Kapitel 2
Was ist passiert?« Tatius durchbohrte mich geradezu mit seinem Blick.
Ich sah mich um. Nathanial stand ein paar Schritte von mir entfernt am Rand des Halbkreises, der sich um mich herum gebildet hatte. Seine Haltung war distanziert, gleichgültig, aber er sah mich an, ohne zu blinzeln. Mit zwei langgliedrigen Fingern tippte er sich gegen die volle Unterlippe, als grüble er über einen verschwommenen Gedanken nach, doch immer noch blieb sein Blick unverwandt auf mir. Etwas mit meinem Mund? Ich presste die Lippen zusammen.
Scheiße. Meine Fangzähne waren immer noch draußen.
Ich zwang die verdammten Dinger, sich zurückzuziehen, und Tatius’ Griff um meinen Arm verstärkte sich. Er schüttelte mich.
»Ich fragte: Was ist passiert?«
»Ich habe sie an der Schulter berührt, das war alles.«
»Sollen wir mal raten, warum?«, ertönte eine glockenhelle Stimme von irgendwo aus der Masse der Vampire heraus.
Ich biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, mir die Hand vor den Mund zu halten. Meine Fangzähne waren zwar nicht mehr sichtbar, das wusste ich, dennoch war es für niemanden auf der Galerie ein großes Geheimnis, was mich dazu bewogen hatte. »Sie roch nach Blut«, murmelte ich vor mich hin.
Ich hätte es besser wissen sollen. Vampire hatten ein ausgezeichnetes Gehör.
Die Frau in dem goldbesetzten Kleid zog eine geschwungene, mit Strass-Steinchen verzierte Augenbraue hoch. »Ich denke, in dieser Menge wäre der Geruch von Blut von mehr als nur einem unbesonnenen Kind«, mit dieser Beleidigung tat sie mich als unbedeutend ab, »bemerkt worden. Es sei denn, es war irgendein Trick dabei.« Erneut starrte sie die in Pose sitzende Gestalt an. Am Kragen des Kostüms war kein Blut zu sehen – es war nicht einmal Blut an dem sauber abgetrennten Stumpf ihres Halses. Die Frau drehte sich wieder zu Tatius um. »Was hast du dazu zu sagen, Puppenspieler?«
»Bitte entschuldige, Sammlerin. Ich versichere dir, dass ich der Sache auf den Grund gehen werde …« Tatius’ raue Stimme kratzte an meinem Rückgrat entlang.
Sammlerin? Na großartig. Die Sammlerin war der große böse Star der Party. Der Ehrengast. Ich musste wirklich so was von hier raus! In meinem alten Leben hatte ich gelernt, dass es dumm war, eine Alpha-Katze am Schwanz zu ziehen – obwohl das zu wissen nicht unbedingt hieß, dass es nicht trotzdem passierte, manchmal zumindest. Aber ich hatte absolut nicht vorgehabt, im Mittelpunkt dieser Aufmerksamkeit zu landen.
»Nuri«, sagte Tatius und wandte sich zu der Menge um. Der Pulk aus Vampiren, die nun, da sich der erste Schock über die Entdeckung der Leiche gelegt hatte, leise miteinander murmelten, teilte sich, um ein kleines Mädchen von höchstens zwölf Jahren durchzulassen.
Als Nuri näher kam, ließ Tatius meinen Arm los. Dem Mond sei Dank. Ich machte Anstalten, zur Seite zu treten, doch er legte mir die Hand auf den Nacken, sodass seine Fingerspitzen in der kleinen Grube zwischen meinem Schlüsselbein und meinem Hals zu liegen kamen. Es war kein Zwang in der Berührung, aber sie war allzu persönlich. O nein, verdammt! Das letzte Mal, als ich Tatius getroffen hatte, hatte er darüber nachgedacht, mich umzubringen. Dann hatte er mich gezwungen, sein Blut zu trinken. Ich wollte nichts mit diesem Vampir zu tun haben!
Unauffällig versuchte ich, ihn abzuschütteln, doch als Antwort darauf gruben sich seine Nägel in meine Haut. Okay, offensichtlich würde ich also eine Szene – eine weitere Szene – machen müssen, oder brav bleiben, wo ich war. Ausnahmsweise einmal ging ich auf Nummer sicher.
