Nr. 2840
Der Extraktor
Angriff auf das Yogulsystem – eine Katastrophe wird zum Wendepunkt
Hubert Haensel
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Womit selbst das Tribunal nicht rechnen konnte, ist ein Zeitriss, der Jahrmillionen entfernte Zeiträume der Milchstraße zusammenführt – und eine Pervertierung der Zeit selbst, eine schleichende systemische Veränderung. Die Ordischen Stelen bemerken es als Erste und machen eine seltsame Verwandlung durch. Retten kann sie womöglich nur noch DER EXTRAKTOR ...
Arun Joschannan – Der Resident erwartet Besuch.
Attilar Leccore – Der Koda Aratier wird erkannt.
Peyaszer Toxxot – Der Tiuphore verfolgt einen besonderen Kriegsplan.
Rani Khosla – Die Konteradmiralin beschützt Maharani.
Aravind Panjatan – Die Betreuerin einer Ordischen Stele muss Abschied nehmen.
Terrania, Solares Haus
12. Mai 1518 NGZ
Der Himmel über Terrania loderte. Wie eine gigantische Feuerwand stieg die Sonnenglut über der westlichen Skyline auf – ein Meer ineinander verlaufender Rottöne, vom hellen Purpur bis zum tiefen Violett im Zenit. Die holografische Wiedergabe verdeckte nicht nur die Längswand des kleinen Konferenzraums, sondern weitete sich aus. Für die beiden Personen, die eben den Raum betraten, entstand der Eindruck, schwerelos in der terranischen Metropole zu schweben.
Das Holo schloss sich zur vollkommenen Illusion, kaum dass der Mann und die Frau in den einander zugewandten Sesseln Platz nahmen.
Er atmete hörbar ein. »Wird Terra neuerdings durch extreme Sonnenuntergänge definiert? Ich brauche keine Stimmungsaufhellung; mir muss auch niemand die Schönheit des Planeten beweisen.«
Sie blickte den Straßenzug entlang. Einen halben Kilometer entfernt stand das Solare Haus wie ein gläserner Würfel und reflektierte das Rot des Abends. Seit der Fertigstellung simulierte das Regierungsgebäude den Tageslauf. Jeder Betrachter sah die Sonne mit einem scheinbaren Durchmesser von zehn Metern in der Glasfassade aufgehen, den Zenit erreichen und untergehen – entsprechend der Tageszeit. Wo der Glutball nun den Boden berührte und im Untergrund versank, brodelte flirrende Helligkeit.
Die Frau rieb mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Der dreidimensionale Eindruck, über der Stadt zu schweben und aus der Distanz das Solare Haus zu sehen, war perfekt.
Ein verhaltenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie dachte an die Gesandten der Agrarwelt Tomess-2, die vor einer Woche mit einem umfangreichen Bittkatalog in Terrania erschienen waren. Angespannt hatten sie die Hände um die Armlehnen der Sessel verkrampft und sich alle Mühe gegeben, die vermeintliche Tiefe zu ignorieren. Weltfremde Besucher? Wohl kaum. Nur nicht mit allen technischen Raffinessen der galaktischen Metropole Terra vertraut.
»Ich gebe dir recht, Attilar«, sagte Cai Cheung. »Das Abendrot ist stark überzeichnet. Ein Gefühlsmonteur übertreibt die Farbsättigung.«
»Mit welcher Zielsetzung?«, erwiderte Attilar Leccore. »Dass die Menschen an Terra festhalten – oder dass sie freiwillig loslassen? Sympathisiert der Monteur mit Vetris-Molaud und dem Neuen Tamanium?«
Cai Cheung war schlank, fast hager, eine herbe Schönheit. Die Schatten ihrer Wangenknochen verrieten ihr Durchsetzungsvermögen. Die Fünfzig hatte sie vor zwei Jahren überschritten, und obwohl das kein Alter war, wirkte sie dank aktiver Genkosmetik wesentlich jünger. Wer sie nicht kannte, schätzte sie auf Mitte bis Ende zwanzig und vermutete keineswegs die erfolgreiche Politikerin in ihr, die sie war.
»Das meinst du nicht ernst, Attilar?«, fragte sie.
