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ERSTES KAPITEL

Er kommt zurück, und obwohl sie ihn seit Jahren erwartet hat, kommt er, als wäre er nie weg gewesen, als hätte sie keinen einzigen Tag ohne ihn verbracht, keinen Monat, kein Jahr, und dabei sind genau zehn Jahre vergangen. Doch dann hat Micki sie gefragt, weißt du, welches Datum heute ist, als handle es sich um einen Geburtstag oder einen Hochzeitstag, und sie strengte ihr Gedächtnis an. Sie haben im Winter geheiratet, sich im Winter davor kennengelernt, die Kinder sind im Winter geboren. Nichts wirklich Wichtiges hat sich in ihrem Leben im Sommer ereignet, obwohl in einem so langen Sommer so viel passieren kann, und Micki senkte den Blick, deutete auf ihre Hüfte, die seit damals breiter geworden ist, und plötzlich war der Schmerz wieder da, und sie erinnerte sich.

Oder erinnerte sie sich zuerst, und dann kam der Schmerz? Sie hat ihn nie vergessen, deshalb war es keine Erinnerung, sondern das absolute Dasein in dieser brennenden Minute, der Bruch, der immer klarer wurde im Geistersturm des Schreckens, in der feierlichen Lähmung der Stille: zwitscherte nicht der Vogel, das Gevögel flog nicht, der Ochs brüllte nicht, die Seraphim riefen nicht: Heiliger! Das Meer wogte nicht, die Menschen redeten nicht, sondern es herrschte ein allgemeines Stillschweigen.

Im Laufe der Zeit verstand sie, dass alles da war, nur nicht Stille, und trotzdem hatte sich allein die Stille in ihr Gedächtnis gegraben: Stumme Engel traten zu ihr, verbanden schweigend ihre Wunden, zerrissene Glieder brannten still, und sie, die anderen, schauten darauf mit geschlossenen Mündern, weiße Krankenwagen glitten geräuschlos durch die Straßen. Da schwebte eine schmale, geflügelte Tragbahre auf sie zu, und sie wurde auf Händen getragen und daraufgelegt, und in diesem Moment, in dem sie von dem brennenden Asphalt gehoben wurde, wurde der Schmerz geboren.

Zwei Kinder hatte sie zur Welt gebracht und trotzdem erkannte sie ihn nicht, als er sich ihr zum ersten Mal in seiner ganzen Macht offenbarte, sich ins Zentrum ihres Körpers bohrte, ihre Knochen zersägte, sie zu feinem Staub zermalmte, Muskeln zerstörte, Sehnen zerfetzte, Gewebe zerquetschte, Nerven zerriss, in inneren Bereichen tobte, über die sie sich nie Gedanken gemacht hatte. Nur die Dinge oberhalb des Halses hatten sie interessiert, der Schädel und das Gehirn, das Bewusstsein und die Vernunft, das Wissen und die Überlegung, die Identität, das Gedächtnis, und plötzlich hatte sie nichts außer sich selbst, nichts außer ihm, außer dem Schmerz.

Was ist, fragte er und sofort schämte er sich, was bin ich doch für ein Idiot, ich hätte dich nicht daran erinnern dürfen, und sie lehnte sich an die Wand neben der Tür – sie hatten ja gerade aus dem Haus gehen wollen, jeder zu seiner Arbeit – und versuchte, mit den Augen auf einen der Küchenstühle zu weisen, und er lief zur Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück, das sie nicht in der Hand halten konnte.

Stuhl, zischte sie, und er zog einen der Stühle heran, doch zu ihrer Verblüffung ließ er sich selbst darauf fallen, mit seinem ganzen Gewicht, als wäre er es, der von einem plötzlichen Schmerz überfallen wurde, als wäre er es, der an jenem Morgen dort gewesen war, genau vor zehn Jahren, als die Druckwelle der Explosion sie aus dem Auto auf den Asphalt geschleudert hatte. Hätten sie nicht im letzten Moment ihre Pläne geändert, wäre er an ihrer Stelle dort gewesen, wäre durch die Luft geflogen, die glühte wie ein riesiger Asteroid, wäre mit einem Schlag zwischen den brennenden Leibern gelandet.

Warum war er es nicht gewesen, der die Kinder zur Schule gebracht hatte, wie jeden Morgen? Sie erinnert sich an ein hastiges Telefonat mit dem Büro, ein abgestürztes System. Er wollte die Kinder trotzdem fahren, aber Omer war noch nicht angezogen, er hopste im Pyjama auf dem Ehebett herum, und sie wollte Heulerei und Gebrüll verhindern. Lass nur, ich fahre sie hin, schlug sie vor, was natürlich nicht den üblichen Streit mit Omer verhinderte, der sich in der Toilette einschloss und sich weigerte herauszukommen, und die Tränen Almas darüber, dass sie seinetwegen wieder zu spät kommen würde, und als sie sich am Schultor von ihnen verabschiedet hatte, beschleunigte sie auf der belebten Straße, überholte einen Bus, der an der Haltestelle stand, hörte den schrecklichsten Knall, den sie je gehört hatte, und danach eine vollkommene Stille.

Es war noch nicht einmal die Macht der Explosion, jene fast vulkanartige Eruption des Zündstoffs, es waren auch nicht die Schrauben und Nägel und Muttern, gemischt mit Rattengift, um stärkere Blutungen zu verursachen, die ihre Ohren betäubten, sondern ein anderes Geräusch, tiefer und schlimmer als die Detonation, das Geräusch, mit dem sich Dutzende Fahrgäste vom Leben verabschiedeten, das Klagelied von Müttern, die Waisen zurückließen, die Schreie junger Mädchen, die nie erwachsen werden würden, das Weinen der Kinder, die nie mehr nach Hause kommen würden, von Männern, die sich von ihren Frauen verabschiedeten, die Klagen der Gliedmaßen, die zerstört wurden, der Haut, die verbrannte, der Beine, die nie mehr laufen würden, der Arme, die nie mehr umarmen würden, der Schönheit, die in der Erde vergehen würde, und dieses Klagelied hört sie jetzt wieder, sie hält sich die Ohren zu, während sie auf die Knie sinkt.

Oh, Iris, sagt er und schlingt die Arme um sie, ich habe gedacht, wir hätten das hinter uns, und sie versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Es geht gleich vorbei, sie presst die Lippen zusammen, vielleicht habe ich eine ungeschickte Bewegung gemacht, ich nehme eine Tablette und fahre zur Arbeit, doch da zerfällt wieder, wie damals, jede Bewegung in Dutzende kleiner Bewegungen, und jede einzelne ist schmerzhafter als die vorherige, bis sogar sie, die so großen Wert auf Selbstbeherrschung legt, dass sie als harte und verantwortungsbewusste Chefin bekannt ist, einen tiefen Seufzer ausstößt.

Aber hinter ihrem Rücken, hinter dem Seufzer, der sogar sie selbst überrascht, erklingt plötzlich lautes Lachen, und beide drehen den Kopf zum Ende des Flurs, dort steht ihr Sohn in der Tür seines Zimmers, groß und dünn, wirft sein Haar, das nur oben lang und an den Seiten geschoren ist, zurück und stößt ein Wiehern aus wie ein Pferd. Hi, was hat euch denn gepackt, Mampapa? Wieso sitzt ihr da, einer auf dem anderen? Habt ihr vor, mir einen kleinen Bruder zu schenken?

