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ZUM BUCH

Durch einen gigantischen Atomkrieg wurde die Erdoberfläche komplett verstrahlt und unbewohnbar gemacht. Nur wenige Menschen konnten sich retten, indem sie ins All flüchteten. Dort leben ihre Nachkommen seitdem unter schwierigsten Bedingungen auf drei Raumschiffen. Wer gegen die autoritären Strukturen aufbegehrt, wird zum Tode verurteilt. 100 Jugendliche warten in Zellen auf ihr Ende – doch dann wird ihnen ein überraschendes Angebot gemacht: Sie sollen auf den blauen Planeten zurückkehren. Niemand weiß, ob und wie lange man dort als Mensch mittlerweile überleben kann. Oder ob sich die Versuchskaninchen nicht gegenseitig umbringen. Aber sie alle ergreifen ihre Chance: die starke und idealistische Clarke, die einen Fehltritt in der Vergangenheit bitter bereut. Wells, der Sohn des mächtigen Kanzlers, der hofft, auf der Erde um seine große Liebe kämpfen zu können. Bellamy, der seine verurteilte Schwester retten will, koste es, was es wolle. Und 97 andere, von denen nicht einmal alle die Ankunft auf der Erde überstehen werden …

ZUR AUTORIN

Kass Morgan studierte an der Brown University bis zum Bachelor und absolvierte anschließend ein Masterprogramm in Oxford. Derzeit lebt sie als Lektorin und freie Autorin in Brooklyn. Noch vor Erscheinen ihres ersten Buches, Die 100, konnte sie bereits die Rechte der Serienverfilmung verkaufen.

Kass Morgan

Die 100. Roman

Aus dem Amerikanischen

von Michael Pfingstl

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The 100 bei Little, Brown and Company, New York


Copyright © 2013 by Alloy Entertainment

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Key Artwork © 2015 Warner Bros. Entertainment Inc.

All Rights Reserved.

Redaktion: Lars Zwickies

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15602-2
V005


www.heyne-fliegt.de

Für meine Eltern und Großeltern,

in Liebe und Dankbarkeit

Danksagung

Unermesslichen Dank schulde ich Joelle Hobeika, die nicht nur die Grundidee zu dieser Geschichte hatte, sondern mit Fantasie, Beharrlichkeit und Verlegergeist das Buch erst möglich gemacht hat. Das Gleiche gilt für Katie McGee, Elizabeth Bewley und Farrin Jacobs, deren unablässige Nachfragen und intelligenten Anregungen dieses Buch auf allen Ebenen beeinflusst haben. Dankbar bin ich außerdem den unfassbar klugen Mitarbeitern von Alloy, vor allem Sara Shandler, Josh Bank und Lanie Davis sowie den engagierten Teams von Little, Brown und Hodder & Stoughton.

Ein weiterer Dank für Unterstützung und Zuspruch geht an meine außergewöhnlichen Freunde auf beiden Seiten des East River, des Gowanus Canal, des Mississippi und des Atlantiks. Eine besondere Würdigung an meine Mitwisser und Mitverschwörer am Broadway 557, an die Crossroads-Mannschaft, die mir die Science-Fiction nähergebracht hat, und an Rachel Griffiths, deren Unterstützung auf meinem Weg zur Schriftstellerin und Lektorin Lichtjahre über das hinausging, was irgendjemand von ihr verlangen konnte.

Der größte Dank geht an meine Familie: an meinen Vater Sam Henry Kass, dessen Texte nur so überborden vor Witz und Herz, an meine Mutter, Marcia Bloom, deren Kunst erfüllt ist von der Weisheit einer Philosophin und der Seele einer Ästhetin, an meinen genialen Bruder Petey Kass, der mich zum Lachen bringt, bis ich nicht mehr kann, an meine stets inspirierenden Großeltern Nance, Peter, Nicky und David sowie die Kass-, Bloom- und Greenfield-Klans, die mir an so vielen Orten ein Zuhause geben.

1

Clarke

Die Tür glitt zur Seite, und Clarke wusste, dass es Zeit war zu sterben.

Sie sah nur die Stiefel des Gardisten, der in ihre Zelle kam, und setzte sich auf. Ihr schweißnasses Hemd löste sich schmatzend von der Pritsche, und sie machte sich bereit für die Angst, das Adrenalin, den Anfall wilder Panik. Doch alles, was sie spürte, war Erleichterung.

Nachdem sie eine der Wachen angegriffen hatte, war sie in eine Einzelzelle verlegt worden, doch für Clarke gab es so etwas wie Einsamkeit nicht. Sie hörte Stimmen, überall. Aus den dunklen Ecken der Zelle riefen sie ihr zu, füllten die Stille zwischen ihren Herzschlägen, schrien aus den tiefsten Schlupfwinkeln ihres Bewusstseins. Sie sehnte sich nicht nach dem Tod, aber wenn es der einzige Ausweg war, um diesen Stimmen zu entkommen, dann war sie bereit zu sterben.

Sie war wegen Verrats verurteilt worden, doch die Wahrheit war viel schlimmer. Selbst wenn ein Wunder geschah und sie im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurde – für Clarke gab es keine Erlösung. Ihre Erinnerungen waren entsetzlicher als jede Strafe.

Der Gardist trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und räusperte sich. »Gefangene Nummer 319, bitte stehen Sie auf.« Er war jünger, als sie erwartet hatte, und die Uniform hing ihm lose von den schmalen Schultern. Offensichtlich war er gerade erst rekrutiert worden. Ein paar Monate Soldatenrationen reichten nicht aus, um das Gespenst der Unterernährung zu vertreiben, das auf den äußeren Kolonieschiffen Walden und Arcadia umging.

Clarke atmete tief durch und erhob sich.

»Strecken Sie die Hände vor«, sagte er und nahm ein paar Handschellen aus der Brusttasche seiner blauen Uniform.

Clarke erschauerte, als sie die Haut seiner Hände an ihrer spürte. Seit sie in Einzelhaft war, hatte sie nicht einen einzigen Menschen gesehen, geschweige denn berührt.

