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Inhaltsverzeichnis

Buch
Autor
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Copyright

Autor

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissaboner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt.

Erstes Kapitel

Mein Vater hat mir nie erlaubt, hier einzutreten. Er wird sich in den Schaukelstuhl gesetzt und aus der Dachluke hinunter in den Garten, auf das Tor, auf die Straße, auf mich als kleines Mädchen geschaut haben, wie ich am Ufer des Teiches mit meiner Schwester spielte, wir seien Feen. Sonntags zog er die Kommodenschublade auf, wühlte in Papieren, bis wir das Klingeln des Ringes hörten, stieg, zwischen allen andern Schlüsseln nach dem Schlüssel suchend, die Dachbodentreppe hinauf

(wie ich heute, wo es mir niemand mehr verbietet, die Schublade aufgezogen, die Papiere durchwühlt habe, bis ich das Klingeln des Ringes hörte und, den Schlüssel zwischen den anderen Schlüsseln suchend, die Treppe hinaufgestiegen bin)

und blieb stundenlang im Schaukelstuhl sitzen

(in diesem Augenblick wird mir am Geräusch der Sprungfedern klar, daß es der Schaukelstuhl war)

und schaute aus der Dachluke in den Garten hinunter, auf das Tor, auf die Straße, auf mich, wie ich am Ufer des Teiches mit meiner Schwester spielte, wir seien Feen

nein, ich glaube nicht, daß er sich für die Straße oder für uns interessierte, für die Straße hat er sich nie interessiert, und was uns betraf, schenkte er uns allenfalls stummes Mißfallen, meine Mutter zeigte ihm unsere Zeugnisse, und er wies sie mit dem Handrücken von sich, wir stellten ihm Fragen, und er kaute weiter, wir änderten unsere Frisur, und er bemerkte es nicht einmal, eines nachmittags während der Klavierstunde

die Lehrerin blätterte gerade die Noten um

da spürte ich etwas hinter mir, drehte mich auf dem Klavierhocker um, auf dem ein Wörterbuch lag, damit ich an die Töne reichte, und sah plötzlich ihn auf der Schwelle, sein Gesicht wurde sofort ernst, und er verschwand so eilig auf dem Flur, daß er eine Vase auf dem Konsoltischchen umstieß

ich erinnere mich an die ängstlichen Finger, die die Vase wieder aufrichteten, an das verrutschte Deckchen, an sein auf sich selbst ärgerliches Trotten zum Arbeitszimmer, daran, wie er mit dem Rechtsanwalt schalt, der ihn, die Handflächen unter respektvollen Verbeugungen einseifend, erwartete

– Haben Sie für das viele Geld das ich Ihnen bezahle nichts zu tun oder was?

tagelang schien es mir so, als schämte er sich vor mir, so wie er sich vor den Besuchern im Krankenhaus schämte, wo er mit all diesen Apparaten und Schläuchen lag, niemandem Befehle erteilen konnte, meine Mutter entschuldigte sich am Fahrstuhl bei den Besuchern, nahm die Nelkensträuße, die Pralinenschachteln, die Bildbände über Malerei entgegen, die er mit dem Handrücken ablehnte

es waren keine Zeugnisse, Vater

– Er ist wegen all dieser Behandlungen ungeduldig der Arme nehmen Sie es ihm nicht übel

meine Mutter entschuldigte sich noch beim geschlossenen Fahrstuhl weiter, an dem die Stockwerke vier drei zwei eins abnahmen, während der Rufknopf lautlos an- und ausging

– Ich bin sicher er freut sich wahnsinnig über die Pralinen er ist so ein Leckermaul

die Sträuße und die Bücher rutschten ihr aus den Armen, sie hob das Knie, um zu verhindern, daß eine Pralinenschachtel zu Boden fiel

– Was mache ich bloß damit

plötzlich so alt, zweiundvierzig oder dreiundvierzig Jahre alt, glaube ich, die sich vervielfältigten, während sie die Päckchen festhielt, die ein Eigenleben besaßen und nicht aufhörten, abwärts zu streben

– Mein Gott Maria Clara Ana Maria

und sie flutschten auch uns weg, idiotisch und weich, die Stationsangestellte kippte sie in eine Plastiktüte

