Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Kapitel 1
  7. Kapitel 2
  8. Kapitel 3
  9. Kapitel 4
  10. Kapitel 5
  11. Kapitel 6
  12. Kapitel 7
  13. Kapitel 8
  14. Kapitel 9
  15. Kapitel 10
  16. Kapitel 11
  17. Kapitel 12
  18. Kapitel 13
  19. Kapitel 14
  20. Kapitel 15
  21. Kapitel 16
  22. Kapitel 17
  23. Kapitel 18
  24. Kapitel 19
  25. Kapitel 20
  26. Kapitel 21
  27. Kapitel 22
  28. Kapitel 23
  29. Kapitel 24
  30. Kapitel 25
  31. Kapitel 26
  32. Kapitel 27
  33. Kapitel 28
  34. Kapitel 29
  35. Kapitel 30
  36. Kapitel 31
  37. Danksagungen

Über die Autorin

Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England und vielen weiteren Ländern regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes.

Lesley Pearse

DER ZAUBER EINES FRÜHEN MORGENS

Roman

Aus dem Englischen von Britta Evert

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Maureen, in Liebe.

Weil du es wert bist.

KAPITEL 1

JUNI 1914

Er stellte sich zum Schutz vor dem heftigen Regen in einen Hauseingang und starrte über die Straße auf das kleine Erkerfenster des Hutsalons.

Allein der Anblick des Namens »Belle« in goldenen Kursivlettern über dem Fenster ließ sein Herz schneller schlagen. Im Inneren des Ladens konnte er die Silhouetten von zwei Damen erkennen, und ihre Gestik ließ darauf schließen, dass sie von dem Angebot an schicken Hüten hingerissen waren. Sein Ziel, nämlich in Erfahrung zu bringen, ob Belles Traum wahr geworden war, hatte er erreicht, aber nun, da er hier und ihr so nahe war, wollte er mehr, viel mehr.

Eine mollige ältere Dame mit rosigen Wangen stellte sich neben ihm im Eingang unter. Sie plagte sich mit ihrem Regenschirm ab, den der Wind nach außen gestülpt hatte. »Wenn es nicht bald zu regnen aufhört, bekommen wir alle nasse Füße!«, verkündete sie fröhlich und bemühte sich, den Schirm wieder zu richten. »Es ist mir ein Rätsel, wie ich auf die Idee gekommen bin, bei diesem Wetter auszugehen.«

»Das Gleiche habe ich mich auch gerade gefragt«, erwiderte er und nahm ihr den Schirm ab, um die Speichen gerade zu biegen. »Bitte sehr«, sagte er und gab ihn ihr zurück. »Aber ich fürchte, schon der nächste Windstoß wird meine Bemühungen zunichtemachen.«

Sie sah ihn neugierig an. »Sie sind Franzose, nicht wahr? Aber Sie sprechen sehr gut Englisch.«

Er lächelte. Er fand es sympathisch, dass Engländerinnen ihres Alters sich nicht scheuten, wildfremden Leuten Fragen zu stellen. Französinnen waren wesentlich reservierter.

»Ja, ich bin Franzose, aber ich habe Englisch gelernt, als ich ein paar Jahre hier lebte.«

»Sind Sie auf Urlaub hier?«, erkundigte sie sich.

»Ja, zu Besuch bei alten Freunden«, antwortete er, was zumindest teilweise der Wahrheit entsprach. »Ich habe gehört, dass Blackheath sehr hübsch sein soll, doch ich habe für meinen Besuch keinen guten Tag gewählt.«

Sie lachte und bemerkte, dass niemand Lust habe, bei solchen Wolkenbrüchen über die Heide zu spazieren. »Sie leben bestimmt in Südfrankreich«, fuhr sie fort und musterte beifällig sein gebräuntes Gesicht. »Mein Bruder hat Ferien in Nizza gemacht und ist braun wie eine Marone zurückgekommen.«

Er hatte keine Ahnung, was eine Marone war, aber er war froh, dass die Frau einem kleinen Schwatz anscheinend nicht abgeneigt war. Vielleicht konnte er von ihr etwas über Belle erfahren.

»Ich lebe in der Nähe von Marseille. Und der Laden da drüben erinnert mich an die Hutsalons in Frankreich«, sagte er und zeigte auf Belles Geschäft.

Sie folgte seinem Blick und lächelte. »Na ja, es heißt, dass sie ihr Gewerbe in Paris gelernt hat, und alle Damen hier im Ort lieben ihre Hüte.« Echte Wärme klang in ihrer Stimme mit. »Ich hätte heute selbst auf einen Sprung vorbeigeschaut, wenn nicht so ein Hundewetter wäre. Sie nimmt sich immer für jede Kundin Zeit. Eine reizende junge Frau!«

»Ihr Geschäft geht also gut?«

»Oh ja! Ich habe gehört, dass Damen von überall her kommen, um bei ihr einzukaufen. Aber jetzt muss ich mich auf den Weg machen, sonst gibt es heute Abend nichts zu essen.«

»Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern«, erwiderte er und half ihr, ihren Schirm aufzuspannen.

»Sie könnten dort einen Hut für Ihre Frau kaufen«, sagte die ältere Dame im Gehen noch. »Einen besseren Laden finden Sie nirgendwo, nicht mal auf der Regent Street.«

Nachdem die Frau gegangen war, starrte er in der Hoffnung, einen Blick auf Belle zu erhaschen, weiter über die Straße auf den Laden. Er hatte keine Ehefrau, die er mit einem hübschen Hut hätte erfreuen können, und er brauchte wohl kaum einen Vorwand, um das Geschäft einer alten Freundin aufzusuchen. Aber war es klug, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen?

Er wandte sich um und betrachtete sein Spiegelbild in dem Schaufenster neben sich. Seine alten Freunde daheim in Frankreich behaupteten, dass er sich in den zwei Jahren, seit er Belle zum letzten Mal gesehen hatte, verändert hatte, doch ihm selbst fiel nichts dergleichen auf. Er war immer noch schlank und dank der harten Arbeit auf seinem kleinen Bauernhof durchtrainiert, und seine Schultern waren noch breiter und muskulöser als früher. Vielleicht hatten seine Freunde nur gemeint, dass die Narbe auf seiner Wange kaum noch zu sehen war und seine kantigen Züge milder und weniger gefährlich wirkten.

Vor zehn Jahren, mit Mitte zwanzig, als es zu seinem Beruf gehört hatte, anderen Angst einzujagen, war er stolz darauf gewesen, wenn man gesagt hatte, dass seine blauen Augen eiskalt waren und sogar seine Stimme bedrohlich klang. Aber obwohl er wusste, dass er immer noch gewalttätig werden konnte, wenn es die Situation verlangte, hatte er sich aus jener Welt zurückgezogen.

