Rückenschmerzen
verstehen, behandeln und vorbeugen
Autoren
Dr. Klaus Weber & Michaela Wiese
Deutsches Institut für Ortho-Bionomy®
Metzelplatz 5
72108 Rottenburg
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Telefon_0 74 72 - 10 21
Website_www.ortho-bionomy.de
Impressum
Warnhinweis_Bitte beachten Sie: Die medizinische Entwicklung schreitet permanent fort. Neue Erkenntnisse, was Medikation und Behandlung angeht, sind die Folge. Autoren und Verlag haben größte Mühe walten lassen, um alle Angaben dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung anzupassen. Dennoch ist der Leser aufgefordert, Dosierungen und Kontraindikationen aller verwendeten Präparate und medizinischen Behandlungungsverfahren anhand etwaiger Beipackzettel und Bedienungsanleitungen eigenverantwortlich zu prüfen, um eventuelle Abweichungen festzustellen.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme_Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
ISBN 978-3-7905-1010-2
Copyright_© 2014 by Richard Pflaum Verlag GmbH & Co. KG, München
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Cover, Typografie und Layout, Satz, Fotomontagen_Science Communication – Dr. Petra Lutterbüse & Bettina Pfluger GbR, 79106 Freiburg
Fotos und Zeichnungen_Klaus Weber & Michaela Wiese
Druck und Bindung_fgb, freiburger graphische betriebe, 79108 Freiburg
Vorwort
ARückenschmerzen verstehen
1Ein erster Blick auf die Hauptfaktoren
1.1Veränderungen der Statik
1.2Überlastungen der dorsalen Faszien und der Lumbalaponeurose
1.3Einschränkungen der Atemkoordination
1.4Bewegungsmangel
1.5Darmbelastungen
1.6Dysstress
2Das ganz große Ganze – das Kontinuum der Bindegewebe
3Die Neurophysiologisch-Reflektorische Therapie
3.1Definition der NRT
3.2Physiologische Grundüberlegungen
3.3Prinzipien einer ressourcenorientierten Behandlung (z.B. NRT, Ortho-Bionomy®):
3.4Die Techniken in Kurzdarstellung
BRückenschmerzen behandeln
1Anmerkungen zu Beginn
1.1Zwei Sichtweisen
1.2»Keine Diagnose durch die Hose?« oder warum unsere Patienten bei der Behandlung meist bekleidet sind
2Ventrale myofasziale Verkürzungen (Muskeln / Bindegewebe)
2.1Sternosymphysale Belastung
2.2Funktionelle Entstehung der Kontrakturen in der ventralen Muskelkette
2.3Anatomie der ventralen myofaszialen Verkürzung
2.4Folgen der ventralen myofaszialen Verkürzung
2.5Selbsterfahrung mit der Verkürzung der ventralen Thoraxmuskulatur
2.6Klinische Bedeutung der ventralen myofaszialen Verkürzung
2.7Isotonische Behandlung
2.8Neurolymphatische Punkte für die Brustmuskulatur
2.9Massage der Brustmuskulatur
3Th12-Region – der thorakolumbale Übergang
3.1Die Th12-Region – »Epizentrum« der Lumbalgie
3.2Zur Anatomie Th12-bedingter Kreuzschmerzen
3.3Dermatome
3.4Triggersyndrome
3.5Muskuläre Dysbalancen und die Statik der Lenden-Becken-Region
3.6Behandlung der Th12-Region
4Neurolymphatische Reflexpunkte der sakrospinalen Gruppe – die Rückenstrecker
4.1Anatomische Grundlagen
4.2Behandlungsindikationen
4.3Ventrale Punkte für die sakrospinale Muskelgruppe
4.4Dorsale Punkte der sakrospinalen Gruppe
5Dorsale fasziale Strukturen / Lumbalaponeurose
5.1Anatomie und Physiologie der Bindegewebe und Faszien
5.2Biomechanische Konsequenzen
5.3Lumbalaponeurose
5.4Vernetzung der Lumbalfaszie in myofaszialen Ketten
5.5Untersuchung und manuelle Behandlung
5.6Massage (auch mit Schröpfkopf)
5.7Fasziengymnastik und Faszientraining
6Rhythmische Integration der Wirbelsäule
6.1Grundlagen
6.2Techniken des Schaukelns (Rocking)
7Die Atmung und ihre Bedeutung für Haltung, Beweglichkeit und Kraft
7.1Viszerale und parietale Komponenten der Atmung
7.2Atmung und Haltung
7.3Atmung, Statik und Kraftentfaltung
7.4Atmung und Psychosomatik
7.5Atmung, Thorax, BWS – funktionelle Einheit und das Problem der Chronifizierung
7.6Zusammenfassung
7.7Atembehandlung
8Prüfung und Behandlung der Beweglichkeit der Wirbelsäule
8.1Grundlagen
8.2Halswirbelsäule
8.3Brustwirbelsäule
8.4Lendenwirbelsäule
CRückenschmerzen vorbeugen
1Rückenschmerz und Bewegung
1.1Bewegungsverarmung und leitlinienkonforme Therapie
1.2Bewegung im Kontext von Struktur und Funktion
1.3Den Rücken stärken – eine Illusion?
1.4Krafteinsatz – viel oder wenig?
