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In zahlreichen Fällen wurden Namen und charakteristische Merkmale von Personen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte verändert.
Redaktion: Oliver Kobold
Übersetzung aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-8270-7841-4
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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Von Katzen und Menschen
Am meisten von allen Dingen, die mich retten, hilft wahrscheinlich, dass ich keinen Alltag habe. Und am meisten von allen Dingen, die bei mir regelmäßig für Panikattacken sorgen, quält mich wahrscheinlich, dass ich keinen Alltag habe.
Alltag, das klingt einengend und klein und schnürt mir die Kehle zu.
Keinen Alltag zu haben, fühlt sich dagegen an wie ein freier Fall.
An guten Tagen genieße ich, wie alles in rasender Geschwindigkeit an mir vorüberzieht, die Welt sieht dann aus wie mit Wasserfarben hingetupft. Ständig neue Reize, dauernd lachen, Bewegung immerzu. Dann ist mein ganzer Tag eine Tanzszene aus einem Baz-Luhrmann-Film. Es gibt keine freie Sekunde, um nachzudenken. Um in Ruhe irgendwo zu sitzen und zu spüren, wie meine Gedanken im Kreis geschleudert werden, so schnell, dass die Zentrifugalkraft sie gegen meine Stirn presst und ich Kopfschmerzen von ihnen bekomme. Je schneller und lauter das Leben, desto leiser sind die an mir nagenden Erinnerungen und die mich lähmenden Ängste.
An schlechten Tagen lege ich zu lange Pausen ein, weil ich mich erholen muss. Weil die Rastlosigkeit mich sonst überfordert. Dann ist es plötzlich nicht mehr aufregend und inspirierend, keinen Alltag zu haben. Dann wirkt der Alltag auf einmal wie die einzige Struktur, die mein zerbröselndes Leben noch vor dem totalen Chaos bewahren könnte.
Meine Aufmerksamkeitsdefizite und meine Hyperaktivität, kurz: mein ADHS, machen es mir unmöglich, in den Stand-by-Modus zu gehen. Ich sende und empfange immer – egal ob es erforderlich ist oder nicht. Passiert nicht genug, drehe ich mich um meinen Kern wie ein Perpetuum mobile. Mein Autismus macht es jedoch unumgänglich, Ruhezeiten einzulegen, um die leergesaugten Batterien wieder aufzuladen. Ein ewiges Hin und Her.
Heute ist jedoch alles anders.
Heute sitze ich allein in meinem Schlafzimmer, tippe vor mich hin und werde höchstens von meinen zwei Katern, Michael Jackson und Elvis Presley, gestört. Manchmal wenn ich in Michaels Augen zu viel arbeite (soll heißen: zu wenig mit ihm kuschele), schubst er meinen Computer mit dem kleinen Katerkopf weg und legt sich einfach zwischen die Tastatur und mich. Ich bewundere seine Hingabe, denn für eine Katze ist es ein schwieriges Unterfangen, einen Laptop zu bewegen. Ich sitze dann da, bringe es nicht übers Herz, Michael von seiner Mission abzuhalten, und warte geduldig, bis er sein Werk vollbracht hat und endlich seine Massen an rot-weißem Fell an meiner schwarzen Hose reiben kann. Dabei schnurrt er so laut, dass ich beim Bauchkraulen ein ums andere Mal vorsichtig nachtaste, ob er nicht vielleicht aus Versehen ein kleinmotoriges Auto verschluckt hat.
Gelegentlich muss ich meine Arbeit unterbrechen, weil ich zu sehr abgelenkt werde. Wenn mein Nachbar seinen Fernseher wieder zu laut dreht, meine Mutter telefoniert, die Katzen meckern. Es fällt mir nicht leicht, mich auf das zu fokussieren, was vor mir liegt. Und es ist erst recht nicht leicht, Dinge zu tun, die kompliziert sind.
Und doch sitze ich jeden Tag an meinem Computer. Bis spät in die Nacht huschen meine Finger über die Tastatur, lese ich, kommuniziere ich, spiele ich. Die Lampe über mir und die Lampe neben mir werfen Lichtkegel in den Raum, mein Rücken schmiegt sich an den weißen Ledersessel. Mein Schreibtisch droht jede Sekunde zusammenzubrechen, weil jeder Zentimeter von ihm mit Buntstiften und Post-its, Tage- und Wörterbüchern, Kerzen und Zettelbergen bedeckt ist. Seit ein paar Wochen besitze ich akkurat sortierte Leitz-Ordner, wenigstens waren sie das, als meine Mutter sie gekauft und eingerichtet hat. Alles nicht Eingeheftete flattert beim kleinsten Luftzug wild über die dunkle Fake-Holz-Tischplatte.