Falls die lobenden Worte der älteren Dame über Belle repräsentativ für die Meinung war, die man in diesem gutbürgerlichen Vorort über sie hatte, waren ihr die skandalöseren Details ihrer Vergangenheit offenbar nicht gefolgt. Das war gut. Gerade er wusste, wie schwer es war, Fehler der Vergangenheit, falsche Entscheidungen und beschämende Episoden endgültig hinter sich zu lassen.

Nun, seine Mission war erfüllt, und er wusste, dass es am klügsten wäre, zum Bahnhof zurückzugehen und in den nächsten Zug nach London zu steigen.

Das Bimmeln der Ladenglocke verriet ihm, dass jemand Belles Hutsalon verließ. Es waren die beiden Damen – Mutter und Tochter, vermutete er, denn die eine schien in den Vierzigern zu sein, die andere ungefähr achtzehn. Die Jüngere lief mit zwei rosa-schwarz gestreiften Hutschachteln in den Händen zu einem wartenden Automobil, während die ältere Frau sich noch einmal umdrehte, als wollte sie »Auf Wiedersehen« sagen. Dann sah er plötzlich Belle in der Tür stehen, genauso schlank und schön, wie er sie in Erinnerung hatte, in einem sehr züchtigen, hochgeschlossenen blassgrünen Kleid, das schimmernde dunkle Haar zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, aus dem ein paar Locken fielen und sich um ihr Gesicht schmiegten.

Auf einmal wollte er nicht mehr klug sein; er musste einfach mit ihr sprechen. Das ferne Donnergrollen eines drohenden Krieges, das vor ein, zwei Jahren begonnen hatte, war im vergangenen Jahr ständig lauter geworden, und seit der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich schien der Krieg unausweichlich zu sein. Deutschland würde zweifellos in Frankreich einmarschieren, und da er für sein Vaterland kämpfen musste, bestand die Möglichkeit, dass er sterben und Belle nie wiedersehen würde.

Als die beiden Frauen abfuhren, schloss Belle die Ladentür. Nun, da sie allein war, fühlte er sich außerstande, dem Impuls zu widerstehen, und so flitzte er im strömenden Regen über die Straße und verharrte ein, zwei Sekunden, um Belle durch die Glastür zu betrachten. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und arrangierte Hüte auf kleinen Ständern. Eine Reihe winziger Perlenknöpfe schloss das Rückenteil ihres Kleides, und der Gedanke, dass nicht er es war, der diese Knöpfe für sie öffnen durfte, versetzte ihm einen Stich. Als sie sich vorbeugte, um eine Hutschachtel aufzuheben, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf wohlgeformte Waden über hübschen Spitzenstiefeletten. Als er sie in Paris gerettet hatte, hatte er sie nackt gesehen und nichts als Angst um sie empfunden, aber jetzt erregte ihn schon der Anblick eines kleinen Stücks Bein.

Beim Bimmeln der Glocke drehte Belle sich um, und als sie ihn sah, flogen ihre Hände an ihren Mund, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Etienne Carrera!«, rief sie. »Was in aller Welt machst du denn hier?«

Ihre Stimme, das tiefe Blau ihrer Augen und sogar die Art, wie sie seinen Namen aussprach, erfüllten ihn mit Verlangen. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass du dich noch an mich erinnerst«, sagte er und nahm schwungvoll seinen Hut ab. »Und du bist noch hübscher geworden. Der Erfolg und das Eheleben scheinen dir gut zu bekommen.«

Er trat ein paar Schritte näher, um sie auf die Wange zu küssen, aber sie errötete und wich zurück, als wäre sie nervös. »Woher hast du gewusst, dass ich verheiratet bin und hier in Blackheath lebe?«, fragte sie.

»Ich war im Ram’s Head in Seven Dials. Der Wirt hat mir erzählt, dass du Jimmy geheiratet hast und nach Blackheath gezogen bist. Weil ich unmöglich abreisen konnte, ohne dich gesehen zu haben, fuhr ich, in der Hoffnung, dich zu finden, mit der Bahn hierher.«

»Nach allem, was du für mich getan hast, hätte ich dir schreiben sollen, dass ich heirate«, bemerkte sie. Ihn so unerwartet vor sich zu sehen, schien sie ein wenig aus der Fassung zu bringen. »Aber …« Sie geriet ins Stocken.

»Verstehe«, sagte er leichthin. »Unter alten Freunden, die so viel miteinander erlebt haben, bedarf es keiner Erklärungen. Dass Jimmy nach deiner Entführung nie aufgegeben hat, dich zu finden, beweist, wie sehr er dich liebt. Ich bin froh, dass für euch alles so gut gelaufen ist. Ich habe gehört, dass er und sein Onkel hier ein Wirtshaus führen.«

Belle nickte. »Es ist die Bahnhofswirtschaft, gleich den Hügel hinunter. Du erinnerst dich bestimmt noch an Mog, die Haushälterin meiner Mutter, von der ich dir so viel erzählt habe. Also, sie hat im September vor zwei Jahren Garth geheiratet, Jimmys Onkel, und kurz darauf haben Jimmy und ich uns trauen lassen.«

»Und jetzt hast du wirklich deinen Hutsalon!« Etienne musterte beifällig die in Blassrosa und Creme gehaltene Einrichtung. »Sehr hübsch – genauso feminin und schick wie du selbst. Draußen auf der Straße hat mir eine Frau erzählt, dass man nicht einmal auf der Regent Street schönere Hüte bekommt.«

Jetzt schien sie sich ein wenig zu entspannen. Sie lächelte ihn an. »Warum legst du nicht deinen nassen Regenmantel ab, und ich mache uns beiden eine Tasse Tee?«

»Lebst du immer noch auf deinem Bauernhof?«, rief sie ihm zu, als sie in das kleine Hinterzimmer eilte.

Etienne hängte seinen Mantel an einen Kleiderhaken bei der Tür und strich sich mit den Händen das feuchte helle Haar glatt. »Allerdings, aber gelegentlich arbeite ich auch als Übersetzer. Das ist der Grund, warum ich in England bin. Ich hatte etwas mit einem Unternehmen zu besprechen, für das ich gearbeitet habe«, rief er ihr zu.

»Dann besteht dein Leben also nicht ausschließlich aus Hühnern und Zitronenbäumen?«, fragte sie, als sie zurückkam. »Sag mir bitte, dass du nicht vom Pfad der Tugend abgewichen bist!«

Etienne legte eine Hand aufs Herz. »Ich gebe dir mein Wort, dass ich eine Stütze der Gesellschaft bin«, versicherte er mit ernster Stimme, aber mit einem Zwinkern in seinen blauen Augen. »Ich habe weder junge Mädchen nach Amerika begleitet noch sie aus den Klauen von Irren gerettet.«

Er hatte sich nie verziehen, dass er sich nicht geweigert hatte, als die Gangster, für die er damals tätig gewesen war, ihn mit Drohungen gegen seine Familie gezwungen hatten, Belle in ein Bordell in New Orleans zu bringen. Zugegeben, einen Teil seiner Schuld hatte er getilgt, als er sie zwei Jahre später in Paris gerettet hatte, doch in seinen Augen war das nicht annähernd genug.