1.5Kraft und Wahrnehmung
1.6Bewegung – lokal und fortgeleitet
1.7Dehnen – ein komplexes Thema
1.8Motivation und Patientenführung
2Muskelenergietechniken / Bewegungstherapie
2.1Übungen mit wenig oder minimalem Krafteinsatz
2.2Standübung
2.3Lotübung
2.4SSB-Übung/Behandlung der sternosympyhsalen Belastungshaltung
2.5Übungen für den Schultergürtel
2.6Isometrisch-isotonische Behandlung der Wirbelsäule als Achsenorgan
2.7HWS
2.8BWS
2.9LWS
2.10Krafttraining
2.11Pilates und andere Methoden
3Bewegungstherapie mit dem Crosstrainer
3.1Patientenmotivierung
3.2Befunderhebung der Ausgangssituation
3.3Vor den Übungen auf dem Crosstrainer
3.4Propriozeptionstraining
3.5Rumpf-Bein-Training
3.6Thoraxentfaltung
3.7Rumpfstabilisierung
3.8Arbeit mit den Mm. pectorales und dem M. serratus anterior
DRichtlinien und Techniken
1Die ressourcenorientierten Behandlungsprinzipien
1.1Tue wenig (präzise Reizsetzung), lass viel geschehen (Reaktionszeit lassen)
1.2Kein Griff, keine Lagerung darf unangenehm, beunruhigend oder schmerzhaft sein
1.3Gehe mit dem Organismus, und betone das vorgefundene Muster
1.4Das Behandlungsergebnis wird nicht vordefiniert
1.5Respektiere die Wahrnehmung und Reaktion deiner Patienten
1.6Den Behandlern soll es bei der Arbeit körperlich und psychisch so gut gehen wie möglich
2Definitionen und Begriffe
2.1Transsensus und Befundinterpretation
2.2Neurolymphatische Reflexpunkte nach Chapman und Goodheart
2.3Isotonische/isometrische Techniken
2.4Haltungsarbeit und Bewegungsbahnung
2.5In eigener Sache: Ortho-Bionomy® – unsere Leidenschaft
ELiteratur und Quellen
FSachwortverzeichnis / Glossar
Wenn unsere Gesundheit, unser körperliches Wohlbefinden bedroht sind, geht es für uns »ums Ganze«. In der klinischen Medizin sucht man oft den einen, letztendlichen Auslöser von Beschwerden. Größere Zusammenhänge spielen weniger eine Rolle. Dieser Lösungsansatz steht ganz in der geistigen Nachfolge Rudolf Virchows: »Finde die kranke Zelle, und du hast die Krankheit gefunden.«
Die Behandlungsstrategie nach dieser Maxime ist von verlockender Einfachheit: »Repariere das kleine Teilchen, und alles wird gut.« Wenn wir unseren Körper bis in kleinste Untereinheiten analysieren, erfahren wir viel über das einzelne Zahnrädchen – wissen aber noch lange nicht, welchen Stellenwert dieses Teil für das Funktionieren des Ganzen besitzt.
Es gab immer auch die Gegenposition zu Virchow. Nach ihr lässt sich die Wirklichkeit in ihrer Vielfältigkeit nicht auf wenige Daten reduzieren. Wegen der vielen Variablen erschließt sich dieser Ansatz dem forschenden Geist schwerer als Virchows Konzept.
Mit unserem Buch laden wir Sie ein, mit uns zu entdecken, welche Bedeutung einige Gesamtzusammenhänge für die Beurteilung der Einzelphänomene spielen. Pasteur schrieb: »Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles!« Ohne Keime gäbe es keine Infektion. Aber erst die Schwächung z.B. der Mandeln schafft das Milieu, das es Streptokokken möglich macht, sich unkontrolliert zu vermehren. Was für die Mikrobiologie gilt, gilt auch für die Behandlung parietaler Beschwerden.
Speransky, der Nachfolger Pawlows, kam schon 1936 experimentell zu dem Ergebnis, dass sich die Zellularpathologie Virchows besonders für die Erklärung von Spezialfällen eignet, vor allem für die Definition morphologischer Endzustände. Über Krankheitsursachen und die Dynamik einer Erkrankung vermag sie wenig Auskunft zu geben. »Jeder Eingriff unsererseits hat nicht eine, sondern viele Folgen. Die Wirkung kann sowohl von der Gesamtheit aller Teile als auch von jedem Teil im Besonderen abhängen.« (Speransky 1950).
Wir alle bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Einzelbefunden und der Würdigung komplexer Funktionsaspekte. Rückenschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden der Menschen in industrialisierten Ländern. Der Verlust an Lebensqualität, Mobilität und Lebensfreude spielt dabei eine große Rolle. Im Alltag fällt vieles schwerer. Die Freude an geliebten Sport- und Freizeitaktivitäten schwindet, und manche soziale Aktivitäten wie der Einkaufsbummel oder ein Ausstellungsbesuch werden fast unmöglich. Schlimmstenfalls droht langfristig die Arbeitsunfähigkeit (Herzig 2010).
Viele medizinische Einrichtungen und Forschungsinstitute setzen sich mit dem Thema Rückenschmerz auseinander. Unüberschaubar ist die Menge der Röntgen- und Kernspinbilder, unzählbar die Flut der Labor- und Funktionsuntersuchungen auf der Suche nach den Ursachen von Rückenschmerzen.
Treten wir einmal aus den gewohnten Gleisen der medizinischen Routine heraus. Dieser Blick von außen enthüllt eine »merk-würdige« Situation: Keine der technischen Untersuchungen – ob Röntgen, Ultraschall, Kernspin oder Labor – sagt etwas aus über die Zwangsläufigkeit und das Ausmaß der jeweiligen Beschwerden (Jensen 1994).
Umgekehrt finden sich bei bildgebenden Untersuchungen aus anderem Anlass rein zufällig Osteoporose, Arthrosen, kompensatorische spondylotische Randzackenbildungen der Wirbelkörper, Forameneinengungen, Entzündungen, ein Wirbelgleiten oder eine Skoliose, ohne dass diese Patienten relevante Rückenbeschwerden hätten. Der neue »objektive« Befund beunruhigt aber. Er macht Angst. Mit den unerwünschten neuen »Informationen« fühlt sich der Patient, als ticke neben ihm eine Zeitbombe. Wann schlägt die vermeintliche »Krankheit« spürbar zu? Andere Patienten dagegen leiden trotz kaum feststellbarer organischer Veränderungen unter so starken Schmerzen, dass sie den Alltag nur mit Schmerzmitteln bewältigen können. Simulieren sie? Nein, sicher nicht.