Selbstständigkeit ist ein Segen, weil ich meinen eigenen Ablauf haben und Dinge so tun kann, wie ich sie nun einmal tue. Und sie ist ein Fluch, weil sie ein Maß an Organisation und Disziplin abverlangt, das höchstens einem preußischen General zumutbar ist. Aber ganz sicher nicht mir.
Das Schreiben ist mir hingegen schon immer leicht gefallen. Es hilft mir auch dabei, mich zu erinnern. Es gibt mehrere Theorien und Studien, die behaupten, dass Autisten Probleme damit hätten, sich zu erinnern. Fakten ausgenommen, aber auch nur vorausgesetzt, die Fakten sind für den Autisten interessant.
Natürlich kann man dieses Phänomen, so wie alle anderen Erkenntnisse zum Autismus, nicht pauschalisieren. Auf mich trifft es aber zu. Ich war schon immer sehr gut darin, mir Zahlen oder Fakten zu merken, wenn mir etwas in meinem Gehirn sagte, dass ich diese Zahlen wissen sollte. Ich weiß von meinen vier Konten alles: Kontonummern, Bankleitzahlen, Filialkürzel, PINs und seit Neuestem auch IBANs und BICs. Ich weiß die wichtigsten Telefonnummern und auch noch einige aus der Grundschulzeit, die ich, aus mir unbekannten Gründen, wahrscheinlich nie wieder vergessen werde. Ich weiß mein Buchstaben-und-Zahlensalat-WLAN-Passwort sowie die Postleitzahlen und Hausnummern der Wohnungen, in denen ich bisher gelebt habe (insgesamt sieben).
Ich weiß aber nicht, was ich an meinem vierundzwanzigsten Geburtstag gemacht habe. Oder an dem davor. An die letzten beiden Jahre erinnere ich mich überhaupt nur vage. Ich weiß nicht mehr, wie der Urlaub auf Zypern 2013 verlaufen ist. An meine letzten Reisen, die nach New York und Florida, kann ich mich zwar noch erinnern, aber auch nur, weil sie erst vor Kurzem stattfanden. Es wird nicht lange dauern, bis auch sie nicht mehr da sind. Obwohl – sie sind schon noch da, ich finde sie bloß nicht mehr.
Lange Zeit war ich überzeugt davon, dass mein Gehirn damit beschäftigt ist, alles zu löschen. Es kam mir vor, als versuchte ich, lauter MP3s auf einer Diskette zu speichern. Weil die Diskette natürlich viel zu wenig Speicherplatz besitzt, muss andauernd alles Alte gelöscht und mit Neuem überspielt werden.
Aber das stimmt gar nicht. Von wegen Diskette. In meinem Kopf befindet sich eine gigantische Festplatte, die so unaufgeräumt ist, dass man absolut nichts mehr findet. Wie ein Teenager-Schlafzimmer. Irgendwo wird wohl alles sein, es kommt ja nichts weg. Aber wo sich etwa unter dem Berg von Klamotten und Papier eine bestimmte CD befindet, weiß man nicht mehr. Irgendwann vergisst man, dass man die CD überhaupt besitzt, und findet sie dann zufällig beim Aufräumen, wenn man eigentlich etwas ganz anderes sucht. Egal was ich tue, um Ordnung in mein Chaos zu bringen, es ist schlichtweg vergebens.
Wenn ich schreibe, erinnere ich mich aber plötzlich an Begebenheiten, an die ich eine Ewigkeit nicht mehr gedacht habe.
Alles wird dann ganz still, nichts um mich herum nehme ich noch wahr. Dabei gibt es hier vieles, das es wahrzunehmen lohnt.
Es ist Frühling, und vor meinem Fenster blühen die Kastanienbäume im schönsten, kräftigsten Rosa. Vögel singen und kreischen und zirpen und flattern, Kinder spielen vor dem Haus.