Da gibt’s überhaupt nichts zu lachen, Omer, faucht sie, obwohl sie den Anblick, der sich ihm bietet, ebenfalls lächerlich findet, ich habe plötzlich Schmerzen an der alten Wunde bekommen, ich musste mich hinsetzen, und er kommt auf sie zu, langsam, fast tänzelnd bewegt er seinen schönen Körper in den getigerten Boxershorts, wie hatte ihre Vereinigung einen so schönen Körper hervorbringen können? Cool, bleib nur so sitzen, sagt er kichernd, aber warum auf Papa? Und warum muss er ebenfalls sitzen? Tut es ihm auch weh?

Wenn man jemanden liebt, empfindet man seinen Schmerz mit, antwortet Micki in dem didaktischen Ton, den Omer besonders hasst, und sie eigentlich auch, in dem Ton, der in sich bereits die Kränkung enthält, die der Spott des Sohnes hervorrufen würde, und sie sagt, bring mir eine Tablette, Omer, oder besser zwei, sie sind in der Küchenschublade, und als sie hastig die Schmerztabletten hinunterschluckt, hat sie das Gefühl, dass aufgrund dieser Entscheidung die Schmerzen für immer und ewig verschwinden würden. Schmerzen kommen nicht einfach mit einer solchen Wucht, das ist kaum zu verstehen, schließlich ist alles behandelt, zusammengeflickt, genäht, verschraubt, transplantiert, in drei verschiedenen Operationen, während eines ganzen Jahres im Krankenhaus. Zehn Jahre sind vergangen, sie hat sich daran gewöhnt, beim Wechsel der Jahreszeiten oder nach körperlichen Anstrengungen, mit diesem pulsierenden Schmerz zu leben, nie wieder wird sie die physische Ausgeglichenheit wie in der Zeit vor dem Attentat erfahren, doch zu keinem Augenblick hat sie eine solche Welle erwartet, als würde an diesem Morgen alles von neuem anfangen.

Hilf mir aufzustehen, Omer, bittet sie, und er beugt sich zu ihr, noch immer amüsiert, hält ihr seinen schmalen, aber kräftigen Arm hin, und da steht sie, zwar noch an die Wand gelehnt, aber sie gibt nicht auf. Sie wird das Haus verlassen, sie wird zum Auto gehen, sie wird zur Schule fahren, sie wird die Sitzungen effizient leiten, Einstellungsgespräche führen, die Inspektorin willkommen heißen, sie wird dableiben und kontrollieren, was im Hort passiert, sie wird ihre E-Mails beantworten, und erst am Nachmittag, auf dem Rückweg, wenn sie mit vor Schmerz zusammengepressten Lippen im Auto sitzt, wird sie darüber nachdenken, dass Micki dort auf dem Küchenstuhl sitzen geblieben war, neben der Tür, den Kopf in beide Hände gelegt, auch nachdem sie schon hinausgegangen war, geflohen, um die Wahrheit zu sagen, als hätte sie ihm den Schmerz zurückgelassen. Er saß da, als wäre es seine Hüfte gewesen, die an jenem Morgen zerschmettert wurde, als wäre er es gewesen, dessen Leben unterbrochen worden war.

Auf der Heimfahrt, eingesperrt zwischen Dutzenden von Autos, die in dem langsamen Verkehr durch die Straßen kriechen, erinnert sie sich, wie er schwer atmend und verlegen an ihrem Bett im Traumazimmer stand. Er war nicht der Erste, der kam, Halbfremde waren ihm zuvorgekommen, denn die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. In umgekehrter Reihenfolge waren die Besucher und die Tröster gekommen, von den Fremdesten bis zu den Nächsten, Omer, damals sieben, und Alma, elf Jahre alt, waren von ihrer Freundin Dafna gebracht worden, eine Minute bevor sie in den Operationssaal gebracht wurde. Als sie die Kinder auf sich zukommen sah, fiel ihr mit einem Zittern ein, dass sie ausgerechnet ihnen nicht Bescheid gesagt hatte. Es war ihr gelungen, eine Nachricht auf Mickis Mailbox zu hinterlassen, auch bei ihrer Mutter, mit blutverschmierten Fingern hatte sie die Tasten gedrückt, hatte das Blut mit ihrer Bluse abgewischt, und nur die Schule der Kinder hatte sie vergessen anzurufen, und die Wahrheit war, dass sie in den Stunden, die vergangen waren, bis sie ängstlich an ihr Bett traten, Hand in Hand, ihre Existenz einfach vergessen hatte, sie hatte vergessen, dass diese Frau, die über die brennende Straße geflogen war, bis sie auf den Boden knallte, Mutter von Kindern war.

Im ersten Moment hatte sie sie fast nicht erkannt. Ein seltsames Paar näherte sich ihr, ein hoch aufgeschossener Junge und ein zierliches Mädchen. Er hell und sie dunkel. Er stürmisch und sie still. Zwei Gegensätze kamen auf sie zu, langsam, ernst, als legten sie einen unsichtbaren Blumenstrauß auf ihr Grab, und sie wollte vor ihnen fliehen, aber sie war ans Bett gefesselt, deshalb schloss sie die Augen, bis sie sie zweistimmig »Mama« sagen hörte und gezwungen war, sich zusammenzureißen. Was habe ich für ein Glück gehabt, sagte sie ihnen zuliebe, es hätte viel schlimmer sein können.

Sie dürfen ihnen ruhig zeigen, dass es Ihnen schlecht geht, sagte später einer der Ärzte, man muss ihnen nichts vormachen. Lassen Sie zu, dass sie Ihnen helfen, so bringen Sie ihnen bei, sich ihren Schwierigkeiten zu stellen. Aber sie schaffte es nicht, ihnen ihre Schwäche zu zeigen, und deshalb hatte sie ihre Anwesenheit monatelang kaum ertragen, bis sie sich endlich erholte.

Sie erinnert sich, wie Alma einmal sagte, alles wegen Omer, kühl, fast gleichgültig, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, hätte er sich nicht in der Toilette eingeschlossen, wären wir früher losgefahren und du wärst gar nicht dort gewesen, als der Bus explodierte, und Omer fing an zu schreien, nach seiner Schwester zu treten und zu toben: Stimmt nicht! Alles wegen dir! Alles, weil du wolltest, dass Mama dir einen französischen Zopf macht!

Und als Micki versuchte, ihn festzuhalten und zu beruhigen, deutete der Junge plötzlich auf ihn und verkündete mit der Feindseligkeit, die immer zwischen ihnen herrschte, schon von seiner Geburt an: Alles wegen dir!

