Dante
Im Schatten der Nacht saß ich in diesem mir immer vertrauter werdenden Zimmer. Meine neue Zuflucht, wenn die Kälte des Todes mich einhüllte. Dieses zerbrechliche Geschöpf, von dem ich nicht loskam, strahlte den Frieden aus, nach dem ich mich seit Jahrzehnten sehnte. Obwohl ich bis jetzt kein Wort mit ihr gesprochen hatte, war es beruhigend in der Nähe dieses Mädchens zu sein. Ich wachte über sie, wie ich es einst über die verlorenen Seelen getan hatte. Doch von dem einstigen Wächter war nicht mehr viel übrig.
Schwer atmend, wälzte sich hin und her. Ich wünschte ich könnte in ihren Träumen lesen, was sie so sehr beschäftigte.
Ich beobachtete sie schon seit einer Weile. Und sie war anders, als die anderen. Ihre Seele war rein, das konnte ich spüren. Es reichte mir nicht mehr nur ein Geist zu sein, den sie glaubte zu fühlen. Ich wollte mehr über sie erfahren. Es war wie ein Zwang, dem ich nachgeben musste.
Sara
Nach Luft schnappend wachte ich auf, so wie in der letzten Woche fast jede Nacht. Mein Herz klopfte wild. Ich setzte mich auf und sah in die Dunkelheit des Zimmers. Kein Geräusch war zu hören. Eine Stille, die mich frieren ließ. Mein Verlangen, etwas in den leeren Raum zu sagen, wurde von Nacht zu Nacht größer. Nichts deutete darauf hin, dass ich nicht allein war. Dennoch wusste ich, er war da. Es war dasselbe Gefühl, wie die letzten Male.
„Ich weiß, dass du da bist“, sagte ich leise mit dem Wissen, dass es verrückt war zu denken, dass sich noch jemand in meinem Schlafzimmer befand. Ich wünschte, ich hätte einen Beweis, dass ich nicht den Verstand verloren hatte.
Jedes Jahr, kurz vor Moms Todestag, schlief ich schlecht. Dieses Jahr war es schlimmer, als die letzten zwei. Seit über einer Woche hatte ich nicht eine Nacht durchgeschlafen. Meinem Vater hatte ich nie davon erzählt, weil er sich Sorgen machen und mich zu einem Psychologen schicken würde. Aber ich brauchte niemanden, der mir sagte, dass sie mir fehlte. Das wusste ich selbst.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, es war noch mitten in der Nacht. Ich drehte mich auf den Bauch und versuchte wieder einzuschlafen, wenn auch nicht für lange. Um sieben würde der Wecker läuten und mich aus dem Schlaf holen.
Plötzlich zog mir jemand die Decke vom Körper. Reflexartig rollte ich mich, wie eine Schnecke, zusammen. Ich wollte nicht aufstehen. Es konnte noch nicht Morgen sein.
„Ich will noch nicht aufstehen. Kannst du mich nicht schlafen lassen, Dad?“, fragte ich noch schlaftrunken und drückte mein Gesicht ins Kissen.
Ich hörte ein Kichern. Das konnte nicht Dad sein. Wann würde der schon kichern? Ich war froh, wenn er überhaupt lächelte. Seit Jahren, hatte ich ihn nicht mehr wirklich lachen gehört.
„Dein Dad würde dich noch weniger weiterschlafen lassen, als ich“, sagte Keira und zog die Vorhänge auf. „Na komm schon, steh’ endlich auf. Wie kann man nur so ein Morgenmuffel sein?“
Fragte sie mich das ernsthaft? Nach so vielen Jahren der Freundschaft sollte sie sich daran gewöhnt haben. Ich nahm das Kissen unter meinem Kopf und warf es nach ihr. Leider verfehlte es sie, wenn auch knapp.
„Wenn du nicht meine beste Freundin wärst, würde ich dich aus der Wohnung werfen.“
Sie lachte los. „Ach ja, als ob du dürrer Haken imstande wärst, mich rauszuwerfen“, sagte sie spöttisch.
„Na warte.“ Ich sprang aus dem Bett, wohl etwas zu schnell, denn ich musste mich kurz abstützen, um nicht der Länge nach hinzufallen.
Sie sah mich mit ihren großen Rehaugen an und strahlte übers ganze Gesicht. „Siehst du, ich weiß, wie man dich rausholt.“
Sie sah wieder einmal umwerfend aus. Sie trug ein schwarzes Kleid mit roten Strumpfhosen. Ihre schulterlangen schwarzen Locken wippten, als sie sich umdrehte und mir meine Jeans zuwarf, die auf meinem schwarzen Ledersessel lag.
„Los, Sara, zieh dich an. Wenn wir wieder zu spät kommen, lässt uns dein Dad nachsitzen.“
„Ich geh nur kurz ins Bad. Warte unten in der Küche. Mit leerem Magen kann ich nicht los.“
„Beeil dich!“, ermahnte sie mich noch einmal.
Ich ging ins Bad und erledigte das Nötigste: wusch mir das Gesicht, putzte die Zähne und bürstete die Haare durch. Auch wenn sie kerzengerade waren, konnte ich nicht über Volumen klagen. Aus dem Schrank schnappte ich mir einen hellblauen Pullover und einen Mantel. Als ich den schwarzen Kaschmirschal, den mir Großmutter zu Weihnachten geschenkt hatte, aus der Kommode holen wollte, entdeckte ich ein zusammengefaltetes Stückchen Papier, das darauf lag. Bei genauerer Betrachtung sah ich meinen Namen darauf stehen. Zögerlich, aber mit Neugier, faltete ich es langsam auseinander. Mein Herz schlug sogleich schneller. Da stand, in einer wunderschönen Schrift:
Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.