Wenn es noch ein bisschen wärmer wird, kommen die Musiker wieder, die einmal am Tag, immer gegen 18 Uhr, durch meine Straße schlendern, Trompeten und andere Instrumente spielen und mit Trinkgeldhüten unter unseren geöffneten Fenstern herumturnen. Ich liebe das. Jeden Abend stelle ich mich auf den französischen Balkon im Wohnzimmer und lausche, während sie immer näher kommen, spielen und scherzen.
Gegenüber von unserem Haus befindet sich ein kleiner Laden für Holzblasinstrumente, der im Sommer nie die Tür schließt. Kunden probieren Saxophone und Oboen aus, und wenn nicht viel los ist, nimmt der Besitzer selbst eine Klarinette in die Hand und erfüllt die ganze Straßenschlucht mit wundervoll fremdartigen Melodien. Und im Haus nebenan wohnt eine Klavierlehrerin. Der kleine Hof, den wir teilen, trägt die Töne ihres Klaviers wie ein Grammofon in unsere Küche.
Aber fünf Minuten am Tag gehören den Trompetern. Dann verstummen Laden und Lehrer, Kunden und Schüler, die Nachbarn treten an ihre Fenster und versuchen, mit ihren Münzen den alten braunen Hut zu treffen.
Ein Baumhaus ohne Tür
Im Sommer 2011 hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, nach Los Angeles zu fliegen und drei Monate dortzubleiben. Drei Monate können eine verdammt lange und teure Zeit sein, besonders in einer Stadt, in der man für ein Loch achthundert Dollar Miete im Monat bezahlt.
Und wenn ich »Loch« sage, dann meine ich das ziemlich wörtlich.
Mein Zuhause war eine Ecke, die mit Brettern notdürftig vom Rest des Zimmers abgetrennt wurde. Sie war ungefähr so groß wie die bettgestelllose Matratze, die ich von meinem Vorgänger übernahm. Es blieb bloß noch Platz für ein winziges Bücherregal und für eine Stange, an die man mit Glück zehn Kleidungsstücke hängen konnte, bevor sie herunterkrachte.
Außerdem durfte ich für diesen Spottpreis die Wohnküche benutzen, den Balkon und ein kleines Bad, das ich mir mit riesigen Spinnen teilen musste.
Ich war abends angekommen. Ryan hatte mich abgeholt.
Heiße Luft schlug mir entgegen, als ich den Bauch des Flugzeugs verließ. Alles sah nach Terrakotta oder Naturstein aus und fühlte sich auch so an, sogar die Luft. Sie lag schwer auf meinen Schultern und roch nach Staub. Durch eine große Glasfront erschlug mich die Schwärze der Nacht.
Wir hielten Händchen. Ryan trug meine Taschen zum Auto, einem alten, klapprigen VW-Bus. Ich stieg ein und knallte die Tür zu.
Als wir die Parkwächter passierten, bat Ryan mich um sieben Dollar. Er habe gerade kein Bargeld, sagte er und stülpte entschuldigend die Taschen seiner bunt gestreiften Boardshorts nach außen. Ich fischte ein paar Dollarnoten heraus und gab sie ihm. Die Scheine fühlten sich an wie Monopoly-Geld, so dick und klein. Und die Straßen sahen genauso unecht aus wie das grüne Papier, die Luft und der Terrakotta-Flughafen. Es war finster, hier und da malten Neonleuchtreklamen grelle Lichtkleckse auf die Straßen und die Schlaglöcher. Wir schwiegen die ganze Fahrt. Erst als wir anhielten, sprach Ryan wieder.
»This is Treehouse.«
Ich blickte ihn fragend an.
»We call it Treehouse cause there’s a huge tree in the middle.«
Daher also der Name Baumhaus. Eine naheliegende Begründung. Ich schleppte mich erschöpft siebzehneinhalb Stufen nach oben und stand vor einer angelehnten Tür.
»This is our apartment.«
Eine goldene, aber garantiert nicht aus Gold gefertigte »1« hing schief auf dem blauen Grund einer Tür. Mir schien das Ganze nicht sehr verheißungsvoll.
»Why is the door open?«
Im Gegensatz zu mir wirkte Ryan überhaupt nicht ängstlich. Die derangierte Tür kümmerte ihn nicht. So lässig würde ich mich nie geben können.