»Derzeit nicht«, antwortete Leccore. »Aber das wird sich bald ändern. Viele Zeichen stehen auf Sturm.«
Zwischen Wohntürmen, deren begrünte Fassaden spiralförmig in die Höhe drehten, stach die untergehende Sonne hervor. Gleißend helles Licht flutete durch die Stadt und warf lange Schatten.
»Genau die Antwort habe ich von dir erwartet«, sagte Cai Cheung. »Als Solare Premier bin ich Terra verpflichtet. Nur bedeutet das keineswegs, dass meine Interessen jenseits der Neptunbahn enden; erst recht nicht in dieser Zeit, in der alles miteinander verflochten scheint.«
Attilar Leccore war der Leiter des TLD, des Terranischen Liga-Dienstes. Ein stämmiger Mann. Sein rundliches Gesicht wirkte freundlich, das schüttere, angegraute Haar unterstützte sein harmlos anmutendes Äußeres. Mit der linken Hand rieb er sich übers Kinn und taxierte dabei die Regierungschefin der Erde.
Ruckartig hob sie den Kopf. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn, doch Cai achtete nicht darauf. Ihre dunklen Augen erwiderten Leccores eindringlichen Blick.
»Auf etlichen Welten der Liga geschehen merkwürdige Dinge!«, sagte sie. »Du weißt mehr darüber, als in deinem Statement steht?«
Cai Cheung suchte Informationen. Wissen.
»Was du ansprichst, betrifft nicht allein die Liga«, antwortete der Geheimdienstchef. »Einige Ordische Stelen verändern sich; ich halte das erst für den Anfang. Da braut sich mehr zusammen, als wir derzeit abschätzen können.«
*
Seit drei Tagen weilte Attilar Leccore wieder im Solsystem. Die Solare Premier hatte sich intensiv mit seinem umfangreichen Dossier beschäftigt; der Bericht lebte vor allem durch die beigefügten optischen und akustischen Sequenzen.
Vor über einem Jahr, Anfang April 1517 NGZ, war der TLD-Chef zum Planeten Allema im System von Fracowitz' Stern aufgebrochen. Für ein ebenso dreistes wie riskantes Unternehmen: den Diebstahl einer Ordischen Stele. Die zweihundert Meter hohen Monumente, die im Namen des Atopischen Tribunals Recht sprachen, standen auf etlichen galaktischen Welten. Auf Allema beschützte jedoch kein mächtiges Kastell die Stele, wie das andernorts der Fall war. Ein Fehler ...
Cai Cheung blickte auf das Tischchen, das zwischen ihr und Leccore stand. Neunzehn horizontale und ebenso viele vertikale Linien gliederten die Tischplatte in ein Spielfeld. Das waren 361 Schnittpunkte. Dieselbe Anzahl linsenförmiger Spielsteine lag in den beiden hölzernen Schalen, ein schwarzer Stein mehr als die weißen.
»Du hast dich auf ein riskantes Spiel eingelassen«, sagte Cai Cheung übergangslos. »Du hättest dein Leben verlieren können – für ein Volk, das nicht deines ist.«
»Das hätte ich«, bestätigte Leccore. »Aber deine Provokation verfängt nicht. Obwohl mein Elter der Terminalen Kolonne TRAITOR angehörte, wuchs ich in der Rolle eines Menschen auf, und der bin ich geblieben. Ich bin ein Terraner!«
»Als Koda Aratier bist du außerdem Gestaltwandler.«
Ein unwilliger Zug grub sich um Leccores Mundwinkel ein, nur mehr seine Augen lächelten. »Wenn ich ein anderes Aussehen annehme, verändert das keineswegs meine innere Einstellung.«
»Du musstest dich in den letzten Monaten permanent als Onryone ausgeben.«
»Als Boyton Holtorrec ... Ich weiß, worauf du anspielst. Natürlich bestand für mich die Gefahr, in der Onryonenexistenz aufzugehen und mich selbst zu verlieren. Aber Holtorrec ist tot. – Misstraust du mir, Cai?«
Die Premier schüttelte den Kopf. Wortlos griff sie nach einem der schwarzen Spielsteine und setzte ihn auf den Schnittpunkt zweier Linien nah am Rand des Spielfelds.
