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Kultsongs & Evergreens

55 Hits und ihre Geschichte

erzählt von Kai Sichtermann

unter Mitarbeit verschiedener Co-Autoren

FUEGO

- Über dieses Buch -

Wer kennt sie nicht, legendäre Songs wie »House Of The Rising Sun«, Klassiker wie »Ne Me Quitte Pas« oder Kassenschlager wie »I Just Called To Say I Love You«. Doch wer weiß Genaueres über die Hits und ihre Interpreten? Die Autoren nehmen uns mit auf eine Reise durch einige Jahrhunderte der Musikgeschichte und erzählen uns die faszinierenden Geschichten, die sich hinter den Evergreens verbergen. Die Texte zu den einzelnen Kultsongs sind reich an Anekdoten und handeln nicht nur vom Lied selbst, den Interpreten und dem soziokulturellen Hintergrund ihrer Zeit, sondern auch von ihren Komponisten und Textern. Die spannenden Geschichten sind für Leser mit und ohne musikalische Vorbildung ein Genuss und höchst informativ. Für einen Teil der Songs hat Kai Sichtermann Freunde und Bekannte als Koautoren engagiert, darunter seine Schwestern Barbara und Marie Sichtermann, sowie den Autor Jens Johler.

Für Angie, Lanrue und Rio,

meine musikalischen Weggefährten.

»Große Musik löst zeitweilig die Subjekt/Objekt-Grenze auf, man wird gewissermaßen – in einem Zustand des Fließens – eins mit einem wirklich großen Song, und dies ist dann eine hervorragende Gelegenheit für eine Übertragung von Herz zu Herz.« Ken Wilber

Intro & Danke

Welches ist das berühmteste Lied der Welt? »La Paloma« oder »’O Sole Mio«? »Stille Nacht! Heilige Nacht!« oder »White Christmas«? »Yesterday« oder »Summertime«? Möglicherweise »Candle In The Wind« oder sogar »Auf in den Kampf, Torero!« aus »Carmen«, der weltweit am meisten aufgeführten Oper? Vielleicht ja auch keiner der genannten Titel. Eventuell gibt es in Asien eine länderübergreifende Melodie, die den meisten Chinesen bekannt ist und sogar in Indien gesummt wird. Dann wäre dieses Lied, gemessen an der Menge der Menschen auf unserer Erdkugel, das bekannteste. Bevor wir uns hier in irgendwelchen Spitzfindigkeiten verlieren: Letztendlich wird man es nie genau wissen können – und das ist gut so. Denn darauf kommt es auch gar nicht an.

Wir leben heute im Jahre 2010 in der sogenannten »Post-Rock-Ära des HipHop und der elektronischen Tanzmusik, in der Sequenzer und Drummaschinen vorherrschen«, wie Jody Rosen es formulierte. Und Dan Aykroyd sprach als Elwood Blues im Film »Blues Brothers 2000« in diesem Zusammenhang von »lächerlichen wiederaufbereiteten digital-gesampelten Techno-Grooves, Quasi-Syntie-Rhythmen, Pseudo-Songs von gewalt-geladenem Gangster-Rap, Acid-Pop und albernem, zuckrigem, seelenlosem Kitsch«. Wie immer man zur heutigen Musik einer zum Teil sinnentleerten No-Future-Generation auch stehen mag – viele vermissen Authentizität und Tiefgang. Nutzen wir also die Millenniumswende für eine besinnende Rückschau.

Meine Reminiszenzen sind die eines musisch ausgerichteten Menschen, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im westlichen Europa aufgewachsen ist. Auch wenn ich mich der traditionellen Musik auf der ganzen Welt verbunden fühle und mich selbst musikalisch viele Jahre fast ausschließlich in Kreisen der Subkultur bewegt habe, behandelt das vorliegende Buch hauptsächlich Musikstücke, die es durch ihre Qualität geschafft haben, sich im kommerziellen Mainstream zu etablieren. Und das ist für mich kein Widerspruch.