»Zu fest?« Der Hauch von Mitgefühl in seiner Stimme versetzte Clarke einen Stich. Der letzte Mensch, der sich um ihr Wohlergehen gesorgt hatte, war Thalia gewesen, ihre ehemalige Zellengenossin und einzige Freundin in diesem Leben, und das war eine Ewigkeit her. Sie schüttelte den Kopf.

»Setzen Sie sich einfach aufs Bett. Der Arzt ist schon auf dem Weg.«

»Sie wollen es hier tun?«, fragte Clarke heiser. Wenn der Arzt bereits unterwegs war, bedeutete dies, dass sie das Wiederaufnahmeverfahren gar nicht erst abwarteten. Doch das war nicht besonders überraschend. Laut Gesetz wurden Erwachsene sofort nach ihrer Verurteilung exekutiert. Minderjährige wurden bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag unter Arrest gestellt und bekamen dann ein Berufungsverfahren. Doch in letzter Zeit wurden praktisch alle Verurteilten schon wenige Stunden nach der zweiten Verhandlung hingerichtet, wegen Verbrechen, für die sie noch vor ein paar Jahren begnadigt worden wären.

Trotzdem war es schwer zu glauben, dass es tatsächlich in ihrer Zelle passieren würde. Clarke hatte sich, so pervers es auch war, beinahe auf diesen letzten Gang zur Krankenstation gefreut, wo sie während ihrer medizinischen Ausbildung so viel Zeit verbracht hatte. Auf diese letzte Chance, etwas Vertrautes zu erleben, auch wenn es nur der Geruch von Desinfektionsmitteln und das Summen des Ventilationssystems waren, bevor ihre Sinne für immer ausgelöscht wurden.

»Sie müssen sich setzen«, sagte der Gardist, ohne sie anzusehen.

Clarke ging noch ein paar Schritte durch die Zelle, dann setzte sie sich steif auf den Rand der schmalen Pritsche. In der Isolationshaft veränderte sich das Zeitgefühl, das wusste sie. Trotzdem konnte Clarke kaum glauben, dass sie beinahe sechs Monate allein hier ausgeharrt hatte. Das Jahr davor hatte sich im Vergleich dazu wie eine Ewigkeit angefühlt. Sie waren zu dritt in der Zelle gewesen: Clarke, Thalia und Lise, ein Mädchen mit strengem Blick, das erst gelächelt hatte, als Clarke in die Isolationshaft verlegt wurde. Trotzdem gab es keine andere Erklärung: Heute musste ihr achtzehnter Geburtstag sein, und ihr einziges Geschenk war eine Spritze, die ihre Muskeln lähmte, bis ihr Herz aufhörte zu schlagen. Danach würde ihre Leiche, wie es in der Kolonie üblich war, dem Weltraum überantwortet und bis ans Ende aller Zeiten durchs All treiben.

Eine Gestalt erschien im Türrahmen, und ein großer schlanker Mann trat in die Zelle. Obwohl sein graues schulterlanges Haar die Plakette am Kragen des Laborkittels teilweise verdeckte, erkannte Clarke ihn als den medizinischen Chefberater des Rats. Vor ihrer Verurteilung war sie Doktor Lahiri über ein halbes Jahr lang praktisch auf Schritt und Tritt gefolgt. Die Stunden, die sie im Operationssaal an seiner Seite verbracht hatte, konnte sie gar nicht mehr zählen. Die anderen Auszubildenden hatten Clarke beneidet und auf der Stelle Bevorzugung gewittert, als sie herausfanden, dass Doktor Lahiri einer der engsten Freunde ihres Vaters war. Oder es zumindest vor der Hinrichtung ihrer Eltern gewesen war.

»Hallo, Clarke«, sagte er freundlich, als wären sie in der Krankenhauskantine und nicht in einer Todeszelle. »Wie geht es dir?«

»Besser als in ein paar Minuten, schätze ich.«

Doktor Lahiri hatte Clarkes schwarzen Humor immer gemocht, doch diesmal lachte er nicht. »Wenn Sie ihr bitte die Handschellen abnehmen und uns einen Moment allein lassen würden?«, sagte er zu dem Gardisten.

Der Wachsoldat wand sich unbehaglich. »Meine Befehle lauten, die Gefangene nicht aus den Augen zu lassen.«

»Sie können gleich vor der Tür warten«, erwiderte Lahiri betont gelassen. »Sie ist unbewaffnet und erst siebzehn. Ich denke, ich habe die Situation im Griff.«

Der Gardist wich Clarkes Blick aus, als er ihr die Handschellen abnahm. Dann nickte er Doktor Lahiri kurz zu und ging hinaus.

»Sie meinen: Ich bin achtzehn und unbewaffnet«, korrigierte Clarke und zwang sich zu einem Lächeln. »Oder gehören Sie jetzt auch zu diesen verrückten Wissenschaftlern, die nicht einmal mehr wissen, welches Jahr wir haben?« Ihr Vater war so einer gewesen. Immer wieder hatte er vergessen, die Lichtautomatik zu programmieren, und war um 0400 zur Arbeit gegangen, so sehr in seine Forschungen versunken, dass er nicht merkte, wie verlassen sämtliche Korridore auf dem Weg dorthin waren.

»Du bist immer noch siebzehn, Clarke«, berichtigte Doktor Lahiri und sprach so langsam, wie er es sonst nur bei Patienten tat, die gerade aus der Narkose erwachten. »Deine Isolationshaft dauert erst drei Monate.«

»Was tun Sie dann hier?«, fragte sie und konnte die Panik in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Laut Gesetz müssen Sie warten, bis ich achtzehn bin.«

»Das Verfahren hat sich geändert. Das ist alles, was ich dir sagen darf.«

»Aha, hinrichten dürfen Sie mich also, aber nicht mit mir sprechen.« Sie dachte an Lahiris Gesichtsausdruck während der Verhandlung ihrer Eltern. Damals hatte sie seine versteinerte Miene als ein Zeichen der Missbilligung gedeutet, doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Lahiri hatte nichts zu ihrer Verteidigung gesagt. Genau wie alle anderen hatte er nur stumm dagesessen, während der Rat Clarkes Eltern – zwei der brillantesten Wissenschaftler auf der Phoenix – für schuldig befand, gegen die Gaia-Doktrin verstoßen zu haben, die nach der Stunde Null verhängt worden war.