Und vielleicht hatten sie sich weiter beschuldigt, als ginge es wirklich um ein Ereignis, das sich innerhalb des Familienkreises zugetragen hatte, nicht um ein nationales Ereignis, das von Terroristen geplant und ausgeführt worden war, die ihre kleine Familie nicht kannten, aber sie wurde schon fortgetragen, in diese angsteinjagende Ablenkung der langen Stunden der Operationen und was danach kam, die monatelange Genesung und Rehabilitation, die Arbeitsstelle, die ihr am Ende des Wegs als Preis winkte. Sie wusste, dass gesagt wurde, wäre sie nicht verletzt worden, hätte man sie nicht zur Direktorin der Schule ernannt, jung wie sie war, sie selbst hatte sich das manchmal gefragt, aber die große Belastung ließ ihr keine Zeit für überflüssige Gedanken. Zehn Jahre vergingen ohne sinnlose Grübeleien, und während sie das Auto parkt und mit unsicheren Schritten ins Haus geht, hat sie das Gefühl, gerade erst aus der Operation erwacht zu sein, einer Operation, die sich zehn Jahre lang hingezogen hat, als könnte sie erst jetzt ihre Aufmerksamkeit dem Problem widmen, das damals ihre Kinder aufgebracht hatten, um endlich zu verkünden, wer wirklich der Schuldige war, und dafür hat sie sehr viel Erfahrung gesammelt.

ZWEITES KAPITEL

Der Aufzug, der sich ins Wohnzimmer öffnet, verleiht jedem Eingang das befremdliche Gefühl eines Treppenhauses, und auch an diesem Abend, als sich die Stahltüren des Aufzugs öffnen und sie ihre Wohnung betritt, fühlt sie sich einen Moment lang wie ein Gast, ein ungebetener Gast, der sich im Tag und in der Uhrzeit geirrt hat, denn niemand erwartet sie, und sie schaut sich beunruhigt in dem großen Wohnzimmer um. Sie waren wegen ein paar zusätzlichen Quadratmetern aus dem Stadtzentrum herausgezogen, um für jedes Kind ein eigenes Zimmer zu haben, ein großes Schlafzimmer mit einer Arbeitsecke, in ein gewöhnliches Mehrfamilienhaus in einer reizlosen neuen Siedlung. Die Privatsphäre für jeden Einzelnen haben sie gewonnen, doch sie haben es nicht geschafft, die Gemeinschaftsbereiche mit Leben zu füllen, und als sie jetzt prüfend das Wohnzimmer betrachtet, das große Sofa, das kleine Sofa, den Kaffeetisch mitten im Raum, die Fenster, die eine städtische Aussicht mit einem Hauch Wüstensand hereinbitten, die helle, saubere Küche, die glänzend polierte Herdplatte, auf der zwei Töpfe stehen, fragt sie sich einen Moment lang, ob in dieser Wohnung echte Menschen leben, denn sie kommt ihr plötzlich ganz leer vor, als fehle das Wichtigste.

Fragen der Inneneinrichtung haben sie noch nie sonderlich interessiert, auch Micki nicht, alles sollte nur angenehm und bequem sein, damit die Augen sich ausruhen können, sie kommen ohnehin spät nach Hause, und nach dem Abendessen mit den Kindern sitzt sie noch stundenlang am Computer und schreibt E-Mails an die Lehrer, an Eltern, um Auseinandersetzungen zu schlichten, Treffen und Konferenzen zu vereinbaren, um ihre wöchentliche Ansprache vorzubereiten, also was spielen da dieser oder jener Fußbodenbelag oder dieses oder jenes Polster schon für eine Rolle, Hauptsache, es gibt einen Platz, an den sie ihr müdes Haupt betten können.

Omers Zimmertür geht auf, und sie schickt ihm schon ein erzwungenes Lächeln entgegen, doch er ist es nicht, der herauskommt, sondern ein schmales junges Mädchen mit orangefarbenem Haar, in einem engen Unterhemd und einer winzigen Unterhose, die verlegen zur Toilette huscht, und Iris verfolgt das geschmeidige Becken mit einem Seufzer der Erleichterung. So viele Ängste haben Omers Aufwachsen begleitet, die man jetzt wohl als überflüssig bezeichnen kann, dieses Mädchen ist ein weiterer Beweis dafür, und als sie herauskommt, versucht sie, das Gesicht hinter dem Vorhang aus Haaren zu erkennen, hat sie sie früher schon einmal gesehen? In den letzten Monaten hat sie, wenn sie ihn morgens weckte, manchmal erwartet, ein Mädchen in seinem Bett zu finden, auch wenn sie mit eigenen Augen gesehen hatte, dass er allein ins Bett gegangen war, als sei in der Nacht ein Mädchen in seinem Bett aufgekeimt.

Genüsslich begleitet sie die Schritte des Mädchens, bis es in Omers Zimmer verschwindet, und geht in die Küche, um etwas zu essen und dann wieder eine Tablette zu schlucken. Zwei Töpfe erwarten sie, einer mit duftendem weißem Reis und der zweite mit Bohnen, orangefarben wie die Haare des Mädchens. In letzter Zeit bittet sie manchmal die Haushaltshilfe, etwas für sie zu kochen. Omer ist ständig hungrig, und wer hat schon die Kraft, nach der Arbeit noch in der Küche zu stehen und zu kochen. Was für ein Vergnügen, auf der Herdplatte zwei volle Töpfe vorzufinden, von der Last der ständigen Nahrungsherstellung befreit zu sein. Aber seit das Essen so leicht verfügbar ist, scheint sich sein Geschmack verändert zu haben, und es beschleicht sie ein Gefühl der Fremdheit, als wäre das hier eine bescheidene Arbeiterkneipe, irgendein Hotel, alles, nur kein Zuhause.

Was für seltsame Vorstellungen schwirren ihr seit dem Morgen im Kopf herum, denkt sie, wie Abfall, der vom Chamsin durch die Straßen gejagt wird. Ein Zuhause oder nicht, was spielt das schon für eine Rolle? Hauptsache, sie muss nicht hungern, Hauptsache, es gibt ein Dach über dem Kopf, sie hat Arbeit und den Kindern geht es halbwegs gut, wenn nur diese Qualen sie in Ruhe ließen, sie nimmt schon wieder eine Tablette, um die Wellen des Schmerzes zu vertreiben. Wie Wehen kommen sie alle ein, zwei Minuten, wickeln sich um ihren Körper, zersägen das Gefäß ihres Beckens, einen Knochen nach dem anderen, und sie streckt sich mit einem Stöhnen auf dem Sofa aus. Ein warmer Wind, der den Beginn des Sommers verkündet, weht durch die Wohnung, aber ihr ist so kalt, dass die Kälte die Knochen unter ihrer Haut zermalmt, als würden die Knochensplitter gleich vom Wind verweht und die Schmerzen dann vielleicht gleich mit. Sie würde leicht auf ihre Knochen verzichten und nicht nur auf sie, auf alle Glieder, Hauptsache, der Schmerz verschwindet und ihr Körper wird immer leerer. Sie kann es sich nicht erlauben, nichts zu tun, sie muss E-Mails schreiben, Krisen managen, gleich wird sie aufstehen und sich zum Schreibtisch schleppen, sie wird sich an den Computer setzen, die Lenden gürten. Sie wundert sich über diese Formulierung, die vermutlich für sie geschaffen wurde, denn genau dort beginnen die Schmerzen, in den Hüften, die einmal so schmal waren wie die des Mädchens, das gerade die Küche betritt, aus irgendeinem Grund in Omers getigerten Boxershorts, wird er etwa gleich in ihrem winzigen Slip erscheinen?