»Als Stütze der Gesellschaft kann ich mir dich eigentlich nicht vorstellen«, lachte Belle.

»Zweifelst du etwa an meinem Wort?«, fragte er gespielt beleidigt. »Schäm dich, Belle, dass du so wenig Vertrauen zu mir hast! Habe ich dich je belogen?«

»Du hast einmal zu mir gesagt, dass du mich töten würdest, falls ich versuche zu fliehen«, gab sie zurück. »Und später hast du zugegeben, dass es nicht wahr war.«

»Das ist das Problem mit euch Frauen«, gab er schmunzelnd zurück. »Immer erinnert ihr euch an die kleinen, unbedeutenden Dinge.« Er streckte eine Hand aus und strich bewundernd über einen mit Federn verzierten rosa Hut. Belles Talent und Entschlossenheit hatten sich bezahlt gemacht. »Jetzt bist du an der Reihe, die Wahrheit zu sagen. Ist deine Ehe so, wie du es erhofft hattest?«

»Das und noch viel mehr«, antwortete sie fast ein bisschen zu schnell. »Wir sind sehr glücklich. Jimmy ist ein fantastischer Ehemann.«

»Das freut mich für dich«, sagte Etienne und deutete eine Verbeugung an.

Belle lachte wieder. »Und du? Gibt es eine Frau in deinem Leben?«

»Keine, die mir genug bedeutet, um mich fest zu binden«, sagte er.

Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

Er lächelte. »Schau nicht so! Nicht jeder sehnt sich nach Ehe und Sicherheit. Schon gar nicht jetzt, da ein Krieg bevorsteht.«

»So weit wird es doch sicher nicht kommen?«, meinte sie hoffnungsvoll.

»Doch, Belle. Daran besteht kein Zweifel. Es ist nur noch eine Frage von Wochen.«

»Zurzeit reden die Männer über nichts anderes«, seufzte sie. »Ich bin es schon so leid! Sag mal, möchtest du nicht mit mir nach Hause gehen und Jimmy, Garth und Mog kennenlernen? Sie würden sich bestimmt freuen, dich endlich einmal zu sehen.«

»Ich halte das für keine gute Idee«, erwiderte Etienne.

Belle verzog das Gesicht. »Aber warum denn nicht? Du hast mir in Paris das Leben gerettet, und sie wären sehr enttäuscht, wenn sie wüssten, dass du hier warst und nicht einmal Hallo gesagt hast.«

Er sah sie einen Moment lang versonnen an. »Als du hierhergezogen bist, hast du deine Vergangenheit hinter dir gelassen.«

Belle öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, schloss ihn aber wieder, als sie erkannte, dass er recht hatte. An dem Tag, als sie Jimmy geheiratet hatte, hatte sie die Tür zu ihrer Zeit in Amerika und Paris fest verschlossen. Etienne mochte sie mit seinem Besuch wieder geöffnet haben, und darüber war sie froh, aber Jimmy würde es vielleicht nicht so sehen.

»Was ist mit Noah?«, fragte sie. »Ihn wirst du doch besuchen, oder? Ihr zwei seid so gute Freunde geworden, als ihr mich gesucht habt, und du erinnerst dich bestimmt noch an Lisette, die sich im Konvent um mich gekümmert hat, bevor du mich nach Amerika gebracht hast. Noah hat sich in sie verliebt, und jetzt sind die beiden verheiratet, und ein Kind ist auch schon unterwegs. Sie wohnen in einem schönen Haus in St. John’s Wood.«

»Ich bin mit Noah in Verbindung geblieben«, sagte Etienne. »Vielleicht nicht ganz so intensiv, wie ich es hätte tun sollen, aber ihm als Journalist fällt das Schreiben nun mal viel leichter als mir. Mittlerweile ist er ein so bekannter Kolumnist, dass ich sogar in Frankreich Artikel von ihm lesen kann. Tatsächlich gehe ich morgen Mittag in der Nähe seines Büros mit ihm essen. Wir werden immer Freunde sein, doch in seinem Zuhause möchte ich ihn lieber nicht besuchen. Wir sind uns beide darin einig, dass Lisette nicht an die Vergangenheit erinnert werden muss, schon gar nicht jetzt, da sie ein Kind erwartet.«

Belle, die genau wusste, was er meinte, lächelte wehmütig. Auch Lisette war als junges Mädchen zur Prostitution gezwungen worden, und genau deshalb hatte sie sich so liebevoll um Belle gekümmert. »Ehrbarkeit hat einen hohen Preis. Ich mag Noah und Lisette sehr, aber obwohl wir Kontakt halten und uns hin und wieder sehen, sind wir immer darauf bedacht, nie zu erwähnen, wie und warum wir uns kennengelernt haben. Ich weiß, dass es für uns in unserer jetzigen Situation als verheiratete Frauen richtig ist, doch es verhindert eine wirklich enge Freundschaft.«

Etienne sah sie eindringlich an. »Wirkt sich die Vergangenheit auf deine Beziehung zu Jimmy aus?«

»Manchmal«, gestand sie. »Es ist, als hätte man einen Holzsplitter im Finger, der nicht herausgeht, an dem man jedoch trotzdem ständig herumfummelt.«

Etienne nickte. Er fand ihren Vergleich sehr passend. »So geht es mir auch. Aber im Lauf der Zeit geht der Splitter doch raus, und die Öffnung, die er hinterlässt, füllt sich mit neuen Erinnerungen.«

Belle lachte auf. »Warum sind wir eigentlich so trübselig? Trotz all der Probleme, die wir hatten, ist es für uns alle, für dich, mich, Jimmy, Mog und auch Lisette, gut ausgegangen. Warum neigen die Menschen dazu, den schlechten Zeiten nachzuhängen?«

»Sind es die schlechten Zeiten, denen wir nachhängen, oder die schönen Augenblicke, die uns in diesen Zeiten weitergeholfen haben?«, gab er zurück und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Belle wurde rot, und er wusste, dass auch sie sich noch gut an ihre gemeinsamen Augenblicke erinnerte.

Obwohl sie gegen ihren Willen nach Amerika gebracht wurde, hatte Belle sich rührend um ihn gekümmert, als er während der Überfahrt seekrank geworden war. Lange bevor sie New Orleans erreicht hatten, waren sie einander sehr nahegekommen, und am Abend ihres sechzehnten Geburtstags hatte sie sich ihm angeboten. Er wusste bis heute nicht, wie er es in jener Nacht geschafft hatte, standhaft zu bleiben. Trotz seiner Frau und seiner zwei kleinen Söhne daheim hatte er Belle begehrt. Die Erinnerung an ihren straffen, jungen Körper, der in seinen Armen lag, und an ihre betörenden Küsse hatte ihn im Lauf der Jahre immer wieder heimgesucht. Trotzdem war er froh, dass er ihren Reizen damals nicht erlegen war – er hatte auch ohne das genug Schuld auf sich geladen.

