seine Jacke lagen über einen Stuhl gefaltet. Sie nahm den Schal und wickelte ihn sich um den Hals; nun trug sie nichts als ihr Make-up, ihre Ohrringe und seinen Schal. Ein Feuerlöschfahrzeug fuhr vorüber und rot-weißes Sirenenlicht zuckte durch das Apartment, über ihren flachen Bauch und ihre Schenkel.
»Ich sollte besser ein Paar Vorhänge besorgen«, sagte er.
»Nein«, sagte sie. »Ich mag es so. Es ist, als ob uns jeder zusehen könnte, der wüsste, dass wir hier sind.«
Sie war aufregend, auf ihre Art. Er zog seine Hose an und ging hinüber zu seiner Jacke. Er holte eine frische Zigarre hervor und aus seiner Hosentasche einen metallenen Kerbschneider. Er liebte es, das Zuschneiden seiner Zigarren zu inszenieren. Vor vielen Jahren hatte Red Auerbach, das alte Basketballgenie, sich immer eine Zigarre angezündet, wenn er wusste, dass sein Team den Sieg nach Hause bringen würde. Genau aus diesem Grund hatte Abe ihn immer als einen seiner persönlichen Helden angesehen. Er sah eine unwiderlegbare Brillanz in dieser psychologischen Kunstfertigkeit, ein Spiel zu beherrschen, im Hochmut dieser minimal kleinen Handlung. Spielkunst und Hochmut hatten auch in der Geschäftswelt hohen Stellenwert. Abe steckte die Zigarre in den Trichter des Kerbschneiders und drückte die Klinge lautstark herunter.
»Du bist ein süßes Ding«, sagte er aus dem Mundwinkel heraus, während er die Zigarre über der Flamme seines Feuerzeugs schwenkte.
»Morgen zieh ich hier ein, Abraham«, sagte Jane.
Am nächsten Tag kam Larry eine Stunde vor der Mittagspause in sein Büro.
»Wir müssen reden, Rivkin«, sagte Larry. »Hol deinen Autoschlüssel.«
Larry drehte sich um und nahm Kurs in Richtung Treppenhaus. Für einen kurzen Moment saß Abe wie erstarrt an seinem Schreibtisch und versuchte, abwechselnd durchzuatmen und sich zu fragen, wie viele Schläge er in der Lage wäre einzustecken. Es war töricht gewesen, zu glauben, er hätte ohne aufzufliegen so weitermachen können. Ihre Familien waren zu eng miteinander verbunden, um ungeschoren aus der Sache rauszukommen. Larry wandte sich im Flur um und riss die Hände in die Luft.
»Na los, Abe. Trödel nicht rum. Ich hab’s eilig.«
»Okay«, sagte Abe. »Ich komme.«
Er folgte Larry hinaus auf den Broadway. Seine Hände zitterten, also steckte er sie in die Taschen. Ein gelassenes Auftreten schien ihm unmöglich. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich warm, und er fing an, sein Hemd durchzuschwitzen.
»Ich bring sie um, verdammt«, sagte Larry.
»Jackie?«, sagte Abe. »Was hat sie denn angestellt?«
»Nicht meine Frau«, sagte Larry. »Jane.«
»Deine Tochter Jane?«
»Was ist los mit dir, Abe? Hast du dein Gehirn versetzt?« Larry schlug sich mit den Knöcheln an die Schläfe. »Natürlich meine Tochter Jane.«
Larry legte Abe eine Hand auf die Schulter. Er erinnerte sich daran, wie Jane vor ein paar Tagen im Keller mit eben jener Geste auf ihn zugekommen war. Larry fummelte ungeschickt an einer Zigarette herum.
»Stimmt was nicht?«, sagte Abe. Er holte das Feuerzeug aus seiner Tasche. »Nun red schon.«
»Wir müssen nach Brooklyn«, sagte Larry. »Gib mir den verfluchten Schlüssel.«
»Wozu?«, sagte Abe.
»Ich will dir zeigen, wozu meine Tochter fähig ist. Ich muss dein Auto nehmen. Meins würde sie erkennen.«
Sie fuhren in Abes Mercedes. Es sei ein gutes Auto, sagte Larry, als er es über die Brooklyn Bridge fuhr. Dies war ein Kürzel für vorgetäuschte Bescheidenheit, denn sie beide wussten, dass das Auto weit mehr als gut war. Es gefiel ihnen, so zu tun, als seien sie immer noch die Jungs aus Brooklyn, als klauten sie wie vor Jahrzehnten ihr Essen auf dem Schulweg.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Abe.