»Wie war das mit meinen Eltern? Haben Sie die auch umgebracht?«, fragte sie.

Doktor Lahiri schloss die Augen, als hätten Clarkes Worte sich in ein Monster verwandelt, das ihm jetzt höhnisch ins Gesicht grinste. »Ich bin nicht hier, um dich zu töten«, erwiderte er leise. Er öffnete die Augen wieder und deutete auf den Hocker, der am Ende von Clarkes Pritsche stand. »Darf ich?«

Als Clarke keine Antwort gab, nahm er den Hocker und setzte sich direkt vor sie. »Darf ich deinen Arm sehen?«

Clarke spürte, wie es ihr die Brust zusammenschnürte. Lahiri war ein verdammter Heuchler. Diese ganze Prozedur war grausam und pervers, aber in einer Minute würde alles vorbei sein. Sie streckte den Arm aus.

Doktor Lahiri griff in die Brusttasche seines Kittels und zog ein Tuch heraus, das nach Desinfektionsmittel roch. Clarke zitterte, als er damit über die Innenseite ihres Handgelenks fuhr.

»Keine Sorge. Es wird nicht wehtun.«

Clarke schloss die Augen. Sie dachte an Wells’ verzweifelten Blick, als die Wachen ihre Eltern aus der Ratskammer eskortiert hatten. Der Zorn, der sie während der Verhandlung beinahe aufgefressen hatte, war längst verflogen, doch jetzt durchzuckte sie die Erinnerung an Wells wie ein Blitz, wie das letzte Gleißen eines Sterns, kurz bevor er für immer verlosch. Ihre Eltern waren tot, und das war seine Schuld.

Lahiri umfasste ihr Handgelenk und tastete nach der Vene.

Wir sehen uns gleich, Mom und Dad.

Sein Griff wurde fester. Es war so weit. Clarke spürte einen kleinen Einstich und atmete tief ein.

»Fertig«, sagte Lahiri.

Sie riss die Augen auf und blickte nach unten. Ein Metallarmband umschloss ihr Handgelenk. Als sie es ungläubig betastete, spürte sie tausend kleine Nadelstiche an der Stelle, wo die Pulsadern verliefen. Clarke fuhr zusammen. »Was ist das?«, rief sie panisch und riss sich von dem Arzt los.

»Entspann dich«, erwiderte er mit unerträglicher Gelassenheit. »Das ist ein Vital-Transponder. Er überwacht deine Atmung und die Blutwerte und sammelt noch allerlei andere nützliche Informationen.«

»Nützlich für wen?«, hakte Clarke nach, auch wenn ihr das ungute Gefühl in ihrem Magen bereits sagte, in welche Richtung die Antwort gehen würde.

»Es hat ein paar aufregende Entwicklungen gegeben«, erklärte Lahiri und klang wie eine billige Imitation von Wells’ Vater, Kanzler Jaha, wenn er eine seiner Gedenktagsreden hielt. »Du solltest stolz sein. Das alles haben wir allein deinen Eltern zu verdanken.«

»Meine Eltern wurden wegen Verrats hingerichtet.«

Doktor Lahiri warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Noch vor einem Jahr wäre Clarke vor Scham im Boden versunken, aber jetzt zuckte sie nicht mit der Wimper. »Vergib diese Chance nicht. Du hast die Möglichkeit, das Richtige zu tun und das entsetzliche Verbrechen deiner Eltern wiedergutzumachen.«

Mit einem lauten Krachen landete Clarkes Faust mitten in Lahiris Gesicht, gefolgt von einem dumpfen Knall, als sein Hinterkopf gegen die Wand schlug. Der Wachposten, der draußen gewartet hatte, kam hereingestürmt und drehte Clarke die Hände auf den Rücken. »Alles in Ordnung, Sir?«, fragte er.

Lahiri setzte sich langsam auf und rieb sich das Kinn, während er Clarke halb wütend, halb amüsiert musterte. »Zumindest wissen wir jetzt, dass du dich unter den anderen Delinquenten behaupten kannst, wenn ihr dort seid.«

»Wenn wir wo sind?«, schnaubte Clarke und versuchte, sich aus dem Haltegriff zu befreien.

»Noch heute wird der gesamte Arrestflügel geräumt. Einhundert Kriminelle wie du bekommen die Chance, Geschichte zu schreiben.« Lahiris Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Ihr fliegt zur Erde.«

2

Wells

Der Kanzler war alt geworden. Obwohl Wells seinen Vater erst vor weniger als sechs Wochen zuletzt gesehen hatte, wirkte er um Jahre gealtert. An den Schläfen entdeckte Wells neue graue Strähnen, und die Falten um seine Augen waren tiefer geworden.

»Sagst du mir jetzt endlich, warum du es getan hast?«, fragte der Kanzler mit einem erschöpften Seufzen.

Wells rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er spürte, wie die Wahrheit versuchte, aus ihm herauszubrechen. Er hätte alles gegeben, um die Enttäuschung aus dem Gesicht seines Vaters zu verscheuchen, aber er konnte es nicht riskieren. Nicht bevor er wusste, ob sein gefährlicher Plan aufgegangen war. Er vermied jeden Augenkontakt und ließ seinen Blick über die Reliquien gleiten, die er vielleicht zum letzten Mal sah: das Adlerskelett in der Glasvitrine, die wenigen Gemälde, die den Brand des Louvre überlebt hatten, und die Fotos all der wunderschönen entvölkerten Städte, deren Namen Wells nach wie vor Schauder über den Rücken jagten.

»War es eine Mutprobe? Wolltest du vor deinen Freunden angeben?« Der Kanzler sprach in demselben leisen, getragenen Tonfall, den er bei Anhörungen vor dem Rat benutzte. Schließlich hob er eine Augenbraue als Zeichen dafür, dass er eine Antwort erwartete.

»Nein, Sir.«

»Bist du vorübergehend dem Wahnsinn verfallen? Warst du auf Drogen?« In seiner Stimme schwang ein Anflug von Hoffnung mit, den Wells in einer anderen Situation durchaus amüsant gefunden hätte. Aber im Blick seines Vaters lag nicht das kleinste bisschen Humor, sondern eine Mischung aus Erschöpfung und Verwirrung, die Wells seit der Beerdigung seiner Mutter nicht mehr an ihm gesehen hatte.