Unter gesenkten Lidern hervor beobachtet sie ihn mit der alten Besorgnis, schon immer war er unberechenbar. Guten Tag, Frau Direktorin, ruft er und salutiert aus unerfindlichem Grund, und sie stellt erleichtert fest, dass er seine kurze Turnhose anhat und gut gelaunt ist, falls hier irgendein Herz gebrochen wird, scheint es nicht seines zu sein. Sie beobachtet die beiden, während sie sich am Tisch gegenübersitzen und essen und immer wieder ihre Teller füllen. Schmeckt gut, murmeln sie mit vollem Mund, als würden sie sich gegenseitig loben, sie essen und lachen, und sie ist überrascht, wie wenig sie miteinander sprechen. Ist es ihre Anwesenheit, die sie schweigen lässt, oder brauchen sie keine Worte, um Nähe zu spüren?

Wie anders sie sind, als wir es früher waren, denkt sie, ich war so alt wie Omer heute, und Eitan war nur wenig älter als ich, wir haben nicht aufgehört zu reden und haben nur wenig gelacht. Es gab damals auch nicht viel zu lachen, seine Mutter erlosch allmählich, und Eitan, der einzige Sohn, pflegte sie hingebungsvoll, saß stundenlang im Krankenhaus, an ihrem Bett, und von dort aus kam er dann zu ihr, hochgewachsen und mager, seine hellen Augen glänzten in traurigem Staunen, und sie hatte ihn gefüttert, getröstet, ihn mit ihrer Liebe beruhigt.

Was verstehen sie überhaupt, denkt sie aufgebracht, beobachtet mit plötzlicher Feindseligkeit ihren Sohn und seine Freundin, die kauen und kichern, die im Kühlschrank wühlen und mit etwas Gutem zum Tisch zurückkehren. Schmeckt wirklich prima, sagen sie wieder, während ihre Finger sich streicheln, und Iris wendet sich ab. Warum spürt sie bei diesem Anblick solche Übelkeit, aber vielleicht hat es auch gar nichts damit zu tun, die Übelkeit begleitet sie schon seit dem Morgen. Sie hat nichts gegen ihren Sohn, im Gegenteil, sie ist dankbar dafür, dass ihm Eitans Leiden erspart geblieben sind, und ihre eigenen Leiden, später, als er sie verließ, denn sofort nach dem Tod seiner Mutter, nach den sieben Trauertagen, als der letzte Trauergast die Wohnung verlassen hatte und noch bevor man zu ihrem Grab ging, verkündete er ihr so kühl, als wäre alles von Anfang an so geplant gewesen, dass er vorhabe, ein neues Leben anzufangen, ein Leben ohne Schmerz, ein Leben, von dem sie kein Teil sein werde.

Das ist nicht persönlich gemeint, Iris, hatte er freundlich hinzugefügt, ich kann einfach diese Belastung nicht mehr aushalten, als wäre sie es gewesen, die ihn belastet hatte, während sie es ihm doch nur hatte leichter machen wollen. Du musst mich verstehen, ich bin noch nicht achtzehn, ich möchte leben, ich möchte dieses schreckliche Jahr vergessen, und du bist ein Teil davon, und sie fing an zu zittern, noch Jahre später dachte sie nur mit zusammengebissenen Zähnen an ihn und daran, wie seine Unterkiefer sich unter der glatten Haut bewegt hatten, ohne jedes Zögern.

Ich kann es nicht glauben, du bestrafst mich dafür, dass ich mit dir zusammen war, dafür, dass ich dich das ganze Jahr lang unterstützt habe, brachte sie mit dumpfer Stimme hervor, und er sagte, das ist keine Strafe, Iris, das ist die Notwendigkeit. Wenn ich dich jetzt getroffen hätte, wäre alles anders gelaufen. Ich hätte mich sicher in dich verliebt und wir wären zusammengeblieben, aber wir haben uns zu früh getroffen. Vielleicht wird es noch eine zweite Chance für uns geben, aber jetzt muss ich mich selbst retten.

Dich selbst vor mir retten, fragte sie erschrocken, was habe ich dir getan? Er nahm ihre Hand, und einen Moment lang glaubte sie, er wolle ihr sein Beileid aussprechen und wäre bereit, Mitleid mit ihr zu haben, aber sofort zog er sein Mitleid zurück, auch seine Hand, und das hat sie ihm bis heute nicht verziehen, Eitan Rosenfeld, ihre erste Liebe, und bis zu einem gewissen Grad auch ihre letzte, denn seither hat sie nie wieder dieses vollkommene Gefühl erlebt, gegen das man sich nicht wehren kann. Bis heute hat sie ihm nicht verziehen, dass er kein Mitleid mit ihr und ihrer Liebe hatte, auch nicht die grausame Trennung, zu der er sie gezwungen hatte, denn auch wenn sie für ihn unausweichlich war, hätte er mit ihr trauern müssen und hätte sie nicht so zurücklassen dürfen, allein mit seinem Urteil, ohne Ziel, ohne Hoffnung, ohne Vertrauen und ohne Jugend, ein Verlust, der für sie so schwer zu ertragen war wie für ihn der Verlust seiner Mutter.

Omer tritt zu ihr, was ist mit dir, Mamusch, vermutlich hat sie wieder geseufzt, ohne es zu merken, was liegst du da auf dem Sofa wie eine Kartoffel? Irgendein Streik, von dem ich nichts gehört habe? Sein Brustkorb ist schmal und lang, und seine Wangen sind fast noch genauso glatt, wie Eitans Wangen es waren. Ein privater Streik, sagt sie, ich habe Schmerzen, bring mir eine Tablette aus der Küchenschublade und ein Glas Wasser, Omeri, bittet sie. Wenn der Schmerz aufhört, wird auch die Erinnerung aufhören, schon seit Jahren hat sie sich nicht mehr erlaubt, an Eitan zu denken, seit Jahren hat sie nicht mehr unbeschäftigt auf dem Sofa herumgelegen, und siehe da, ihr Sohn ist in Eitans Alter gekommen, ohne dass sie es bemerkt hat, und das junge Mädchen betrachtet sie mit derselben Neugier, mit der sie beim ersten Mal seine Mutter betrachtet hatte, als diese bereits krank in der kleinen Wohnung auf dem Sofa lag.