»Brooklyn Heights. Clinton Street.«
Abe wurde schlagartig übel. »Warum? Ich hasse es dort.«
»Ich ja auch. Aber meine Tochter und ihr Freund sind dort grad in ein Apartment gezogen.«
»Ihr Freund?«, fragte Abe. Er holte tief Luft. »Wie kommt es, dass ich noch nie von diesem Freund gehört habe? Ich sehe dich jeden Tag.«
»Es ist nichts Ernstes. Irgend so ein Shaygets, mit dem sie sich die letzten Monate rumgetrieben hat«, sagte Larry.
»Ein was?«
»Sag mal, hast du deine Muttersprache verlernt? Ein Shaygets. Ein Goi. Ein beschissener Christ und Judenhasser.«
»Ein Judenhasser? Wie reizend«, sagte Abe. »Woher weißt du das?«
Larry atmete übertrieben dramatisch aus, warf seinen Kopf in den Nacken und ballte die Fäuste.
»Ich will mir nicht auch noch um dich Sorgen machen, Rivkin. Was ist bloß los in deinem Schädel? Ich hab gestern bei dir zu Hause angerufen und mit deiner Frau darüber gesprochen.«
»Sie hat mir gesagt, Jane hätte Schulden. Einen Freund hat sie nicht erwähnt.«
»Sie und ihr Freund stecken in irgendwelchen Schwierigkeiten«, sagte Larry. »Drogen oder so. Ich hab keine Ahnung. Kein klar denkender Mensch häuft so viele Schulden an.«
Als sie am Apartment ankamen, parkte Larry den Mercedes an der großen Eiche, die Abe gestern noch vom Fenster aus betrachtet hatte. Auf der Straße war das Gefühl des Verbotenen noch stärker als oben zwei Stockwerke höher.
»Woher wusstest du, dass sie hier ist?«, fragte Abe.
»Letzte Nacht kam sie nach Hause und packte ein paar ihrer Sachen. Ich fragte, wo sie hinwolle. Sie wollte es nicht sagen. Also folgte ich ihr hierhin.«
»Warum solltest du so etwas tun?«
»Nun, vor ein paar Tagen bekomm ich diesen Anruf«, sagte Larry und schlenkerte dabei wild mit den Händen. Dies war die Art, wie Larry eine Geschichte vortrug, halb erzählend, halb pantomimisch. »Meine Tochter ruft mich von einem Münztelefon an. Sagt, sie steckt in Schwierigkeiten. Sagt, ich soll ihr Geld überweisen.«
»Okay«, sagte Abe.
»Sie sagt, sie braucht fünfzig Riesen.«
»Das ist ein ganz schöner Batzen.«
»Richtig. Ich sage ihr, dass ich sie liebe. Ich sage ihr, dass ich ihr helfen werde, wie es nur geht, aber dass ich ihr auf gar keinen Fall so viel Geld geben kann.«
»Da hast du richtig gehandelt, Larry.«
»Aber das Schlimmste kommt erst noch.«
»Na los, spuck’s aus.«
»Denk bitte nicht schlecht von mir«, sagte er mit einem Runzeln auf der Stirn.
»Wie sollte ich das können, alter Freund.«
Hierüber musste Larry lächeln. »Sie sagt, sie weiß von der kleinen Affäre, die ich hab.«
»Oh Mann, Larry«, sagte Abe und versuchte, angemessen enttäuscht zu klingen. »Wer ist es?«
»Kann ich nicht sagen.«
Abe lachte auf. »Wenn du es doch allen anderen sagen kannst! Ich kann nicht glauben, dass du es mir noch nicht erzählt hast!«
»Es ist Susie Mintz.«
»Die Plinsenfrau?«
Abe lachte. Susie war eine Handelsvertreterin, mit der sie Geschäfte machten. Sie war rothaarig, eine typische Jüdin aus dem Borschtsch-Gürtel, die für ihre schlechten Jackie-Mason-Imitationen und ihre Traubenpfannkuchen bekannt war, die sie ihnen jeden Freitagnachmittag vorbeibrachte.
»Ich schäme mich, aber muss es zugeben«, sagte Larry.
»Ich mochte Susie immer gern«, sagte Abe.
»Ja«, sagte Larry. »Ich dummerweise auch.«
Abe hatte sich nie für Poker begeistern können; er hatte jegliches Glücksspiel immer verabscheut, aber er wusste, dass es besser war, seine Hand nicht zu zeigen. Er atmete einmal tief durch und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Er dachte, er müsse einen verblüfften Eindruck machen, und tat sein Bestes, diese Rolle zu spielen. Er zuckte mit den Achseln und zog die Augenbrauen hoch.