Nuri, die wie eine ägyptische Königin verkleidet war, mit einer großen Schlange, die zwischen ihren dunklen Dreadlocks hervorlugte, kniete sich neben den Harlekin. Als ich ihr dabei zusah, wie sie die Hand der Toten hob, wurde mir unvermittelt bewusst, wo ich Nuri schon einmal gesehen hatte. Sie hatte am Tisch des Rates gesessen, als ich zum ersten Mal vor die Vampire gebracht worden war, was bedeutete, dass sie viel älter sein musste, als sie aussah.
Nachdem sie sich die Leiche einen Augenblick lang angesehen hatte, stand sie wieder auf und drehte sich zu Tatius um. »Die Leichenstarre setzt gerade erst ein, deshalb würde ich schätzen, dass sie noch nicht länger als vier Stunden tot ist. Die Wunde ist nicht ausgefranst, also wurde sie mit einem scharfen Gegenstand enthauptet. Das fehlende Blut lässt vermuten, dass sie vor ihrem Tod ausgesaugt wurde. Sobald ich noch mehr herausgefunden habe, gebe ich Bescheid.« Die Worte klangen zu alt, zu ernst für ihre dünne, mädchenhafte Stimme. Nicht dass irgendjemand sonst das zu bemerken schien. Sie trat zur Seite und nickte zwei in Kunstleder gekleideten Vampiren zu, die daraufhin die Leiche aufhoben und zu einem Aufzug in der Ecke trugen. Der falsche Kopf lag immer noch unbeachtet auf dem Fußboden.
Die Sammlerin machte einen Schritt nach vorn, über den vergessenen Kopf hinweg, bis die Schleppe ihres Kleids ihn verschluckte. »Du lässt die Angelegenheit von deiner Wahrheitssuchenden untersuchen, und obwohl ich davon überzeugt bin, dass sie sehr gründlich vorgehen wird«, die Art, wie sie es sagte, machte deutlich, dass sie davon keineswegs überzeugt war, »biete ich dir Unterstützung durch einen meiner Vampire an.« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob sie die Hand. »Elizabeth, komm zu uns.«
Tatius’ Finger auf meiner Haut krümmten sich. Beunruhigung? Ärger? Doch er sagte nichts, als die kleine, puppenhafte Frau, die ich vorhin am Arm des Riesen gesehen hatte, zu uns trat.
»Ich werde mit Vergnügen behilflich sein«, sagte die Frau mit einem Knicks zu der Sammlerin. Dann drehte sie sich um, und ihr eisiger Blick traf den meinen. »Wenigstens wissen wir, dass der Harlekin nicht die Zwischenmahlzeit dieses Grünschnabels war.«
Tatius’ Finger auf meiner Haut krümmten sich erneut, diesmal fester. »Eremit, such ihr jemanden, damit sie trinken kann.« Er schob mich in Nathanials Richtung, und mit Freuden zog ich mich aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zurück.
Nathanial legte mir den Arm um die Taille und manövrierte uns durch die Menge, fort von den Sofas. Als wir an den beiden Vampiren vorbeigingen, die mit der Leiche auf den Aufzug warteten, atmete ich tief ein und ließ meine Sinne von dem Geruch der enthaupteten Frau durchdringen. Der süße, heftige Geruch von Blut griff nach mir und brannte an meinem Gaumen, doch ich konzentrierte mich darauf, mir ihren Geruch ins Gedächtnis einzuprägen.
Nathanial entgingen die Anzeichen meines Hungers nicht. »Ich bringe dich nach Hause.«
Nach Hause. Das war ein schöner Gedanke. Ich hatte genug von Vampiren. Genug von ihren doppelzüngigen politischen Spielchen. Und genug von kopflosen Leichen. Aber …
Ich warf einen Blick zurück zu den Vampiren, die den Leichnam der Frau in den Aufzug luden, doch was ich sah, war nicht ihr Harlekinskostüm. Mein Verstand ersetzte sie mit dem Bild eines anderen Leichnams, der bereits mehrere Tage tot und aufgebläht war. Ein menschlicher Leichnam, der zum Teil meine Schuld gewesen war, da ich versehentlich den Mann gezeichnet und dadurch zu einem Gestaltwandler gemacht hatte, der sie getötet hatte. Ich hatte den Mörder zwar aufgespürt und ihn aufgehalten, doch die Last seiner Opfer machte mir schwer zu schaffen.