»Immer wenn ich etwas über New York lese, muss ich daran denken, wie du mir all die Sehenswürdigkeiten gezeigt hast«, sagte sie. »Ich muss darauf achten, nie zu erwähnen, dass ich einmal dort war, sonst müsste ich erklären, wann und mit wem das war. Ich habe dich nie gefragt, ob dir die zwei Tage auch so viel Spaß gemacht haben. Hat es dir gefallen?«

»Es war für mich die schönste Zeit seit Langem«, gestand er. »Du warst so überwältigt, so erpicht darauf, alles zu sehen. Mir war sehr unwohl bei dem Gedanken, dich nach New Orleans zu bringen und dort zurückzulassen.«

»Ach, so schlimm war es bei Marta gar nicht!«, meinte sie und legte tröstend eine Hand auf seinen Arm. »Ich habe dir deshalb nie Vorwürfe gemacht. Mir war klar, dass du nicht anders handeln konntest. Außerdem hast du das mehr als wiedergutgemacht, als du zwei Jahre später in Paris durch die Tür gestürmt kamst, um mich vor Pascal zu retten.«

Belle erschauerte unwillkürlich, als sie an das Grauen dachte, dem Pascal sie ausgesetzt hatte. Der geistesgestörte Mann hatte sie im Dachgeschoss seines Hauses eingekerkert und hätte sie zweifellos umgebracht, wenn es Etienne nicht gelungen wäre, sie dort aufzuspüren.

Und Etienne hatte sie nicht nur befreit, sondern ihr geholfen, sich von diesem Albtraum zu erholen, indem er im Krankenhaus an ihrem Bett saß, sie ermutigte, sich auszuweinen, und ihr Hoffnung für die Zukunft gab. Belle erinnerte sich auch noch an den Tag, an dem Noah ihr erzählt hatte, dass Etiennes Frau und seine zwei Söhne bei einem Brand in ihrem Haus umgekommen waren. Es beschämte sie, dass ihre erste Reaktion der Gedanke gewesen war, dass Etienne jetzt frei war, nicht etwa Entsetzen über den grauenhaften Tod seiner Familie.

Etienne bemerkte ihr Erschauern und war sich darüber im Klaren, dass sie verstört war, weil sein unerwarteter Besuch Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit geweckt hatte. Er hatte das Gefühl, dass er sie beide in die Gegenwart zurückholen musste.

»Ich werde mich freiwillig melden, wenn ich wieder in Frankreich bin«, sagte er.

»Oh nein, nur das nicht!«, keuchte sie.

Etienne lachte leise. »Das ist die typisch weibliche Reaktion, aber es ist meine Pflicht, Belle. Und wieder einmal holt mich meine Vergangenheit ein. Ich habe mich nämlich als junger Mann vor dem Militärdienst gedrückt, indem ich nach England ging.«

»Wird man dich dafür bestrafen?«, fragte sie.

Er grinste. »Ich hoffe, die sind einfach froh, einen Soldaten mehr zu haben«, antwortete er. »Der ganze Drill wird mir nicht gefallen, Befehle zu befolgen schon gar nicht, und ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass es der Weg zum Ruhm ist, doch ich liebe Frankreich, und ich will verdammt sein, wenn ich tatenlos mit ansehe, wie es in die Hände der Deutschen fällt.«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Du bist einfallsreich und mutig, Etienne, und wirst einen guten Soldaten abgeben. Aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn du auf deinem Hof wärst, um Zitronen zu ziehen und Hühner zu füttern.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wir können im Leben nicht immer den sicheren und angenehmen Weg gehen. In meiner Vergangenheit hat Gewalt eine große Rolle gespielt, und ich habe erlebt, was für furchtbare Dinge Menschen einander antun können. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Wissen noch einmal brauchen würde, doch anscheinend verlangt mein Land genau das von mir.«

»Du bist ein guter, anständiger Mensch«, seufzte sie. »Pass bitte auf dich auf! Aber wenn du wirklich nicht mitkommen und Jimmy kennenlernen willst, schließe ich jetzt den Laden und gehe heim. Wir essen gern zusammen zu Abend, bevor das Lokal aufmacht.«

»Ja, natürlich, lass dich von mir nicht aufhalten!«, erwiderte er, machte jedoch keine Anstalten, nach Hut und Mantel zu greifen. Er hätte ihr gern gesagt, dass er sie schon immer geliebt hatte, und sie in die Arme genommen und geküsst. Aber er wusste, dass es dafür zu spät war. Damals in Paris hatte er seine Chance gehabt und sie nicht genutzt. Jetzt gehörte sie einem anderen.

»Geh du lieber zuerst. Ich möchte nicht ins Gerede kommen, weil ich mit einem Fremden auf der Straße gesehen worden bin«, sagte sie offen.

Etienne zog seinen Mantel an. »Ich habe gefunden, was ich gesucht hatte«, sagte er leise. »Das Wissen, dass du glücklich und gut aufgehoben bist. Bleib glücklich und liebe deinen Jimmy von ganzem Herzen! Ich hoffe, eines Tages von Noah zu hören, dass ihr einen ganzen Stall voller Kinder habt.«

Er nahm ihre Hand und küsste sie, drehte sich dann schnell um und ging.

»Au revoir«, murmelte Belle, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Tränen brannten hinter ihren Lidern. Sie hätte ihm gern so viel mehr gesagt, gern so viel mehr über sein Leben erfahren.

Mit sechzehn hatte sie geglaubt, ihn zu lieben. Noch heute wurde sie schamrot, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie aus ihren Sachen und zu ihm in die Koje geschlüpft war, um sich ihm anzubieten. Er war ganz Gentleman gewesen; er hatte sie im Arm gehalten und geküsst, mehr aber nicht.

Wenn sie jetzt als Erwachsene auf die furchtbaren Dinge zurückblickte, die sie vor ihrer Begegnung mit Etienne erlebt hatte, darauf, dass sie direkt vor ihrem Zuhause von der Straße weg entführt und nach Paris gebracht worden war, dort an ein Bordell verkauft und von fünf Männern vergewaltigt wurde, war ihr klar, dass sie vielleicht jeden, der nach diesen Erfahrungen freundlich zu ihr war, geliebt hätte.

Aber dass Etienne nett zu ihr gewesen war, dass er männlich, einfühlsam und liebevoll war, konnte nicht der einzige Grund dafür sein, dass diese mädchenhaften Träume sie während ihrer ganzen Zeit in New Orleans und auf ihrer Heimreise nach Frankreich nicht losgelassen hatten.