Selbst wenn die technischen Untersuchungsergebnisse zum Beschwerdebild passen, ist gesunder Zweifel an einer vermeintlichen Ursache angesagt. Ein Befund ist eben nur ein Befund und keine Diagnose. Ein Bandscheibenvorfall kann ebenso beschwerdefrei bleiben wie ein Meniskusriss. Englung, Guermazi et al. (2008) haben in Kernspinreihenuntersuchungen bei annähernd 50 % der Menschen einer Kleinstadt im Alter von über 60 solche Risse gefunden, ohne dass diese Beschwerden hätten. Noch erstaunlicher: An 180 Patienten haben B. Moseley, K. O’Malley et al. 2002 gezeigt, dass nach zwei Jahren die Ergebnisse von Scheinoperationen am Meniskus genau so gut waren wie die Ergebnisse nach Operationen.
Was für den Meniskusriss gilt, gilt wahrscheinlich auch für die Operation bei Rückenschmerzen. Die Indikation ist immer noch mehr vom klinischen als vom bildgebenden Befund abhängig. Maier und Siems zitieren 2011 Experteneinschätzungen, wonach über 80% der Bandscheibenoperationen überflüssig sein sollen. Nach einer über Jahre rückläufigen Indikationsstellung für Rückenoperationen ist laut einer 2012 durchgeführten Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK innerhalb von drei Jahren die Zahl minimal invasiver Eingriffe an der Wirbelsäule um 30% angestiegen. Nach Meinung des Instituts ist dieser Zuwachs weniger durch medizinische als vielmehr durch wirtschaftliche Notwendigkeiten zu erklären.
Vor über 200 Jahren hat sich Samuel Hahnemann die Frage gestellt: »Was ist das zu Heilende, was das zu Behandelnde?« Und heute? Heute stehen wir vor dem Problem zu entscheiden, ob der von uns erhobene objektivierbare Parameter relevant ist für das Befinden oder ob er nur einen Surrogat-parameter darstellt. In der Pharmaforschung setzen sich die »Verbesserung der Lebensqualität« und die »Verlängerung der Lebenszeit« als einzig relevante Parameter durch. Röntgen und Labor werden nur noch sekundär gewertet (Arzneimitteltelegramm 3/2012: 26).
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund der konservativen Therapie von Rückenschmerzen zu. Nach den deutschen Richtlinien zur Therapie des Rückenschmerzes gilt als gesichert, das, unabhängig von der jeweiligen körperlichen Veränderung, bei Rückenschmerzen achtsame und ausdauernde Bewegung bei der Mehrheit der Patienten die Beschwerden lindert und die Genesung unterstützt (Bundesärztekammer 2011a). Die hochspezifische Diagnostik mündet damit häufig in eine relativ unspezifische, dafür aber schonende und Erfolg versprechende konservative Therapiemaßnahme.
Wenn schon die einfache, unspezifische Bewegung nützlich ist, könnte es sich da lohnen, mehr als bisher das Ganze und weniger das Einzelne in den Vordergrund zu stellen? Sind großräumige Funktionsketten in der körperlichen Selbstorganisation vielleicht noch wichtiger für das rechte Verständnis der Genese von Rückenschmerzen und die anschließende Therapie als bisher gedacht?
Kann es sein, dass technische Untersuchungen eine große Hilfe sind für die Risikoeinschätzung, uns aber nur wenige Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Behandlung geben? Ja, wir sind davon überzeugt, dass beides zutrifft!
Welche Schlüsse können wir ziehen?
1. Aus der Tatsache technisch nachweisbarer morphologischer Veränderungen der Wirbelsäule darf nicht selbstverständlich geschlossen werden, diese Veränderungen seien ursächlich für die Beschwerden unserer Patienten.
2. Ob objektive Veränderungen an der Wirbelsäule Einschränkungen und Beschwerden auslösen, hängt weniger von den beobachteten Veränderungen als vielmehr von zusätzlichen funktionellen Faktoren ab.
3. Unter der Würdigung funktioneller Ketten lösen sich vermeintliche Widersprüche weitgehend auf. Das einzelne Glied einer Kette und die Funktionseinheit stehen in untrennbarer Wechselwirkung miteinander. Wenn wir die häufigsten über die lokale Situation hinausgreifenden Belastungselemente berücksichtigen, können gezielte konservative Maßnahmen rasch eine große Vielfalt an Rückenbeschwerden lindern oder Schmerzfreiheit bewirken.
»Rückenschmerzen verstehen, behandeln und vorbeugen.« Uns geht es um ein vertieftes Verständnis regulativer Zusammenhänge in der Entstehung von Rückenschmerzen und um effektive Lösungsansätze für die Behandlung. Wenn das Ganze eines Funktionskomplexes gestärkt wird, erfahren die Einzelelemente Entlastung. Wird ein Teil des Ganzen unterstützt, nützt es der Gesamtfunktion. In beiden Fällen stärken wir die Ressourcen zur Heilung.
Unser Buch basiert auf den Erfahrungen unserer fachübergreifenden Gemeinschaftspraxis sowie auf den Rückmeldungen erfahrener Therapeutinnen und Therapeuten, die unsere Seminare besucht haben.
Zum Abschluss möchten wir uns noch ganz herzlich bedanken. Unser Dank gilt vor allem unserem aktiven und kooperativen Modell Sebastian Seidel, der sich immer wieder für uns Zeit genommen hat. Dank gebührt auch dem Verlag für seine Unterstützung, Frank Aschoff für sein anregendes Lektorat und allen anderen Menschen, die in der Herstellung, der Grafik, dem Korrektorat, der Druckerei, Buchbinderei und Organisation zu dem Gelingen dieses Buches beigetragen haben.