– Hier bitte

der Kranke in Morgenmantel und Krücken, der heimlich in der Stationsküche rauchte, kam hustend, erstickend, scharlachrot heraus, steckte in einem blauen Nebel die Pfeife ein, hielt inne, um uns zu betrachten, wäre ich eine Fee, würde ich ihn mit dem Stab berühren, und hopp, mein Vater war nicht in jenem Zimmer, er schob den Vorhang zur Seite, der die Bodentreppe verdeckte, und setzte sich inmitten des Staubes, der Schränke und Truhen manchmal eine Stunde, manchmal zwei, manchmal den ganzen Nachmittag lang in den Schaukelstuhl, Uniformen, Fotos von Militärs zu Pferde, Hüte meiner Großmutter in runden Schachteln mit französischen Etiketten

elegante Damen auf malvenfarbenem Hintergrund

meine Großmutter ging jeden Tag nach dem Mittagessen heimlich aus dem Haus, das lächerliche Hütchen oben auf dem Kopf, mit Perlentasche und ihrem unechten Schmuck, um im Casino Roulette zu spielen, ihre echten Ohrringe und Ketten hatte sie an den Pfandleiher verkauft

eine Art Meeraal hinter einem vergitterten Schalter, die von Rheuma krummen Finger warteten ewig, während der Mund redete, meine Großmutter

– So wenig?

und dann schoben sie sich plötzlich vor und packten die Perlen

es gab unendlich viele Uhren im Laden, die glücklichere Stunden verhießen, billige Eheringe und Regale voller Gegenstände, deren Farbe abgeblättert war, Vergoldetes oder Kupfernes, wie es die Dienstmädchen lieben, und zwischen ihnen führte eine heimliche Katze verächtlich die Genauigkeit ihrer Pfoten spazieren

das lächerliche Hütchen kam am Casino an, noch bevor es öffnete, lehnte sich an die Palme und zog einige zerknüllte Geldscheine aus der Perlentasche, die Möwen, nicht sehr viele, die vom Anfang der Welt, kamen und gingen zwischen dem Café Tamariz und den Schiffen, der Portier rief sie mit zum Haken gebeugtem Finger spottend heran

– Bitte sehr Frau Gräfin

meine Großmutter hockte sich mit ein paar geizigen Jetons an die Ecke eines Tisches unter die riesigen Lüster, notierte die Zahlen in der Handfläche, versuchte zu setzen, machte einen Rückzieher, faßte sich ein Herz, machte wieder einen Rückzieher

vielleicht konnte mein Vater vom Dachbodenfenster, nicht aus diesem, aus dem seitlichen, dieses Wesen sehen, das, sobald das Geld aufgebraucht war, mit den Fingern kämpfend, die unechten Schmuckstücke am Schalter einzutauschen versuchte

– Amethyste Rubine

warum ein abgewetztes Kleid, wo wir doch nicht arm waren, warum die Brosche am Fuchspelzkragen, der schon keinen Fuchs mehr hatte, mit ausgerupften Brillanten, wenn Besuch kam, schickten sie sie zum Essen in die Küche des Hauses, das sie von ihrem Vater geerbt hatte und in dem sie nun im Nähzimmer gleich hinter der Anrichte bei einer kaputten Maschine und zerlöcherten Körben schlief, die nach Chlorbleiche rochen, eines Samstags, in dem Monat, in dem sie eine Embolie bekam, gewann sie im Casino, wechselte das Hütchen gegen einen scharlachroten, mit den Jahren verblichenen Umhang, den sie wahrscheinlich in der Hoffnung auf einen ähnlichen Triumph unter dem Bett verwahrte, als wir ins Eßzimmer kamen, fanden wir sie am Kopfende am Platz meines Vaters vor

am Platz ihres Vaters

ohne unechten Schmuck, ohne Brosche, ohne Fuchs, wo sie von der Höhe ihrer wiedererlangten Autorität die Plätze zuwies