Anfang des Jahres 2002 kamen der Schriftsteller Jens Johler und ich auf die Idee, all jene Songs und Lieder in einem Buch zu würdigen, die uns bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mit ihren Melodien und Texten berührt haben. Doch es blieb bei einer Zusammenstellung unserer Lieblingssongs. In den vergangenen Jahren spukte die Idee weiter in meinem Kopf herum und im Sommer 2007 kramte ich die Unterlagen von einst wieder hervor.

Ich begann mehr oder weniger systematisch eine sehr lange Songliste zu erstellen. Wochenlang recherchierte ich im Internet und in Bibliotheken, wertete diverse Millennium-Charts aus, sichtete Best-Of-Hitparaden, Greatest Song-Listen aus verschiedenen Musikstilen und -bereichen wie Afrikanisch (Zulu), Afroamerikanisch (Blues, Gospel, Jazz, Negro Spiritual, R’n’B, Soul), E-Musik (Barock, Klassik, Romantik), Elektronisch (Disco), Lateinamerikanisch (Bossa Nova, Latin, Reggae), Pop & Rock (Folk Rock, Grunge, Japan-Pop, Rock’n’Roll), Traditionell, Folklore bzw. Volksmusik (Ballade, Canzone, Chanson, Country, Kirchenmusik) u. a., las Eintragungen im Guinness-Buch der Rekorde, studierte Zahlen über größte Verkaufs-Erfolge und den am häufigsten nachgespielten Cover-Songs u. ä., befragte Freunde, Bekannte und Musikerkollegen nach ihren Vorlieben.

Ziemlich schnell kristallisierten sich gut 100 Titel heraus – allesamt ausgesuchte Bestseller, Meilensteine, Klassiker –, die ich dann auf 55 reduzieren musste. Um eine möglichst große Bandbreite und Vielfältigkeit zu erreichen, habe ich versucht, bei meinen Auswahl-Kriterien Folgendes zu berücksichtigen: a) eine große Bandbreite von Zeitepochen, besonders alle Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, b) relevante Musik-Stile und c) unterdrückte Minderheiten innerhalb dieses Genres (Frauen, Schwarze, Homosexuelle). Außerdem war es mir ein Bedürfnis, d) die vorherrschende Dominanz der USA und England etwas einzuschränken, indem ich anderen Ländern einen Bonus zusprach. Lieder, die einem oder mehreren dieser Auswahlkriterien zum Opfer fielen, waren beispielsweise »Bridge Over Troubled Water« von Paul Simon, der Cole Porter-Song »Every Time We Say Goodbye« und »Light My Fire« von den Doors. Songs, die dadurch ihren Weg in die Endauswahl fanden, waren – neben anderen – »Ne Me Quitte Pas«, »Sukiyaki« und »The Lion Sleeps Tonight«.

Eine Sonderstellung nimmt der Blues-Titel »Dust My Broom« ein. Weil der Blues als Stil die Musik des 20. Jahrhunderts so nachhaltig beeinflusste wie kaum ein anderer, war es unumgänglich, eine Blues-Nummer aufzunehmen.

Hinter jedem Lied verbirgt sich eine Geschichte und es war faszinierend für mich zu verfolgen, welch verschlungene Wege die einzelnen Lieder durchlaufen mussten, bis sie ein Welterfolg wurden. Ich wollte aber nicht nur etwas über den Song, den oder die Interpreten und den sozial-kulturellen Hintergrund seiner Zeit schreiben, sondern auch – soweit dies möglich war – über die Autoren: Komponisten, Texter, Übersetzer. Deshalb habe ich es vermieden, zwei Stücke auszuwählen, die von denselben Urhebern stammen. Durch diese Maßnahme blieben »Yesterday« von Paul McCartney, »What A Wonderful World« für Louis Armstrong und »Blowin’ In The Wind« von Bob Dylan auf der Strecke, um nur einige zu nennen.