Er war der einzige Sohn einer alleinerziehenden, einbrüstigen Mutter. Als er ein kleiner Junge war, war seine Mutter erkrankt und operiert worden, und sie erinnert sich noch an seinen staunenden Blick, als er sie zum ersten Mal auszog und ihren symmetrischen Oberkörper sah. Sie weiß auch noch, wie misstrauisch sie in den Pyjamaausschnitt seiner Mutter geschielt hatte, als sie im Krankenhaus mit ihm an ihrem Bett saß. Der unerwartete Krater, der zu sehen war, als die Mutter sich zu ihnen beugte, ähnelte in nichts dem, was Iris kannte, auch nicht der große, mondförmige Kopf, der auf einem dünnen Hals schwankte. Sie liebte es, ihn ins Krankenhaus zu begleiten und seine freie Hand zu streicheln, während er mit der anderen die Hand seiner Mutter hielt. Sie liebte die Stille, die heilige Stille eines gigantischen Kampfes, der Hoffnung auf ein Wunder, die Stille eines Lebens, das langsam eine Haut nach der anderen abwarf, bis nur noch der innerste Kern übrig war, zitternd, ein geläuterter Glockenklöppel, der sich weigerte loszulassen, die Essenz der Existenz. Sie stellte sich vor, an seiner Seite durch einen Wald zu schreiten, einen Wald voller Lebensbäume, die dahinwelkten und zerbrachen, wie hätte sie auf den Gedanken kommen können, dass ausgerechnet ihre Hingabe an ihn und seine Not einen solchen Widerwillen in ihm auslösen würde? In ihren Augen waren das Stunden heiliger Mission, eine Berufung, einzigartige Stunden der Zusammengehörigkeit – er und sie gemeinsam, ein Junge und ein Mädchen in der Welt, die versuchen, Leiden zu lindern. Er das Leiden seiner Mutter und sie das seine. Monatelang hatte sie das Gefühl, dort zu Hause zu sein, am Bett dieser kranken, edlen Frau, als sei das ihre wahre Familie, nicht die fordernde Mutter, die Kriegswitwe, die so wenig gab und so viel erwartete, nicht die Zwillingsbrüder, die viereinhalb Jahre nach ihr auf die Welt gekommen waren und das Haus mit ihrem Geschrei erfüllt hatten, sie gehörte zu ihnen, zu der zarten, in Stille leidenden Frau und ihrem einzigen Sohn, der ihr so ergeben war. Aber hätte sie an ihrem Schmerz weniger teilgenommen, hätte sie auf Distanz geachtet, wäre sie nicht verlassen worden, denn schon bald erfuhr sie, dass extremer Verlust die andere Seite einer extremen Hingabe ist.

Es war einer der ersten Sommertage, als sie nach der Schule ins Krankenhaus kam, in der Tasche einen sauren Apfel und Schokolade für ihn, und bevor sie das Zimmer betrat, sah sie schon den glatten Schädel, der auf dem dünnen Hals hin und her schwankte, mit einer Widerspenstigkeit, die sie nie zuvor an ihr bemerkt hatte, und Eitan kam zu ihr heraus, sehr blass, und sagte, komm später, Iris, es passt jetzt nicht, und sie stand starr in der Tür, sie wusste, dass sie nicht wiederkommen würde, und der Abschied fiel ihr schwer.

Zwei Schwestern eilten an ihr vorbei ins Zimmer, und sie hörte einen schrecklichen, tierhaften Aufschrei, sie konnte kaum glauben, dass dieser Schrei aus der Kehle der zartesten aller Frauen gekommen sein konnte. Ehrfürchtig verfolgte sie, was sich abspielte, als stünde sie vor einer göttlichen Offenbarung, vor einem dieser Wunder, von denen man im Bibelunterricht hört, ein brennender Dornbusch, das Fest der Übergabe der Thora, bis eine Krankenschwester die Tür vor ihr schloss und sie mit wackligen Schritten hinausging und sich auf eine Bank vor dem Eingang setzte, in diesem Niemandsland zwischen dem Land der Kranken und dem Land der Gesunden. Dort knabberte sie an dem Apfel, den sie für ihn mitgebracht hatte, bis es Abend wurde und Eitan herauskam, mit hängenden Schultern, den Blick zu den Bodenplatten im Eingang gesenkt, er war nicht erstaunt, sie dort zu sehen, sie gingen nebeneinanderher, mit langsamen Schritten, so wie sie am Tag darauf hinter der in ein weißes Tuch gehüllten Leiche gehen würden, so als wären sie beide verwaist.

Gemeinsam mit ihm empfing sie auch während der sieben Trauertage die Besucher, sogar ihre Mutter und ihre Brüder. Nachts streichelte sie seinen Rücken, bis er eingeschlafen war, und morgens stand sie vor ihm auf und räumte die Wohnung für einen neuen Trauertag auf, und eigentlich stellte sie sich so ihre gemeinsame Zukunft vor, wie eine nie endende Trauerzeit, ein Lärm, beruhigend und schmerzhaft und zuweilen glücklich, eine Trauer, die sie zusammenschweißen und zugleich aneinander wachsen lassen würde, wie zwei Pflanzen, die gemeinsam in einen Topf gepflanzt wurden.

Das war ihre zweite Geburt, ihre zweite Verwaisung, es war ihre eigene Entscheidung, geboren zu werden und zur Waise zu werden, an seiner Seite, um für ihn Mutter und Schwester und Mutter seiner Kinder zu sein, denn ihr junger Körper brannte vor Verlangen, ihm eine Tochter zu gebären und ihr den Namen seiner Mutter zu geben, und in den Nächten, wenn er im Schlaf jammerte, spürte sie, wie der kahle Schädel sich zwischen ihren Beinen herausdrängte. Nur durch sie konnte sie wiedergeboren werden, nur sie konnte ihr neues Leben einhauchen, nur sie konnte ihn trösten, aber als die sieben Trauertage vorbei waren, fand sie sich selbst nicht nur verwaist, nicht nur verwitwet, sie hatte auch all ihre Träume verloren.

Sie packte die Sachen, die sie in seiner Wohnung hatte, in zwei große Müllsäcke und lief steif und aufrecht zur Bushaltestelle, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie nahm den richtigen Bus und stieg an der richtigen Haltestelle aus, erreichte ihre Wohnung und legte sich in Kleidern ins Bett, neben sich die Säcke mit ihren Sachen, und so blieb sie liegen, mit offenen, trockenen Augen, bis ihre Mutter kam. Sie antwortete nicht auf Fragen, weil sie sie gar nicht hörte, beachtete nicht die Aufforderungen, zum Essen zu kommen oder zu duschen. Unter ihren trockenen Augen erstarrte ihr Körper und blieb viele Tage lang in dieser Haltung. Ich war einmal gelähmt vor Schmerz, hatte sie Micki kurz vor ihrer Hochzeit erzählt, ich war ein paar Wochen lang gelähmt, aber nun geht es mir gut, das wird nicht noch einmal passieren.

Micki wollte natürlich mehr darüber hören, aber sie enttäuschte ihn auch in diesem Punkt. Nur ihre Mutter verplapperte sich bisweilen, verriet Details und ließ sich auch nicht von den drohenden Blicken ihrer Tochter davon abhalten. Ja, es war eine Krise, wer hat mit siebzehn keine Liebeskrise, sagte sie ganz allgemein, um den Wert der Erinnerung abzuschwächen, und auch vor sich selbst konzentrierte sie sich mehr auf den Verrat ihrer Mutter als auf die Sache selbst. Und was war schon dabei, fragte sie sich manchmal, dass sie am Liebeskummer fast gestorben wäre? Was war erstaunlicher, die Krankheit oder die Heilung? Die Tatsache, dass sie sich letztlich entschied, ihr Leben neu zu beginnen, neu geboren zu werden, allein und einsam, in ein Vakuum hinein, das sich langsam füllen würde?