– Du hier links von mir und du hinter meinem Schwiegersohn du vor Maria Clara

die Gespräche bestimmte, Benehmen tadelte, verlangte, das Fleisch besser durchzubraten und die Salatsauce nachzuwürzen, das Personal mit der keinen Widerspruch duldenden Augenbraue herumkommandierte, meine Mutter wanderte im Versuch zu begreifen von Gesicht zu Gesicht und fand nur gehorsam in die Teller vertiefte Nasen vor, meinen gezähmten Vater, der keinerlei Einspruch erhob

– Mama

das Foto des Herrn General wurde wieder an die Wand gehängt, die Glocke zum Dienstmädchenrufen war wieder da

eine Bäuerin mit Haube und dem Glockenschwengel im Rock

läutete Ungeduld, meine Großmutter, ohne meiner Mutter den gebieterischen Umhang zuzuwenden

– Die Schultern zurück und zwar ordentlich Amélia

die Orden des Herrn General auf dem Bord wurden größer, das Bord

Verzeihung, das Bild mit dem Präsidenten Krüger, mit dem englischen Herzog, mein Vater nicht mehr am Kopfende, unbedeutend zwischen Ana Maria und dem Obstkorb

– Du hättest wirklich einen präsentableren Mann heiraten können Amélia

und am Ende des Abendessens Walnüsse, Portwein, einen Kuchen mit Kerzen, mein Großvater, der von der Militärschule kam, überquerte, um ihr seine Liebe zu zeigen, den Bürgersteig, geschützt vom Ellenbogen aus Furcht, der Herr General könnte ihn im Dunkeln erkennen, an ihn erinnere ich mich nur als an einen Blinden, der mit meinem Vetter, dem Oberleutnant, Schach spielte, wenn es im Arbeitszimmer dunkel wurde, machte er das Licht nicht an, wir bedienten den Schalter und machten vor Schrecken einen Satz

ein Gespenst

wenn wir ihn sahen, ein regloses Ding zwischen reglosen Dingen, der Arzt horchte meinen Vater ab

– Wir müssen Sie am Herzen operieren Herr Doktor

und mein Vater, der sich veränderte, ohne sich zu verändern, was sich änderte, waren die Dinge ringsum, das heißt, die Gebäude in Estoril wurden feierlicher, die Geräusche schwerer, ein merkwürdiger Ernst lag in den Bäumen, meine Mutter mit einer Art Schreckensschluchzer, und mein Vater, ohne daß seine Lippen auch nur gezittert hätten

– Warte auf dem Flur Amélia

genau wie mein Großvater im Arbeitszimmer ohne Licht, das gleiche Kinn, vorgestreckt, um die Finsternis zu erkunden, die wir nicht kannten, die gleichen Nasenlöcher auf der Suche nach Gerüchen

– Wer ist da reingekommen?

die gleiche gerunzelte Stirn, die wer weiß was hörte, mein Vater genau wie mein Großvater vor seinen unsichtbaren Schachfiguren zu Ana Maria, zu mir

– Ihr auch

ein Schmutzfleck an einem Absatz, die Bügel der Brille flohen die Ohren, meine Großmutter schnitt den beleuchteten Kuchen an und schüttelte, verärgert über den Fleck, den Kopf

– Du hättest dir wirklich einen präsentableren Mann anschaffen können Amélia

präsentabel wie der Kadett der Militärschule, der den Bürgersteig überquerte, bevor er in Spanien erblindete, alles stand still, und da ein Schrei im ersten Stock

– Schach matt Tomás

der fehlende Turm war durch einen Pyjamaknopf ersetzt worden, in dessen Löchern noch Fadenreste hingen, sobald einer der Türme aus dem Spiel war, wurde der Knopf in einem Kästchen verwahrt, ein Fingerhut anstelle des weißen Königs, der Oberleutnantsvetter überlegte, wie er absichtlich einen Fehler machen könnte, mein Großvater zu niemandem, während er mit Händen, die den Pfoten der Katze vom Pfandhaus ähnelten, die Bauern und Läufer umrundete, ohne sie umzuwerfen

– Wird’s heute noch was Tomás?