1Ein erster Blick auf die Hauptfaktoren
2Das ganz große Ganze – das Kontinuum der Bindegewebe
3Die Neurophysiologisch-Reflektorische Therapie
Wenn wir Patienten mit Rückenschmerzen helfen wollen, lohnt es sich, sich einige vertraute und ein paar neue Erkenntnisse aus der Physiologie und der funktionellen Anatomie vor Augen zu führen. Es geht um Fragen der Biomechanik, der Muskelphysiologie, der Dynamik der Bindegewebe und Faszien, der segmentalreflektorischen Wechselwirkungen und der Auswirkungen des Gewebestoffwechsels auf die Schmerzwahrnehmung. Aktuelle Forschungen konzentrieren sich auf unsere Bindegewebe, die ohne Grenzen den ganzen Körper durchdringen und ihm seine Gestalt ermöglichen. Im Kontinuum dieses Bindegewebes treffen alle unten genannten Regelmechanismen und Funktionszusammenhänge aufeinander. Wenn das Zusammenspiel gelingt, fühlen wir uns wohl. Die Überlastung eines oder mehrerer Elemente schwächt unsere Koordination und Selbstorganisation, erhöht das Risiko, irgendwann unter Rückenschmerzen zu leiden.
Nach langjähriger eigener Erfahrung und der praktischen Erfahrung unserer Kursteilnehmer können wir die folgenden Faktoren als die häufigsten Auslöser von Rückenschmerzen benennen:
Die chronische Verkürzung der Muskeln der vorderen Rumpfwand führt dorsal zu einer kompensatorischen Muskelanspannung, vor allem im M. trapezius. Die Verkürzung der ventralen myofaszialen Strukturen wird getragen von der Kontraktion der Muskeln, ihrer mangelnden Dekontraktionsfähigkeit, die laut Brügger eine aktive Leistung darstellt, und faszialen Kontrakturen und Verklebungen. Die Folgen sind lokale myalgische Schmerzen und Triggersyndrome (siehe 4.4) dorsal mit Ausstrahlung in die Arme. Die ventralen myofaszialen Verkürzungen lösen keine gleichmäßige Gegenspannung des gesamten M. trapezius aus. Je nach biomechanischer Anforderung werden einzelne Partien des M. trapezius mehr Spannung aufbauen müssen als benachbarte Muskelanteile. Mögliche Tonusunterschiede beidseits am Ansatz an den Dornfortsätzen belasten über den Rotationszug funktionell einzelne Segmente der BWS und HWS. Das kann über das Arthron der beteiligten Wirbelsegmente und über Triggersyndrome pseudoradikuläre Schmerzen auslösen. In der HWS wird eine fixierte Hyperlordose, in der BWS eine Überkyphosierung angebahnt. Im thorakolumbalen Übergang finden wir fast immer Anzeichen für die Überlastung des Th12-Segments.
Die Kyphosierungsüberlastung der Segmente Th11/12 und Th12/L1 führt kompensatorisch zu einem chronisch erhöhten lokalen Muskeltonus der Rückenstrecker. Unser Körper versucht so, eine physiologische Aufrichtung anzubahnen. Diese anhaltende lokale Muskelanspannnung löst häufig Triggersyndrome mit Ausstrahlung in die Lumbosakralregion und die Glutei aus (siehe Kapitel B_4.4). Segmentale Irritationen projizieren sich in den zugeordneten Dermatomen der Lumbalregion und über dem lumbosakralen Übergang. Ein einseitig betonter Muskelhartspann löst häufig Beckenverwringungen und ISG-Schmerzen aus.
Verbackungen, Verquellungen und Elastizitätsverlust der großen myofaszialen Strukturen im Lendenwirbelsäulenbereich – insbesondere der Lumbalaponeurose – schränken die Beweglichkeit der BWS und LWS ein, stören myofasziale Ketten, verursachen eine Beschwerdefortleitung bis in die Extremitäten und sind verbunden mit einer mechanisch sowie biochemisch begründeten verstärkten Schmerzwahrnehmung im Rücken (Langevin und Sherman 2007).
Beeinträchtigungen der Atemkoordination erschweren Stabilität, Beweglichkeit und Kraftentfaltung in der ganzen BWS und LWS. Nach Kapandji (1992) reduziert sich die auf die Wirbelsäule einwirkende Kraft beim Bücken und Anheben von Gegenständen bei einer gelungenen Bauchpresse um 50%–60%. Als Vergleich bietet sich das Bild eines Schlauchbootes mit verstärktem Kiel (analog zur Wirbelsäule) und den Luftkammern (analog zum Brust- und Bauchraum) an. Wenn wir unser Boot aufpumpen, bis die Kammerwände straff sind, so ist es viel stabiler und tragfähiger als mit halb leeren Luftkammern und weichen Wänden. Die Thorax- und Bauchmuskulatur bildet zusammen mit den Diaphragmen das stabilisierende »Kammer«-Gerüst des menschlichen Körpers.
Anhaltender Bewegungsmangel mit eingeschränkter, verarmter Bewegungsmöglichkeit und Propriozeption vermindern die Plastitzität und Trophik der beteiligten Bindegewebe sowie die Vielfalt der unbewusst trainierten und vorgebahnten Bewegungen der Wirbelsäule. Bewegungen, die nicht geübt werden, können im Bedarfsfall überhaupt nicht, nicht schnell genug oder nur mangelhaft koordiniert abgerufen werden. Mit der Bewegungsverarmung werden wenige einzelne Segmente mechanisch oft im Übermaß in Anspruch genommen, während andere bewegungsreduziert bzw. »blockiert« wirken. Die Verletzungsgefahr steigt, und die nozizeptive Wahrnehmungsbereitschaft wird stimuliert.