Mit aufgerissenen Augen starrte ich das Blatt Papier in meiner Hand an. Dies bestätigte, dass ich nicht geisteskrank war. Obwohl eine Nachricht von einem Geist zu erhalten wahrscheinlich nicht weniger merkwürdig war, als nur zu denken, es gäbe einen. Oder hatte ich mir die Nachricht selbst geschrieben? War ich vielleicht schon so weit, so etwas Durchgedrehtes zu tun? Ich sah mir den Zettel noch einmal genauer an. Nein. Das war eindeutig nicht meine Schrift. Zum Glück, sonst hätte ich mich selbst einweisen müssen. Immer mehr Fragen kamen in mir hoch, aber ich stellte sie nicht. Mir war bewusst, die Antworten, nach denen ich mich sehnte, bekäme ich nie. Seltsamerweise spürte ich keine Angst. Wer war mein nächtlicher Besucher? Was war er? Was wollte er? Und warum rannte ich nicht schreiend durch die Gegend und schnurstracks zur Polizei? Stattdessen entlockte mir die kleine Geste, die ich mit diesem Stückchen Papier verband, ein Lächeln.
Langsam musste ich los. Die Tochter des Schuldirektors zu sein, war nicht leicht. Der Wahnsinn, wenn dein Dad rund um die Uhr ein Auge auf dich hat.
In der Küche saß Keira mit Dolores am Tisch. Es standen zwei Brote mit Schinken und ein Glas Milch für mich bereit.
„Guten Morgen, Dolores“, begrüßte ich unsere Haushälterin mit einem müden Lächeln.
„Ebenfalls guten Morgen. Du solltest dich beeilen. Dein Vater ist schon vor einer halben Stunde zur Schule gefahren“, informierte sie mich.
„Ich kann nichts dafür, das er so versessen darauf ist, soviel Zeit in diesem alten Gebäude zu verbringen.“
„Und trotzdem werden wir bestraft, wenn wir wieder zu spät kommen“, sagte Keira ungeduldig. „Also iss.“
Hastig schlang ich mein Frühstück hinunter, bevor wir aus der Wohnung stürmten.
Es war Ende Januar und einfach nur arschkalt. Die Straßen waren vereist. Die Autos rutschten mehr, als dass sie fuhren. Keira und ich hielten uns gegenseitig fest, um nicht auf die Nase zu fallen. Der Wind war so eisig, dass mir bald das ganze Gesicht brannte. Wir konnten von Glück reden, dass die Kennedy nur zehn Minuten von unserer Wohnung entfernt war. Wenn ich noch früher aufstehen müsste, um durch die halbe Stadt zu fahren, würde ich wohl wahnsinnig werden. Ich hatte sowieso nie eine andere Wahl, als die Kennedy-High-School, gehabt, das Sprungbrett für die Juilliard, eine der besten Privatschulen für Musik und Tanz in New York City. Seit ich mit vier Jahren meine erste Geige bekommen hatte, war meine Zukunft beschlossene Sache. Und eigentlich sollte ich wie die meisten meiner Mitschüler eine Aufnahme an der Juilliard anstreben. Aber ich war mir noch nicht sicher, ob ich es wirklich wollte, oder ob es einfach nur der Wille meines Vaters war.
Ich fror erbärmlich und war froh, als wir die Schule betraten. Wir rannten die Treppe hinauf und stolperten eine Minute vor Unterrichtsbeginn in die Klasse.
„Schön, dass ihr uns auch noch mit eurer Anwesenheit beehrt. Setzt euch!“, sagte Mr. Williams, unser Mathelehrer.
Wir setzen uns ohne einen Kommentar an unseren Tisch. Zu meinem Vorteil war Keira ein Ass. Aber nicht nur im Zahlenjonglieren, meine beste Freundin war auch Balletttänzerin. Sie tanzte seit ihrem fünften Lebensjahr. Ihr großer Traum war das Royal Ballett. Für diesen Traum arbeitete sie hart, auch nach der Schule. Fast jeden Tag zusätzlich zwei, manchmal auch drei Stunden. Wann immer ich Zeit hatte, sah ich ihr zu.
In der Mittagspause saßen meine Freunde und ich immer am selben Tisch. Sam war schon dort, als wir in die Cafeteria kamen. Er war einer meiner besten Freunde. Ein Charmeur, dem die Frauenherzen nur so zuflogen. Mit seiner Musik wickelte er die Mädchen reihenweise um den Finger. Sein Aussehen tat den Rest — das hatte er eindeutig von seinem Dad. Groß, dunkelhaarig, sportlich, ein Lächeln, das einen blenden konnte und dazu gab er ihnen das Gefühl, dass jede von ihnen die Einzige war. Manchmal taten sie mir wirklich leid. Ich hatte nie erlebt, dass er echte Gefühle für eines dieser Mädchen hegte. Unter all seinen Wesenszügen war dieser wohl derjenige, den ich am wenigsten an ihm mochte. Aber wer war ich, dass ich über ihn richten durfte?
Bei Paul Foster bestand da keine Gefahr. Nicht dass er unattraktiv war. Er war ganz süß. Blonde, halblange Haare und Sommersprossen. Vielleicht ein bisschen tollpatschig. Nicht gerade mein Typ. Aber definitiv Hillarys.
Maria saß heute bei Kevin und flirtete hemmungslos. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, warf sich dabei das lange schwarze Haar über ihre Schulter, während sie über einen seiner Witze lachte. Sie war so berechnend. Der arme Junge wusste gar nicht, worauf er sich da gerade einließ.
„Isst noch jemand von deinem Teller, Sara?“, fragte mich Sam mit einem unterdrückten Lächeln, als ich mit meiner Portion Spaghetti an den Tisch kam.
„Nein, ich habe Hunger. Oder möchtest du mir sagen, dass ich zu fett bin?“, fragte ich zurück und funkelte ihn böse an.
„Ähm … nein, natürlich nicht“, antwortete er und hob die Hände, um sich vor einem eventuellen Angriff zu schützen.