»Nein, Sir.«

Einen Moment lang verspürte Wells den Wunsch, seinen Vater zu berühren. Doch es lag nicht an den Fesseln um seine Handgelenke, dass er es nicht tat. Etwas anderes hielt ihn davon ab, ihm über den Tisch hinweg die Arme entgegenzustrecken. Selbst als sie vor der Schleuse gestanden hatten, um seiner Mutter ein letztes Lebewohl zu sagen, hatte er die dreißig Zentimeter Abstand zwischen ihnen nicht überbrücken können. Es war, als hätte die Trauer sie zu gleichpoligen Magneten gemacht, die einander abstießen.

»Wolltest du ein politisches Statement abgeben?« Sein Vater zuckte leicht, als wäre der Gedanke für ihn wie eine Ohrfeige. »Hat jemand von der Walden oder der Arcadia es dir eingeredet?«

»Nein, Sir«, antwortete Wells und unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Anscheinend hatte sein Vater die letzten sechs Wochen damit verbracht, sein Bild von Wells zu dem eines Rebellen umzugestalten. Offenbar verstand er einfach nicht, wie der ehemalige Musterschüler und vorbildliche Kadett den öffentlichsten Gesetzesbruch aller Zeiten hatte begehen können. Aber selbst die Wahrheit hätte seine Verwirrung nicht gelindert. Für den Kanzler gab es keine Rechtfertigung dafür, den Eden-Baum in Brand zu stecken, jenen Setzling, der kurz vor dem großen Exodus an Bord der Phoenix gebracht worden war. Trotzdem war Wells keine andere Wahl geblieben. Nachdem er herausgefunden hatte, dass Clarke zu den hundert Delinquenten gehörte, die auf die Erde geschickt wurden, hatte er etwas unternehmen müssen, um ebenfalls dabei zu sein. Und als Sohn des Kanzlers konnte ihn nur ein schweres öffentliches Verbrechen in die Arrestzelle bringen.

Er dachte daran zurück, wie er sich während der Gedenktagsfeierlichkeiten durch die Menge geschoben hatte. Hunderte Augen waren auf ihn gerichtet gewesen, und seine Hand hatte gezittert, als er das Feuerzeug hervorgezogen und ihm einen grellen Funken entlockt hatte. Einen Moment lang hatten alle nur stumm auf die Flammen gestarrt, die den Baum umschlossen. Dann waren die Wachen vorwärtsgestürzt und hatten Wells gepackt, und trotz des entstandenen Chaos hatte jeder genau mitbekommen, wer da fortgeschleppt worden war.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte der Kanzler und starrte ihn ungläubig an. »Du hättest den ganzen Saal niederbrennen und jeden darin töten können.«

Besser, er log. Sein Vater würde leichter damit zurechtkommen, wenn er glaubte, es wäre eine Mutprobe gewesen. Oder Wells tat so, als wäre er tatsächlich auf Drogen gewesen. Beide Möglichkeiten waren für den Kanzler besser zu ertragen als die Wahrheit: dass er es wegen eines Mädchens getan hatte.

Die Tür der Krankenstation schloss sich hinter ihm, aber Wells’ Lächeln blieb wie eingefroren, als hätte die Kraft, die es gekostet hatte, die Mundwinkel nach oben zu ziehen, seine Gesichtsmuskeln dauerhaft beschädigt. In ihrem von Medikamenten benebelten Zustand hatte seine Mutter das erstarrte Grinsen wahrscheinlich für echt gehalten, und das war alles, was zählte. Sie hatte seine Hand gehalten, während die Lügen aus Wells herausströmten. Bittere, aber harmlose Lügen. Ja, Dad und mir geht es gut. Sie brauchte nicht zu wissen, dass die beiden in Wirklichkeit seit Wochen kaum mehr als ein paar Worte miteinander gesprochen hatten. Wenn es dir wieder besser geht, lesen wir Verfall und Untergang des Römischen Reiches zu Ende. Sie hatten beide gewusst, dass seine Mutter es nie bis zum letzten Kapitel schaffen würde.

Wells verließ das Krankenhaus und überquerte Deck B, das glücklicherweise vollkommen menschenleer war. Um diese Zeit waren die meisten entweder bei den Lernprogrammen, bei der Arbeit oder der Tauschbörse. Wells hätte eigentlich im Geschichtsunterricht sein sollen, seinem Lieblingsfach. Er liebte die Berichte über altehrwürdige Städte wie Rom oder New York, deren einstige Größe nur noch vom Drama ihres Untergangs übertroffen wurde. Aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, geschlagene zwei Stunden umgeben von Mitschülern zu verbringen, die seine Nachrichtenbox mit vagen, hilflosen Beileidsbekundungen überflutet hatten. Der einzige Mensch, mit dem er über seine Mutter sprechen konnte, war Glass, doch die war in letzter Zeit eigenartig distanziert gewesen.

Wells wusste nicht, wie lange er vor der Tür gestanden hatte, bis er merkte, dass er schon bei der Bibliothek angekommen war. Er wartete, bis der Scanner seine Augen abgetastet hatte, dann drückte er den Daumen auf das Erkennungsfeld. Die Tür glitt gerade so lange zur Seite, dass er hindurchschlüpfen konnte, und schloss sich sofort wieder mit einem verärgerten Schnappen, als hätte sie ihm einen unermesslichen Gefallen getan, ihn überhaupt durchzulassen.

Als er in die Stille und das Schummerlicht der Bibliothek eintauchte, entspannte er sich ein wenig. Die Bücher, die vor der Stunde Null auf die Phoenix gebracht worden waren, wurden in hohen, sauerstofffreien Vitrinen aufbewahrt, um den Verfallsprozess zu verlangsamen. Das war auch der Grund, warum man sie ausschließlich in der Bibliothek lesen durfte und selbst dann immer nur für ein paar Stunden. Der riesige Saal war vom künstlichen Tageslicht abgeschirmt und lag in ewigem Halbdunkel.