»We never close the doors. Everybody is welcome.«
Ich warf einen Blick die siebzehneinhalb Stufen hinunter. Er blieb im Müll am Treppenabsatz liegen. Jeder war willkommen?
»Like … everybody? As in … everybody?«
Ich lauschte dem Straßenlärm. Ein paar Typen unterhielten sich, ein Mädchen lachte schrill auf, zwei oder drei Hunde bellten. Und ein Obdachloser raschelte. Er hing kopfüber und bis zur Hüfte in einer Mülltonne. Da sie neben dem VW-Bus stand, war es aller Vermutung nach unsere Mülltonne.
»No, stupid, just the Treehouse people.«
Wer auch immer zu den Treehouse-Leuten gehörte. Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, sagte ich nichts weiter. Das Fehlen einer vernünftigen Haustür bereitete mir Unbehagen, aber ich wollte jetzt wirklich nicht spießig sein. Nicht direkt nach meiner Ankunft.
Am nächsten Morgen schälte ich mich bei Sonnenaufgang aus den Laken. Der Tesafilm, mit dem unsere Gardinen an die Glaswand geklebt waren, hatte sich an einigen Stellen gelöst und ließ Helligkeit und, deutlich schlimmer, große Hitze in unser Goldfischglas-Schlafzimmer. Noch müde sah ich mich das erste Mal richtig im Raum um. Er hatte drei Wände. Eine bestand aus einer großen, zugenagelten Tür, eine andere aus Fensterglas, und die dritte war aus losen Brettern gezimmert, zwischen denen eine Tür lehnte.
Auf dem kleinen Stück Teppich zwischen Bett und Tür lagen verkrustete Teller und dreckige Wäschestücke. Es gab keine Lampe und auch keine anderen Möbel außer der Matratze, auf der ich geschlafen hatte. Aus dem Wohnzimmer drangen Geräusche durch die Bretterritzen. Ryan hatte mir erzählt, dass es eine ganze Menge Mitbewohner gab. So war das eben, wenn man in L. A. nur achthundert Dollar im Monat für die Miete aufbringen konnte.
Mühsam richtete ich mich auf und bahnte mir, das dünne braune Laken eng um den Körper geschlungen, auf Zehenspitzen einen Weg zur Tür. Als ich sie öffnete, nahm ich den halben Rahmen mit.
»Hey, you gotta be Denise.«
Eine helle Gestalt. Als meine Augen sich an den Sonnenschein gewöhnt hatten, konnte ich einen braunen Lockenkopf ausmachen. Die Frau saß im Schneidersitz vor einem grotesk großen Glastisch auf dem Boden und trug etwas, das irgendwie nach Basketball-Trikot aussah. Zwischen Daumen und Zeigefinger drehte sie einen halben Strohhalm hin und her.
»Morning, gorgeous«, sagte ein weiteres Mädchen mit breitem texanischem Akzent. Sie sah sauberer aus als die andere. Ihr kurviger Körper war in weite schwarze Kleider gehüllt, schwarze Locken fielen auf braune Schultern. Ihre Nase war groß, ihre Zahnlücke auch. Sie zwinkerte und lehnte sich nach vorne, um auf dem Glas mit einer Rasierklinge weißes Pulver zusammenzuschieben.
»You’re up early«, sagte ich zu niemandem Bestimmten und starrte auf das weiße Zeug. Das Mädchen mit der Zahnlücke verfolgte meinen Blick und fragte mich, ob ich auch eine Line wolle. Als Willkommensgeschenk. Ich lehnte ab. Das zweite Mädchen stand auf und ging auf mich zu.
»I’m Cat.«
»Jeez, why so formal?« Die andere nahm mich in den Arm.
»I’m Hannah. And we’re all family here.«
Noch immer etwas benebelt und an der Echtheit der Situation zweifelnd, ging ich durch die offene Glasschiebetür auf den Balkon. Er war, wie auch das Wohnzimmer, mit abgewetzten Sofas, Sesseln, ungeputzten Bongs und Bierdosen vollgemüllt. Cat war mir gefolgt. Nun lehnte sie am gelben Geländer und zündete sich eine Mentholzigarette an. Ihre beringten Zehen gruben im Dreck, ihre Fußnägel kratzten über den Steinfußboden.