„Du solltest nie solche Andeutungen vor einer Frau machen“, ermahnte Keira ihn mit erhobenem Zeigefinger.
„Vor allem könnten wir drei dich locker verprügeln“, sagte Hillary lachend.
„Ja, schon gut, ich habe es ja verstanden. Nie wieder ein Kommentar zu deinen Essensgewohnheiten oder deinem Gewicht. Versprochen.“ Er zwinkerte mir zu. „Aber du solltest dringend mal wieder ins Fitnessstudio, Keira.“
Sie warf ein Stück Brot nach ihm. Sie wusste, dass es nur als Scherz gedacht war. An ihrer Figur war nun wahrlich nichts auszusetzen. Sie kam einer Elfe gleich und bewegte sich genauso elegant, sogar wenn sie nicht tanzte.
Nach der Mittagsstunde begleitete ich Keira zum Tanzunterricht. Ich hatte ein paar Minuten übrig, bevor ich in die Stunde musste.
„Hast du Miguel Esteban heute gesehen?“, fragte sie mich. Ihre Augen glitzerten.
„Ja, habe ich. Er hat dich wie jeden Mittag angestarrt. Ich weiß nicht, warum ihr euch nicht endlich verabredet.“
„Das ist doch offensichtlich.“
„Was ist daran offensichtlich?“ Mit gerunzelter Stirn sah ich sie fragend an. „Es kann ja nicht so schwer sein. Du magst ihn, er mag dich, was deutlich zu sehen ist. Sonst bist du auch nicht die Schüchternheit in Person.“
„Woher soll ich wissen, dass er mich tatsächlich mag? Ständig umschwirren ihn diese Mädchen wie Ameisen ihren Ameisenhügel. Da komm ich doch nicht mal in seine Nähe. Und er sieht so verdammt gut aus. Diese schwarzen Haare, die Augen, wie dunkles Karamell. Oh … “
„Du tanzt doch mit ihm, oder?“
„Ja, und?“
„Na, wo könntest du ihn wohl besser fragen, als in seinen Armen“, sagte ich lächelnd.
„Wie soll ich das denn bewerkstelligen?“, fragte sie mich hilflos. „Ich fange schon an zu zittern, wenn ich daran denke, dass er mich berührt. Ich kann mich nur mit Mühe zusammenreißen.“
„Du machst es einem nicht leicht, dir zu helfen“, sagte ich und rollte mit den Augen.
Während wir die Treppe hinaufgingen, hörte ich diese unglaubliche Musik. Jemand spielte Klavier auf eine Art, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte.
„Hörst du das, Keira?“, fragte ich lauschend.
„Ja, wunderschön, nicht wahr?“
„Das ist es.“
Wir liefen an einem der Musikzimmer vorbei, von wo aus die Melodie kam. Kurz sah ich durch das kleine Fenster der Tür. Ohne zu überlegen öffnete ich diese und blieb im Türrahmen stehen, während Keira ein Stückchen weiter vorne auf mich wartete. Am Klavier saß ein Junge mit schwarzen Haaren, die Augen geschlossen. Er trug schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein blaues aufgeknöpftes Hemd. Es fühlte sich an, als wäre nichts anderes im Raum, außer den Tönen. Blind ließ er seine Finger über die Tasten gleiten, mit einer Leichtigkeit, als habe er nie etwas anderes in seinem Leben getan.
Plötzlich hörte er auf.
„Nein, bitte spiel weiter“, rutschte es mir heraus. Peinlich berührt, hielt ich mir die Hand vor den Mund.
Mit einer leicht überraschten Miene, sah der unbekannte Junge zur Tür, von wo ich ihn mit großen Augen anschaute. Was mich dann traf, kam ohne Vorwarnung: Ich sah in diese blauen Augen, die wie zwei Kristalle strahlten und deren Blick mich erstarren ließ. Alles herum schien zu verschwinden. Jedes Geräusch verstummte, bis nur noch Stille herrschte. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt, wie diesen einen Augenblick, der endlos schien, als sei die Zeit stehen geblieben. Ein Gefühl der Vertrautheit umgab ihn.
Wieso schlug mein Herz bloß so laut?
Er machte keine Anstalten, den Blick von mir zu wenden und mich aus meiner peinlichen Situation zu erlösen. Ich schaffte es meine Augen zu schließen, um wieder klar denken zu können — um überhaupt denken zu können.
„Tut mir leid … ich wollte … nicht … “, stammelte ich zusammenhanglos.
Als ich das Gefühl hatte, wieder klar bei Verstand zu sein, suchte ich seinen Blick, und als ich das leicht amüsierte Lächeln auf seinen Lippen sah, das so anziehend wirkte, als würde es nach mir rufen, ließ ich dabei fast meine Geige fallen.
„Hat es dir gefallen?“, fragte er mit einer sanften, klangvollen Stimme und wandte sich in meine Richtung.
„Ja, es war, wie soll ich sagen, unbeschreiblich“, antwortete ich ehrlich.
Er lächelte leicht und sah zu Boden.
Hör auf ihn anzustarren. Hör endlich auf ihn anzustarren, dachte ich.
„Es freut mich, dass es dir gefallen hat.“ Sein Blick war noch intensiver als vorhin.
Hastig zog mich Keira am Arm. „Hallooo!“, rief sie. „Sara, wenn du vorhast, rechtzeitig zum Unterricht zu kommen, sollten wir los.“ Sie zog mich erneut am Arm. „Na, komm schon. Du kannst ihm ja morgen wieder zuhören.“
„Mach`s gut, Sara“, verabschiedete sich der Junge.
„Ähm, ja, du auch“, murmelte ich.
Innerhalb von fünf Minuten, hatte ich mich zum kompletten Vollidioten gemacht.
„Was ist denn mit dir los gewesen?“, fragte mich Keira.
Wir liefen schnell, um noch rechtzeitig in der Stunde zu sein. Mein Vater duldete keine Verspätungen.