Als er wieder in Erscheinung trat und ihr das Leben rettete, war ihre Unschuld schon lange dahin, und sie wusste mehr über Männer, als jede Frau wissen sollte. Aber auch er musste etwas für sie empfunden haben; warum sonst wäre er zwei Jahre später sofort nach Paris gekommen, als er erfuhr, dass sie verschwunden war?

Während der Zeit ihrer Genesung hatte sie ständig auf eine Liebeserklärung gewartet und gehofft. An der Art, wie er sie ansah, und an der Zärtlichkeit, mit der er sie behandelte, erriet sie, dass er sie liebte. Dennoch nahm er sie nicht in die Arme und gestand ihr nicht seine Liebe, nicht einmal, als sie sich am Gare du Nord verabschiedeten und sie in Tränen ausbrach und keinen Hehl aus ihren Gefühlen machte.

Sie hatte sich nach Kräften bemüht, diesen Abschied aus ihren Gedanken zu verbannen, ebenso wie das Verlangen nach Etienne, das sie noch lange Zeit später empfand, auch dann noch, als sie längst wieder daheim bei Mog war und Jimmy von Heirat redete. Warum hatte er heute herkommen und ihr diesen bestimmten Splitter wieder tief ins Herz treiben müssen?

Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt. Jimmy und sie waren sehr glücklich. Er war für sie bester Freund, Liebhaber, Bruder und Ehemann in einem. Sie verfolgten dieselben Ziele, lachten über dieselben Dinge. Jimmy war alles, was sich ein Mädchen erhoffen durfte. Er hatte das Grauen der Vergangenheit ausgelöscht; in seinen Armen erfuhr sie hingebende Zärtlichkeit und auch tiefe Befriedigung, denn er war ein liebevoller und einfühlsamer Liebhaber.

Jimmy war ihre Welt, und sie liebte das Leben mit ihm. Trotzdem wünschte sie, sie hätte Etienne sagen können, wie schön es war, ihn wiederzusehen, wie oft sie in den vergangenen zwei Jahren an ihn gedacht hatte, wie viel sie ihm schuldete.

Aber eine verheiratete Frau konnte so etwas nicht sagen, und genauso wenig konnte sie ihn ermutigen, länger in ihrem Laden zu bleiben. Blackheath war wie ein Dorf, die Leute hier waren engstirnig und neugierig, und viele von ihnen würden sich nur zu gern die Mäuler zerreißen, wenn sie Belle im Gespräch mit einem attraktiven Mann sahen.

Sie fing an, im Geschäft aufzuräumen, indem sie den Ladentisch abstaubte und verirrtes Seidenpapier vom Boden klaubte.

Warum, fragte sie sich unwillkürlich, hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas in ihrem Leben fehlte, wenn doch alles so gut lief? Warum las sie in der Zeitung Artikel über die Suffragetten und beneidete sie insgeheim, weil sie den Mut hatten, trotz aller Feindseligkeit, die ihnen entgegengebracht wurde, für die Rechte der Frauen einzutreten? Warum fühlte sie sich von all der Ehrbarkeit ringsum eingeengt? Und, wichtiger noch, warum bescherte ihr Etienne mit seiner Stimme, seinem Aussehen und seinen Lippen auf ihrer Hand immer noch eine Gänsehaut?

Sie schüttelte den Gedanken ab, öffnete die Lade, in der sie die Tageseinnahmen verwahrte, und verstaute das Geld in einem Stoffbeutel, den sie in ihren Pompadour schob. Sie steckte ihren Strohhut mit einer langen Hutnadel in ihrem Haar fest, warf sich ihren Umhang über die Schulter und nahm ihren Schirm aus dem Schirmständer.

In der Tür blieb sie noch einmal stehen, bevor sie das Licht ausschaltete, und dachte an den Tag zurück, an dem sie ihr Geschäft eröffnet hatte. Es war ein kalter Novembertag gewesen, genau zwei Monate nach Mogs und Garths Hochzeit, und Jimmy und sie wollten kurz vor Weihnachten heiraten. An jenem Tag war alles neu und blitzblank gewesen. Jimmy hatte sie mit den kleinen, aber kostspieligen französischen Kandelabern und dem Ladentisch überrascht. Mog hatte die beiden Regency-Stühle entdeckt und mit rosa Samt neu bezogen, und Garths Geschenk bestand darin, die beiden Maler zu bezahlen, die das düstere kleine Geschäftslokal in ein Paradies in Blassrosa und Creme verwandelt hatten.

An diesem ersten Tag verkaufte Belle zweiundzwanzig Hüte, und seither waren Dutzende Kundinnen immer wiedergekommen, um bei ihr zu kaufen. In den neunzehn Monaten, die inzwischen vergangen waren, hatte es insgesamt weniger als sieben Tage gegeben, an denen sie nicht einen einzigen Hut verkauft hatte, und das nur wegen Schlechtwetters. Im Durchschnitt verkaufte sie ungefähr fünfzehn Hüte pro Woche, und das hieß zwar, dass sie hart arbeiten und eine Hilfskraft beschäftigen musste, um der Nachfrage nachzukommen, aber auch, dass sie gute Gewinne erzielte. Im Frühling hatte sie schlichte Strohhüte gekauft und selbst aufgeputzt, und dieser Einfall hatte sich als äußerst einträglich erwiesen. Ihr Laden war ein durchschlagender Erfolg.

Wie alles in deinem Leben, rief sie sich in Erinnerung, als sie das Licht ausmachte.

Etienne ging direkt zum Bahnhof, aber als er feststellte, dass er gerade einen Zug verpasst hatte und fünfundzwanzig Minuten auf den nächsten warten musste, stellte er sich neben den Kartenschalter ans Fenster und starrte auf die Bahnhofswirtschaft auf der anderen Straßenseite.

Er hatte die englischen Kneipen nie wirklich begriffen, die strikten Öffnungszeiten, die Männer, die an der Theke standen, um Unmengen Bier in sich hineinzuschütten, und dann zur Sperrstunde auf unsicheren Beinen heimwärts wankten, als könnten sie ihre Frauen und Kinder nur im Zustand der Trunkenheit ertragen. In französischen Lokalen ging es wesentlich zivilisierter zu. Niemand sah in ihnen eine Art Tempel, den man aufsuchte, um sich zu betrinken, denn sie waren den ganzen Tag geöffnet, und niemand wurde schief angesehen, wenn er beim Zeitunglesen einen Kaffee oder eine Limonade trank.

Das Railway Inn wirkte mit seinem frischen Anstrich und den blank geputzten Fenstern wenigstens sehr einladend, und er konnte sich gut vorstellen, dass es an kalten Winterabenden ein warmer, anheimelnder Zufluchtsort war.