Auffordernd sah sie den TLD-Chef an.
»Mittlerweile kenne ich die Grundzüge des Go-Spiels«, sagte Leccore. »Der Vergleich mit gewissen Lebensphilosophien ist durchaus realistisch. Längst nicht alles wird durch Logik erklärbar und verständlich. Tiefe Verflechtungen können oft nur intuitiv bewältigt werden.«
Er griff in den Vorrat der weißen Spielsteine, nahm einen heraus und ballte vorübergehend die Hand zur Faust. Nachdenklich schaute er die Solare Premier an. »Ich sehe eine weitere Parallele zwischen Spiel und Leben: Es gibt keine Zugpflicht. Jeder Spieler darf jederzeit passen, und nicht erst, wenn ihm schon der Verlust der Partie droht.«
Leccore platzierte seinen Stein neben den schwarzen. Cai Cheung setzte ihren nächsten unterhalb des ersten und bildete damit eine kurze Kette.
»Du möchtest in jeder Hinsicht deine Freiheit sichern«, kommentierte der TLD-Chef ihren Zug. Leichte Ironie schwang in seiner Stimme mit.
»Das liegt uns Menschen im Blut«, erwiderte die Premier.
»Ich akzeptiere deinen unterschwellig anklingenden Wunsch und baue ein zweites Szenario auf.« Der Koda Aratier legte den nächsten weißen Spielstein in den Eckbereich gegenüber.
Cai Cheung straffte sich. »Mitunter ist es besser zu warten, bis sich die Gegebenheiten von selbst verändern. War es das Risiko wert, die Ordische Stele von Allema zu entführen?« Sie setzte ihren dritten Stein in gerader Linie zu der schwarzen Kette, ließ aber ein Feld frei. Der Zug sah aus wie ein Angebot an Leccore, sie zu blockieren.
»Ich konnte das Wesen der Stele erfassen«, antwortete er. »Egal, welche Folgen es gehabt hätte, im Nachhinein möchte ich keinesfalls auf diese Erfahrung verzichten. Dabei stieß ich weder auf neuronales Gewebe noch auf positronische oder ähnliche Schaltkreise. Aber ich spürte das Besondere der Dreiseitpyramide: Etwas, das alt und jung zugleich ist; das ruht und sich trotzdem bewegt; das vor allem Sorge empfindet und sich intensiv nach Gerechtigkeit verzehrt.«
»Die Entführung der Stele von Allema war ein Meisterstück«, bestätigte die Terranerin. »Besonders, wenn ich mir die danach folgenden Stationen ansehe. Auch, dass die Onryonen den Austausch der Stele gegen das Imitat als Attentat kaschiert haben. Angeblich wurde sie durch den Angriff beschädigt und außer Betrieb gesetzt – so einfach.«
»Die einzige Möglichkeit für die Spitzohren, ihr Ansehen zu wahren ...« Leccore setzte seine nächste weiße Linse wahllos auf eines der vielen freien Felder.
Cai Cheung nickte kaum merklich. »Im Nachhinein könnte sich alles als vergebliche Mühe erweisen. Was geschieht mit den Stelen?«
Sie wollte nach einem weiteren Stein greifen, verhielt jedoch in der Bewegung und schnippte mit den Fingern.
Ein Ausschnitt des Rundumholos verblasste. Wo bisher die imposante Orchidee der Solaren Residenz geschwebt hatte, wurde die kahle Stirnwand des Besprechungsraums sichtbar. Aber schon wuchs ein neues, kleineres Holo in dem Ausschnitt.
»Das ist die Stele auf Olymp«, sagte Leccore, kaum dass eine dreiseitige Säule aus rot leuchtendem Patronit entstand. Das Umfeld der schlanken Pyramide ließ keinen anderen Schluss zu. Die Handelswelt Olymp war unverkennbar.
Allerdings wirkte die Stele keineswegs mehr so rein und erhaben, wie es stets gewesen war. Die Ordische Stele von Olymp zeigte nicht mehr das reine, aus sich selbst heraus leuchtende Rot des Patronits. Sie war von schwarzen Lohen durchsetzt und verbreitete eine düstere Stimmung. Vielleicht wirklich den Tod.