„Oh Gott, Keira, ich habe mich gerade bis auf die Knochen blamiert“, sagte ich und hielt mir die Hand an die Stirn.
Sie lachte. „Was hast du ihm denn gesagt, das so peinlich war?“
„Keine Ahnung mehr, was ich gesagt habe. Ich habe nur irgendwas zusammengestottert. Ist er neu an der Schule? Kennst du ihn? Wie heißt er?“, überschüttete ich sie mit Fragen. „Bitte sag mir nicht, dass es ein neuer Lehrer ist.“
Keira lachte. „Nein. Er ist wahrscheinlich der Neue, von dem ich gehört habe. Dante oder so. Also bis später.“ Sie winkte mir zu, als sie durch die Tür im Klassenzimmer verschwand.
Die nächsten zwei Stunden hatte ich Musikunterricht. Durch die Musik konnte ich mich schon immer von allem befreien, was um mich herum geschah. Meistens vergaß ich sogar, dass ich nicht allein war. Das war auch so, als Mom vor drei Jahren starb. Da spielte ich Tag und Nacht, um meine Gedanken nicht zu hören, um die Realität nicht wahrnehmen zu müssen. Dad wusste nicht, was er machen sollte. Er war völlig hilflos. Er hatte seine Frau verloren, mit der er seit siebzehn Jahren verheiratet war. Jetzt hatte er nur noch mich, einen Teenager, der anscheinend durchdrehte. Er sah keine andere Möglichkeit, als meine Großmutter zu bitten, bei uns einzuziehen. Das war die beste Entscheidung, die er hätte treffen können.
Großmutter Mary konnte mich immer zum Lachen bringen. Sie hatte so viele Geschichten zu erzählen. Bei einem verstorbenen Ehemann, einer gescheiterten Ehe und den vielen Liebschaften, die sie danach hatte, war es auch kein Wunder. Früher spielte sie am Broadway. Sie muss unglaublich gewesen sein. Ich war noch zu jung gewesen, um mich an ihre Aufführungen zu erinnern, bei denen ich dabei war. Zu gerne würde ich sie wieder einmal auf der Bühne sehen.
Dad hatte ihr verboten, mir von ihren Eskapaden, wie er es nannte, zu erzählen. Aber sie hielt sich nicht daran. Großmutter tat nie, was man ihr sagte. Erst recht nicht, wenn es ein Mann tat. Deshalb war ihre zweite Ehe auch gescheitert. Der Einzige, der wusste, wie man mit ihr umging, war Dads Vater, mein verstorbener Großvater Josef. Keiner konnte ihr so die Stirn bieten. „Es gibt nur einmal im Leben die Liebe, für die man alles aufgeben würde“, hatte sie mir einst gesagt. Josef war ihre gewesen. Sein Bild stand immer noch auf ihrem Nachttisch. Ich denke, sie wird nie aufhören, ihn zu lieben. Leider hatte ich ihn nie kennengelernt. Er starb, als Dad zwölf war. Mein Vater und ich hatten fast im selben Alter ein Elternteil verloren. Wir liebten die Musik, waren stur und eigensinnig, hatten dieselben Ticks, wie das nervöse Zucken des rechten Beines, wenn wir aufgeregt waren. Ich war ihm auf so viele Arten ähnlich, auch wenn ich mich schwer tat, es zuzugeben. Trotzdem fiel es uns nicht leicht, einen Draht zueinanderzufinden. Gespräche über Gefühle gab es bei uns nicht. Alles hatte sich geändert, seit Mom gestorben war. Er hatte sich geändert. Die Fröhlichkeit in seinen Augen war verschwunden.
„Sara, Konzentration“, ermahnte mich der Lehrer, während ich völlig verträumt über die Seiten strich.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und konzentrierte mich dann wieder auf die Noten vor mir. Die zwei Stunden waren rasch um, dennoch entfloh mir ein leichter Seufzer der Erleichterung, weil ich nicht wirklich anwesend war.
Gedankenverloren kritzelte ich in mein Heft und wartete darauf, dass Geschichte anfing, als es plötzlich viel zu still wurde.
„Hmm, süß der Neue“, sagte Maria, „oder?“ Sie lächelte.
Ohne nachzudenken sah ich zur Seite, als Dante, bei dem ich mich heute Mittag so peinlich verhalten hatte, an mir vorbei ging. Ich spürte, wie ich rot anlief. Er setzte sich direkt hinter mich. Neugierig sah ich nach hinten. Er lächelte mich an. Verlegen erwiderte ich es und wandte meinen Blick sogleich nach vorn. Ich war froh, dass er mein errötetes Gesicht nicht sehen konnte. Nervös zappelte ich unter meinem Tisch mit dem Bein. So stark, dass es sogar Maria auffiel.
„Was ist los mit dir?“, fragte sie flüsternd.
„Nichts. Mir geht es gut“, antwortete ich knapp.
„Na, dann hör auf herumzuzappeln, du machst mich ganz nervös“, sagte sie ein wenig bissig.
Es machte mich völlig unruhig, dass er hinter mir saß. Aus Gründen, über die ich mir bis jetzt, noch nicht bewusst war. Ich war froh, als Mrs. Shapard den Unterricht eröffnete. Jeglicher Versuch mich darauf zu konzentrieren scheiterte. Mein Verlangen mich umzudrehen und in diese stechend blauen Augen zu sehen, wurde von Minute zu Minute größer. Als es klingelte, packte ich meine Schulbücher ein und verließ so schnell ich konnte das Klassenzimmer. Draußen schloss ich die Augen, holte einmal tief Luft und ging in einen der Proberäume. Fest entschlossen, ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen, stellte ich meine Tasche hin und packte meine Geige aus. Gerade als ich angefangen hatte zu spielen, klopfte jemand an der Tür. Ich unterbrach.