Noch während Etienne es betrachtete, kam ein großer Mann mit rotem Haar und Bart heraus. Er trug über seinen Sachen eine Lederschürze, und Etienne nahm an, dass das Garth Franklin war, Jimmys Onkel. Er starrte auf eine Stelle der Dachrinne, aus der Wasser spritzte, lief am Gebäude entlang und rief nach jemandem.

Ein junger Mann trat aus dem Haus, und Etienne wusste sofort, dass es Jimmy war. Er war größer, als er gedacht hatte, genauso groß und breitschultrig wie sein Onkel, doch er war sorgfältig rasiert, und sein rotes Haar war gepflegt und ein wenig dunkler als Garths, vielleicht weil er es mit Haaröl glatt gestrichen hatte. Die beiden, die wie Vater und Sohn wirkten, standen im Regen, anscheinend ohne ihn wahrzunehmen, starrten nach oben und sprachen über das Leck in der Dachrinne.

Auf einmal drehte Jimmy sich um und lächelte strahlend, und Etienne stellte fest, dass der Grund für dieses Lächeln Belle war, die gerade auf die beiden zukam.

Sie mühte sich ab, ihren Schirm senkrecht und ihren Umhang auf den Schultern zu halten, aber trotzdem rannte sie die letzten paar Meter. Als sie bei den beiden Männern war, kippte ihr Schirm nach hinten, und Etienne fiel auf, dass sie genauso strahlte wie ihr Mann.

Jimmy nahm ihr mit einer Hand den Schirm ab, während er mit der anderen über ihre feuchte Wange strich, und küsste sie auf die Stirn. Allein diese kleinen zärtlichen Gesten verrieten Etienne, wie sehr der Mann sie liebte.

Er konnte nicht länger hinsehen. Auch wenn ihm das Wissen, dass Belle aufrichtig geliebt und behütet wurde, inneren Frieden hätte schenken sollen, war alles, was er empfand, bittere Eifersucht.

KAPITEL 2

Belle, die gerade über ihren Entwürfen saß, hob den Kopf und runzelte die Stirn über den Lärm, der aus dem Lokal nach oben drang. Ein derartiges Getöse hätte sie an einem Samstagabend kurz vor der Sperrstunde erwartet, nicht jedoch an einem Dienstag um acht Uhr.

Mogs häusliche Talente hatten sich seit dem Umzug nach Blackheath voll entfaltet. Das Wohnzimmer war ein großer Raum mit zwei Schiebefenstern, die zur Straße gingen. Nachmittags und abends schien die Sonne herein, und die Farben, die Mog gewählt hatte – blassgrüne Tapeten mit einem zarten Blattmuster, moosgrüne Samtvorhänge und ein weicher Orientteppich, den sie bei einer Auktion ersteigert hatte –, waren elegant und trotzdem anheimelnd.

Die Vorbesitzer der Gaststätte hatten die riesige Couch zurückgelassen, wahrscheinlich deshalb, weil sie schon bessere Tage gesehen hatte, aber Belle und Mog hatten einen losen Chintzüberwurf genäht und aus demselben Stoff Bezüge für die beiden Armsessel angefertigt, die sie aus Seven Dials mitgebracht hatten. Garth zog Mog gern mit ihrem Ehrgeiz auf, zur guten Gesellschaft gehören zu wollen, und meinte, dass sie demnächst darauf bestehen würde, ein Dienstmädchen einzustellen. Doch er und Belle wussten ganz genau, dass sie nie jemand anders die Pflege ihres Heims anvertrauen würde; sie liebte es zu sehr, um es von Fremden in Ordnung halten zu lassen.

Normalerweise stellte das Wohnzimmer eine Oase der Ruhe vor dem Wirbel in der gut besuchten Schenke dar. Belle saß abends gern an dem Tisch beim Fenster, um Hüte zu entwerfen, aber da ihr klar war, dass sie heute Abend bei all dem Lärm nicht in der Lage wäre, sich zu konzentrieren, beschloss sie, nach unten zu gehen und nachzuschauen, was los war.

Weil Garth nichts davon hielt, wenn sich Frauen in seinem Pub aufhielten, konnte Belle nur zur Tür hineinspähen. Trotz ihres begrenzten Blickfelds sah sie, dass das Lokal gesteckt voll mit jungen Männern war, die alle lautstark etwas zu trinken verlangten. Am erstaunlichsten fand sie, dass anscheinend sämtliche Bevölkerungsschichten vertreten waren. Neben den typischen Büroangestellten der City mit ihren steifen Hüten, dunklen Anzügen und gestärkten weißen Hemden standen Arbeiter und Handwerker mit Schirmmützen und schmuddeligen Arbeitshosen, und zwischen diesen beiden Extremen schien es nahezu alle anderen Berufsgruppen nebst entsprechender Bekleidung zu geben. Jimmy und Garth hatten Mühe, mit dem Einschenken nachzukommen.

»Was um alles in der Welt ist da los?«, fragte sie Mog, die in der Küche Gläser spülte. »Dadrinnen müssen mindestens achtzig Männer sein. Was führt die heute Abend her?«

»Sie haben sich alle freiwillig gemeldet«, sagte Mog und schüttelte den Kopf, als könnte sie einen solchen Wahnsinn nicht fassen.

Vor zwei Wochen, am vierten August, waren die deutschen Truppen in Belgien einmarschiert, und daraufhin hatte England Deutschland den Krieg erklärt. Seither wurde über nichts anderes gesprochen. Die Zeitungen waren voll davon, an den Straßenecken standen Männer und diskutierten darüber, wie das alles ausgehen würde, und sogar die Frauen, die in Belles Laden kamen, sprachen über den Krieg. Einige von ihnen befürchteten, dass ihre Ehemänner oder Liebsten sich melden würden, während andere die Meinung vertraten, dass es die Pflicht jedes wehrfähigen Mannes sei, für sein Land zu kämpfen.

Belle wusste genauso gut wie alle anderen, dass die britische Armee klein war, aber es hieß, dass die Soldaten besser ausgebildet als im übrigen Europa waren. Sie hätte nie erwartet, dass normale Männer wie diese hier begeistert zu den Waffen stürmen würden.

»Was, alle?«, rief Belle und spähte wieder in den Schankraum. »Das sind ja nicht mal Männer! Die meisten sind ganz junge Burschen!«

Nun, da sie den Grund für das Getöse, die geröteten Wangen und leuchtenden Augen kannte, lief es ihr kalt über den Rücken. In einigen von ihnen hatte sie die Söhne, Brüder oder Ehemänner von Frauen erkannt, die sie kannte, und sie fragte sich, wie sie darauf reagieren würden, dass sich ihre männlichen Angehörigen gemeldet hatten.