In diesen Monumenten, hieß es, wohnte die Weisheit der Atopen. Ließ das Rückschlüsse zu ...?
»Krank«, argwöhnte Cai Cheung. »Sie ist krank, nicht wahr? Kannst du sagen, ob sie abstirbt?«
»Oder zerfällt? Verwittert? Nein, Cai, diese Feststellung kann ich so einfach auf keinen Fall treffen.«
»Arun Joschannan ist besorgt«, sagte die Premier. »Ziemlich sogar. Aber das gesteht er öffentlich nicht ein. Von ihm stammen die Holos.«
Leccore wägte den nächsten Spielstein in der Hand, ohne ihn zu setzen. »Resident Joschannan war mit der MAURENZI CURTIZ im System von Boscyks Stern. Wenn der Tamaron Vetris-Molaud für den Beitritt Olymps zum Neuen Tamanium wirbt, darf die Liga Freier Terraner keinesfalls untätig abseitsstehen. Aber du hast mich kaum hergebeten, um mir das zu erzählen, Cai. Und du forderst mich über das Go heraus. Ich soll erneut ein Risiko eingehen?«
Leccore setzte. Cai Cheung griff nach dem nächsten Spielstein.
Mehrere schnelle Züge folgten. Unvermittelt lagen drei schwarze Steine in Dreiecksformation an der Seite eines weißen Vierecks. Eine Kō-Situation.
»Das Risiko, denke ich, könnte unkalkulierbar werden«, sagte die Premier.
»Ein kalkulierbares Leben ist langweilig«, entgegnete Leccore. »In der Hinsicht sind wir uns einig – auch wenn wir zwangsläufig zu unterschiedlichen Wagnissen neigen.« Unbewegt blickte er auf das Spielfeld. »Ein Stein darf nicht geschlagen werden, falls anschließend die gleiche Anordnung wie nach dem vorangegangenen Zug entstehen würde. Sinn dieser Regel ist es, eine endlose Wiederholung der Positionen zu verhindern.« Er lächelte amüsiert. »Du willst mich im Spiel schlagen, Cai, weil du nicht einfach anordnen kannst, was ich für dich tun soll. Keine Wiederholung der vorangegangenen Züge; das hervorzuheben ist nur notwendig, wenn es um die Stelen geht. – Ist irgendwas mit Joschannan?«
Cai Cheung hatte sich leicht zurückgelehnt und Leccore nicht eine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Den rechten Unterarm hielt sie angewinkelt, den linken Ellbogen auf dem Handrücken abgestützt und tippte mit dem Daumen der linken Hand leicht gegen die Lippen. Für einen Moment streckte sie die Finger in einer vagen Geste.
»Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte sie verhalten. »Nenn es Vorahnung oder Einbildung – nur kann ich unmöglich tatenlos zusehen. Ich spreche keineswegs von Arun selbst ...«
»... sondern vom Yogulsystem«, brachte Leccore den Satz zu Ende. »Von Maharani. Der Planet ist weiterhin die offizielle Hauptwelt der Liga, obwohl die Solare Residenz wieder bei uns im System steht. Vor allem ist Maharani die Terra am nächsten liegende Welt, auf der wir die Transformation einer Stele beobachten können.«
»Knapp über fünfhundert Lichtjahre sind ein Katzensprung«, fuhr Cai Cheung fort. »Ich frage mich mittlerweile, was es mit diesen voranschreitenden Veränderungen der Ordischen Stelen auf sich hat. Was immer dabei herauskommt: Wird es gut für uns sein oder eher schlecht? Wie groß wird möglicherweise die neue Bedrohung ausfallen?« Cai Cheung stutzte. Für einige Sekunden kaute sie auf ihrer Unterlippe, dann lehnte sie sich aufatmend zurück. »Oder wird die Gefahr eher für das Atopische Tribunal entstehen als für die galaktischen Völker? Ausschließen will ich das nicht. Ganz im Gegenteil. Wie fallen bisher die Reaktionen der Onryonen auf die Veränderungen aus?«
Leccore schüttelte den Kopf. »Sie halten sich bedeckt. Es gibt keine Hinweise, die Evakuierungen oder Ähnliches erwarten lassen.«
»Wer kennt die Onryonen schon so genau ...« Das war eine hingehauchte Bemerkung, eher im Selbstgespräch als für Leccore bestimmt.