So lang er sich zurückerinnern konnte, hatte Wells jeden Sonntagabend hier mit seiner Mutter verbracht. Als er noch klein war, hatte sie ihm vorgelesen, später hatten sie mit ihren jeweiligen Büchern nebeneinandergesessen. Doch als ihre Krankheit voranschritt und die Kopfschmerzen immer schlimmer wurden, hatte Wells die Rolle des Vorlesers übernommen. Sie hatten gerade mit dem zweiten Band von Verfall und Untergang angefangen, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Er zwängte sich durch die schmalen Gänge bis zur Sektion mit den englischsprachigen Büchern und ging dort zu der dunklen Ecke mit der Geschichtsabteilung. Die Sammlung war kleiner, als sie hätte sein sollen. Zahlreiche Texte waren vor dem Exodus digital archiviert worden, doch knapp hundert Jahre später hatte ein Virus sie beinahe vollständig ausradiert. Die wenigen Bücher, die auf der Phoenix übrig geblieben waren, hatten sich alle in Privathänden befunden – Erbstücke aus Familienbesitz, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren. Nach und nach hatten die Eigentümer sie schließlich der Bibliothek gespendet.

Wells beugte sich hinunter zum Buchstaben G und drückte seinen Daumen auf das Schloss. Mit einem Zischen entwich das Vakuum, und die Glastür glitt zur Seite. Er wollte gerade nach Verfall und Untergang greifen, da hielt er plötzlich inne. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein Stückchen weiterzulesen und dann seiner Mutter davon zu erzählen. Doch jetzt kam es ihm vor, als könnte er ebenso gut mit ihrem Grabstein an ihr Bett kommen und sie fragen, was darauf stehen sollte.

»Man soll die Vitrinen nicht offen lassen«, sagte eine Stimme hinter ihm.

»Ja, danke«, erwiderte Wells etwas schärfer, als er beabsichtigt hatte. Er stand auf und drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mädchen und starrte ihn an. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Es gehörte der Arztschülerin aus dem Krankenhaus. Wells spürte einen Anflug von Wut angesichts dieser Überschneidung der Welten. Schließlich war die Bibliothek der Ort, an den er kam, um das Hospital zu vergessen – den Desinfektionsmittelgeruch und das Piepen des Herzmonitors, das schon lange kein Lebenszeichen mehr war, sondern ein Countdown zum Tod.

Das Mädchen machte einen Schritt zurück und neigte den Kopf zur Seite, sodass ihr helles Haar auf die linke Schulter fiel. »Ach, du bist es.«

Wells wartete auf die zuckenden Augenbewegungen, die verrieten, dass sie ihren Freunden über den Netzhauttransmitter eine Nachricht schickte. Doch der Blick des Mädchens blieb starr auf ihn gerichtet, als schaue sie direkt in ihn hinein und zerre all die Gedanken ans Licht, die er so sorgsam verbarg.

»Wolltest du das Buch nicht haben?« Sie deutete mit dem Kinn auf die Vitrine.

Wells schüttelte den Kopf. »Ich werde es ein andermal lesen.«

Sie schwieg einen Moment. »Ich glaube, du solltest es jetzt tun.« Wells’ Kiefermuskeln zuckten, aber er sagte nichts, also sprach sie weiter. »Ich hab dich oft mit deiner Mutter hier gesehen. Du solltest es ihr mitbringen.«

»Nur weil mein Vater Chef des Rats ist, kann ich nicht einfach ein dreihundert Jahre altes Gesetz brechen«, erwiderte er mit einem Hauch von Herablassung in der Stimme.

»Wegen ein paar Stunden wird dem Buch schon nichts passieren. Die negativen Auswirkungen von Sauerstoff werden überschätzt.«

Wells zog eine Augenbraue nach oben. »Und wird der Scanner am Ausgang auch überschätzt?« An fast jeder Durchgangstür auf der Phoenix befand sich ein programmierbarer Scanner. Am Eingang der Bibliothek durchleuchtete er jeden, der hinein- oder hinausging, nach Büchern, um sicherzugehen, dass niemand eins nach draußen schmuggelte.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Dafür habe ich schon vor langer Zeit eine Lösung gefunden.« Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter den schummrigen Gang entlang, dann griff sie in ihre Tasche und zog ein graues Stück Stoff hervor. »Das verhindert, dass der Scanner die Zellulose im Papier erfasst.« Sie hielt es ihm hin. »Hier. Nimm es.«

Wells machte einen Schritt zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Mädchen ihn bloßstellen wollte, war weit größer als die, dass sie auf Schritt und Tritt ein Wundertuch mit sich herumtrug. »Wieso hast du das?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich lese gern außerhalb der Bibliothek.« Als Wells nichts erwiderte, lächelte sie und streckte auch noch die andere Hand aus. »Gib mir einfach das Buch. Ich nehme es für dich mit ins Krankenhaus.«

Wells war selbst überrascht, als er gehorchte. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Damit du weißt, wem du auf immer und ewig zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet bist?«

»Damit ich weiß, wer schuld ist, wenn ich verhaftet werde.«

Das Mädchen klemmte sich das Buch unter den Arm und hielt ihm die Hand hin. »Clarke.«

»Wells.« Er lächelte, und diesmal tat es nicht einmal weh.

»Sie konnten den Baum gerade noch retten.« Der Kanzler starrte Wells an, als suche er nach einem Hinweis auf Reue oder wenigstens Schadenfreude, irgendetwas, das ihm verstehen half, weshalb sein Sohn versucht hatte, den einzigen Baum niederzubrennen, der es von der Erde ins All geschafft hatte. »Nicht wenige Ratsmitglieder wollten dich noch an Ort und Stelle hinrichten lassen, minderjährig oder nicht. Ich konnte es nur verhindern, indem ich sie überredete, dich auf die Erde zu schicken.«

Wells atmete erleichtert auf. Weniger als hundertfünfzig Jugendliche befanden sich im Moment unter Arrest. Wells war davon ausgegangen, dass nur die ältesten unter ihnen auf die Erde geschickt würden. Bis zu diesem Moment hatte er nicht sicher sein können, ob auch er dazugehörte.