»Anscheinend hat ein Soldat markige Reden geschwungen«, sagte Mog, als wäre das eine Erklärung für das impulsive Handeln der Männer. »Garth kam heute Nachmittag vorbei und sah, wie sie sich scharenweise meldeten. Er hatte selbst so ein Leuchten in den Augen, als er heimkam, doch zum Glück nehmen sie keinen, der über vierzig ist.«

Leise Furcht regte sich in Belle. »Jimmy wird sich doch nicht melden, oder?«

»Nicht wenn er bei klarem Verstand ist«, antwortete Mog und verzog das Gesicht, als wäre ihr die Vorstellung unerträglich. »Aber Männer sind komisch – wer weiß schon, was in ihren Köpfen vorgeht? Die meisten von ihnen sehnen sich nach ein bisschen Aufregung und Abenteuer. Hoffen wir also, dass es stimmt, was alle behaupten, und das Ganze bis Weihnachten vorbei ist.«

Garth stieß die Tür auf und rief Mog zu, sich mit den Gläsern zu beeilen, und bat sie außerdem, nach draußen zu kommen und beim Bedienen zu helfen. Er muss wirklich ganz schön unter Druck stehen, wenn er sein Vorurteil gegen Frauen hinter der Theke überwindet, dachte Belle bei sich, als sie wieder nach oben ging. Aber sowie sie im Wohnzimmer saß, meldete sich erneut die Sorge um Jimmy.

Bis heute hatte er die Ansicht vertreten, dass kriegerische Auseinandersetzungen etwas für Berufssoldaten waren, nicht für eine Horde hitzköpfiger Amateure. Doch was er auch sagen mochte, Belle hatte den Verdacht, dass der Druck von anderen Männern und eine Welle des Patriotismus ihn umstimmen könnten. Mog hatte vermutlich recht mit der Annahme, dass die meisten Rekruten nur auf ein Abenteuer aus waren, aber etliche von ihnen würden getötet oder verwundet werden, und einer davon könnte auch Jimmy sein.

Allein bei der Vorstellung, Jimmy zu verlieren, stiegen Belle Tränen in die Augen. Sie konnte und wollte nicht an ein Leben ohne ihn denken. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und fragte sich, warum sie in den letzten Wochen so nah am Wasser gebaut war. Erst am Vortag war sie in Tränen ausgebrochen, als sie eine Schachtel mit Bändern von ihrem Lieferanten geöffnet und festgestellt hatte, dass er ihr vier Rollen rotes Band statt jeweils einer in Rot, Rosa, Blau und Gelb geschickt hatte.

Aber im Grunde war sie seit jenem Tag im Juni, als Etienne bei ihr im Laden erschienen war, nicht mehr sie selbst. Kurz nach seinem Besuch war es sehr warm geworden, und die Nachfrage nach Strohhüten war schlagartig gestiegen. Belle hatte zu diesem Zeitpunkt noch einige, die sie bereits aufgeputzt hatte, vorrätig, sodass es keinen Grund zur Panik gab, aber sie war trotzdem außer sich und beeilte sich, bei ihrem Zulieferer in Lewisham fast den gesamten Bestand aufzukaufen. Aber statt sich daranzumachen, die Hüte zu verzieren, ertappte sie sich dabei, gedankenverloren aus dem Ladenfenster zu starren. Tagsüber nickte sie immer wieder ein, um dann in der Nacht keinen Schlaf zu finden. Auch wenn sie den ganzen Tag Hunger hatte, war ihr der Appetit vergangen, wenn Mog abends das Essen auftischte. Auch um ihre Konzentrationsfähigkeit schien es geschehen zu sein; sie war offenbar nicht in der Lage, sich länger als eine halbe Stunde mit ein und derselben Sache zu beschäftigen.

Zuerst glaubte sie, der Grund dafür wäre, dass Etienne alte Erinnerungen wachgerufen hatte; es ließ sich nicht leugnen, dass sie häufig Tagträumen nachhing. Aber jetzt fragte sie sich, ob es vielleicht nur am Krieg lag. Es war schwer, nach vorn zu blicken, wenn man nicht wusste, was die Zukunft bringen würde. Doch waren tatsächlich der Krieg und die Ungewissheit die Ursache, dass sie ständig leicht reizbar, benommen und müde war? Sie hatte sich weder Mog noch Jimmy anvertraut, weil es nichts Handfestes zu beschreiben gab, und außerdem befürchtete sie, versehentlich Etienne zu erwähnen, wenn sie mit einem von beiden sprach.

Wohl war ihr nicht bei dem Gedanken, seinen Besuch zu verschweigen. War es denn nicht ganz normal, ihre Familie an der Freude über das Wiedersehen mit einem alten Freund teilhaben zu lassen? Aber in Wahrheit hatte sie natürlich Angst, etwas zu sagen, das Jimmy auf die Idee bringen könnte, dass ihre Gefühle für Etienne keineswegs rein freundschaftlicher Natur gewesen waren.

Eins stand fest, einen besseren Ehemann als Jimmy gab es nicht. Noch nie hatte er ihr ihre Vergangenheit vorgehalten, nicht einmal in einem Moment des Zorns oder der Eifersucht, und das konnten sicher nicht viele ehemalige Huren von ihrem Ehemann behaupten.

Aber Jimmy hatte ihr niemals einen Vorwurf gemacht. Er war gütig, ausgeglichen, rücksichtsvoll und würde einfach alles für sie tun. Doch was noch ungewöhnlicher war und was sie wirklich zu schätzen wusste, war, dass sie in ihrer Ehe eine Freiheit genoss wie kaum eine andere Frau. Jimmy mischte sich nie in ihre geschäftlichen Angelegenheiten ein, er war stolz, dass sie so gut zurechtkam, und falls sie einmal Schiffbruch erleiden sollte, würde er ihr helfen, das wusste sie. Und er vergötterte sie.

Selbst wenn Etienne ihr damals in Paris seine Liebe gestanden hätte und sie ihn statt Jimmy geheiratet hätte, wäre daraus nie die Art harmonischer Beziehung entstanden, die sie mit Jimmy verband, das sagte Belle ihr gesunder Menschenverstand. Noah hatte recht gehabt, als er sie auf der Heimreise nach England darauf hingewiesen hatte, dass Etienne ein gefährlicher Mann war. Natürlich würde er ihr niemals etwas antun, doch er war ein komplizierter, schwer zu durchschauender Mensch mit einer düsteren Vergangenheit.

Aber jetzt war er endgültig aus ihrem Leben verschwunden. Vielleicht kämpfte er schon gegen die Deutschen. Belle hoffte inständig, dass ihm nichts zustoßen würde.

»Einen Penny für deine Gedanken!«

Belle fuhr herum, als sie Mogs Stimme hörte. Sie war so sehr in ihre schuldbewussten Gedanken versunken gewesen, dass sie sie gar nicht ins Zimmer hatte kommen hören.

Die Ehe hatte bei Mog Wunder gewirkt. Während Belles Kindheit in Seven Dials war sie eine liebevolle, kleine graue Maus gewesen. Emsig hatte sie ihre Arbeit verrichtet, gekocht, geputzt und geflickt, immer in formlosen, dunklen Kleidern, das Haar straff aus dem Gesicht gekämmt. Obwohl sie und Annie, Belles leibliche Mutter, in einem Alter waren, hatte Mog stets viel älter gewirkt.