Cai Cheung griff nach dem nächsten schwarzen Spielstein und setzte ihn in die Lücke, die sie gleich nach der Eröffnung gelassen hatte. Ihre Kette wurde länger, geriet aber keineswegs schon zum regelkonformen »Selbstmord«, dafür war die Partie nicht weit genug vorangeschritten.
»Was, wenn wir die Veränderung der Stelen beschleunigen könnten?«, fragte Cai offen heraus.
»Darüber denke ich bereits nach. Und andere Personen ebenfalls, nur bisher nicht so laut wie du.« Leccore griff nach einem weißen Stein. »Wir werden diese Partie kaum zu Ende bringen. Aber später, wenn alles vorbei ist, sollten wir uns die Zeit dafür nehmen. Bestimmt willst du nicht immer nur gegen einen Automaten antreten. Über die Jahre hinweg stelle ich mir das verdammt eintönig vor.«
»Ausdauer zu trainieren ist eine positive Eigenschaft«, erwiderte die Solare Premier. »Im Übrigen bin ich überzeugt, dass ich eines Tages die Positronik besiegen werde.«
»Die Veränderung beschleunigen ...«, wiederholte Leccore. Er schmunzelte. »Das klingt nicht gerade nach Ausdauer. Du erwartest also, dass ich mich im Yogulsystem umsehe und herausfinde, was mit den Stelen geschieht. Vor allem, wie wir das für uns Beste daraus machen können.«
»Du kannst für den Auftrag heranziehen, wen du willst, Attilar, das ist dein Ermessensspielraum. Ich bin überzeugt, dass Perry diese Gelegenheit ebenfalls nicht auslassen würde. Wenn da irgendetwas ist, das wir wissen sollten, müssen wir es herausfinden!«
»Gut«, sagte Leccore. »Das ist meine Aufgabe. Die Stelen interessieren mich sehr – spätestens seit ich auf Allema den Kontakt hatte.«
Sein Gesicht wurde eine Nuance härter. Die Augen, bis eben dunkel und geheimnisvoll wie Cai Cheungs Blick, verfärbten sich. Sekundenlang glaubte die Solare Premier, das leuchtende Rot von Patronit in den Pupillen zu sehen und einen Ausdruck von Begehrlichkeit. Dann war alles wieder wie zuvor. Der TLD-Chef erhob sich und nickte ihr zu.
»Wenn es einen Fachmann für Ordische Stelen gibt, bin ich das. Ich fliege selbst nach Maharani.«
»Allein?« Die Arme verschränkt, sah Cai Cheung zu dem Gestaltwandler auf.
»Ich stelle ein kleines Team zusammen«, antwortete er. »Wirklich klein. Damit ich nicht allein bin, wir aber auch in keiner Weise auffallen. Falls es etwas gibt, das wir verwerten können, finden wir es.«
Das Rundumholo schloss sich wieder. In der Fassade des Solaren Hauses war die Sonne mittlerweile untergegangen. Ein detailgetreues Abbild der Milchstraße füllte die Front, wenn auch noch nicht in allen Details deutlich.
Vor Leccore erlosch die Projektion bis zum Türschott.
Mars, Krater Gusev
13. Mai 1518 NGZ
Das fahle Aufblitzen im Samtschwarz des Himmels erschreckte ihn. Suchend schaute Geram Thuismag in die Höhe. Vergeblich. Obwohl er schon Sekunden zuvor ein flüchtiges Leuchten wahrgenommen hatte, da aber in größerer Entfernung.
Etwas näherte sich?
Thuismag aktivierte den letzten Sensor, rammte den Erdspieß in den Boden und richtete sich aus der gebückten Haltung auf.
Den Luftraum hatte die Verwaltung weit im Umkreis um den Krater gesperrt. Der kleinste Meteorit würde beim Eintritt in die Atmosphäre entdeckt werden. Trotzdem ... Thuismag hatte sich den fahlen Reflex keineswegs eingebildet.