Als ihre Tochter zu einem jungen Mädchen heranwuchs, verfolgte sie gespannt ihr Liebesleben, fürchtete sich vor einer ähnlichen Krise, aber Alma begnügt sich vorläufig noch mit kurzen, oberflächlichen Beziehungen, und auch darin kann man natürlich Grund zur Sorge finden, wenn auch nicht gleichen Ausmaßes, außerdem neigt sie nicht dazu, ihre Mutter einzubeziehen, und ihr Sohn sitzt so erholt und ruhig dem Mädchen gegenüber, das seine Boxershorts trägt, ihm scheint zumindest in der nächsten Zukunft keine Krise zu drohen, sie kann aufhören, das junge Paar zu beobachten. Die Schmerzen haben inzwischen nachgelassen, ihr Körper fühlt sich dumpf an, als würde sie ihn von weitem betrachten, sie kann sich langsam vom Sofa erheben und an den Computer setzen, wie jeden Abend, ihre wöchentliche Ansprache schreiben, die Nachrichten und Ankündigungen durchschauen, die Fragen und Antworten. Worüber wird sie heute schreiben, vielleicht soll sie versuchen, die letzten Wochen des Jahres zu rekapitulieren, die Zeit zwischen dem Tag der Erinnerung und dem Wochenfest, diese müde Periode, der größte Teil des Jahres ist vergangen, das Ende nah, eine Periode, die viel schicksalhafter ist, als man glaubt, denn wenn sich noch etwas verändern kann, dann ist es jetzt, in der Spannung zwischen Erinnerung und Erneuerung.

DRITTES KAPITEL

Schon seit Jahren hat sie diese Uhrzeit nicht mehr auf dem Wecker gesehen: drei Uhr vierzig in der Nacht. Eine Zeit, die man nicht aushalten kann. Seit Jahren achtet sie auf ihren Schlaf, als hinge ihr Leben davon ab. Abends um zehn beginnt sie mit den Ritualen. Warte noch ein bisschen, es brennt doch nicht, sagt Micki immer wieder vor dem Fernseher, gleich fängt dieser Film an, den Dafna und Gidi empfohlen haben, oder, diese Serie ist wirklich hervorragend, du wirst sie lieben, und manchmal sagt er auch gar nichts und beobachtet nur mit bitteren Blicken, wie sie das Zimmer verlässt.

Ich muss schlafen, ich habe einen vollen Tag vor mir, gleich morgen früh eine Konferenz, sagt sie ihren Spruch auf, aber auch wenn sie keine Konferenz hat, ist sie die Erste in der Schule. Sie steht jeden Morgen am Schultor, egal ob Winter oder Sommer, und empfängt die ankommenden Kinder, wünscht ihnen einen guten Morgen, sie kennt sie mit Namen, sie wechselt ein paar Worte mit den Eltern, aber Micki lässt sich nicht beeindrucken, du bist nicht die Einzige, die schwer arbeitet, sagt er, du bist nicht die Einzige, die früh aufsteht.

Tut mir leid, Micki, ich bin todmüde, mir brennen schon die Augen, murmelt sie und befreit sich von seinem Arm, als er versucht, sie zurückzuhalten. Es ist nicht die frühe Uhrzeit, die ihn aufbringt, das weiß sie. Es ist vor allem ihre Entscheidung, Almas frei gewordenes Zimmer, als sie vor einigen Monaten auszog, in ihr Schlafzimmer zu verwandeln. Das bedeutet nichts, Micki, hat sie gesagt, im Versuch, ihn zu beruhigen, es ist einfach bequemer, allein zu schlafen, das ist alles. Gemeinsam zu schlafen ist ein primitiver Brauch, einer stört den anderen, darüber gibt es sogar Forschungsarbeiten. Du kannst es ja auch nicht leiden, dass ich dich wecke, wenn du schnarchst. Ja, er hat erwartet, dass sie sein Schnarchen liebevoll akzeptiert, und bestimmt hat er nicht erwartet, dass sie in Almas Bett umzieht und ihm die Tür vor der Nase zumacht.

Das ist nicht gegen dich, sondern für mich, schließlich geht es nur um meinen Schlaf, das muss unsere Intimität nicht beeinflussen. Das hat sie immer wieder betont, und sie glaubt wirklich, dass es keinen Einfluss hat, als würde man Liebe im Schlaf machen, als würde man intime Gespräche im Schlaf führen, und außerdem würde sie, wenn Alma kommt, ihr Zimmer räumen und ins Ehebett zurückkehren, aber wer hat gedacht, dass Alma so selten kommen würde, höchstens einmal im Monat, und dass die Dinge, die sie für die Nacht braucht und die auf der Kommode neben dem Ehebett lagen, das verlassene Zimmer in einen festen Schlafplatz verwandeln würden. Augencreme, ein Glas Wasser, Strümpfe, sie hat immer kalte Füße, ein oder zwei Bücher, langsam werden es mehr, bis Alma bei ihrem letzten Besuch herausplatzte, Hilfe, Mama, du hast mein ganzes Zimmer in Beschlag genommen! Willst du etwa, dass ich an deiner Stelle bei Papa schlafe?

Sie beeilte sich natürlich sofort, ihre Sachen an ihren ursprünglichen Platz zurückzuräumen, sie hatte sich schon damit abgefunden, keine Wahl zu haben, sie würde wieder mit Micki das Bett teilen, doch es stellte sich zu ihrem Bedauern heraus, dass alles, was sie vorher gestört hatte, sie jetzt siebenfach störte, nachdem sie sich an die vollkommene Freiheit von einem Mitschläfer gewöhnt hatte, und nach einer Nacht an seiner Seite, in der sie kein Auge zugetan hatte, musste sie sich eingestehen, dass sie ungeduldig darauf wartete, ihre Tochter möge bald das Bett räumen und wieder in ihre Wohngemeinschaft in Tel Aviv zurückkehren, und vor lauter Müdigkeit schaffte sie es nicht, an diesem Wochenende ein ernsthaftes Gespräch mit ihr zu führen, um etwas über ihre Beschäftigungen und Pläne zu erfahren, obwohl man auch annehmen konnte, dass es Alma gelang, dem Gespräch mit einer wachsamen Mutter auszuweichen, schließlich hatte sie keine Beschäftigung, auch keine Pläne, außer dass sie abends in einem Restaurant im Süden der Stadt kellnerte und tagsüber schlief.

Wie waren sie zu solch einer Tochter gekommen, ohne Ehrgeiz, ohne Pläne. Schon als Kind hatte sie sich keiner Jugendgruppe angeschlossen, interessierte sie sich für nichts, sie saß stundenlang vor dem Fernseher oder vor dem Spiegel, schwer zu sagen, was schlimmer war. Die ganzen Jahre, in denen sie ihre Eltern schwer arbeitend erlebte, hatten nichts genützt. Auch wenn es ihr gelungen wäre, am Wochenende mit ihr zu sprechen, hätte ihre Tochter doch nur versichert, es sei alles in Ordnung, und sie hätte gesagt, beruhige dich doch, ich bin keine Schülerin in deiner Schule oder besser Soldatin, schließlich sind sie bei dir alle wie kleine Soldaten.