»You gotta love the sunrise«, hauchte sie. Der Rauch legte sich vor den strahlend blauen Himmel. Da hatte sie wohl recht. Der Sonnenaufgang war schön. Ich nahm die glühende Zigarette so wortlos, wie Cat sie mir reichte. Ihre Finger waren schmutzig. Wie sie das angestellt hatte, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Los Angeles liegt nicht im Wald. Die Möglichkeiten, Erde unter die Fingernägel zu bekommen, sind, gelinde gesagt, begrenzt. Aber das war mir eigentlich auch egal. An Schmutz würde ich hier bestimmt nicht sterben. Eher würde jemand durch unsere immer offene Tür spazieren und mich im Schlaf erschießen.
10 919 Strathmore Drive, Los Angeles. Das war meine neue Adresse. Und das waren die Menschen, die, wenigstens für die nächsten drei Monate, meine Freunde sein würden, wollte ich nicht ganz allein bleiben.
Das Haus sah aus wie mehrstöckiges Eigelb. Es war 1949 vom amerikanischen Architekten John Lautner für die Künstlerin Helen Taylor Sheats gebaut worden, 1988 hatte es die Stadt Los Angeles zu einem historisch-kulturellen Monument erklärt. Das hörte sich alles sehr nett an, war aber wenig wert, weil das Gebäude schon seit Ewigkeiten von Studenten buchstäblich als Behausung genutzt wurde.
Von wohnen konnte keine Rede sein. Es war so dreckig, dass selbst der Dreck schon Flecken hatte, und so marode, dass jeder Tag, an dem nichts umfiel oder zerbrach, ein guter Tag war. Mehrere runde Apartments waren im Kreis aufeinander geschichtet, in der freigebliebenen Mitte befanden sich ein Baum und ein kleiner Teich mit Wasserfall. Angeblich gab es dort Fische, ich sah jedoch nie welche. Wahrscheinlich versteckten sie sich, immer wenn ich hinguckte, in den herumtreibenden Bierdosen.
Jedes Apartment besaß einen Balkon. Aus Mangel an Eignung wurden nur die wenigsten zum Anbau illegaler Arzneimittel verwendet. Dafür waren sie offensichtlich alle gut geeignet, um auf ihnen eben jene illegalen Arzneimittel zu konsumieren.
Ich bin mir heute noch nicht sicher, wie viele Menschen in dem Haus tatsächlich gehaust haben. Vierzig waren es aber mindestens. Manche Wohnungen habe ich nie betreten. In Apartment #1 waren wir zu fünft. Sam lebte in einer Abstellkammer zwischen den beiden Räumen, die als Badezimmer bezeichnet wurden. Ich lernte schnell, das Licht im Bad ausgeschaltet zu lassen. Ich wollte die Spinnen nicht so genau sehen. Unglücklicherweise nahmen sie darauf aber kaum Rücksicht, und ich rutschte mindestens drei Mal beim Duschen in der Wanne aus, weil sich eine von ihnen direkt vor meinem Gesicht abseilte und auf Augenhöhe baumelte wie ein widerlicher achtbeiniger Bungeejumper.
Hinter einem Badezimmer wohnte Hannah. Bauchtänzerin, Fotografin und Zahnlückenträgerin. Sie studierte nicht mehr und blieb wohl tatsächlich wegen des Ambientes im Treehouse. Ich konnte das nicht verstehen. So high konnte man doch gar nicht sein. Obwohl ich nie begriffen habe, wie jemand freiwillig im Müll leben konnte, wurde Hannah meine engste L. A.-Freundin.
Neben ihrem Zimmer befand sich das von Cat, die irgendetwas studierte, was definitiv nichts mit Hygiene zu tun hatte. Immer klaute sie unser Essen aus dem Kühlschrank, was schließlich dazu führte, dass Ryan und ich uns einen eigenen Kühlschrank samt Schloss zulegten, um nicht zu verhungern.
Im Lauf der Zeit lernte ich, über meinen Schatten zu springen und mit Dreck umzugehen. Ich lernte auch, mit anderen Menschen zusammenzuleben, ohne den Verstand zu verlieren, obwohl nahezu jeden Tag eine Party über unserem Schlafzimmer stattfand.
»Wann hast du deine Diagnose bekommen?«, fragte Sam eines Abends.
Sam studierte Psychologie.