Nathanial musterte mich mit Augen, die zu viel sahen. Augen, die meine Geheimnisse entblößten. Er schüttelte den Kopf, und ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Es war kein fröhliches Lächeln. Ich wandte den Blick ab, worauf er mich enger an sich zog, ohne dabei seinen Schritt in Richtung der Treppe zu verlangsamen.
»Ich bringe dich ins Krankenhaus«, sagte er. »Du kannst sie besuchen.«
Noch vor zwei Wochen hätte ich Krankenhäuser unter allen Umständen gemieden. Doch andererseits musste ich vor zwei Wochen auch noch atmen, um zu leben, verbrachte den größten Teil meiner Zeit als kaum sechs Pfund schwere, gescheckte Katze und wusste noch nicht, dass ich einen gefährlichen Einzelgänger geschaffen hatte, der Amok lief. Ein Einzelgänger, dessen Opferzahl sich auf vierzehn Frauen belief.
Die einzigen beiden Überlebenden lagen zurzeit im Saint Mary’s Hospital im künstlichen Koma. Vor zwei Wochen wäre es noch einfacher gewesen, einem kopflosen Leichnam den Rücken zu kehren. Darauf zu vertrauen, dass sich jemand anders darum kümmern würde. In zwei Wochen kann sich eine Menge verändern.
Ich warf einen Blick zurück zu den versammelten Vampiren. Alle Vampire von Haven befanden sich hier auf der Galerie. Der Harlekin war ausgesaugt worden. Wenn der Mörder ein Vampir war, dann war er hier. Das hat nichts mit mir zu tun. Für diesen Mord bin ich nicht verantwortlich. Das bin ich nicht.
Ich ließ mich von Nathanial aus dem Klub hinausführen. Aber verdammt, Schuldgefühle waren eine echt fiese Sache.
Zwei Stunden später betrat ich Nathanials Küche. Ohne Nathanial. Schließlich waren wir von Tatius nicht ausdrücklich entlassen worden, deshalb hatte Nathanial nach unserem Besuch im Krankenhaus wieder ins Death’s Angel zurückkehren müssen. Ich war immer noch überwältigt von dem Flug nach Hause, als ich den Geräuschen des Fernsehers ins gemütliche vordere Wohnzimmer folgte. Selbst nachdem ich schon Dutzende Male mit Nathanial durch die Luft gereist war, konnte ich immer noch nicht genug davon bekommen, den Wind auf meinem Gesicht zu spüren und die Welt unter uns dahingleiten zu sehen. Ich konnte nur hoffen, dass die Fähigkeit zu fliegen ein Vampirtrick war, den ich eines Tages noch lernen würde.
Ich stieß die Wohnzimmertür auf. »Lust auf eine Jagd?«
Bobby, ein Gestaltwandler aus meiner Heimatwelt Firth und einst die große Liebe meines Lebens, war zurzeit Übernachtungsgast auf Nathanials Couch und würde das auch noch bleiben, bis sich das Tor nach Firth wieder öffnete und er zu seiner schwangeren Gefährtin zurückkehren konnte. Er blickte auf, als ich eintrat. Unsere Beziehung war kompliziert und irgendwie unbehaglich, aber wir bekamen das schon in den Griff. Größtenteils. Und zumindest, wenn er gerade mal nicht versuchte, mich zurück nach Firth zu schleppen.
Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung, um den bunten Zeichentrickfilm auf dem Bildschirm stumm zu schalten. Dann nahm er die Füße von der Armlehne des Sofas, und ich rutschte auf den freien Platz.
»Also, jagen wir?«
»Immer noch hungrig? Wir haben uns Abendessen gefangen, bevor du gegangen bist.« Stirnrunzelnd zog er die Augenbrauen zusammen, rollte sich herum und setzte sich auf. »Ist in diesem Vampirklub irgendetwas passiert?«
»Ich, nein, nun …« Ich schnappte mir eines der jägergrünen Zierkissen und zog es auf meinen Schoß. »Ich bin einfach nur hungrig.«
Bobby rückte näher, als mir lieb war. »Du fängst an, wie ein ängstlicher Hase zu riechen.«
Okay, das war es, was ich mit unbehaglich gemeint hatte.