Das Versuchsgelände lag wie in der Zeit erstarrt vor ihm. Nicht der winzigste Staubteufel huschte die Kraterwände abwärts. Für gewöhnlich erhoben sich diese Wirbel beim schwächsten Windhauch.
Die Ruhe war gespenstisch. In den schroffen Strukturen des östlichen Kraterwalls verschmolz der metallische Schimmer der Projektoren mit dem Grau des aufgefalteten Gesteins. Keiner der Kollegen arbeitet dort noch. Überhaupt: Thuismag war einmal mehr der Letzte, der im ungeschützten Bereich hantierte. Weil er nicht wie die Techniker mit schnellem Blick ein Dutzend Positionen gleichzeitig auf den Checklisten bestätigte. Exaktheit war für ihn eine Lebensanschauung. Und er spürte stets dem Besonderen nach.
Eine angespannte Stimmung hatte ihn vor wenigen Minuten erfasst. Geram Thuismag zog den Kragen fester und schloss den Magnetsaum bis unters Kinn. Es war ziemlich kühl. Knapp über dem Gefrierpunkt, wie ihm die Klimakombi durch Farbveränderung verriet. Die Sonne hing als fahle kleine Scheibe über dem schroffen Horizont. Zwei Handspannen weiter rechts, über den ausgestreckten Arm anvisiert, der winzige Lichtpunkt, das musste Terra sein.
Fünf Tage, überlegte Thuismag, dann werden die Versuche beendet. Danach erwarteten ihn Sonnenschein, die Weite des Pazifischen Ozeans und endlos lange, helle Sandstrände.
Er stutzte. Das jähe Prickeln im Nacken, als stellte sich selbst das kleinste Härchen auf, alarmierte ihn. Er wurde beobachtet!
Von einem der Techniker? Das hielt er für unwahrscheinlich. Die saßen längst im warmen Kontrollraum und warteten auf den Nachzügler, spotteten über sein Zögern und rissen ihre Witze. Solange sie nicht auf die verrückte Idee kamen, die mehrdimensionalen Stoßwellen zu zünden, während er hier draußen ...
Thuismag schaute die Sensorreihen entlang. Parallel zueinander liefen sie quer durch den Krater und hinaus in die geröllübersäte Ebene. Dort zeigte sich der Mars in seiner Ursprünglichkeit – abgesehen von dem Bombardement aus Oortscher Wolke und Kuiper-Gürtel, das dem Planeten viele Narben zugefügt hatte. Knapp fünfzig Jahre lag das zurück, Thuismags Geburtsjahr.
Er winkelte den Arm mit dem Multikom an. »Ich komme jetzt!«, meldete er.
Die Kontrollanzeige blinkte rot. Kein Kontakt. Mit zwei Fingern klopfte Thuismag auf das Armband. Nichts änderte sich. Er schaltete auf Empfang. Ebenfalls keine Reaktion.
»Frequenzsuchlauf!«
Das Kontrollholo zeigte nur den zentralen Punkt der Funktionsbereitschaft. Keine Amplitude entstand. Keine Spur von all den Sendern, die selbst in der abgelegensten Höhle des Planeten zu empfangen waren.
Das Prickeln im Nacken war wieder da. Auf dem Absatz drehte Thuismag sich um die eigene Achse. Nichts zu sehen. Auch in der Höhe nicht. Trotzdem deutete einiges darauf hin, dass über dem Krater eine Abschirmung entstanden war.
Wer hat das veranlasst? Und warum?
Die schwachen Reflexe vor wenigen Minuten ... Thuismag nahm mittlerweile an, dass jemand den Krater im Schutz eines Deflektors angeflogen hatte, wahrscheinlicher sogar im absoluten Ortungsschutz. Andernfalls hätte die Überwachung Alarm ausgelöst.
Seine Rechte glitt zur Hüfte. Die Bewegung wurde vom Unterbewusstsein gesteuert, war antrainiert. Selbst wenn Thuismag es gewollt hätte, der Griff zur Waffe war schwer zu unterbinden.
Nur trug er keinen Kombistrahler. Auf dem Mars, im rein wissenschaftlichen Einsatz, bestand dafür kein Anlass. Sybrand Herzog hatte das angeordnet. – Eine Fehleinschätzung des neuen zweiten Mannes an der Spitze des TLD, denn in dem Moment wurden die Fremden sichtbar.