ich glaube, mein Vetter starb zuerst, er lebte in einer kleinen Wohnung in Birre, sie führten Ana und mich in ein Zimmer mit schweigenden Leuten und Blumen auf einer Fahne, die als Überdecke diente, aber wann das mit meinem Großvater war, daran erinnere ich mich nicht, ich erinnere mich nicht einmal daran, daß das Schachbrett fehlte, das ich heute auf dem Dachboden gefunden habe, heute morgen haben die Krankenpfleger meinem Vater ein rosa Hemd gegeben und ihn aus dem Zimmer geholt

– Ich bin kein Invalide ich muß nicht auf der Bahre liegen

meine Mutter gab ihm das Kästchen für sein Gebiß, mein Vater empört, als er merkte, daß wir es mitbekommen hatten, die Anästhesistin zwinkerte meiner Mutter zu, und das Kästchen verschwand in ihrer Handtasche

– Dummes Ding

bevor es heimlich in die Tasche der Ärztin wanderte, wenn ich so alt bin wie er, werde

ich mich dann auch widerlich finden, herabgewürdigt, grauenhaft?

ich mich vor mir selber ekeln und dennoch nicht aufhören, Aufgedunsenes, Mängel, Fett zu verbergen, mich mehr schminken, erblonden, Haarlack benutzen und BHs mit Drahtbügel anziehen, den Preis der Dinge ohne Brille zu entziffern versuchen und dabei die Etiketten im Abstand von einer Armlänge halten

– Sie drucken die Zahlen immer so undeutlich versuch du es mal Maria Clara ist das nun eine Acht oder eine Neun?

mein Vater ging barfuß neben der Krankenbahre her, die Fahrstuhltür schloß sich mit einem Seufzer, meine Großmutter verteilte eine Scheibe Kuchen an jeden, hob grüßend mit einem Blick in die Runde das Portweinglas, die Angestellte, die sie mit gnädiges Fräulein ansprach und schon, bevor ich geboren wurde, bei uns lebte, nickte von der Schwelle her zustimmend, eines Morgens nahm sie mich zur Seite und zeigte mir den Schatz, der aus einem zerbrochenen Bilderrahmen bestand, in dem die beiden ganz jung waren, oder zumindest die, von denen die Angestellte schwor, daß sie beide es seien, die da verschwommen in einem braunen Fleck zu sehen waren

– Schauen Sie ich bin die die dem gnädigen Fräulein den Regenschirm hält

Gestalten in dem braunen Fleck, etwas wie eine Bluse oder ein Haarknoten oder eine Wolke, die Angestellte wickelte den Rahmen in ein Blatt Zeitungspapier und starrte mich furchtsam an, als könnte ich ihn ihr wegnehmen, beugte sich mit ihrer Wirbelsäule schimpfend vor, um ihn unter den Bettüchern zu verstekken, sie lieh meiner Großmutter Geld, folgte ihr zutiefst besorgt bis zur Palme beim Casino, hockte sich hinter die Autos, tat so, als wäre sie zufällig da, um sie nach Hause zu begleiten

– Ich kam gerade vorbei und sah Sie

versuchte, die Perlen am vergitterten Schalter mit einer Goldkette, die ihre eigene war, loszukaufen

– Nehmen Sie die Goldkette als Anzahlung ich schreibe in mein Dorf und meine Neffen und Nichten schicken mir den Rest es ist die Kette vom Fräulein Margarida wenn Sie sie seit zwanzig Jahren kennen würden könnten Sie es verstehen

die Katze umrundete eine geschnitzte Heilige, reckte sich und schaute sie gelangweilt-friedlich an, stellte den Schwanz auf und verschwand schließlich inmitten der stehengebliebenen Uhren, von denen bei einer ein Kuckuck mit geöffnetem Schnabel am Ende einer Sprungfeder hing, der Meeraal schob ihr die Goldkette über den Tresen zurück

– Das ist nichts wert das ist Blech

ich war mir fast sicher, daß sie an ihren freien Tagen bettelte, um die Perlen zurückzukaufen

und die anderen Ketten und Ohrringe und das Achatarmband

bis Ana mir lachend erzählt hat, sie habe im Café Tamariz den Touristen die Hand hingestreckt und Reden über den Herrn General und das gnädige Fräulein gehalten, den Herrn General, der Eisenbahnen in Afrika gebaut habe, und das reizende Fräulein, mit jeder Menge Sklaven, das wie eine Marquise erzogen worden sei, in dem Augenblick, als sie sich anschickte, den zerbrochenen Rahmen zu erklären