Ich spürte, wie mein Kopf heiß wurde, weil dieser süße Junge, den ich vor zwei Minuten aus meinem Kopf streichen wollte, mich ansah. Dante hatte also nicht vor, es mir leicht zu machen. Mit den Händen in den Taschen seiner tief sitzenden Jeans, lehnte er im Türrahmen. Sein Gesicht hatte einen freundlichen, offenen und neugierigen Ausdruck und um seine wunderschönen Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns.
„Hallo“, hörte ich seine ruhige, sanfte Stimme sagen. „Du warst vorhin so schnell weg, da kam ich nicht mehr dazu, mich vorzustellen. Ich bin Dante Craven. Übrigens spielst du auch sehr gut.“
„Oh, danke“, antwortete ich verlegen.
„Du bist also Sara?“, fragte er und kam auf mich zu.
„Woher weißt du, dass ich Sara heiße?“, stammelte ich.
Er lachte leise und hinreißend, während er sich neben mich auf einen Stuhl setzte.
Von Nahem sah er noch besser aus. Ein markantes Kinn, stechend blaue Augen, mit einem leichten grauen Schimmer und zu all dem das unordentliche Haar, das ihn aussehen ließ, als sei er gerade den Laken entstiegen. Der Blick, mit dem er mich ansah, brachte mich dazu ihn unkontrolliert anzustarren. War das gerecht, dass ein anscheinend so talentierter Mensch auch noch so ein Aussehen besaß? Auf seinen perfekten Lippen lag ein Lächeln. Bestürzt sah ich weg.
„Es war nicht zu überhören, als dich deine Freundin von der Tür wegriss.“
Ich verzog mein Gesicht. Ich hatte meinen peinlichen, kleinen Auftritt noch nicht ganz verdaut. „Ach“, sagte ich und rollte mit den Augen. „Ja, ich bin Sara Davis. Freut mich, dich kennenzulernen, Dante.“ Ich streckte ihm meine Hand entgegen. „Du spielst unglaublich“, sagte ich mit Begeisterung.
„Oh, danke. Ich hatte eine Menge Zeit zum Üben.“ Er hatte ein verschmitztes, schiefes Lächeln auf den Lippen. Und wieder glotzte ich ihn nur idiotisch an. „Ich hätte eher gedacht, dass du eine der Tänzerinnen bist“, sagte er.
„Warum?“, fragte ich überrascht. Ich hatte ein paar Stunden mit Keira, aber nicht annähernd genug, um eine Figur wie eine Balletttänzerin zu bekommen. Zu meinem Glück hatte ich die Gene meiner Mutter, da musste ich nicht allzu viel tun, um schlank zu bleiben.
„Ich dachte, der Figur nach, machst du bestimmt eine Tanzausbildung. Ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Oh nein, das hast du nicht“, sagte ich lächelnd. „Es ist wohl mehr ein Kompliment, als eine Beleidigung.“ Verlegen schaute ich weg.
„Wohnst du schon lange in New York?“, fragte er und legte seinen Kopf schief, um mir in die Augen zu sehen.
Ich hob den Blick und sah ihn an. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Was war denn bloß los mit mir? Konnte es wirklich sein, dass dieser fremde Junge mich dermaßen durcheinanderbrachte? Seine Mimik nahm mich gefangen, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sara, rede endlich.
„Ja, mein ganzes Leben.“
„Du bist also eine echte New Yorkerin“, stellte er fest.
„Das bin ich wohl. Nur das Wetter könnte mehr wie an der Westküste sein.“
„Der Schnee hat auch seine Vorteile. Ich bin gerade von Los Angeles hergezogen. Immer nur Sonnenschein kann auf Dauer nerven. Ein wenig Abwechslung tut gut.“
„Aber dort müsste ich wenigstens nicht frieren.“
„Aber dafür schwitzen.“
Wir lachten beide.
Obwohl ich ihn nicht kannte, strahlte er eine Vertrautheit aus, die mich neugierig machte. Ich wollte mehr über ihn wissen.
„Warum seid ihr hergezogen?“, fragte ich. „Ist ganz schön weit weg.“
„Mein Dad hat ein Jobangebot bekommen, das er nicht abschlagen konnte.“
„Was macht er denn?“ Oh Gott, mir war bewusst, dass ich viel zu neugierig war, aber ich konnte es nicht lassen.
„Er ist Professor für Geschichte an der NYU.“ Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als wolle er ein Lächeln unterdrücken.
„Wenigstens ist dein Dad nicht der Rektor deiner Schule.“
„Ach ja? Du bist also die Tochter des Schuldirektors?“
„Ja, bin ich. Aber zumindest muss ich nicht fürchten, hier wegziehen zu müssen. Außer, ich gehe freiwillig. Dad liebt seinen Job.“
„Es ist nicht so schlimm. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wird immer besser“, sagte er mit einem Funkeln in den Augen.
Auf Dantes Lippen formte sich ein bezauberndes, schüchternes Lächeln, das dennoch furchtbar verführerisch war. Für einen kurzen Augenblick fühlte es sich an wie ein Flirt.
„New York ist toll. Die Stadt wird dir gefallen.“
„Du könntest mir ja bei Gelegenheit ein wenig mehr davon zeigen. Wenn du Lust hast?“
Mein Herz fing an zu pochen. „Na klar.“ Meine Wangen wurden rot. „Hier gibt es aber keinen Strand, wo hübsche, leicht bekleidete Mädchen liegen.“ Ich versuchte meine Nervosität zu überspielen.
„Man kann nicht alles haben, nicht wahr?“, fragte er.
Für einen kurzen Moment wollte ich lachen, aber dann fiel mein Blick auf mein Handgelenk und auf das Armband von Mom.
„Leider nicht.“ Meine Stimme klang traurig, selbst mir fiel das auf. Übermorgen war der Todestag meiner Mutter und ich konnte nicht anders, als bei diesen Worten an sie zu denken, denn ich wünschte, ich könnte alles haben. Wenn das möglich wäre, würde ich zurückreisen an den Tag vor drei Jahren und sie daran hindern aus dem Haus zu gehen.