Obwohl ich mir Mühe gegeben habe, größtmögliche Objektivität walten zu lassen, ist die Auswahl der Titel in letzter Konsequenz natürlich subjektiv und erhebt keine Ansprüche auf Vollständigkeit oder Repräsentativität. Dennoch glaube ich, ein Außerirdischer bekäme durch Lesen dieses Buches einen kompakten Überblick über die populäre Musik der westlichen Kultur auf diesem Planeten aus jüngster Zeit.

Ein Buch über Evergreens und Kultsongs zu schreiben, war für mich ein zu großes Unterfangen, als dass ich es alleine hätte bewältigen können. Wegen der Menge der Lieder, aber auch wegen der positiven Aspekte einer vielfältigen Autorenschaft habe ich für einen Teil der Songs Freunde und Bekannte als Co-Autoren engagiert. Mein allerherzlichster Dank für die Geschichten über die folgenden Song-Titel geht deshalb an:

Anke Colmorn für »Lili Marleen« und »The Lion Sleeps Tonight«

Renate Friedrich für »Bésame Mucho« und »Stille Nacht! Heilige Nacht!«

Jens Johler für »Summertime«

Marius del Mestre für »The Girl From Ipanema«, »No Woman No Cry«,»Rock Around The Clock«, »(I Can’t Get No) Satisfaction« und »Stairway To Heaven«

Hermann Müller für »Those Were The Days«

Martina Neschen für »Jambalaya«

Angie Olbrich für »La Vie En Rose«

Lisa Jane Olbrich für »Billie Jean« und »My Heart Will Go On«

Ingo Rose für »Greensleeves« und »I Walk The Line«

Misha G. Schoeneberg für »Another Brick In The Wall«,»House Of The Rising Sun«, »La Bamba« und »Ode ›An Die Freude‹«

Elke Seifert für »Ave Maria« und »Ne Me Quitte Pas«

Barbara Sichtermann für »As Time Goes By« und »Hey Jude«

Marie Sichtermann für »La Paloma«

Holger Strehl für »Bohemian Rhapsodie« und »Smells Like Teen Spirit«

Für Anregungen, Korrekturen, Recherchen und Übersetzungen danke ich zuallererst Anke Colmorn und Illa Blaue, des Weiteren Tsuzuko Abe (für »Sukiyaki«), Jens Johler, Martina Neschen, Ingo Rose, Barbara Sichtermann, Marie Sichtermann, Hollow Skai, Martin Paul und dem Suger Musik-Verlag in München.

Mein aufrichtiger Dank für Informationen, Übersetzungen und Zitate aus Quellen wie Bücher und Internet geht an Frederick Baker, Leonardo Boff, Christoph Dallach, Hans-Christian Dany, Lutz Eikelmann, Leona Frommelt, Holger Gehrke, Werner Hoffmeister, Dietmar Hüser, Jennifer Maier, Ernst Probst, Hermann Rauhe, Dick Rosemont (www.originalsproject.us), Lillian Roxon, Hans-Jürgen Schaal, Uwe Schmitt, Eike Schmitz, Karl Heinz Siber, Georg Troller, Bernhard Vogel, Klaus Voormann, Ingeborg Weber-Kellermann, Paul Willis, Bill Wyman, die Musikfachzeitschrift Rolling Stone, Wikipedia und andere Internet-Seiten sowie an alle, die hier aus Platzgründen nicht genannt werden können.

Über einfache Zitate hinausgehend haben wir folgende Bücher zu umfangreicheren Recherchen herangezogen: »Ich hab’ gelebt Mylord« von Simone Berteaut, »La Paloma« von Rüdiger Bloemeke, »O Sole Mio« von Paquito Del Bosco, »Lili Marleen« von Christian Peters, »Like A Rolling Stone« von Greil Marcus, »Stardust Melodies« von Will Friedwald, »White Christmas« von Jody Rosen, »I Got The Rhythm« von Dietrich Schulz-Köhn, »In A Da Da Da Vida« 1 & 2 von Hollow Skai sowie »Amazing Grace« und »A Hard Day’s Write« von Steve Turner.