Und warum schreiben sie sich scharenweise ein, wenn es doch so furchtbar ist, verteidigt sie sich jetzt, wo sie sich das nicht stattgefundene Gespräch in allen Einzelheiten ausmalt, aber es kommt ihr vor, als hätten ähnliche Gespräche in den letzten Jahren stattgefunden, abgerissene Gespräche, die sie einander näherbringen sollten und sie doch immer weiter voneinander entfernten, die erhellen sollten, aber immer nur vernebelten. Letztlich hat sie gehofft, ihre Tochter wäre stolz auf sie, sie würde ihr Lebenswerk schätzen, eine heruntergekommene Schule in einem armen Viertel zu übernehmen und sie in die begehrteste der Stadt zu verwandeln, ganz bestimmt war sie nicht auf diesen Spott gefasst. Vermutlich passt das zu ihnen, aber nicht zu mir, hätte Alma geantwortet und sie herausfordernd von unten betrachtet. Wie sind sie zu einer so kleingewachsenen Tochter gekommen? Die Kinder ihrer Freundinnen waren alle größer als ihre Mütter geworden, nur Alma war klein geblieben, obwohl sie und Micki beide groß waren.

In ihren ersten Jahren hat sie fast nichts gegessen, und alles Bitten und Betteln hat nichts genützt. Nur vor dem Fernseher, wenn sie abgelenkt war, war es ihr manchmal gelungen, Alma zu füttern, sie hatte ihr ein Stück Rührei in den Mund geschoben, eine Scheibe Käse, ein bisschen Gemüse, und die Kleine hatte die Kiefer bewegt, gedankenlos gekaut und geschluckt, bis sie plötzlich wie aus dem Schlaf aufwachte und nachdrücklich protestierte.

Wie hatte ihr Herz bei diesem heimlichen Füttern geklopft, als stünde ihre Tochter oben auf einem Dach und sie müsste sich heranschleichen, um sie, bevor sie sie bemerkte, von hinten zu packen. Jeder Bissen entfernte sie einen Schritt vom Absturz. Sie war eine junge Mutter und hatte das Gefühl, die Magerkeit des Mädchens würde mit tausend Zungen gegen sie aussagen, sie wollte aus aller Kraft dagegen ankämpfen, bis Omer geboren wurde und seine fordernde Anwesenheit ihre Kräfte in einem Maße beanspruchte, dass sie unfähig war, diese schrecklichen Manöver fortzusetzen, was natürlich gut für alle war. Tatsache ist jedenfalls, dass das Mädchen überlebt hat. Offenbar aß sie genug, um zu existieren, und in der Pubertät entwickelte sie sogar einen gesunden Appetit, zu einer Zeit, in der all ihre Freundinnen sich mit Diäten quälten, aber es war schon zu spät, um sie größer werden zu lassen, sie blieb klein und mager. Sie sieht aus wie eine Zwölfjährige, aber es stockt einem der Atem, so schön ist sie mit ihren großen Augen, wie schwarze Trauben, dem langen, glatten Haar, dem mädchenhaften Körper, erwachsen und verlockend. Wer weiß, wen sie gerade verlockt, bestimmt nicht ihre Eltern, deren Fragen vehement abgelehnt werden. Seit ihrem Umzug nach Tel Aviv haben sie endgültig die Möglichkeit verloren, zu kontrollieren oder irgendetwas zu erfahren, sie hängen von ihrem bisschen Gnade ab. Ab und zu lässt sie eine sparsame Information heraus, doch jeder Versuch, mehr zu erfahren, verläuft im Sand, über eine Party, die sie besucht hat, über jemanden, den es sich zu treffen lohne, über die vielen Schichten bei der Arbeit. Aber wenn sie versuchen würden, sich an diese Details zu klammern, um ihr näherzukommen, beim nächsten Zusammentreffen oder bei einem Telefongespräch im Laufe der Woche, würde sie so tun, als ob sie sich an nichts erinnere.

Sie bestraft uns, wird sie von Zeit zu Zeit zu Micki sagen, und er wird mit den Schultern zucken, wieso denn, wofür sollte sie uns bestrafen? Sie könnte mit Leichtigkeit ein paar Dinge aufzählen, aber es ist sinnlos – für Omer, der ihr alle Aufmerksamkeit geraubt hat, und danach weißt du ja, wofür, für jenes schreckliche Jahr, mit den Operationen, der Reha, ein ganzes Jahr mit einer Mutter, die kaum eine Rolle spielte. Wenn sie zu Hause war, war sie vollkommen abhängig von ihnen, aber die meiste Zeit war sie im Krankenhaus, sie hatte Beckenbrüche, Brüche in den Beinen und Splitter in der Brust, das Becken musste mit Platten verstärkt werden, die Brüche in den Beinen genagelt, über die Löcher musste Haut transplantiert werden, es gab Bereiche, die das Gefühl verloren hatten, doch andere spürte sie umso mehr, sie musste gehen und sitzen lernen, sie musste lernen, die Schmerztabletten abzusetzen und die Angst, das Haus zu verlassen, die Panik, die sie packte, wenn der Motor eines Busses aufheulte, zu bezähmen.

Bei ihrer Heimkehr hatte sie ein anderes Mädchen vorgefunden, verschlossen, fast feindselig, erloschen. An den Vater geschmiegt, hatte sie ihr vorwurfsvolle Blicke zugeworfen. Sie lernte nur noch das Notwendigste, und bei Tisch aß sie winzige Mengen, ohne Neugier, gerade mal genug, um zu überleben. Und sie? Sie hatte die Ernennung zur Direktorin bekommen, war gierig ins Leben zurückgekehrt und beschäftigter denn je, sie hatte dem Mädchen vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Omer forderte schon immer, was er brauchte, aber Alma gehörte vermutlich zu den Menschen, die etwas erwarten und dann enttäuscht sind, wie ihr Vater, und beide begleiteten ihre Reha mit einer mechanischen Treue, zugleich verzweifelt und kühl, vor ihnen hatte sie manchmal das Gefühl, als hätten diese Sekunden, die sie durch die Luft geflogen war, sie in einem anderen Land landen lassen, aus dem sie nie zurückkehren konnte. Manchmal betrat Micki das Schlafzimmer, wo sie monatelang auf dem Bett ausgestreckt lag, in der Hand den Teller mit einem seltsamen Essen, einer Tasse mit kalt gewordenem Tee, er erkundigte sich, wie es ihr gehe und ob sie etwas brauche, aber auch bei den seltenen Gelegenheiten, in denen sie seine Nähe gebraucht hätte, komm, setz dich kurz zu mir, erzähl mir, was so los ist, schien das über seine Kräfte zu gehen. Zweifellos überforderte es ihn, neben seiner Arbeit noch sie und die Kinder zu versorgen, doch abgesehen davon hatte sie das Gefühl, er sei kalt wie der Tee, den er ihr gebracht hatte, und so seltsam wie das Essen, sie hatte das Gefühl, dass er monatelang ihren Blicken auswich, als wäre er schuld an dem, was ihr passiert war. Sie hatte sogar manchmal Witze darüber gemacht. Schließlich waren sie etwa ein Jahr davor in diese Wohnung gezogen, mit einem Aufzug, der Micki so sehr begeistert hatte. Was brauchen wir mit dreißig einen Aufzug, hatte sie verwundert gefragt, sie hätte eine andere Wohnung vorgezogen, mit Blick auf die Landschaft des Toten Meers und einer großen Terrasse, die ihr auf längere Sicht wichtiger erschien, und er, der sich immer rühmte, vorausschauend zu sein, erklärte, man weiß nie, was passiert, einen Aufzug braucht man immer, was sich nach einiger Zeit, nach ihrer Verletzung, als richtig herausstellte und sie dazu veranlasste, Witze darüber zu machen, dass er beim Nachrichtendienst nützlicher wäre als beim Hightech.