Verdauungsstörungen des Dickdarms wirken sich segmentalreflektorisch negativ auf die Lumbalregion aus (Rauch 1998). Hier liegen die mit dem Dickdarm gekoppelten Dermatome. Die konsensuelle Minderdurchblutung führt zu Veränderungen in den Schichten der Bindegewebe mit Verlust an Elastizität, Gleitverschieblichkeit und Festigkeit. In der amerikanischen Chiropraktik gilt eine Belastung der Ileozäkalklappe als Kontraindikation für Impulsmanipulationen an der Wirbelsäule. Nach Walther ist unter dieser Voraussetzung das Risiko eines Bandscheibenvorfalls durch eine Manipulation erhöht (Walther 1988).
Die reflektorisch veränderte Trophik der dorsalen Bindegewebe führt zusätzlich zu einer allgemeinen Stoffwechselbelastung vor Ort. Verbunden mit der Dickdarmirritation ist nicht selten eine lokale Azidose mit Senkung der lokalen Schmerzschwelle und Erhöhung der Entzündungsbereitschaft. Das biochemische Substrat für diese Reaktionslage ist die Überlastung des Na+/H+-Antiportsystems in den Zellmembranen (Düsing, Rosskopf et al. 1994).
Neben den segmentalreflektorischen und biochemischen Folgen spielen Veränderungen der Statik infolge von Irritationen des Dick- und Dünndarms eine große Rolle. In der Diätetik nach F. X. Mayr werden spezifische Bauch- und damit Haltungsformen bei belasteter Funktion der Därme beschrieben (Rauch 1998). Starker Meteorismus erhöht den Druck auf Zwerchfell und Beckenboden und führt zwangsläufig zu einer Lordosierung der LWS.
Als allgemeiner Faktor in der Genese von Rückenschmerzen darf anhaltender Stress nicht vergessen werden. Unter andauerndem Stress entwickeln wir eine sympathikotone Stoffwechsellage mit Einschränkung der Erholungs- und Regenerationsmöglichkeiten aller Gewebe. Unter andauerndem Stress wird die Verdauungsfunktion eingeschränkt. Die Minderperfusion der Verdauungsorgane bahnt wie erwähnt die lokale Azidose in den dorsalen Faszien und der Lumbalaponeurose.
Disstress hemmt die Pufferwirkung des retikulären Systems im Stammhirn. Dadurch werden afferente Reize vorwiegend nozizeptiv als Schmerz wahrgenommen (Upledger et al. 2005, Schünke et al. 2012).
Disstress führt reflektorisch zu Muskelanspannung und zur Verstärkung der sternosymphysalen Haltung mit ihren biomechanischen Folgen für den Rücken.
Disstress wirkt auf Bindegewebefasern wie eine physische Beschleunigung, was fasziale Verhärtungen und Spannungserhöhungen bahnt (Schleip et al. 2012). Im Zusammenspiel kommt es zu einem anhaltend erhöhten Muskeltonus. Der Verlust an Plastizität führt zusätzlich zu einer raschen strukturellen Überlastung der myofaszialen Strukturen mit nozizeptiver Überstimulation der lokalen Spannungsrezeptoren.
Im »Schmerzhexagramm der funktionellen Ursachen des Rückenschmerzes« (Abb. 1) finden Sie die Zusammenhänge noch einmal in einer grafischen Übersichtsdarstellung. Alle Faktoren hängen miteinander zusammen und können sich wechselseitig positiv wie negativ beeinflussen.
Abb. 1_Schmerzhexagramm funktioneller Ursachen des Rückensschmerzes
An drei Beispielen möchten wir das Zusammenspiel der einzelnen ätiologischen Komponenten verdeutlichen:
• Statische Belastungen durch eine fixierte sternosymphysale Haltung wirken sich auf die Spannung und Trophik der dorsalen myofaszialen Strukturen aus, beeinträchtigen Atem- und Verdauungsfunktionen, schränken die Beweglichkeit ein und reduzieren die Stresstoleranz.
• Stress erhöht den myofaszialen Tonus, macht die Bindegewebe starrer, reduziert die Beweglichkeit, macht den Atem eng und schränkt die Anpassungsfähigkeit in der Statik ein. Im Sympathikotonus lässt die Durchblutung des Darms und der parietalen Gewebe nach.
• Mit eingeschränkten Verdauungsfunktionen geht eine segmentale Irritation der Lumbalregion einher, nimmt die metabolische Azidose zu, wird die Atmung reflektorisch über das Zwerchfell und direkt über die Druckerhöhung im Bauchraum (Meteorismus) beeinträchtigt. Missempfindungen im Bauchraum erschweren die Rumpfstabilisierung über die Bauch- und Rückenmuskulatur.
Van den Berg und Karbowniczek (2012) diskutierten in einer kritischen Übersicht in der »pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten« Grenzen und Widersprüche der gängigsten Denkmodelle, die zur Erklärung erfolgreicher manueller und physiotherapeutischer Behandlungskonzepte herangezogen werden. Die Grenzen der einzelnen Erklärungsversuche waren für sie der Anlass, nach einem verbindenden Ganzen zu suchen, in dem sich die Vielfalt der Einzelphänomene ausdrückt und auswirkt.
Nach diesem verbindenden Ganzen wird in den letzten Jahren vermehrt geforscht. Wahrscheinlich finden wir es im unbegrenzten Kontinuum des Bindegewebes. In ihm finden wir die anatomische Struktur, in der sich die unterschiedlichen ätiologischen Faktoren auswirken, die dann letztlich zu Rückenschmerzen führen.