Kai Sichtermann

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Greensleeves

England 16. Jahrhundert

Die Dame im grünen Kleid

von Ingo Rose

Traurige Lieder sind zäh und überdauern die Zeit. Im letzten Jahrhundert war einer der weltweit am häufigsten gespielten Songs im Rundfunk »Yesterday« von den Beatles, die Komposition von den Sorgen, die erst gestern noch so weit entfernt schienen. »Das Lied vom traurigen Sonntag« (»Gloomy Sunday«), 1933 vom ungarischen Pianisten Rezső Seress komponiert, war zwar nicht ganz so populär, dafür veranlasste es womöglich einige Zuhörer zum Freitod. Der Evergreen von der Dame mit den »grünen Ärmeln« oder besser, dem »grünen Kleid« – so die sinngemäße Übersetzung des Titels Greensleeves – ist ebenfalls eine melancholische Weise. Greensleeves wird seit einem halben Jahrtausend rauf und runter gespielt, es gibt Gemälde, Theaterstücke, Buch- und Musikverlage, Wohnhäuser, Klingeltöne, Spieldosen und sogar Kinder gleichen Namens sowie unzählige Imitationen und Variationen. Wahrscheinlich ist Greensleeves eines der berühmtesten Werke aus der Zeit der späten Renaissance (frz., Wiedergeburt), jene kulturgeschichtliche Epoche, die um 1350 in Italien begann und bis ins 16. Jahrhundert dauerte und zur Wiedererweckung des klassischen Altertums in Europa führte.

Die Melodie eines traurigen Liedes versteht auf Anhieb wohl jeder. Sie scheint etwas Universelles bei den Menschen überall auf der Welt anzurühren. Greensleeves trübsinnige Melodie schlägt besonders aufs Gemüt, wenn sie mit einer Laute, Zither oder Geige, einem Spinett, Cembalo oder Klavier angestimmt wird. Doch auch der einfache Text hat es in sich. Ein verlassener Liebender beklagt seinen Schmerz. Etwas ist vorgefallen, das er nicht versteht, und er ist allein. Es gibt auch hier viele Adaptionen, die älteste gedruckte Version beginnt so: »O weh, mein Lieb’, tust Unrecht mir; grob fort zu stoßen mich im Streit; so lange hielt ich treu zu Dir; voll Glück an Deiner Seit’; Greensleeves war all mein Freud’; Greensleeves war mein Entzücken; Greensleeves war mein gülden Herz; Und wer außer Lady Greensleeves?« Der verschmähte Liebende könnte ein Gentleman von Rang gewesen sein, denn es geht die Legende, dass der englische König Heinrich VIII. (1491–1547) den Kantus für seine spätere Frau Anne Boleyn geschrieben hat; wahrscheinlich ist das aber nicht. Zu jener Zeit bestand weithin die Annahme, dass Lady Greensleeves eine Prostituierte sei oder zumindest eine promiske junge Frau, die es mit der Liebe eher leicht nimmt. Denn das Wort Grün hat auch eine sexuelle Nebenbedeutung, insbesondere im Ausdruck »Grünes Kleid« – leidenschaftliche Liebe auf der grünen Wiese hinterlässt eben Spuren.