»Also, was hast du vor? Was machen wir hier?«
»Ich hab ihr gesagt, ich bräuchte ein paar Tage. Dass ich erst mit dir sprechen müsste.«
»Natürlich.« Ihre Geschäftsvereinbarung sah vor, dass Abe für die Buchhaltung zuständig war und Larry für die Qualitätskontrolle des Essens. Standen Ausgaben an, musste der Betrag von Abe abgesegnet werden. Jeder wusste das.
»Und ich wollte mir das Apartment mal mit eigenen Augen ansehen. Eigentlich hatte ich vor, hochzugehen, wollte ihr eine Szene machen. Jetzt bin ich nicht mehr sicher, was ich tun soll.«
Abe sah sie zuerst. Sie stand rauchend am Fenster und blickte hinaus auf das Wasser. Einen Augenblick später tauchte ein Mann hinter ihr auf. Er war jung und hatte schwarzes Haar. In gewisser Weise, dachte Abe, sah ihr Freund fast genauso aus wie er selbst als junger Mann. Zu seiner Überraschung verspürte er einen Stich von Eifersucht, ein Gefühl, das er jahrzehntelang nicht mehr empfunden hatte. Sie lächelte herunter zu dem Mercedes, blies eine Qualmwolke gegen die Scheibe, und dann winkte sie.
Larry fluchte und warf den Motor an. Abe war sicher, dass sie nicht ihrem Vater gewunken hatte.
Während der Mittagspause rauchten Abe und Larry zwanghaft eine nach der anderen. Abe fürchtete, Jane könne als Nächstes ihm ans Geld wollen. Aber als er Larry am Tisch gegenübersaß, hielt er es für wahrscheinlicher, in eine heikle Vater-Tochter-Rivalität hineingezogen worden zu sein. Obwohl er mit Jane geschlafen und ein Apartment für sie gemietet hatte, galt seine Loyalität unverändert seinem Freund.
»Ich denke, wir wissen beide, was du tun musst«, sagte Abe.
»Sag’s mir«, sagte Larry
»Schau nicht so verzweifelt drein, alter Freund.«
»Jackie wird mich umbringen.«
Abe beugte sich vor. Sie aßen in einer Pizzeria. Er musste laut sprechen.
»Du musst ihr das Geld geben. Wenn nicht, wird sie es Jackie erzählen. Wenn sie es Jackie erzählt, dann wird Jackie dich verlassen. Wenn sie dich verlässt …«
»Sag’s nicht«, bat Larry und winkte abwehrend mit der Hand. »Deshalb such ich ja deinen Rat.«
»Wenn sie dich verlässt, wird sie dich bis aufs Hemd ausziehen. Dann können wir unser Geschäft an den Nagel hängen.«
»Wie konnte ich mich nur darauf einlassen?«, sagte Larry und sah hinauf zur Decke. »Gott, vergib mir.«
»Du weißt ja, was ich immer gesagt habe: Stecke ihn nie da hinein, wo er nicht hingehört.«
Larry beugte sich vor und flüsterte: »Du hast nie Scheiße gebaut?«
»Mit Shoshanna? Hör doch auf.«
»Ich glaub dir keine Sekunde, Rivkin«, sagte Larry. »Red keinen Scheiß.«
»Wie lange kennst du mich schon? Ein Leben lang? Wenn ich dir sage nie, dann meine ich auch nie.«
Larry grinste. »Ich kauf es dir trotzdem nicht ab.«
Der größte Reiz bei einem Geschäft hatte für Abe immer im Verhandeln gelegen. Er lief zur Höchstform auf, wenn er sein Gegenüber vom Verzicht auf etwas überzeugen wollte, das er selbst brauchte. Ging es darum, jemandem die Jacke vom Rücken abzuschwatzen, trat Abe ohne ein Fünkchen Zweifel in Verhandlung. Es gab in seinem Leben so gut wie nichts, was den Rausch nach einem erfolgreichen Geschäft übertraf.
»Können wir uns die fünfzig Riesen denn leisten?«, fragte Larry.
»Sicher«, sagte Abe mit einem Schulterzucken. »Wird es uns treffen? Ja. Werden wir untergehen? Nein.«
»Du bist da ganz sicher?«
»Sieh es mal so«, sagte Abe. »Fünfzigtausend sind ein Haufen Geld.«
»Ich weiß.«