Dante bemerkte meine Stimmung, beugte sich zu mir und sah mich durch seine langen Wimpern entschuldigend an. „Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte er schüchtern.
„Nein Dante. Es ist nur, ach, vergiss es. Du willst dir nicht die Probleme von einem Mädchen anhören, das du gerade einmal fünfzehn Minuten kennst“, sagte ich mit einem etwas gezwungenen Lächeln.
„Ich glaube, ich kann selbst entscheiden wem ich zuhöre und wem nicht.“ Da war es wieder, dieses süße schüchterne Lächeln. Er strich sich durch seine Haare und stützte sich mit dem Ellbogen am Tisch ab.
„Es ist eine lange Geschichte, da reichen ein paar Minuten nicht aus und heute ist mir nicht danach.“
„Morgen ist auch noch ein Tag.“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich habe viel Zeit“, sagte er mit einem Ausdruck, den ich nicht so recht deuten konnte.
Ich lächelte ihn an. Ein paar Sekunden der Stille vergingen.
„Spielst du auch Klavier?“ Neugierig sah er mich an.
„Ja, ein wenig. Nicht annähernd so fantastisch wie du“, sagte ich bewundernd.
Unerwartet stand er auf, setzte sich ans Klavier und streckte mir seine Hand entgegen. „Komm. Bei mir zu Hause will nie jemand mit mir zusammenspielen. Sie sagen, ich sei ein Perfektionist und ginge ihnen damit auf die Nerven.“
„Na ja, ich bin nicht gerade gut, Dante.“ Die wenigen Klavierstunden, die ich bei meinem Vater hatte, reichten dafür nicht aus. Dad war ein toller Pianist. Früher spielte er Mom oft was vor. Seit ihrem Tod hatte er nie wieder gespielt. Als wäre die Musik, die er früher so liebte, mit ihr gestorben. Der Flügel, der bei uns im Salon stand, war verstummt.
„So schlimm kann`s nicht sein, glaub mir. Du hast meine Mutter noch nicht spielen gehört“, sagte er breit grinsend. „Und ich will ja nicht, dass du Klavier spielst, sondern Geige. Ich habe aus reiner Neugier gefragt.“
„Ähm, na gut“, sagte ich zögerlich. Samt meiner Geige stellte ich mich neben das Klavier. „Und was?“, fragte ich.
„Ich fange an und du steigst ein.“
Mit seinen Fingern glitt er über die Tasten. Ich wartete und lauschte, um zu hören, was er spielte. Es war Ludovico Einaudis Primavera. Eines meiner Lieblingsstücke. Ich war sichtlich überrascht, dass er genau diese Komposition ausgewählt hatte. Ich sagte nichts und versuchte mit einzusteigen. Lächelnd sah er mich an. Schüchtern erwiderte ich es, dabei versuchte ich, ihm nicht direkt in die Augen zu sehen. Sähe ich ihn direkt an, würde ich ihn nur wieder blöde anstarren und diese Peinlichkeit wollte ich mir ersparen.
„Ich glaube, da wartet jemand auf dich“, bemerkte Dante und die Musik verstummte.
In der Tür stand Keira mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Ja, dann werde ich mal gehen“, sagte ich ein wenig enttäuscht und setzte meine Geige ab, während ich etwas verloren dastand.
Dante erhob sich und sah mich mit einem derart umwerfenden Lächeln an, dass mein Herz einen Sprung machte. „Bis morgen, Sara“, verabschiedete er sich, bevor er sich an der Tür noch mal kurz umdrehte.
„Ja, bis morgen“, stammelte ich zurück.
Ich zog meinen Mantel an, legte den Schal um den Hals, nahm meine Geige und die Tasche mit den Büchern.
Keiras Blick nach zu urteilen, platzte sie beinahe vor Spannung.
„Was schaust du so?“, fragte ich.
„Ich habe gesehen, dass der Neue mit dir geredet hat. Worüber habt ihr gesprochen?“ Neugierig starrte sie mich mit ihren großen Augen an.
„Belangloses. Gehen wir.“
„Na komm schon. Schließlich bin ich deine beste Freundin. Ein heißer Typ flirtet mit dir und du willst mir nichts darüber erzählen. So was geht einfach nicht.“
„Er hat nicht mit mir geflirtet. Wir haben … uns nur über Musik unterhalten“, sagte ich stotternd. Ich zog sie am Ärmel weiter.
„Natürlich, was denn sonst. Du hast immer einen so roten Kopf, wenn du dich über Musik unterhältst“, gab sie zurück. Keira unterdrückte ein Lachen, was man ihr deutlich ansah, während wir die Tür ansteuerten.
Draußen warf ich einen Blick auf den Parkplatz. Ich erblickte Dante, der locker und cool gegen ein Auto lehnte und sich dabei mit einem Jungen unterhielt. So wie er dastand sah er aus wie James Dean. Wie konnte man nur so gut in einer schwarzen Lederjacke aussehen. Das sollte verboten werden.
„Wen starrst du denn an?“, fragte Keira und sah rüber auf den Parkplatz.
„Um ehrlich zu sein, den Neuen“, gab ich zu.
„Der ist echt süß“, sagte sie kichernd. „Nicht so süß wie Miguel, aber süß.“
„Ja, das ist er. Leider nur etwas zu gut aussehend.“
„Er wird deinem Charme verfallen, so wie jedes andere männliche Wesen in deiner Nähe.“
„Natürlich, ich breche am laufenden Band Herzen“, sagte ich.
Dad wusste, wie er mir die Jungs vom Hals halten konnte. Wer möchte sich schon mit dem Rektor anlegen? Nachdem er mich knutschend mit Peter Bischof vor der Wohnungstür erwischt hatte, gab es für mich keine Dates mehr. Ich genehmigte mir noch einen letzten Blick. Morgen würde ich Dante wiedersehen und das bereitete mir unerwartete Freude.