Ich sprang auf. »Dann gehe ich eben allein.«
»Kätzchen …«
»Vergiss, dass ich gefragt habe.« Ich steuerte auf die Tür zu. Bobby hatte recht. Wir hatten heute Abend bereits gejagt. Selbst mit dem erhöhten Stoffwechsel eines Gestaltwandlers war Bobby nur ein Mensch und seine andere Gestalt ein Luchs – er brauchte keine zwei Hasen an einem Tag. Zum Teufel, in Firth würde er nicht mehr als drei oder vier Hasen in der Woche essen. Es war Verschwendung, heute Abend noch mehr zu erlegen.
Er holte mich an der Haustür ein und zog sich den Pullover aus, trotz der Schneedecke, die sich draußen um die Blockhütte herum ausdehnte. Er musste sich verwandeln, wenn er jagen wollte.
Ich eilte immer noch die Vordertreppe hinunter. »Ich sagte, vergiss es.«
Er schob nur das Kinn vor und fuhr damit fort, sich auszuziehen. »Dann werden wir das zusätzliche Fleisch eben einfrieren.« Seine Finger glitten zum Knopf seiner Jeans. »Willst du so auf die Jagd gehen?«
Ich blickte an mir herunter. Ich trug immer noch das lächerliche Tigerkostüm, aber im Gegensatz zu Bobby war meine Kleidung nicht von Bedeutung. Er würde eine Menge an Körpermasse verlieren, sobald er sich verwandelte, und ein knapp dreißig Pfund schwerer Luchs konnte ja wohl schlecht die Jeans und den Pulli eines neunzig Kilo schweren Mannes tragen. Wann immer ich mich verwandelte, verschwand meine Kleidung im Prinzip einfach. Das war meine Gabe. Oder zumindest war sie das gewesen, bevor ich ein Vampir wurde. Jetzt steckte ich in einer Gestalt fest. Meine Krallen hatten sich ein einziges Mal gezeigt, als ich auf Leben und Tod mit den Einzelgängern gekämpft hatte. Aber seitdem blieb meine Katze eingeschlossen in der kalten Energiespirale in meinem Innern. Tot.
Ich streifte meine Partystiefel ab. »Lass uns jagen.«
Schnee knirschte unter meinen nackten Zehen, worauf meine Beute den Kopf hob. Ihre langen Ohren zuckten. Ich erstarrte und wagte nicht einmal zu atmen. Neben mir verharrte Bobby, und seine kompakte Luchsgestalt verschwand hinter einem gefrorenen Busch.
Die Ohren des Schneehasen zuckten erneut, und seine Tasthaare bebten, während er witternd die Nase bewegte. Dann zogen sich seine Muskeln zusammen, als er zum Sprung ansetzte, und ich hechtete los.
Spröde, von Eis umhüllte Zweige zersplitterten, als ich durch das gefrorene Unterholz brach. Ich machte Lärm, doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Nicht bei der Geschwindigkeit, mit der ich mich bewegte. Mit einem Satz erwischte ich den Hasen mitten im Sprung.
Er schrie, ein durchdringender Angstschrei. Ich packte ihn an seinen tretenden Hinterläufen, doch einer davon entglitt mir. Schmerz zuckte über mein Schlüsselbein, als die Krallen des Hasen den dünnen Stoff meines Kostüms zerrissen und die Haut darunter aufschlitzten. Nicht dass der Schmerz mich aufgehalten hätte. Ich erwischte das Bein mit einer Hand, packte den Hasen mit der anderen am Genick und machte ihn so praktisch bewegungsunfähig. Fell streifte meine Lippen, dann grub ich meine Fangzähne in seinen Hals. Flüssige Wärme erfüllte meinen Mund, strömte mir die Kehle hinunter. Hitze und Leben erfüllten meinen Leib und verbreiteten Zufriedenheit in meinen Gliedern.
Dann öffnete sich mir der Geist des Hasen.