Mit seinen Makrostrukturen durchzieht das Bindegewebe den ganzen Körper. Mit seinen feinsten Fasern durchdringt es den gesamten Zwischenzellraum (Abb. 2). Hier bilden die mikroskopisch feinen Bindegewebsfasern das anatomische Traggerüst für einen hoch differenzierten Funktionskomplex, den wir heute Matrix nennen. Als Erster hat A. Pischinger die Anatomie, Physiologie und Biochemie des Zwischenzellraums als funktionelle Einheit verstanden. Pischinger (1985) wählte dafür die Bezeichnung »vegetatives Grundsystem« oder kürzer »Grundsystem«. Die Begriffe »Matrix« und »Grundsystem« sind Synonyma. Auf der Ebene der Matrix finden wir fließende Übergänge von den festen Strukturen der Fasern, Nervenendigungen und Kapillaren über zäh visköse, fließende Verbindungen, die optisch den Faserstrukturen ähneln, bis hin zu langkettigen Molekülen und sehr variablen Molekülagglomerationen, die sich biochemisch und biophysikalisch organisieren. Langkettige Moleküle hängen wie die Äste eines Tannenbaums an den feinsten Endfasern des Bindegewebes. Dazwischen lagern sich kurzkettige Moleküle und Wasser an (Abb. 3). Das Wasser liegt in der Matrix einmal als Flüssigkeit, dann aber auch als eine Art Flüssigkristall vor. In dieser Matrix findet u.a. der Stoffaustausch der Körperzellen statt. Für den geregelten Stoffaustausch bilden sich in der Matrix u.a. passagere elektrisch geladene Tunnelstrukturen, die durch ihre unterschiedliche Ladung (siehe Abb. 3) den Stofftransport ermöglichen, ohne dass sofort chemische Bindungsreaktionen einsetzen. Alle Körperzonen, alle Gewebe stehen über die Matrix untereinander in struktureller, funktioneller, neuronaler und biochemischer Beziehung (Bergsmann 1984). Das Bindegewebe und der Interzellularraum mit der Matrix, die diesen Raum ausfüllt, die grenzenlose Region zwischen den Zellen – sie bilden die anatomische Grundlage schrankenloser Verknüpfungen (Friedl 2004). Hier dürften sich viele der Regulationsphänomene realisieren, die wir mangels besserer Begriffe als »energetisch« bezeichnen. Dazu zählen die Akupunkturmeridiane, die Chakren und manche Somatotopien.
Abb. 2_Zwischenzellraum mit Parenchymzellen [1], Fibrozyt [2], Gefäß [3], Lymphozyt [4], freier vegetativer Nervenendigung [5], kollagenen [6] und elastischen Fasern [7]
Abb. 3_Matrix – an kollagene Fasern [1] angelagerte Proteoglykan- [2] und Polysaccharidbäumchen [3], an denen Wasser in flüssiger [4] und halbkristalliner [5] Form andockt, sowie geladene Transporttunnel [6]
Im bindegewebigen Grundgerüst zwischen den Körperzellen enden die vegetativen Nervenfasern, die u.a. als Rezeptoren für die afferente Reizleitung in Richtung Gehirn agieren (Bhowmick 2009). Wir finden eine große Anzahl von Spannungs-, Druck- und Schädigungsrezeptoren in allen Strukturen des Bindegewebes (Andrecht 2008, 2010). Im Zwischenzellraum finden der Stoffaustausch von Nahrungssubstraten und Abbausubstanzen sowie vielfältige immunologische Vorgänge statt (Mense et al. 1996). Biochemische Reize z.B. an der Hand lösen mit kaum messbarer Zeitverzögerung Ladungsveränderungen in fern gelegenen Körperarealen, z.B. am Fuß, aus (Jodometrie von Pischinger, 1985). Die mechanische Reizung der im Bindegewebe liegenden Rezeptoren, biochemische und immunologische Belastungen sind die wichtigsten Auslöser für Schmerzwahrnehmungen in unserem Bewegungsapparat.
Zusammenfassend können wir über die Eigenschaften und Funktionen der Bindegewebe und Faszien Folgendes sagen:
• Die Fasern des Bindegewebes durchziehen kontinuierlich unseren ganzen Körper. Die anatomische Abgrenzung eines Muskels oder einer Sehne stellt eine didaktische und/oder theoretische Vereinfachung dar. Mithilfe von Präparationstechniken mit entsprechender Zielsetzung kann die jeweilige anatomische Struktur sehr unterschiedlich dargestellt werden. Tatsächlich verlaufen die Bindegewebsfasern ohne Unterbrechung vom Muskel über die Sehne ins Periost und von dort in das Bindegewebsgerüst eines Knochens usw. Auf diesen Wegen verzweigen sich die Fasern dreidimensional in alle denkbaren Richtungen.
• Das Bindegewebe bietet spezialisierten Organzellenn darunter auch den Muskelzellen, ein Formgerüst und prägt damit die Gestalt und die Funktion eines Organs (Fukanaga et al. 2002). Alle Organe sind mit Bindegeweben umgeben und von ihnen durchzogen.
• Lockeres Bindegewebe und Faserverdichtungen wie die Faszien bilden die Leitstrukturen für Nerven und Gefäße. Sie unterstützen den Fluss im Venen- und Lymphsystem.
• Lockeres Bindegewebe ermöglicht die Bewegungen zwischen aneinander angrenzenden Strukturen bzw. Organen. Das Bindegewebe dämpft dabei die Auswirkungen von Druck und Reibung (Schleip 2004).
• Faszien dienen der Abgrenzung von Funktionsräumen und ermöglichen dabei eine reibungsarme Verschiebung der benachbarten Gewebe zueinander.
• Das Bindegewebe bietet Ansatzflächen für die Muskulatur. In Form von Faszien und Bändern bildet es Haltestrukturen, Umlenkrollen und kontrolliert den Bewegungsablauf. Es überträgt statisch-dynamische Kräfte punktuell, flächig und dreidimensional.