Ihn hat das aber nie amüsiert, und jetzt, um drei Uhr vierzig oder ein bisschen später – sie wagt nicht, wieder auf die Uhr zu schauen –, da die Schmerzen sie am Wiedereinschlafen hindern, rekonstruiert sie einen anderen Moment, einen Moment an jenem Morgen, hinterfragt wieder die extrem zufälligen Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit, die zu den schlimmsten Katastrophen führen, ebenso wie zu den aufregendsten Wundern.

Sie erinnert sich, dass Micki am Vorabend spät von der Arbeit zurückgekehrt war, sie hatte schon geschlafen, und als sie morgens aufwachte, war er bereits angezogen und sagte, er habe es eilig, sie hätten ihn vom Büro angerufen. Damals war er viel seltener zu Hause als heute. Doch ausgerechnet, als die Kinder ihn am meisten gebraucht hätten, war er kaum da, und heute, da es nicht mehr besonders wichtig ist, kommt er früh nach Hause, spielt stundenlang Schach am Computer und streckt sich dann mit einem Seufzer auf dem Sofa aus, um fernzusehen, aber morgens hat er ihr auch damals mit den Kindern geholfen, das heißt mit Omer, der in der ersten Klasse war und dort, seiner Meinung nach, so sehr litt, dass er kaum aus dem Haus zu bringen war. Er schloss sich in der Toilette ein, und es halfen weder Drohungen noch Versprechungen und auch keine kleinen Aufkleber.

Ausgerechnet an jenem Morgen war er vergleichsweise fröhlich, sie erinnert sich, dass er noch auf dem Ehebett wild herumhüpfte, während Micki bereits angezogen war und sie gerade aufwachte, ein heller Tag zu Beginn des Sommers, es war sogar noch ein bisschen kühl, Micki trug seine alte, dünne, senffarbene Jacke, die sie nicht mochte, von der er sich aber nicht trennen wollte, und Omer sang aus vollem Hals, so dass sie einer den anderen kaum verstanden. Omer schrie, Kinder von sechs und Kinder von sieben malen mit Pipi und Kacka, und wie immer gelang es ihm, Spannung und Nervosität zu verbreiten.

Gehst du schon?, fragte sie ihn verwundert, die Kinder sind noch nicht fertig, es ist noch nicht mal sieben. Und Micki sagte, das Büro hat angerufen, das System ist abgestürzt, ich muss schnell hin, und sie fragte, wieder verwundert, um diese Uhrzeit?, als wäre es mitten in der Nacht, und er sagte, Omer, sei endlich still, obwohl der Junge genau in diesem Augenblick schweigend hüpfte, nun aber sofort mit Quengeln anfing, das sich aber sofort in ein Lied verwandelte, das eine reine Herausforderung bedeutete, Papa Pipi, Papa Kacka, redet wie ein Spinner! Damit zwang er sie einzugreifen, Omer, es reicht, so spricht man nicht mit seinem Vater, und Micki, zurückweichend, öffnete schon den Reißverschluss seiner Jacke, ist doch egal, ich bleibe hier und fahre sie, wie immer.

Ihre Schule lag auf seinem Weg, nicht auf ihrem, und sie war damals im Sabbatical, um ihren Magister zu beenden, sie genoss es, in aller Ruhe zu duschen und Kaffee zu trinken, wenn alle schon weg waren, doch sie sah ihm an, wie wichtig es ihm war, loszugehen, weil ihn der Fehler im System beunruhigte, deshalb beschloss sie, ihm zuliebe auf ihren gemütlichen Morgen zu verzichten, um ihn für etwas anderes, viel Größeres zu entschädigen, sie empfand ihm gegenüber immer ein bisschen Mitleid und hatte Schuldgefühle, deshalb war sie manchmal böse auf ihn und manchmal auf sich selbst.

Sie setzte sich auf, gegenüber den offenen Spiegeltüren des Schranks. Ihr Gesicht war weiß und müde und ihre schwarzen Haare sahen wild aus, sie strich sich die Haare glatt und betrachtete ihn von der Seite. Omer hatte den Raum schon verlassen und veranstaltete irgendwelchen Unfug in Almas Zimmer, denn sofort war ihr Geschrei zu hören, verschwinde! Papa! Mama!, und sie sprang aus dem Bett, und als sie an ihm vorbeilief, sagte sie, geh schon und bring dein System in Ordnung, ich komme schon zurecht, und er bewegte den Reißverschluss nach oben und unten, machte einen Schritt vor und einen zurück, und die kleine Bewegung seiner Finger auf dem Reißverschluss betonte das Ausmaß der Unsicherheit zwischen ihm und ihr, und in Dutzenden anderer Wohnungen, in denen sich Menschen auf den Alltag vorbereiteten, ihre Körper wuschen, die dazu bestimmt waren, in die Erde gesenkt zu werden, sich bückten, um ihre Schuhe an den Füßen zu binden, die in genau einer Stunde abgerissen werden würden, die Feuchtigkeitscreme auf Haut schmierten, die dazu bestimmt war zu verbrennen, die sich hastig von einem Kind verabschiedeten, das sie nie wieder sehen würden, die einem Baby die Windeln wechselten, das nur noch eine Stunde zu leben hatte, und sie selbst zog die gestreifte, lockere Bluse und Jeans an, band sich nachlässig die Haare zusammen, denn sie würde ja gleich zurückkommen, versprach Omer eine Pizza zum Mittagessen, wenn er schnell aus seinem Versteck herauskommen würde, strich Brote und packte sie in die Schultaschen, schaffte es sogar noch, Alma einen hübschen französischen Zopf zu flechten, bevor sie das Haus verließen. Im Auto hörten sie noch den Rest der Acht-Uhr-Nachrichten, und Alma beklagte sich laut, dass sie wegen Omer wieder zu spät kam, aber es dauerte keine zehn Minuten, da waren beide schon am Schultor, und sie machte sich mit einem Gefühl der Befreiung auf die Rückfahrt und überholte einen Autobus, der an der Haltestelle stand.