Meine Diagnose? Langsam nahm ich die Hände von den Ohren. Draußen war ein Krankenwagen mit dröhnenden Sirenen vorbeigefahren, Sam und ich hatten als Einzige im beachtlich vollen und lärmerfüllten Wohnzimmer die Finger auf die Ohren gepresst. Vielleicht hatte ich seine nur gedämpft zu mir dringenden Worte falsch verstanden.
»Meine was?«
»Deine Diagnose.« Sam strahlte mich an.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Na, Asperger. Du hast doch auch Asperger.«
Sam klang, als würde er einem kleinen Kind zum tausendsten Mal erklären, dass man mit Scheren in der Hand nicht rennen darf.
»Ich habe was?«
Ich konnte die Schere fast schon spüren. Ich war gerannt und hingefallen. Etwas unbeholfen, auf jeden Fall verwirrt, sah ich an mir herunter, so, als würde die Schere irgendwo in meinem Bein stecken.
»Das Asperger-Syndrom. Das musst du doch kennen. Autismus.«
Autismus verstand ich natürlich. Und auch an das Asperger-Syndrom konnte ich mich nun dunkel erinnern. In irgendeinem Artikel hatte ich mal gelesen, dass Sheldon aus The Big Bang Theory dieses Asperger habe.
Dann bin ich halt behindert, dachte ich, während ich mich später am Abend im Spiegel anstarrte. Ob ich jetzt anders aussah? Sah ich autistisch aus? Ich fand meine Stirn schon immer anormal hoch. Ob alle Autisten eine hohe Stirn hatten? Sheldon hatte eine. Dustin Hoffman in Rain Man auch. Konnte also stimmen. Waren hohe Stirnen überhaupt attraktiv?
Das war natürlich Unsinn. Ich hatte bloß dieselben klischeehaften Bilder von Autismus und Asperger im Kopf wie fast jeder andere auch, der sich noch nie richtig mit dem Thema befasst hatte. Obwohl ich weder zu Boden gefallene Streichhölzer noch die Karten beim Black Jack blitzschnell zählen konnte, es bei mir mit dem Auswendiglernen haperte und ich bei lauten Geräuschen wie einem schrillenden Feuermelder nicht auch noch selbst loszuschreien pflegte.
Autismus kann man nicht sehen. Und Kim Peek, das Vorbild für Dustin Hoffmans Rolle, war überhaupt kein Autist, sondern Savant. Er hatte das, was die Leute eine »Inselbegabung« nennen, also unfassbare geistige Fähigkeiten auf einem kleinen, eng umgrenzten Gebiet.
Aber das wusste ich damals alles nicht. Eigentlich wusste ich gar nichts. Ich wusste nur instinktiv, dass Sams Verdacht stimmte.
Ich bin Autistin.
Es erklärte einfach alles. Es erklärte, warum ich mich mein ganzes Leben fehl am Platz gefühlt hatte. Nicht weil ich dachte, anders zu sein als die anderen. Sondern weil die anderen mir zu verstehen gaben, dass ich es war.
Noch bevor ich genau wusste, was Autismus bedeutete, war ich mir sicher, dass Sam recht hatte. Und dass dieses Wissen alles verändern würde.
Hell und laut
Seit dem Abend in Los Angeles sind vier Jahre vergangen. Mittlerweile weiß ich, dass der Lärm damals im Wohnzimmer und der Lärm der Krankenwagensirene zu einem Overload geführt haben, also zu einer Überforderung meiner Sinne, der ich nur entkommen konnte, indem ich mir die Ohren zuhielt und mich kurz ganz in mich zurückzog.
Ich bin nicht in der Lage, Reize zu filtern und Unwichtiges auszublenden. Alles um mich herum beansprucht gleich viel Aufmerksamkeit. Oft stelle ich mir vor, dass es wohl keine Cafés oder gar Clubs gäbe, besäßen alle eine Wahrnehmung wie ich.
Extrem laut und unglaublich nah: Der Romantitel von Jonathan Safran Foer fasst es ganz gut zusammen. Wenn ich in einem Café bin, vermischen sich die Eindrücke. Das Gespräch, das ich gerade führe, ist genauso intensiv da wie das am Nebentisch. Oder wie das Geräusch der Kaffeemaschine, die vor dem Fenster vorbeifahrenden Autos, die Rufe der spielenden Kinder, das Singen der Vögel, das Kratzen eines Bleistifts auf dem Papier.