Tief und schneidend durchfuhr Panik meine Sinne. Lauf, drängte mich der Instinkt des Hasen. Jede Zelle meines Körpers wusste, dass ich sterben würde, wenn ich nicht weglaufen konnte. Das Herz schlug mir jäh bis zum Hals, was das Schlucken schwierig machte.
Der Biss eines Vampirs löst bei Menschen Glücksgefühle aus, aber Tiere erkennen den Tod, wenn er sie erfasst. Dennoch, sogar während ich in den Tiefen der Todesangst des Hasen versank, spürte ich andere Instinkte – ein dunkleres Verlangen, fordernd, das mich weiter den Mund bewegen und mich schlucken ließ.
Der kleine Hase tat einen letzten Atemzug. Dann riss die geistige Verbindung zwischen uns ab. Die unvermittelte Abwesenheit seiner angsterfüllten Gegenwart hinterließ ein klaffendes Loch in meinem Verstand – eine Leere, die sich nicht wieder füllte, als ich mir allmählich wieder meiner selbst und des schlaffen Körpers in meinen Händen bewusst wurde.
Meine Finger zitterten, als ich den kleinen Leichnam vor Bobby ablegte. Ich schluckte heftig. Meine Zunge schmeckte, als hätte ich an einem alten Stück Kupfer genuckelt, und ich fröstelte trotz der neuen Wärme, die durch meine Glieder rauschte. Das hier ist völlig natürlich. So wie es sein soll. Ich war als Raubtier geboren. Eine Katze. Mein ganzes Leben lang hatte ich mit meinem Clan gejagt. Dieser Hase war Beute, die ihre Aufgabe im Kreislauf des Lebens erfüllte.
Bobby stupste mit seinem lohfarbenen Luchskopf gegen mein Knie und sah mich aus mandelförmigen Augen bittend an. Mein Blick wurde wieder klar, und ich bemerkte, dass ich immer noch über dem toten Hasen kauerte und ihm sanft mit dem Daumen über die erkaltende Pfote streichelte. Ich zog die Hand zurück und sprang auf.
Bobby starrte mich noch ein, zwei Herzschläge lang an, dann schnellte seine Pfote vor und schlitzte dem Hasen den Bauch auf. Die Tierversion waidgerechten Ausweidens – oder eines Appetithappens. Erneut ertönte ein Schrei in meinem Kopf, zuerst als die Stimme des toten Hasen, dann verwandelte sie sich in das Schluchzen einer Frau. Ich wandte mich ab, doch es war zu spät.
Dass ich heute Abend die enthauptete Leiche gefunden hatte, war eine zu starke Erinnerung an die Taten der Einzelgänger. Nun sah ich vor meinem geistigen Auge, wie Krallen durch Fleisch schnitten. Das Fleisch war ohne Fell, blass, menschlich und sehr lebendig. Der Schrei der Frau verstärkte sich vor Schmerz, und euphorisches Schwindelgefühl stieg in mir hoch, als ich den Arm ausstreckte, um noch mehr zarte Haut aufzuschlitzen.
Nein, ich werde das nicht sehen – werde es nicht fühlen! Nicht noch einmal!
Fest kniff ich die Augen zu, doch die Bilder, die sich hinter meinen Augenlidern abspielten, konnte ich nicht aussperren. Bobbys katzenhafter, besorgter Ruf verklang in der Ferne, der erste Hinweis darauf, dass ich rannte. Meine Schritte trugen mich mühelos durch den gefrorenen Wald, doch ich konnte den Erinnerungen, die mich verfolgten, nicht entkommen.
Und es waren Erinnerungen. Nur waren es nicht meine.
Ich hatte die Erinnerungen in mich aufgenommen, als ich versucht hatte, den Einzelgänger während unseres Kampfs auszusaugen. Mein Geist hatte den seinen berührt, hatte durch seine Augen gesehen, hatte das Hochgefühl gespürt, das ihn durchströmte, wenn er tötete. Nun hatte ich Flashbacks aus der Biografie eines Soziopathen, bei denen ich unter vollem Sinne-Surround in der ersten Reihe saß. Und vor diesen verdorbenen Gedanken würde ich niemals davonlaufen können.