– Das bin ich wie ich ihren Regenschirm halte schauen Sie mal

hatte sie der Kellner mit dem Tablett, auf dem er den Kaffee brachte, bedroht

– Geh am Bahnhof betteln Tantchen

sie war es, die die Ritzen im Schlafzimmer mit Stoffetzen zustopfte, das Damastviereck auf das eiserne Bett legte, ihr die Kleider mit Nadeln feststeckte, den kleinen Hut bürstete, ihre Eitelkeit beruhigte

– Ich bin doch noch schlank oder?

den Daumen dem Zeigefinger näherte, bis sie sich fast berührten

– Sie haben sich nicht so viel verändert gnädiges Fräulein

ihr fünf oder sechs Münzen in die Tasche steckte, meine Mutter oben von der Treppe her

– Adelaide

zu deren beiden Seiten unter dem Vordach Töpfe mit Begonien standen, vom Schaukelstuhl auf dem Dachboden aus kann man weder die Treppe noch das Vordach sehen, nur den Garten auf der dem Meer abgewandten Seite, warum sich dort hinsetzen und inmitten der Schränke und Truhen in Papieren stöbern, im Krankenhaus der Parkplatz und die Autobahnüberführung, die die Lamellenrollos schüttelte, wenn ein Lastwagen darüberfuhr, Ana und ich warteten am leeren Bett darauf, daß der Arzt zurückkam, Ana schaute in einer Bluse, die sie mir aus der Kommode geklaut hatte, einen Film im Fernseher unter der Zimmerdecke an, meine Mutter fischte den Rosenkranz aus der Handtasche und küßte das kleine Kreuz

– Schämst du dich nicht ihre Sucht noch zu unterstützen Adelaide?

die Leibwächter, die auf meinen Vater aufpaßten, rauchten an den Wagen gelehnt, der Oberleutnantsvetter stellte die Figuren für das nächste Spiel auf, Ana machte den Fernseher lauter, während meine Mutter abermals das Kreuzchen vom Rosenkranz küßte

– Gehört diese Bluse nicht deiner Schwester Ana Maria?

ein Kleiderschrank mit zwei oder drei Bügeln auf der Stange, ein geblümtes Sofa, das man zu einer Liege ausklappen konnte, die Angestellte mit einem letzten Bürstenstrich

(die stolzen Augen betrachteten das Hütchen, würde man es ihr erlauben, dann würde sie den Regenschirm über meiner Großmutter aufspannen, um sie vor dem Herbst zu schützen, würde sie ihr das Schlafzimmer im ersten Stock mit dem Baldachin und dem Spiegel mit der Bronzefassung wiedergeben, das meine Eltern jetzt belegten, sie würde den Herrn General wiederauferstehen lassen, und niemand mehr würde sie demütigen)

– Gehen Sie gnädiges Fräulein nun gehen Sie schon

meine Großmutter trabte über den kleinen Platz, die Tasche schlenkerte nach rechts und nach links, Ana wechselte den Sender, und ein Löwe riß ein Zebra, schaltete weiter und ein russisches Ballett, meine Mutter streichelte derweil das Kreuzchen vom Rosenkranz

– Dein Vater wird operiert und du hast den Fernseher auf voller Lautstärke

Infusionsflaschen, Sauerstoffflaschen, die gegeneinanderstießen, jemand, der rief

– Die Klingel von Nummer siebenundzwanzig Helena

eine Haube öffnete die Tür, spähte herein, schloß die Tür

– Verzeihung

Ana schaltete den Fernseher ab, ging ans Fenster, einer der ans Auto gelehnten Leibwächter winkte mit der Zigarette, und der Busen meiner Schwester wuchs in meiner Bluse, das Hütchen verschwand wackelnd auf dem kleinen Platz, schämst du dich nicht, ihre Sucht noch zu unterstützen, Adelaide, sie zu zwingen, die Kette zu verpfänden, die Bluse stand meiner Schwester besser als mir, sie war blonder, üppiger, mein Großvater, der den Pyjamaknopf auf dem Schachbrett verschob