England im 16. Jahrhundert, die ersten Volkslieder werden als Druck herausgegeben, so etwa jenes aus dem Jahr 1506 über einen bekannten Waldräuber: »A Lytel Geste of Robyne Hood«. Zu allen Zeiten haben fahrende Händler, Vagabunden, Bänkelsänger und Postkutscher musikalische Stücke gesungen und sie auf diese Weise verbreitet bis sie Volkslieder wurden. Manche schrieben die Verse auf, reichten sie weiter, andere veränderten sie. Eine Art Open Source Software, an der die Allgemeinheit nach Herzenslust herum­bastelte. Allerdings bestand die Mehrheit aus Analphabeten, sie war dankbar für eine Veröffentlichung, die andere vorlasen. Die Leute sangen und reimten was das Zeug hielt, viel Hanebüchenes, Derbes und Verbotenes war dabei – mit Breitseiten gegen die Obrigkeit. Auch deshalb werden diese Texte Broadsides (wie die mit Kanonen bestückte Breitseite eines Schiffes) oder Broadsheets (dt., breite Blätter) genannt, sie ähneln öffentlichen Anschlägen wie Pamphleten, Proklamationen oder Anzeigen. Auf der Straße werden sie für einen Penny feilgeboten (in etwa der Preis für einen Laib Brot) und in Tavernen und Theatern, auf Märkten und Messen plakatiert – eben überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen. Die populären Songs werden weder mit musikalischen Angaben noch mit Noten versehen, man passt die Texte einfach den gerade angesagten Melodien an, die jeder kennt. Im Übrigen hat Königin Elisabeth I. (1533–1603) das Privileg einer Musikveröffentlichung exklusiv ihren Hofmusikern zugesichert. Broadsides waren ein schnelles und kurzlebiges Massenkommunikationsmittel, wie später Zeitungen und heute E-Mails. Ab 1556 mussten Druckereien eine Lizenz der Stationers’ Company in London einholen, die bis ins Jahr 1709 über 3000 Einträge sammelt. Diese Gesellschaft stellt eine Art Zensur dar, viele unbequeme Balladen werden daher gar nicht erst registriert.

Greensleeves erscheint gedruckt zuallererst 1580 als »A New Northern Dittye of the Lady Greene Sleeves«; dies geht aus dem Verzeichnis der London Stationer’s Company hervor. Erhalten geblieben ist jedoch nur die Version von 1584 in der Liedsammlung »A Handefull of pleaseant delites« und zwar als Song-Titel »A New Courtly Sonnet of the Lady Green Sleeves. To the new tune of Green sleeves« herausgegeben von Clement Robinson u. a., veröffentlicht von Richard Jones. Einen Hinweis auf Urheber von Text oder Musik gibt es nicht. Bedeutende Sammlungen früher Drucke besitzen die Universität von Cambridge sowie die British Library (u. a. von Samuel Pepys, dem berühmten Tagebuchschreiber aus dem 17. Jahrhundert).

William Shakespeare hat in »Die lustigen Weiber von Windsor« (um 1600) auf die Melodie von Greensleeves Bezug genommen. Dort ruft Sir John Falstaff: »Soll der Himmel Kartoffeln regnen! Soll es gewittern zur Melodie von Greensleeves!« Der britische Komponist Ralph Vaughan Williams verarbeitete Shakespeares Stoff Mitte der 1920er-Jahre zu der Oper »Sir John In Love«, in der Williams eine konzertante »Fantasia on Greensleeves« einbaute. Auch in John Gays »The Beggar’s Opera« aus dem frühen 18. Jahrhundert, die Vorlage für die spätere »Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht, findet unser melancholisches Lied Verwendung. Nach der Melodie von Greensleeves wird außerdem das englische Weihnachtslied »What Child Is This?« gesungen, dessen Text William Chatterton Dix 1865 in tiefer Depression schrieb. In Frankreich ist Greensleeves unter dem Namen »Bébé Dieu« bekannt.

Frühe Tonaufzeichnungen finden wir als Schellackplatte von der englischen Pop-Sängerin Anne Shelton, eingespielt 1949, sowie vom britischen Gesangs-Trio The Beverly Sisters, 1956. Großer Beliebtheit erfreute sich die Verwendung der Melodie als Thema für Filmmusiken. Neben anderen tat das Miklós Rózsa 1952 in dem Streifen »Plymouth Adventure« (deutscher Titel: »Schiff ohne Heimat«) und nannte die Melodie »Tavern Music«. In dem 1962er Hollywood-Film »How The West Was Won« (»Das war der wilde Westen«) von Großmeister John Ford und anderen hören wir Debbie Reynolds’ zarte Stimme die Greensleeves-Melodie mit neuem Text singen: »Home In The Meadow«. 1966 war es die deutsche Beatgruppe The Lords, die aus einer traurigen Komposition ein schnelles Rockstück machte und damit einen Top-Twenty-Hit in Deutschland schaffte. Ein Jahr später ließen es sich auch die Beatles nicht nehmen, am Schluss ihrer Liebes-Hymne »All You Need Is Love« instrumental auf das Volkslied hinzuweisen.