Die Augen seines Vaters weiteten sich vor Überraschung, dann verstand er endlich. »Das war es, was du wolltest, oder?«

Wells nickte. Der Kanzler verzog das Gesicht. »Hätte ich gewusst, dass du unbedingt auf die Erde willst, hätte ich das leicht arrangieren können. Mit der zweiten Expedition, wenn wir wissen, dass es sicher ist.«

»Ich wollte nicht warten. Ich möchte zu den ersten Hundert gehören.«

Der Kanzler kniff die Augen ein Stück zusammen und musterte Wells’ teilnahmsloses Gesicht. »Warum? Gerade du weißt, wie gefährlich es ist.«

»Bei allem Respekt, du warst doch derjenige, der den Rat davon überzeugt hat, dass der nukleare Winter vorbei ist. Du hast gesagt, es wäre sicher.«

»Ja. Sicher genug für einhundert verurteilte Kriminelle, die so oder so sterben werden«, erwiderte der Kanzler mit einer Mischung aus Arroganz und Ungläubigkeit. »Ich habe nicht gemeint, sicher für meinen Sohn

Der Zorn, den Wells die ganze Zeit unterdrückt hatte, brach sich endlich Bahn und vertrieb seine Schuldgefühle. Er ballte die Fäuste und zerrte wütend an seinen Handschellen. »Wie es aussieht, bin ich jetzt einer von diesen verurteilten Kriminellen.«

»Deine Mutter würde das nicht wollen, Wells. Nur weil sie oft von der Erde geträumt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie dich einer solchen Gefahr ausgesetzt hätte.«

Wells beugte sich nach vorn und ignorierte den Schmerz, mit dem das Metall in seine Haut schnitt. »Ich mache das nicht ihretwegen«, fauchte er und blickte seinem Vater zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, in die Augen. »Auch wenn ich glaube, dass sie stolz auf mich wäre.«

Das stimmte sogar, zumindest teilweise. Sie hatte eine romantische Ader gehabt und hätte Wells’ Wunsch verstanden, das Mädchen, das er liebte, zu beschützen. Allerdings gab es noch etwas, das er getan hatte, und damit wäre sie kaum einverstanden gewesen. Den Eden-Baum anzuzünden erschien im Vergleich dazu wie ein harmloser Kinderstreich.

Sein Vater starrte ihn fassungslos an. »Willst du mir damit sagen, du hast dich wegen eines Mädchens in diese Lage gebracht?«

Wells nickte langsam. »Es ist meine Schuld, dass sie wie eine Laborratte da runtergeschickt wird. Und ich werde alles tun, damit sie lebend wieder zurückkommt.«

Der Kanzler blieb einen Moment lang still. Als er wieder etwas sagte, klang seine Stimme vollkommen ruhig. »Das wird nicht nötig sein.« Er zog etwas aus der Schublade und legte es vor Wells auf den Tisch. Es war ein Metallring mit einem etwa daumennagelgroßen Chip darauf. »Jeder der Expeditionsteilnehmer bekommt eins von diesen Armbändern«, erklärte er. »Sie stehen in ständiger Verbindung mit dem Schiff, damit wir euch orten und die Vitalfunktionen überwachen können. Sobald wir sicher sein können, dass der Planet wieder bewohnbar ist, beginnen wir mit der Wiederbesiedelung.« Er zwang sich zu einem entschlossenen Lächeln. »Wenn alles nach Plan läuft, kommen wir bald nach, und dann ist all das« – er deutete auf Wells’ Handfesseln – »vergeben und vergessen.«

Die Tür ging auf, und eine Wache trat ein. »Es ist Zeit, Sir.«

Auf ein Nicken des Kanzlers hin ging der Gardist zu Wells’ Stuhl und zog ihn auf die Beine.

»Viel Glück«, sagte sein Vater in dem für ihn typischen kühlen Tonfall. »Wenn irgendjemand diese Mission zum Erfolg führen kann, dann du.«

Er streckte den Arm aus, um Wells die Hand zu schütteln, ließ ihn aber gleich wieder fallen – die Hände seines einzigen Sohnes waren nach wie vor hinter seinem Rücken gefesselt.

3

Bellamy

Natürlich verspätete sich der eingebildete Scheißkerl. Bellamy tippte ungeduldig mit dem Fuß und scherte sich nicht um das Echo, das durch den Lagerraum hallte. Niemand kam mehr hierher, alles von Wert war schon vor Jahren nach oben gebracht worden. Jeder Quadratzentimeter war mit Müll bedeckt: Maschinenersatzteile, von denen niemand mehr wusste, wozu sie überhaupt gut waren, Papiergeld, endlose Stapel Kabelrollen, Bildschirme mit zersprungenen Displays.

Bellamy spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wirbelte herum und duckte sich, die Fäuste vors Gesicht gehoben.

»Entspann dich, Kumpel«, sagte Colton und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht. Er musterte Bellamy amüsiert. »Warum wolltest du mich ausgerechnet hier unten treffen?«, fragte er grinsend. »Hoffst du, auf einem der kaputten Computer alte Pornos zu finden? Ist nicht böse gemeint. Wenn ich wie du auf der Walden ein Mädchen am Hals hätte, würde ich wahrscheinlich auch ein paar seltsame Angewohnheiten entwickeln.«

Bellamy ignorierte die Stichelei. Sein ehemaliger Freund Colton mochte jetzt zur Garde gehören, aber ein Mädchen würde er trotzdem nie bekommen, egal auf welchem Schiff. »Sag mir einfach, was läuft, okay?«, erwiderte Bellamy bemüht freundlich.

Colton lehnte sich lächelnd gegen die Wand. »Lass dich von der Uniform nicht verwirren, Bruder. Ich habe die oberste Geschäftsregel nicht vergessen.« Er streckte die Hand aus. »Gib her.«

»Du bist hier der Verwirrte, Colt. Du weißt, ich liefere immer.« Er tätschelte die Tasche, in der er den Chip mit den gestohlenen Rationspunkten aufbewahrte. »Und jetzt sag mir, wo sie ist.«

Als Colton die Mundwinkel nach oben zog, spürte Bellamy unwillkürlich einen Druck auf der Brust. Seit Octavia verhaftet worden war, schmierte er Colt, damit er ihn auf dem Laufenden hielt, und der Idiot genoss es offenbar, schlechte Nachrichten zu überbringen.