Mit einem Lächeln auf den Lippen zog ich Keira an der Hand die Treppe herunter. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Wir wohnten beide im gleichen Haus. So konnten wir uns immer treffen, wann wir wollten.
Im Lift sah sie mich mit einem kleinen teuflischen Lächeln an. Irgendetwas hatte sie vor.
„Was?“, fragte ich vorsichtig.
„Soll ich mich mal umhören?“
„Weswegen denn?“
„Weswegen wohl? Dante natürlich. Du möchtest doch sicher mehr über ihn erfahren“, sie grinste übers ganze Gesicht.
„Nein, will ich nicht“, sagte ich entschlossen.
Enttäuscht senkte sie ihren Kopf und sah zu Boden.
„Na ja, eigentlich, will ich es schon“, gab ich verlegen zu. Oh Gott, ich wollte alles über diesen zu perfekt scheinenden Jungen wissen, der in seiner schwarzen Lederjacke so sexy aussah, dass es mir schier den Atem raubte.
„Ich hab`s doch gewusst“, sagte sie und hob ihren Zeigefinger. Der Lift hielt an. „Bis morgen“, sagte sie und verschwand im Flur ihres Stockwerks.
Dad war noch in der Schule und Großmutter bei ihrem Frauennachmittagsklatsch. Montags traf sie sich immer mit ihren ehemaligen Broadwaykolleginnen.
Ich war froh, die Wohnung für mich zu haben. Ich öffnete die Tür, legte meine Schlüssel auf die Kommode und hing den Mantel an den Kleiderständer.
In der Küche nahm ich mir einen Becher und machte mir einen Tee, den ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher trank. Es lief ein Film mit Jack Nicholson. Unter meiner Wolldecke war es so angenehm warm, dass mir langsam die Augen zufielen. Ich legte mich hin und schlief sofort ein. Die durchwachten Nächte zehrten an meinem Körper. Immer öfters fühlte ich mich ausgelaugt, erschöpft, müde.
Leicht verwirrt sah ich mich um. Ich stand im Flur und sah zu wie Mom mir half, meine rote Jacke anzuziehen, die sie mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr Lächeln war so bezaubernd, viel zu lange hatte ich es nicht mehr gesehen. Sie trug ihren schwarzen Mantel und darunter einen grau gestreiften Hosenanzug. Das Letzte, worin ich sie gesehen hatte. Ich wollte sie festhalten, damit sie nicht hinausging, aber ich konnte nicht. Ich stand nur dabei und sah zu, wie meine Mutter die Tür öffnete, die sie ihrem Tod näherbrachte. Mein ganzes Schreien und Flehen half nicht, sie hörte meine Rufe nicht. Wir gingen in den Lift und plötzlich befand ich mich auf der Straße vor unserer Wohnung. Die Autos fuhren durch mich hindurch. Es schneite so heftig, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Mit einem T-Shirt und Jeans war ich in der Kälte, doch ich fror nicht, ich spürte gar nichts. Ich blickte auf die Eingangstür, die sich gleich öffnen würde. Mr. Garner hielt sie uns auf. Mom lachte, strich mir durchs Haar und gab mir einen Kuss auf die Stirn, bevor ich in Richtung Schule losging. Das letzte Mal, dass ich sie glücklich sah, sie lachen hörte, ihr Parfüm roch und ihr sagte, dass ich sie lieb hatte. So vieles, was ich an diesem Morgen das letzte Mal getan hatte.
Mein früheres Ich, drehte sich blitzartig um, als ich die Bremsen und die Schreie vernahm. Mom lag blutend am Boden. Immer wieder schrie ich: „Mom, Mom! Mommy!“, während ich über die Straße rannte, ausrutschte und mir dabei die Handflächen aufschürfte. Eine Menschenmenge hatte sich um sie geschart. Ich schob und stieß, bis ich endlich zu ihr durchkam. Mein Herz schlug so schnell, das Blut rauschte mir in den Ohren.
Ich hielt sie in meinen Armen, ihr Gesicht war blutverschmiert. Mit meinen Händen versuchte ich das viele Blut wegzuwischen, damit sie atmen konnte. Die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten, ich schluchzte und schrie. „Ruft einen Krankenwagen. Das ist meine Mutter. Ruft endlich jemand einen Krankenwagen“, schrie ich in die Menge. „Es ist einer unterwegs“, sagte jemand. „Mom, halt durch, halt durch“, sagte ich ihr immer wieder. „Du schaffst das, ich weiß es. Ein Krankenwagen ist unterwegs. Bitte Mom, bitte“, flehte ich und wiegte sie hin und her, so wie sie es mit mir als Kind tat, wenn ich einen Albtraum hatte. Die Tränen vernebelten mir die Sicht. Sie waren kaum aufzuhalten.
Ich wollte hingehen, ihr helfen, mir selbst helfen. Doch ich war nur als Zuschauer da. Warum war ich das? Sollte ich noch einmal den ganzen verzweifelten Schmerz, die Hilflosigkeit spüren, wie an diesem grausamen Tag vor drei Jahren? Was hatte ich getan, um diese Grausamkeit noch mal durchleben zu müssen?
Ich sank neben ihr auf die vereiste, mit Schnee bedeckte Straße. Der Schnee um uns herum färbte sich rot. Mom spuckte Blut. Sie hob ihre Hand und strich mir durchs Haar, dann setzte ihre Atmung aus. Ich schüttelte sie, rief immer wieder nach ihr, doch sie war tot. Vor Verzweiflung schrie ich nach Dad. Ich wollte das nicht, nicht noch einmal. Wach auf, Sara, wach endlich auf!