• Bindegewebe kann sich elastisch zusammenziehen und dehnen. Unter hoher Beschleunigung wird es straff und hart – wie ein Sicherheitsgurt (Schleip und Klingler 2007, 2010). Bei langsamen Bewegungen reagiert es plastisch. Diese Fähigkeit dient dem Schutz des Gewebes. Kommt jemand mit einer schnellen, heftigen Bewegung auf meinen Körper zu, werde ich mich dicht machen, um mich vor Verletzungen zu schützen (Kursskript Basisseminar Ortho-Bionomy®, Teil 1, Januar 2014, Michaela Wiese, Klaus G. Weber, Deutsches Institut für Ortho-Bionomy®). Die Fähigkeit, einerseits hohe Stabilität mit straffem Halt realisieren zu können, andererseits unter anderen Bedingungen weich, verformbar und fließend reagieren zu können, bezeichnet man als Biplastizität (Paoletti 2001).
• Auf mikroskopischer, mehr noch auf molekularer Ebene ist Bindegewebe stark verformbar. Unter Krafteinwirkung von außen ändert sich die Mikrofaseranordnung und passt sich mit veränderten Faserausrichtungen und Kraftübertragungen den neuen räumlichen Anforderungen an (Schleip et al. 2012, Standley 2007). Eine sehr vereinfachte Form dieser Anpassungsfähigkeit kennen wir von architektonischen Tensegrity-Modellen, die sehr gut Schwingungsbelastungen kompensieren können.
• Das Bindegewebe ist reich an vegetativen Nervenendigungen, die frei im Zwischenzellgewebe enden. Viele dieser Nervenendigungen sind sensorisch; sie nehmen Informationen auf bezüglich Gewebespannung, Druck, Zug, chemischen und thermischen Belastungen. In der Matrix wird die jeweils sympathikotone oder parasympathische Stoffwechsellage realisiert.
• Gleichzeitig scheint die die Nervenendigungen umgebende Matrix die Fähigkeit zur Informations- bzw. Reaktionsspeicherung zu besitzen. Stressreize, egal, ob körperlich oder emotional, wirken sich auf das Bindegewebe aus und werden dort lokal gespeichert. Das physische Substrat dieser Speicherfähigkeit könnten u.a. zu Großkomplexen semikristallin konjugierte Wassermoleküle sein. Wir vermuten, dass die Grundlagen der wachgerufenen Erinnerung außerhalb des ZNS gespeichert sind, obwohl das Bewusstwerden der Erinnerungen natürlich nur über die Großhirnrinde möglich ist. Hierzu liegen einige wissenschaftliche Hinweise vor. Auf Lichtreize konditionierte Plattwürmer übertragen ihr Verhalten auf Artgenossen, wenn sie an diese verfüttert werden. Mehrfach wurde berichtet, dass die Empfänger von Organspenden neue Essgewohnheiten oder Interessen entwickelten, die denen der Spender entsprachen.
• Die im Grundsystem vorhandenen weißen Blutkörperchen sind Bestandteil des Immunsystems. Deswegen finden Entzündungsprozesse in hohem Maße in den Bindegeweben der Organe, ihren Hüllstrukturen und in den Faszien statt. Bindegewebe stellen dabei gleichzeitig sowohl Grenzbarrieren wie Leitbahnen für die Ausbreitung von Entzündungen dar.
Die NRT (Neurophysiologisch-Reflektorische Therapie) vereint mehrere reflektorisch wirkende Techniken zu einem einheitlichen und umfassenden Therapiekonzept. Die NRT aktiviert und entlastet viszerale und parietale Strukturen – die inneren Organe und die Muskulatur. Lokaler Stress mit seinen mechanischen und biochemischen Folgen wird reduziert. Mit der Anbahnung einer parasympathischen Stoffwechsellage kann das Gewebe und damit auch der Patient sich wieder regenerieren. In der NRT arbeiten wir mit folgenden therapeutischen Ansätzen:
• Neurolymphatische Reflexpunkte für Muskulatur und innere Organe
• Muskelenergietechniken – Isometrie und Isotonie
• Dynamische Integration vorgebahnter Bewegungsmuster (Movement Patterns)
• Gang- und Haltungsarbeit
• Selbstbehandlungstechniken
• Atemtechniken
Abb. 4_Das Spektrum der NRT-Techniken für die Behandlung der Wirbelsäule
Jede funktionelle Behandlung eines Patienten mit manuellen oder Bewegungstechniken beruht im Prinzip auf dem Wirkschema: Reizsetzung Reizverarbeitung
Reizbeantwortung.
Für die Reizsetzung haben wir die Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Optionen. Wir können Stressreize anbieten, um die Regelsysteme unseres Patienten sympathikoton anzuregen, oder wir arbeiten umgekehrt mit Entlastungsreizen.
Die meisten unserer Patienten leben unter hoher Belastung in engen Zeittakten. Disstress ist sozusagen unser Alltag. Stressinduzierende Techniken produzieren regulationsphysiologisch gesehen nur mehr vom Gleichem. Deshalb ist eine entlastende und ressourcenorientierte Therapie meist die wirksamere und deutlich angenehmere Wahl für unsere Patienten.
Die Reizsetzung muss in der Quantität wie in der Qualität auf den Einzelnen abgestimmt werden.
Zu viele unterschiedliche, zu oft wiederholte und zu intensive Reize führen reflektorisch entweder zu Abwehr- oder zu Ausblendungsreaktionen. Die eingesetzten Techniken werden dadurch ineffektiv und deshalb sinnlos. Unser therapeutisches Handeln kann bei einer Reizüberflutung vom Patienten weder bewusst nachvollzogen noch sinnvoll physiologisch integriert werden.
Für die bewusste Eigenwahrnehmung des Körpers ist das zentrale Nervensystem der dominierende, aber nicht ausschließliche Reizvermittler. Ein Beispiel ist die myofasziale Selbstorganisation von Muskelfunktionsketten, die extrapyramidal gesteuert, nicht bewusst wahrgenommen und auch nicht bewusst gespürt wird.