»Sie werden heute losgeschickt.« Die Worte schlugen ein wie Fausthiebe. »Auf Deck G haben sie einen der alten Transporter wieder flugtauglich gemacht.« Wieder streckte er die Hand aus. »Jetzt gib schon her. Genug geplappert. Die Mission ist streng geheim, und ich riskiere hier meinen Arsch für dich.«

Bellamys Magen krampfte sich zusammen, als die Bilder vor seinem inneren Auge aufstiegen: seine kleine Schwester, die in einer fliegenden Metallkiste mit tausend Kilometern pro Stunde durchs All rast. Ihr Gesicht, das langsam blau anläuft, als sie versucht, die giftige Luft zu atmen. Ihr Körper, der am Boden liegt, reglos wie …

Bellamy machte einen Schritt auf Colt zu. »Tut mir leid, Mann.«

Coltons Blick wurde hart. »Was tut dir leid?«

»Das hier.« Bellamy holte aus und verpasste ihm einen Schlag direkt auf die Kinnspitze. Er hörte ein lautes Krachen, und sein Puls raste, als er sah, wie Colton zu Boden ging.

Dreißig Minuten später versuchte Bellamy die bizarre Szene zu begreifen, die sich vor seinen Augen abspielte. Er stand mit dem Rücken zur Wand in einem breiten Korridor und beobachtete, wie die grau gekleideten Verurteilten von einer Handvoll Wachen eine steile Rampe hinuntergeführt wurden. Am Ende der Rampe stand ein zylindrisches Gefährt mit schier endlosen Sitzreihen in seinem Frachtraum – der Transporter, der diesen ahnungslosen Haufen Kinder zur Erde bringen sollte.

Die ganze Sache war einfach nur krank, aber wahrscheinlich immer noch besser als die Alternative. An seinem achtzehnten Geburtstag bekam man zwar ein Wiederaufnahmeverfahren, aber seit dem letzten Jahr wurde praktisch jeder jugendliche Straftäter auch bei der zweiten Verhandlung für schuldig befunden. Gäbe es diese Mission nicht, würden sie immer noch in ihren Zellen sitzen und die Tage bis zu ihrer Hinrichtung zählen.

Als er eine zweite Rampe entdeckte, spürte Bellamy einen Stich im Herzen. Hoffentlich hatte er Octavia nicht schon verpasst. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Er musste nicht sehen, wie sie an Bord ging. Sie wären so oder so bald wieder vereint.

Er zupfte die Ärmel von Coltons Uniform zurecht. Sie passte denkbar schlecht, aber bis jetzt schien das niemandem aufgefallen zu sein. Alle hatten den Blick starr auf das Ende der Rampe gerichtet, wo Kanzler Jaha gerade das Wort an die Verurteilten richtete.

»Euch wurde die einmalige Gelegenheit gegeben, eure Vergangenheit hinter euch zu lassen«, sagte er. »Der Einsatz, zu dem ihr unterwegs seid, ist gefährlich, aber euer Mut soll belohnt werden. Wenn ihr Erfolg habt, sind all eure Vergehen vergessen, und ihr könnt auf der Erde ein neues Leben beginnen.«

Bellamy unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Der Kanzler hatte vielleicht Nerven, sich hinzustellen und diesen Mist zu erzählen, den er sich wahrscheinlich nur ausgedacht hatte, damit er nachts überhaupt noch ruhig schlafen konnte.

»Wir werden eure Fortschritte genau verfolgen, damit wir für euer aller Sicherheit garantieren können«, fuhr der Kanzler fort, während weitere zehn Gefangene an ihm vorbeigeführt wurden. Der Gardist, der sie bewachte, salutierte zackig, schob die Gefangenen in den Transporter und stellte sich dann ins Spalier zu den anderen Wachen. Bellamy suchte die Menge nach Luke ab, dem einzigen Waldener, der nicht zu einem absoluten Arschloch geworden war, seit er sich der Garde angeschlossen hatte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Insgesamt zählte er gerade einmal zehn Gardisten auf dem Startdeck. Offensichtlich legte der Rat in dieser Angelegenheit mehr Wert auf Geheimhaltung als auf Sicherheitsvorkehrungen.

Er unterdrückte den Impuls, ungeduldig mit dem Fuß zu wippen, während weitere Gefangene die Rampe hinuntergingen. Falls sie ihn erwischten, wäre die Liste seiner Vergehen endlos: Bestechung, Erpressung, Identitätsdiebstahl, Verschwörung und was sich der Rat sonst noch so einfallen ließ. Bellamy war bereits zwanzig. Für ihn würde es keinen Arrest geben. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Verurteilung wäre er tot.

Am Ende des Korridors entdeckte er, halb verborgen unter einem dichten Schopf glänzend schwarzen Haares, ein vertrautes rotes Zopfband. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Octavia.

Während der letzten zehn Monate hatte er sich die schlimmsten Sorgen gemacht. Bekam sie im Arrest genug zu essen? Gab es irgendetwas, womit sie sich halbwegs sinnvoll beschäftigen konnte, oder würde sie dort den Verstand verlieren? Der Arrest war für niemanden ein Spaß, aber für O musste er die Hölle sein.

Bellamy hatte seine jüngere Schwester praktisch allein großgezogen. Oder es zumindest versucht. Nach dem Unfall ihrer Mutter hatte der Rat die Fürsorge übernommen. Es gab keine Regeln für den Umgang mit verwaisten Geschwistern. Die strengen Bevölkerungsgesetze erlaubten jedem Paar nur ein Kind, manchmal auch gar keins. Deshalb hatte niemand in der gesamten Kolonie eine Ahnung, was es bedeutete, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Mehrere Jahre lang hatten die beiden in separaten Gemeinschaftsunterkünften gelebt, aber Bellamy hatte stets ein Auge auf Octavia gehabt, hatte auf »Spaziergängen« zu den zugangsbeschränkten Lagerräumen Extrarationen für sie besorgt und sich die älteren Mädchen vorgeknöpft, die sich einen Spaß daraus machten, auf dem pausbäckigen Waisenkind mit den großen blauen Augen herumzuhacken. Octavia war etwas Besonderes, und Bellamy tat alles, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Alles, um das wiedergutzumachen, was sie hatte ertragen müssen.