– Und was sagst du jetzt Tomás?

wenn wir versuchten, ihm beim Gehen zu helfen, schüttelte er unseren Arm ab, bewegte sich vorsichtig wie ein Käfer, der sich die Vibrationen der Möbel aneignet, auf dem Teppich vorwärts, wenn wir ihn morgens küßten

– Hallo Großvater

machte er einen kleinen, unangenehm berührten Satz zurück, verteidigte die Wange mit den Fühlern

– Na na na na

zuckte noch in abebbendem Erschauern auf dem Sessel, wenn wir aber an Angina erkrankten und Spritzen in einem Topf ausgekocht wurden, dann hörten wir seine bleiernen Schuhe im Fiebernebel, das Knie, wie es gegen eine Truhe stieß, die nicht an ihrem Platz stand, das unruhige Seufzen

– Die Kleinen?

dann stand er da, schnuppernd, stocksteif, nutzlos an den Türrahmen gestützt, den Mund zittrig von stummen Worten, die toten Augenlider Ängste blinzelnd, es gab kein Foto von ihm in Uniform, keine Medaille in einer Vitrine, er aß, eine Serviette um den Hals, nach uns allein im Eßzimmer, damit wir nicht sahen, wie er sich bekleckerte, Reis und Fleischstücke verteilte, wenn er ahnte, daß wir heimlich guckten, vergaß er den Löffel, drehte den Kopf in die falsche Richtung

– Na na na na

eines Nachmittags schloß er sich in das Kabuff ein, das vom Arbeitszimmer abging, und wollte sich mit entladener Pistole erschießen, drückt unzählige Male auf den Hahn und nichts, der Oberleutnantsvetter fand ihn vor, wie er den Lademechanismus mit steifen Fingern und einer Art Hauchen untersuchte

– Die funktioniert nicht

meine Großmutter verbrauchte unechten Schmuck im Casino, meine Mutter und mein Vater reglos im Schatten der sich auf der Terrasse verbeugenden Fische, Starenfrüchte im Laub, die Augen des Oberleutnantsvetters seltsam gerötet, wie er meine Eltern bat, sie mögen weggehen, die freudlose Begeisterung

– Hast du etwa vergessen daß wir noch eine Partie Schach zu Ende spielen müssen Hernâni?

die von Rost schwere Pistole auf dem Sekretär mit den Papieren vom Metzger, den durchgebrannten Birnen und den Porzellantürknäufen, meine Mutter, die Perlen des Rosenkranzes übersprang, bemerkte die Leibwächter auf dem Parkplatz, zog die Gardine zu, und der Busen meiner Schwester wurde kleiner, wir müssen ihn am Herzen operieren, gnädige Frau

– Warte nur ab bis es deinem Vater besser geht Ana Maria

und er sich, anstatt mit dir zu schelten, sonntags mitten in den Staub zwischen die Schränke und die Truhen setzt, während wir an der Decke das Quietschen der Sprungfedern hören, der Schmutzfleck machte ihn verletzlicher, im Elend meiner Großmutter ähnlicher, vielleicht war das Leiden ja nichts als ein komisches Hütchen auf dem Weg zum Roulette, ein dreckiger Absatz oder ein Krankenhausbett ohne jemanden darin, bald würden die Anästhesistin und der Chirurg kommen und der Busen meiner Schwester sich wieder weiten, die Bilder im Zimmer unvermittelt feierlich, die Treppe zum Dachboden hinaufklettern, bevor die Besucher kommen, und mit niemandem sprechen, als das mit der Embolie meiner Großmutter war, riefen sie uns aus dem Casino an