Sie kamen wie aus dem Nichts, waren zu zweit und keine fünfzig Meter entfernt. Schnell näherten sie sich.
Sie sind humanoid. Terraner?
Beide wirkten eher zierlich, als wären sie unter geringerer Schwerkraft als terranischem Standard aufgewachsen. Dennoch schätzte Thuismag sie nicht als Marsgeborene ein.
Ihn überraschte, dass sie leichte, luftige Kleidung trugen. Während er im Kraterschatten fröstelte, kamen sie daher wie zu einem Strandspaziergang. Die Temperatur nahe dem Gefrierpunkt beeinträchtigte sie nicht.
»Wer seid ihr? Der Krater und das Umfeld sind wissenschaftliches Sperrgebiet. Ist euch das unbekannt?«
Bis auf zwanzig Meter waren sie heran. Trotzdem reagierten sie nicht auf seine Fragen. Thuismag sah ihre Gesichter nun deutlich, und der Anblick irritierte ihn. Die Köpfe wirkten länglich. Der schmallippige Mund ebenso wie die eher hoch angesetzte kurze Nase mit den beiden fast senkrecht stehenden Nasenlöchern trug entscheidend zu diesem Eindruck bei.
Überhaupt wirkten die Gesichtszüge weich. Auf Anhieb erkannte Thuismag nicht, ob er Mann oder Frau vor sich hatte. Nicht einmal auf den zweiten prüfenden Blick.
Was wollten sie von ihm? Die Messungen im Kraterbereich sollten neue Erkenntnisse über bestimmte Frequenzbereiche liefern. Endziel war die Beeinflussung der Ordischen Stelen, eine Idee bislang, mehr noch nicht.
Dicht vor Thuismag blieben die Unbekannten stehen. Er suchte in ihren Mienen nach speziellen Unterscheidungsmerkmalen. Sie sind Hermaphroditen, das kam ihm in den Sinn.
»Du bist interessant für uns«, sagte einer der beiden.
In der trockenen Luft, der bislang ein leichter Staubgeruch anhaftete, hing mit einem Mal der Dunst von Alkohol. Gin, erkannte Thuismag. Er kannte das Aroma aus den Raumfahrerkneipen im Umfeld des Handelsraumhafens Point Surfat im Osten Terranias.
»Das heißt?«, erwiderte er.
»Du wirst uns begleiten.«
Keine Regung entging ihm. Einer der Fremden griff mit der linken Hand unter das legere Oberteil das er trug. Ein zylinderförmiges Etwas zeichnete sich unter dem Stoff ab. Geram Thuismag spürte die Erhebung mehr, als er sie tatsächlich erkennen konnte: Der Hermaphrodit schloss die Finger um den Zylinder.
»Deine Fähigkeiten machen dich für uns interessant,« sagte der andere. »Du wirst das Sextadim-Banner eines Sterngewerks ergänzen.«
Eine seltsam unwirkliche Begegnung. Thuismag spürte dem Eindruck nach, einiges daran müsse falsch sein. Er kam nicht darauf, was.
Tiuphoren!
Das wurde ihm in der Sekunde klar. Sie hatten das Solsystem erreicht, waren unbemerkt zu den inneren Planeten vorgedrungen und womöglich bereits selbst auf Terra gelandet.
Erfolgte in diesen Minuten ihr Feuerüberfall auf die LFT-Heimatflotte? Thuismag glaubte vor sich zu sehen, wie ihre walzenförmigen Sterngewerke – jedes fünf Kilometer lang und einen Kilometer durchmessend – das Feuer eröffneten. Geschwader der bumerangförmigen Sternspringer lösten sich von den Schiffsgiganten und stießen in die irdische Atmosphäre vor.
Thuismag zweifelte daran.
Das Gefühl, in eine falsche Trividvorstellung geraten zu sein, wurde übermächtig. Er war in dem Moment nicht mehr der promovierte Hyperphysiker, sondern wurde zum präzise reagierenden TLD-Agenten, dessen Intuition ihm extreme Schnelligkeit verlieh.
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