Als Octavia die Rampe erreichte, hätte Bellamy beinahe gelächelt. Während alle anderen wie in Trance auf den Transporter zustolperten, schlenderte sie gemütlich dahin und zwang die Wachen, ihren Schritt zu verlangsamen. Sie sah sogar besser aus als bei ihrer letzten Begegnung, doch das war nur logisch. Octavia hatte vier Jahre Arrest bekommen, an deren Ende ihre Hinrichtung wartete. Jetzt hatte sie die Chance auf ein neues Leben, und Bellamy würde dafür sorgen, dass sie dieses neue Leben auch bekam. Koste es, was es wolle. Dafür würde er sogar mit ihr auf die Erde kommen.

Die Stimme des Kanzlers dröhnte über die lärmenden Schritte und das nervöse Geflüster hinweg. Seine Haltung war immer noch die eines Soldaten, aber all die Jahre als Vorstand des Rats hatten seinem Auftreten zusätzlich den Schliff eines Politikers verliehen. »Niemand in der Kolonie weiß von eurer Mission, doch wenn sie erfolgreich verläuft, schuldet jeder Einzelne von uns euch sein Leben. Ich weiß, dass ihr euer Bestes geben werdet, um eurer selbst willen, für eure Familien und für jeden anderen auf diesem Schiff – für die gesamte Menschheit.«

Als Octavia ihren Bruder entdeckte, klappte ihr Kiefer nach unten. Bellamy spürte förmlich, wie sie versuchte, schlau aus dem zu werden, was sie da sah. Sie wussten beide, dass er nie und nimmer in die Garde berufen worden sein konnte, also musste er die Uniform gestohlen haben. Sie wollte ihm gerade etwas zuflüstern, da sprach der Kanzler weiter. Sie drehte zögerlich den Kopf weg, doch Bellamy sah die Anspannung in ihren Schultern.

Bellamys Puls beschleunigte sich, als der Kanzler seine Rede endlich beendete und den Wachen befahl, die letzten Passagiere an Bord zu bringen. Er musste den richtigen Moment abwarten. Wenn er zu früh losschlug, bestand die Gefahr, dass die Gardisten ihn doch noch überwältigten. Wartete er zu lang, würde Octavia allein zur vergifteten Erde fliegen, während er hier zurückblieb und die Konsequenzen dafür tragen musste, dass er den Startablauf unterbrochen hatte.

Schließlich war Octavia an der Reihe. Sie fing Bellamys Blick auf und schüttelte unmerklich den Kopf – eine Warnung an ihn, jetzt keine Dummheiten zu machen. Doch Bellamy hatte sein ganzes Leben lang nichts als Dummheiten gemacht, und er hatte nicht vor, jetzt damit aufzuhören.

Der Kanzler nickte einer Frau in schwarzer Uniform zu, die daraufhin an das Kontrollpult neben dem Transporter trat und mehrere Knöpfe drückte. Auf dem Schirm erschienen blinkende Ziffern. Der Startcountdown hatte begonnen.

Bellamy blieben noch drei Minuten, um durch die Schleuse zu kommen und sich über die Rampe einen Weg in den Transporter zu bahnen, wenn er seine Schwester nicht für immer verlieren wollte.

Als die Letzten an Bord waren, veränderte sich die Stimmung merklich. Die Wachen gleich neben Bellamy entspannten sich und begannen leise miteinander zu tuscheln, auf der gegenüberliegenden Rampe lachte jemand.

2:48 … 2:47 … 2:46 …

Bellamy wurde so wütend, dass er für einen Moment alle Anspannung vergaß. Wie konnten diese Arschlöcher lachen, während seine Schwester zusammen mit neunundneunzig anderen Kindern auf ein Selbstmordkommando geschickt wurde?

2:32 … 2:31 … 2:30 …

Die Frau am Kontrollpult flüsterte dem Kanzler lächelnd etwas zu, aber Jaha drehte sich mit versteinertem Gesichtsausdruck weg, ohne zu antworten.

Die Gardisten neben dem Transporter begannen, das Startdeck zu verlassen. Entweder hatten sie etwas Besseres vor, als zuzusehen, wie die Menschheit zum ersten Mal überhaupt versuchte, ihren Heimatplaneten zurückzuerobern, oder sie fürchteten, der alte Kasten von einem Raumschiff könnte explodieren, und brachten sich lieber rechtzeitig in Sicherheit.

2:14 … 2:13 … 2:12 …

Bellamy atmete tief durch. Es war so weit.

Er schob sich an den anderen vorbei und schlich sich von hinten an einen untersetzten Kerl heran, dessen Waffe ungesichert im Halfter steckte. Er packte den Griff, riss sie heraus und rannte die Rampe hinunter. Noch bevor irgendjemand begriff, was geschah, rammte er dem Kanzler den Ellbogen in die Magengrube, schlang ihm einen Arm um den Hals und nahm ihn in einen Würgegriff. Auf dem Startdeck erhob sich wildes Geschrei, und Schritte trampelten in Bellamys Richtung. Er hob die Waffe und presste Jaha den Lauf an die Schläfe. Er wollte auf keinen Fall abdrücken, aber wenn sein Plan gelingen sollte, mussten die Wachen glauben, dass er es ernst meinte.

1:12 … 1:11 … 1:10 …

»Alle zurück!«, brüllte Bellamy und verstärkte seinen Griff. Der Kanzler ächzte. Ein lautes Piepen ertönte, und die Ziffern auf dem Schirm blinkten nicht mehr grün, sondern rot. Nur noch weniger als eine Minute. Jetzt musste er lediglich abwarten, bis die Einstiegsluke des Transporters sich zu schließen begann. In genau diesem Moment würde er den Kanzler zur Seite stoßen und durch den Spalt an Bord springen. Keiner konnte ihn dann mehr aufhalten.

»Lasst mich auf den Transporter, oder ich schieße!«, schrie er.

Aller Lärm erstarb. Das einzige Geräusch war das Klicken, mit dem die Gardisten ihre Waffen entsicherten.

Noch dreißig Sekunden, dann war Bellamy entweder gemeinsam mit Octavia auf dem Weg zur Erde, oder seine Leiche wurde in einem Plastiksack zurück zur Walden gebracht.