– Wir haben hier eine Alte die bei Ihnen wohnt

als ich klein war, ließen sie mich mit ihr im Bett mit dem Baldachin schlafen, Adelaide brachte uns heißen Tee mit einem Tropfen Anislikör, kaum hatte ich ihn getrunken, hitzige Erregung, Hustenreiz, Erstickungsanfälle, Gekicher, das nicht zu mir gehörte, der Körper unscharf in einem Strudel von Bettlaken, Adelaide verhinderte, daß ich fiel, und half meiner Großmutter, das Haar mit dem Kamm mit dem Silbergriff zu bändigen, der durch ein Holzstück ersetzt worden war, würde man uns nebeneinander vor den Spiegel setzen, hätten wir die gleiche Größe, aber der Spiegel tanzte ebenfalls, ein Stück Garten tauchte auf und verschwand wieder, der Waschtrog hörte nicht auf zu tropfen, bildete an der Wand eine kleine Pfütze, in der sich leere Parfümflakons, leere Rougeverpackungen, leere Lippenstifte spiegelten, alles in meiner Reichweite, und dennoch konnte ich es nicht berühren, Adelaide formte aus den Haarsträhnen meiner Großmutter einen Knoten

– Sie haben sich nicht so viel verändert gnädiges Fräulein

Wergfäden, die an den Fingern klebenblieben, künstliches Puppenhaar, eine Atmosphäre wie tief in der Speisekammer, aus sauren und süßen Gerüchen ferner Dinge gemacht, die Wohnung des Oberleutnantsvetters über dem Café von Birre war so, keine Möwe, nur Störche und Orangen im März, meine Mutter blickte auf den vom Telefonbuch gestützten Sessel und wagte nicht, sich hinzusetzen

– Entschuldigen Sie wir sind wahnsinnig spät dran

die Augenbrauen des Oberleutnantsvetters rutschten enttäuscht herunter, das Tablett mit den Erfrischungsgetränken in den Armen, sah er uns hinausgehen, der Geschäftsführer des Casinos

– Hier hat eine Alte den Löffel abgegeben die bei Ihnen wohnt

über den Spieltisch gekrümmt, das Hütchen auf dem Kopf, die unechten Juwelen übertriebener denn je, meine Mutter suchte nach ihrer Brille und beugte sich dann zu meiner Großmutter hinunter, als habe sie Mühe, sie zu erkennen

– Auf den ersten Blick kommt sie mir wie eine kleine Alte vor die wir aus Barmherzigkeit bei uns aufgenommen haben

wobei sie Adelaide mit grimmigen Seitenblicken zum Schweigen brachte, Ana zupfte ihren Pony zurecht, und der Rock rutschte hoch, jetzt waren da eine Bahre und Feuerwehrleute, die meine Großmutter auf die Bahre legten, das Hütchen rollte auf den Teppichboden, der Oberleutnantsvetter in Birre mit seinen unberührten Erfrischungsgetränken tat eine halbe Zitrone in jedes Glas, und die Zuckerpaste häufte sich auf dem Grund, die Angestellte machte einen kopflosen Schritt vorwärts, und meine Mutter versteinerte sie mit einem Murmeln

– Adelaide

wenn einer der Fußknöchel nicht unter der Decke hervorgeschaut hätte, wäre das nicht meine Großmutter, wäre es ein Stück grauer Stoff mit etwas darunter gewesen, sie trugen sie durch den von Getränkekisten verstellten Lieferanteneingang, als der Fahrer der Feuerwehr herankam, um zu helfen, und zwei Hunde sich im Hof in die Haare gerieten, wurden die Kleider meiner Schwester eine Handbreit kleiner, der Geschäftsführer kam mir auf der Straße älter vor

Falten am Hals, Falten am Nacken

ohne den nachsichtigen Schleier des Glanzes, der Kummerbund vom Smoking brauchte Stärke, meine Mutter, indem sie auf das Hütchen zeigte

– Ich hätte nie gedacht daß sie solche Leute das Casino besuchen lassen

die Beerdigung heimlich in einem an den Hang von Sintra gepreßten Dorf, der Priester, meine Mutter und wir, ein halbes Dutzend Grabstätten, ein halbes Dutzend zwischen den Grabsteinen umgetriebene Bäuerinnen, ein Junge, der in einer Mauerecke Kohl anpflanzte, der Karren rüttelte auf den Steinen des Weges, Herden, Disteln, Mühlen, das Meer weit in der Ferne an den Dünen des Guincho, mein Vater das erste Mal in der Dachluke, wo er uns zuschaute, als ich meine Mutter rief, war die Luke verlassen, wir schwenkten die Mittagessensglocke, und er kam nicht die Treppe herunter, nur Schritte auf der Zimmerdecke, ich befürchtete, meine Großmutter könnte an jeder Ecke im Haus auftauchen und zerknitterte Banknoten aus der Perlentasche ziehen