Helligkeit verstärkt die Lautstärke noch. Ist es sehr hell, dann ist es für mich gleichzeitig auch sehr laut. Auch wenn Wolken aufgezogen sind, setze ich deshalb eine Sonnenbrille auf. Ich kenne Autisten, die einen Gehörschutz tragen, um Krach zu entgehen. Alles ist zu laut, zu hell, zu heiß. Die Luft wird dick, und es fällt schwer, Stücke von ihr abzuschneiden, an denen man nicht erstickt.
Der Overload-Klassiker sind Kaufhäuser. Große Kaufhäuser, in denen das Atmen kaum gelingt, obwohl die Decken so hoch sind und eigentlich genug Platz für Sauerstoff vorhanden ist. Der findet aber keinen Platz zwischen den ganzen Geräuschen, die sich wie Rauch durch die Masse schlängeln.
Mit dem Eintreten wird es augenblicklich laut. Geräusche aus verschiedenen Richtungen und in verschiedenen Lautstärken. Ein Geräuschgulasch. Musik spielt, dort hinten spielt aber schon wieder eine andere. Zwei Menschen streiten sich, eine Frau lacht, ein Kind schreit, die Rolltreppe schrappt, irgendeine Lampe flirrt, eine Verkäuferin bietet Proben an, zig Einkaufswagen rattern in unterschiedlichen Rhythmen, ein Mitarbeiter füllt klirrend Flaschen auf.
Ich höre alles so, als würde es direkt in meinem Ohr passieren. Mit jedem Geräusch, das neu dazukommt, geht der Lärmpegel noch weiter nach oben. Das fluoreszierende Licht sorgt für viel zu viel Helligkeit, dazu kommen noch die vielen Farben. Von der Decke hängen Schilder mit Sonderpreisen und Tippfehlern in so ziemlich allen gängigen Schriftarten. Produkte stapeln sich oder liegen wirr auf Wühltischen. Die Wände sind schneeweiß und lilienweiß und blütenweiß und mehlweiß und emailleweiß, gipsweiß und kokosweiß. Eigentlich weiß ich gar nicht, was diese Bezeichnungen bedeuten, aber aus irgendeinem Grund erkennt etwas in mir die Unterschiede zwischen den Farbtönen und vermittelt mir das Gefühl, dass ich schiele oder doppelt sehe oder etwas im Auge habe.
Die Aushänge über den feuerroten, tomatenroten, kardinal-, burgunder- und weinroten Kartons mit den himmel-, hell-, kobalt-, ultramarin-, enzian- und indigoblauen Buchstaben in Comic Sans und Arial und Helvetica sehen aus wie ein Puzzle. Nur dass es sich dabei eben nicht um ein einziges Puzzle handelt, sondern um wahllose Teile aus ganz vielen Puzzles, die plötzlich ein Bild ergeben sollen.
Mir wird schwindelig und übel, und ich starre auf den Boden, weil die Dinge in meinem Blickfeld langsam beginnen zu verschwimmen. Als hätte man Regentropfen auf der Brille und würde damit in die Sonne schauen. Mit jedem Flecken, der für mich blind wird, durch den ich nicht mehr richtig hindurchsehen kann, wird es lauter, aber eigentlich höre ich gar nichts mehr. Oder alles zugleich. Das Radio sucht und sucht, doch es findet keinen Sender. Bei alldem auch noch eine Einkaufsliste abzuarbeiten, ist fast unmöglich.
Meine Mutter tut mir regelmäßig furchtbar leid, wenn wir gemeinsam einkaufen, denn ich werde innerhalb von Minuten komplett unausstehlich. Zieht mich aber etwas plötzlich in den Bann, zum Beispiel die Buchecke oder die Blu-Rays, dann ist meine Konzentration zu 110 Prozent scharf gestellt.
An der Stelle meiner Mutter würde ich mich auch auf den Arm genommen fühlen. Da läuft sie eine gefühlte Ewigkeit mit einem absoluten Miesepeter durch ein Geschäft, wird bei jeder Frage und jedem Kommentar angepflaumt, aber kaum interessiert den Miesepeter etwas, ist er total bei der Sache und bekommt nicht einmal mehr mit, dass man mit ihm redet.