Aus der langen Liste, die sich des Titels sonst noch angenommen haben, ragt ein wahres Genie aus Kanada heraus: der singende Poet Leonard Cohen. Auf seinem Album »New Skin For The Old Ceremony« von 1974 präsentiert der Frauenflüsterer Greensleeves in neuem Gewand mit überarbeitetem Text und ergänzenden Zeilen als »Leaving Green Sleeves«. Hörenswert ist auch die Aufnahme von der irischen Gruppe Anúna, hier mit der finnischen Ausnahmemusikerin Linda Lampenius, die auch als Linda Brava bekannt ist.

Sicher wird die Popularität für die Lady im grünen Kleid auch im 21. Jahrhundert ungebrochen bleiben, einschließlich der Klage des zurückgewiesenen Liebhabers.

Titel – Autoren – Interpreten

Greensleeves

Musik: Traditional – 16. Jahrhundert

Englischer Text: Traditional – 16. Jahrhundert

Bekannte Aufnahme auf Schellackplatte: Anne Shelton – 1949; Label: London

Überzeugende Darbietung: (als »Home In The Meadow«): Debbie Reynolds – 1962; Label: MGM

Hit in Deutschland: The Lords – 1966; Label: Columbia

Geniale Neuinterpretation: Leonard Cohen – 1974; Label: Columbia

Schöne Produktion: Loreena McKennitt – 1991; Label: Quinlan Road

Authentische Einspielung: Anúna, featuring Linda Lampenius – 2007; Label: Elevation

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La Bamba

Mexico 17. Jahrhundert

Der Macho-Song

von Misha G. Schoeneberg

Es ist immer die gleiche Szene: Seit Hunderten von Jahren lungern jeden Tag im Hafen von Veracruz die jungen Stenze herum, Tagelöhner wahrscheinlich. Sie tragen ihr löchriges Hemd auf sonnenversengter Haut; und sie stehen dort an der Kai-Mauer in ihrer Duftwolke aus Tabak, Schweiß und billigem Parfüm, die ab und an vom salzigen Seewind übers Meer verweht wird. Doch sie sind jung und geben ganz mächtig an … – und sobald sich ein weibliches Wesen im Abendrot zeigt, da werden die jungen Kerle munter, sie fassen sich kurz in den Schritt und schon schwingen sie ihre Hüften und bieten ihren ganzen Charme auf: »Hey Du, schau her, tanz den La Bamba mit mir! Es braucht ja nur ein wenig Anmut. Hey mach mit! Hey, hey, hey, hier bin ich! Glaub bloß nicht, ich wär Matrose, nee, ich bin Kapitän! Und nur für dich tanz ich den La Bamba! Ba Ba Bamba, Ba Ba Bamba!«

La Bamba! Mehr Text hat das Lied nicht. Dem entsprechend basiert auch die musikalische Struktur des Songs auf einer sehr simplen Akkordfolge – Tonika, Subdominante, Dominantseptakkord (z. B.: C, F, G7) –, die fortwährend zyklisch wiederholt wird, harmonischer Ostinato genannt.

Und wäre dieser auf den Punkt gebrachte ewige Kreislauf des alten Balz-Spiels die ganze Geschichte des Stücks, so wäre es doch schon eine gute Erklärung für seinen bom­bastischen Erfolgszug rund um den Globus. Doch La Bamba, das alte mexikanische Volkslied, birgt ein tieferes Geheimnis, als man trotz x-hundert-fachen Hörens vermuten würde.