Alle in diesem Buch vorgestellten Techniken zur Behandlung der Wirbelsäule bzw. des Rückens zielen ab auf eine Informationsdosierung, die eine optimale Reizverarbeitung durch unsere Patienten ermöglicht. Dabei müssen wir stets die Grenzen der individuell möglichen physiologischen, kognitiven und gegebenenfalls auch emotionalen Verarbeitungskapazitäten beachten.
Zu viele, zu starke oder zu fremdartige Reize führen ebenso wie Disstressreize – Schmerzen oder eine andere nozizeptive Stimulation –, wenn nicht zu Abwehr- oder Ausblendreaktionen, dann doch zumindest zu einer sympathikusbetonten Regulationslage. Die Sympathikusstimulation ist eine Möglichkeit, physiologisch in Regelmechanismen einzugreifen. Sie hat aber den Nachteil, dass sie sich nur in einem recht engen Rahmen und nur bei gut belastbaren Patienten – und welcher Patient ist das schon – therapeutisch effektiv und sinnvoll einsetzen lässt. Wenn eine sympathische Reizqualität fein genug dosiert wird, kann man sie mit einem Weckimpuls für das Regelsystem vergleichen. Zu häufige Stressreize werden, wie schon ausgeführt, selbst bei technisch einwandfreier Anwendung zu Überlastungsreaktionen führen. Ein Beispiel hierfür sind die hypermobilen Segmente nach kurzfristig wiederholten Traktionsmanipulationen.
Die sympathische Regulationslage steht für Aktivität, Flucht, Angriff, Verteidigung. Eine parasympathische Regulation steht für Ruhe, Entlastung, Regeneration und Gewebeaufbau. In unserer Arbeit hat sich ein ressourcenorientiertes therapeutisches Angebot mit der Stimulation parasympathischer Reaktionsweisen sehr bewährt.
Aus diesem Grund sollen bei allen Techniken der NRT konsequent die folgenden Behandlungsprinzipien umgesetzt werden. Nur so ist ein ressourcenorientiertes Arbeiten mit der gezielten Aktivierung der Selbstregulation in parasympathischer Reaktionslage gewährleistet.
1. Tue wenig (präzise Reizsetzung), lass viel geschehen (Reaktionszeit lassen)
• Damit meinen wir, dass die Reizmenge angemessen sein muss. Zu viele Informationen überfordern die Patienten. Wenn jemand krank ist:
Einfachheit: Die Behandlung erfolgt in überschaubaren, in für den Patienten nachvollziehbaren Schritten.
Timing: Dem Patienten wird genug Zeit gelassen, die Abläufe in Ruhe zu realisieren.
Dosis: Die Informationsmenge ist abgestimmt auf den Patienten.
2. Kein Griff, keine Lagerung darf unangenehm, beunruhigend oder schmerzhaft sein. Finde eine angenehme Lage oder Bewegung für den Patienten
• Schmerz, Angst, Missempfindungen lösen Stress aus.
Stress aktiviert eine sympathikotone Regulation
Daraus erfolgt eine Beeinträchtigung der Heilung.
• Entlastung und Entspannung
fördern die Regeneration in einer eher parasympathischen Stoffwechsellage.
3. Gehe mit dem Organismus, und betone das vorgefundene Muster
• Das Betonen oder Überzeichnen eines Regulationsmusters macht dieses »bewusst«, stimuliert reflektorisch die Gegenregulation.
• Beispiele:
Myofaszialer Hartspann Annähern der Ansatzzonen
Hinkmuster Übertreiben des Hinkmusters
4. Das Behandlungsergebnis wird nicht vordefiniert
• Die Behandlung stellt immer nur ein Angebot dar.
• Wir werden nie versuchen, eine Spannung zu »lösen«, da der Hartspann die beste Form der Selbstorganisation darstellen könnte.
• Durch eine als positiv wahrgenommene Reaktion wie z.B. eine Entspannung finden wir das jeweilige Therapieangebot bestätigt. Anderenfalls ist das therapeutische Vorgehen zu überprüfen.
5. Respektiere die Wahrnehmung und Reaktion deiner Patienten
• Nur der Patient kann uns mitteilen, ob eine Bewegung oder Positionierung für ihn wirklich angenehm und entlastend ist.
• Die ernst gemeinte Frage »Ist diese Position angenehm, irritierend, langweilig, unangenehm?« schult rasch und effektiv die Selbstwahrnehmung der Patienten hinsichtlich der Nozizeption und der eigenen Ressourcen.
6. Die Behandler sorgen dafür, dass es ihnen bei der Arbeit körperlich und psychisch so gut wie möglich geht.
• Wir erwarten nicht, dass Sie Ihrer Arbeit nur dann nachgehen, wenn Sie sich vollkommen wohlfühlen.
• Es geht uns darum, Doppelbotschaften zu vermeiden.
• Wenn eine Technik uns körperlich anstrengt oder anderweitig belastet, wird der Patient sich nicht entspannt darauf einlassen können, wenn wir nicht offen und bewusst mit unseren Problemen umgehen. Ohne diese Voraussetzung wird der Patient als Selbstschutz unwillkürlich eine Kontrollspannung aufrechterhalten.
• Am Beispiel des Therapeuten, der dafür sorgt, dass es ihm gut geht, lernt der Patient besonders leicht, die oben genannten Prinzipien ernst zu nehmen.
Wir laden Sie ein, diese Behandlungsregeln, die wir im Anhang noch ausführlich begründen, auf alle von Ihnen gewählten Techniken zu übertragen. Je vertrauter Ihnen die Behandlungsprinzipien werden, desto leichter wird es Ihnen fallen, sie bei den Therapieverfahren umzusetzen, die Sie bereits gut beherrschen. Sie werden beobachten, dass Ihre Behandlungen unter Berücksichtigung der Behandlungsprinzipien effektiver und zugleich für Sie selbst und für Ihre Patienten angenehmer werden.
Eine ausführliche Darstellung der Behandlungstechniken der NRT finden Sie im Anhang.