– Soviel du möchtest Clarinha tu dir keinen Zwang an

ich nehme an, Adelaide besuchte sie auf dem Friedhof, weil sie das Gartentor ganz sachte schloß, nachdem sie durch den Garten gegangen war und Levkojen abgerissen hatte, wir sahen sie mit dem geöffneten Regenschirm des gnädigen Fräuleins an der Bushaltestelle, wo sie sich nicht vor dem Herbst schützte, sondern eine Person bedeckte, die es nicht gab, Monate später überreichte sie meiner Mutter die Perlenkette

– Ich habe sie zurückgekauft gnädige Frau hier nehmen Sie sie

nicht gnädiges Fräulein, gnädige Frau, die Kette in einem Seidenpapierumschlag

– Da nehmen Sie

nicht aus Freundschaft oder Hochachtung, aus Rache

(sagte meine Mutter)

damit sie das gnädige Fräulein am Leben hielt

(glaube ich)

die Tochter des in Afrika so bedeutenden Generals, die Erinnerung an den englischen Herzog beim fünfzehnten Geburtstag des gnädigen Fräuleins, die Gemahlin des Herrn General, die gerührt vor seiner Hoheit in die Knie ging  – Hoheit

Adelaide muß Ewigkeiten gebraucht haben, bis sie das Geld zusammenhatte

– Da nehmen Sie

den Verwandten geschrieben haben, im Café gebettelt haben, wo sie sie zum Bahnhof jagten

– Tantchen

wo sie sie zum Bahnhof scheuchten

– Stör die Touristen nicht Tantchen

die zweireihige Kette mit einem Verschluß aus Koralle, meine Mutter, ohne sie zu berühren

– Was ist das denn?

nicht gnädiges Fräulein, gnädige Frau, ich habe in ihren Augen noch nie soviel Schrecken gesehen

– Was ist das denn?

der Schrecken verflog, während sie den Umschlag untersuchte, ihn wog, mit dem Fingernagel darauf entlangfuhr

– Sie haben dich betrogen Adelaide das ist eine schlechte Imitation

mein Vater vom Sofa aus über das Buch hinweg, ich dachte, er würde etwas sagen, aber er sagte nichts, dachte, er würde meine Mutter hassen, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, da in diesem Augenblick der Arzt ins Zimmer trat, der grüne Kittel, den ich erwartet hatte, der Ernst, den ich erwartet hatte, Ana wurde jetzt kleiner, auch ihr Schrecken, Adelaide nannte uns weder gnädiges Fräulein noch gnädige Frau, sie sagte überhaupt nichts zu uns, wenn sie es schaffte, uns zu übersehen, wenn sie es schaffte, daß wir nicht existierten, meine Mutter küßte das kleine Kreuz des Rosenkranzes, ich konnte den Gesichtsausdruck meines Vaters nicht sehen, weil der Arzt meiner Mutter versicherte, Ihrem Mann geht es großartig, meinen Glückwunsch, in spätestens einer Woche haben Sie ihn brandneu wieder zu Hause, der Mund hob sich vom Kreuzchen des Rosenkranzes, das Bett war kein Sarg mehr, da waren Kissen und Betttücher, die warteten, meine Mutter gab Adelaide die Perlen zurück, und das Seidenpapier raschelte in der Schürzentasche, ich weiß nicht, warum ich dachte, ich würde gleich weinen, aber ich habe nicht geweint, der Schaukelstuhl schaukelte wieder über dem Deckenanstrich, meine Schwester und ich spielten Feen am Ufer des Teiches, und es war lustig, wie

(sogar ohne Zauberworte)

bei der ersten Bewegung des Zauberstabes

(ein Stück Bambus mit einem Stern an der Spitze)

Krankheiten, Agonien, Krankenhäuser, Tode aufhörten zu existieren, alles war wieder gut, alles wieder gut, alles wieder gut, Gott sei Dank war alles wieder für immer gut.