Jetzt waren ihre Kleider modisch und gut geschnitten und betonten ihre weibliche Figur. Mittlerweile mischten sich vielleicht ein paar graue Strähnen in ihr braunes Haar, aber sie trug es in einem lockeren Knoten mit ein paar losen Locken, die um ein Gesicht fielen, das vor Glück und von der frischen Luft strahlte. Sie mochte achtunddreißig sein, aber heute sah sie in ihrem rosa-schwarz gestreiften Kleid mit Biesenbesatz zehn Jahre jünger aus.

Mog hatte das Kleid selbst genäht, doch da sie eine begabte Schneiderin war, hätte es genauso gut aus dem teuren Modesalon auf der Tranquil Vale stammen können. Sie erzählte jedem, der fragte, dass sie vor ihrer Heirat mit Garth Haushälterin gewesen sei, und aufgrund ihrer guten Umgangsformen nahmen alle an, dass sie für eine adlige Familie gearbeitet hatte.

Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, dass sie ihr ganzes Erwachsenendasein als Dienstmädchen in einem Bordell verbracht hatte und mehr über dieses Gewerbe wusste als sämtliche weiblichen Bewohner von Blackheath zusammen.

»Du bist kilometerweit weg«, sagte sie und lächelte Belle liebevoll an. »Möchtest du darüber reden?«

Mog war für Belle ihr Leben lang wie eine Mutter gewesen, und sie war es, der Belle normalerweise alles anvertrauen konnte. Aber von Etienne durfte sie ihr nichts erzählen; Mog wäre entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass sie je an einen anderen Mann als Jimmy gedacht hatte.

»Meine Gedanken sind keinen Penny wert.« Belle seufzte. »Es ist bloß der Krieg, der Trubel unten in der Bar. All das macht mir Angst.«

Mog warf einen Blick auf den Hut, den Belle gerade zeichnete, und runzelte die Stirn, als ihr auffiel, dass er ganz anders aussah als Belles sonst so verspielte Entwürfe und sich eher für eine Beerdigung zu eignen schien. »Du siehst schon seit ein paar Wochen ein bisschen spitz aus«, bemerkte sie. »Bei dir ist doch wohl nichts Kleines unterwegs, oder?«

Belle blieb der Mund offen stehen, zum Teil, weil Mog einen Slangausdruck aus Seven Dials verwendete, vor allem jedoch, weil sie nie daran gedacht hatte, dass sie ein Baby bekommen könnte.

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Na ja, ich glaube es jedenfalls nicht. Das kann nicht sein! Oder doch?«

Mog schmunzelte. »Tja, wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, du weißt nicht, wie man Babys macht.«

Belle wurde rot und kicherte. Seit Mog mit Garth verheiratet war, erwähnte sie niemals Belles Zeit als Hure, und selbst wenn sie von den Jahren sprach, in denen sie selbst Haushälterin und Belle Zimmermädchen im Bordell von Belles Mutter gewesen waren, vermied sie tunlichst jede Anspielung auf das, was sich in diesem Haus abgespielt hatte. Umso überraschender wirkte jetzt ihre unverblümte Bemerkung.

»Daran hatte ich gar nicht gedacht«, gestand Belle.

»Na, dann denk jetzt dran!«, gab Mog zurück. »Mir ist aufgefallen, dass du gestern Abend ganz grün im Gesicht geworden bist, als ich die Ochsenzunge zubereitet habe. Konntest gar nicht schnell genug aus der Küche rauskommen.«

»Es hat einfach so komisch gerochen.«

»Kann schon sein, doch früher hat es dich nie gestört. Wann war deine letzte Monatsblutung?«

Belle dachte scharf nach. Sie erinnerte sich an eine kurze Blutung im Mai, während einer kurzen Hitzewelle, aber das war alles. Sie erzählte es Mog. »Das soll nicht heißen, dass ich keine mehr gehabt habe, ich kann mich bloß nicht erinnern«, fügte sie hinzu.

»Wenn das die letzte war, wärst du jetzt im dritten Monat«, sagte Mog und musterte Belle forschend. »Gibt es sonst noch Anzeichen?«

»Na ja, ich fühle mich irgendwie anders als sonst«, gab Belle zu. »Aber nicht krank oder so.«

»Schau nicht so verschreckt!«, munterte Mog sie auf. »Wenn du ein Baby bekommst, ist es ein Geschenk des Himmels, etwas, worüber man sich freuen sollte. Ich hoffe auch immer noch, doch vielleicht bin ich schon zu alt.«

Belle horchte auf. Nie war ihr der Gedanke gekommen, dass Mog sich ein Kind wünschte. Aber nach dem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen der Älteren zu schließen, hatte sie genau das erhofft, als sie Garth geheiratet hatte.

»Du bist nicht zu alt«, sagte Belle rasch. »Frauen können bis Mitte vierzig Kinder bekommen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob für uns beide jetzt mit dem Krieg der richtige Zeitpunkt dafür ist.«

»Na, ich erwarte jedenfalls keins«, seufzte Mog. »Du jedoch vielleicht schon, und Krieg hin oder her, Zuwachs für die Familie wäre schön. Denk bloß, wie Jimmy sich freuen würde!«

»Sag ihm nichts!«, ermahnte Belle sie. »Ich glaube nicht, dass ich schwanger bin.«

Mog sah Belle mit der überlegenen Miene an, die sie immer aufsetzte, wenn sie meinte, es besser zu wissen. »Ich würde nicht im Traum dran denken, Jimmy etwas weiterzuerzählen, was wir unter vier Augen besprochen haben. So, ich glaube, ich gehe jetzt lieber wieder nach unten und spüle noch ein paar Gläser ab.«

Als Mog weg war, legte Belle eine Hand auf ihren Bauch. Er war so flach wie immer, doch es war schön, sich vorzustellen, dass in ihrem Inneren vielleicht ein winziges Baby heranwuchs. Damals in New Orleans und auch in Paris hätte ihr der Gedanke Angst gemacht, und sie hatte alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die sie kannte, um so etwas zu verhindern.

Auch die ersten Symptome einer Schwangerschaft waren ihr bekannt, weil die anderen Mädchen in New Orleans ständig darüber geredet hatten. Plötzliche Aversionen gegen bestimmte Gerüche waren ebenso an der Tagesordnung wie empfindliche Brüste und Morgenübelkeit. Aber ihre Brüste waren nicht empfindlich, und ihr war morgens auch nicht schlecht.

Ein Baby zu bekommen war der normale Lauf der Dinge, wenn man glücklich verheiratet war, doch aus irgendeinem Grund hatte Belle nicht damit gerechnet.