Etwas orientierungslos erwachte ich aus meinem Albtraum. Der Film war schon lange vorbei. Die Uhr zeigte halb sieben. Ich setzte mich auf und hob die Decke vom Boden auf, die ich wahrscheinlich im Schlaf heruntergeworfen hatte. Mein Kopf brummte und der Magen knurrte. Großmutter und Dad waren bestimmt schon zu Hause. Um die Gedanken in meinem Kopf zu verdrängen, atmete ich tief ein, stand auf und ging mit meiner Tasse in die Küche, wo Granny kochte. Dad saß am Tisch und las die New York Times. Kurz sah er über den Rand seiner Zeitung, als ich in die Küche kam. Mit seiner Lesebrille sah er so witzig aus, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste.
„Guten Abend, Schlafmütze“, begrüßte er mich, während er die Zeitung zusammenfaltete.
„Ich habe gar nicht gehört, dass ihr nach Hause gekommen seid. Ihr hättet mich wecken können.“
„Zum Abendessen hätten wir dich schon gerufen“, sagte Dad.
Er stand auf, nahm seine Tasse Tee, die auf dem Tisch stand, und im Vorbeigehen gab er mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich sehe mir noch die Nachrichten an. Ruft mich doch bitte, wenn das Essen fertig ist.“
„Machen wir“, sagte Großmutter.
Sie drehte sich mit dem Kochlöffel in der Hand zu mir um. Sie sah sogar mit einer Kochschürze elegant aus. Ich kannte niemanden in ihrem Alter, der sich so gekonnt in Schale werfen konnte. Ihr schulterlanges, langsam grau werdendes Haar, saß wie immer perfekt. Niemand würde sie auf 67 schätzen.
„Also, mein Schatz, wie war dein Tag?“, fragte sie mit einem leichten Lächeln.
Ich setzte mich an den Tisch. „Schule ist eben Schule. Wie immer, nichts Besonderes.“ Mir huschte ein Lächeln über die Lippen.
„Ach ja, nichts Besonderes. Weshalb schaust du dann so?“
Granny wusste immer, wenn ich log. Ich war keine gute Lügnerin. Nur Dad viel das nicht auf. Vielleicht wollte er es auch nicht wahrnehmen.
Verlegen sah ich sie an und kicherte albern. „Na ja, wenn ich ehrlich bin, wir haben einen neuen Schüler bekommen und der ist ein Ausnahmetalent“, sagte ich.
„Ist das alles?“, fragte sie, während sie die Soße umrührte.
„Nicht ganz, er ist auch verdammt süß. Er würde dir gefallen“, antwortete ich mit einem breiten Grinsen.
Sie nahm die Soße und die Nudeln vom Herd. „Wie heißt er denn?“
„Dante Craven. Er ist Pianist. Granny, ich habe noch nie jemanden so spielen gehört“, schwärmte ich. „Er ist, es ist, so, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Ich habe ihn nur kurz spielen gehört, aber er ist ein faszinierender Künstler, dazu fast verboten gut aussehend für sein Alter.“
„Ich habe dich ja noch nie so schwärmen gehört, außer von diesem Colin. Wie hieß der noch mal?“ Sie lachte.
„Colin Farrell, Granny, das ist ein Schauspieler.“
„Wie auch immer. Habt ihr euch verabredet?“, fragte sie neugierig.
„Ich kenne ihn gerade mal einen Tag, da gehen wir nicht gleich aus und du weißt, wie Dad ist. Er würde es mir sowieso nicht erlauben“, sagte ich mit gesenktem Kopf.
Sie gab mir die Teller und das Besteck in die Hand, die ich auf dem Tisch verteilte.
„Lass deinen Vater meine Sorge sein. Ich werde ihn schon noch bearbeiten. Man glaubt kaum, dass er mein Sohn ist. Weißt du, zu meiner Zeit habe ich den Männern ständig den Kopf verdreht“, sagte sie und vollführte eine kleine Pirouette. „Da du meine Enkeltochter bist, wird dieser Dante keine Chance haben deinem Charme zu widerstehen.“ Sie strich mir über die Wange. „Ruf doch bitte deinen Vater zum Essen.“
Nach dem Essen verschwand ich im Zimmer. Ich war müde und ein wenig schlapp. Bevor ich mich ins Bett legte, um noch ein bisschen zu lesen, zog ich mir eine Jogginghose und ein T-Shirt an, in dem ich schlief. Nach einer Stunde fielen mir fast die Augen zu.
„Bitte, wenn du kannst, lass mich heute Nacht schlafen“, sagte ich in die Dunkelheit, mit dem Wissen, dass ich keine Antwort bekäme.
Doch ich spürte seine Präsenz wie einen Magneten, der meine Aufmerksamkeit in genau die Zimmerecke zog, in der er sich befand. Auf eine gewisse Art war es beruhigend, nicht allein zu sein. Ich war ihm dankbar, dass ich diesmal nicht allein war, in dieser Zeit vor ihrem Todestag, und mir war vollkommen egal, ob es verrückt war, an einen Geist zu glauben. Jeder Trost war mehr als willkommen.
Dante
Das schwache Licht der Nachttischlampe schimmerte in ihren grünen Augen, während sie vom Bett aus auf den Sessel starrte, wo ich saß. Sie sah mich nicht, dennoch spürte sie meine Anwesenheit. Nach einigen Sekunden legte sie das Buch in ihren Händen weg, schaltete das Licht aus und legte sich schlafen. Ich würde ihrer Bitte sie durchschlafen zu lassen gerne nachkommen, aber es lag nicht in meiner Macht.
Ich wusste nicht, warum dieses Mädchen mich so faszinierte. So sehr, dass ich in ihrem Zimmer saß, während sie schlief und mir die Langeweile der Schule antat. Vielleicht weil sie wusste, dass ich da war. Es war weder rational noch vernünftig, aber es war richtig. Dieses Gefühl von Vertrautheit, das sie mir gegenüber ausstrahlte, machte mich wehrlos.