Die Geschichte des Liedes La Bamba ist eng verknüpft mit der 500 Jahre alten Geschichte der Stadt Veracruz in Mexiko. Dort in den Stadt-Archiven liegen stapelweise Dokumenten-Mappen, die alle die wahre Herkunft des Titels bezeugen. Der schreckliche Konquistador Hernán Cortés gründete die Stadt 1519 in einer Lagune. Für die ungeheure Menge Gold und Silber, die die Spanier dem aztekischen Volk raubten, wurde auf einer vorgelagerten Insel ein riesiges Fort errichtet, dieses Fort wurde Bamberia genannt. Von dort aus wurde die wertvolle Beute auf den Karavellen nach Spanien verfrachtet. Das lockte natürlich andere Räuber an, Piraten genannt. Ein Zwischenfall mit John Hawkins und Francis Drake ist verbürgt. Aber der namensgebende Gewaltstreich wurde von dem grausamen Piraten Lorenz de Graaf und seinen Mannen im Mai 1683 geführt: denn so nannten erst die Piraten, dann die Bewohner der Stadt diesen mächtigen Raubüberfall: »La Bamba!« (leitet man »La Bamba«, vom spanischen Verb »bambolear« ab, bedeutet es so viel wie schaukeln, auf- und abschwingen). Eine Woche oder länger geißelten die Piraten die Stadt, mindestens 30 Jungfrauen vergewaltigten sie pro Tag, »La Bamba!«. Doch der Terror nahm derart überhand, dass einige der Stadtbewohner es vorzogen, sich mit einem Sprung vom Kirchturm dem ganzen schmutzigen Programm zu entziehen.

Es gibt viele populäre Fassungen von La Bamba, die auf diese Geschichte in vielen variablen Strophen textlich Bezug nehmen: »Para subir al cielo / Um in den Himmel zu gelangen / Se necesita una escalera grande / braucht es eine große Leiter / Y otra chiquita / und eine kleine / Ay arriba y arriba, arriba iré / Ich komme, ich komme, ich werde da sein«. Noch heute erinnern diese zwei Leitern in Veracruz an das grausame »La Bamba« des Piraten de Graaf: Eine große und eine kleine Leiter führen genau auf den Kirchturm, von welchem sich damals so viele Stadtbewohner herunterstürzten.

Andere Quellen sagen hingegen, die vielen Strophen des Ende des 17. Jahrhunderts kursierenden Volkssongs in Veracruz, der La Bamba genannt wurde, ironisierten die jahrelange Aufregung und die ins Absurde gehenden Sicherheitsvorkehrungen gegen mögliche weitere Terrorattacken der Piraten. Für den bombastischen Mauerbau, der sich über Jahre hinzog und der die ganze Stadt umgürten sollte, hatten die Spanier eigens Menschen aus dem Kongo nach Veracruz verschleppt. Die zu Zwangsarbeit Versklavten waren vornehmlich Schwarze eines Stammes, der sich »Mbambo« oder gar »Bamba« nannte.

Später, als Veracruz von den Franzosen und US-Amerikanern besetzt war, wurde der Song eingesetzt, um sich über die Besatzer lustig zu machen, ohne dass diese die Ironie des Subtextes verstanden. So würde eben auch die Zeile »ich bin kein Matrose, ich bin Captain, aber wenn Ihr es wollt, dann tanze ich eben La Bamba, und immer Ba-Ba-Bamba« sich auf den zynischen Dialog zwischen einem gerade zur ungeliebten Seefahrt zwangsrekrutierten Landsoldaten (Captain) und seinem machthabenden Besatzungs-Rekruteur beziehen.

Bei genauer Betrachtung können die verschiedenen Erklärungsmodelle ohne Weiteres nebeneinander bestehen. So gesehen hat der Begriff La Bamba einen stetigen Bedeutungswandel durchlaufen und heute wissen selbst in Veracruz nur wenige Eingeweihte, wo das Wort La Bamba seinen eigentlichen Ursprung hat.

Die Einheimischen gehen zu Hochzeitsfeiern oder bunt geschmückt zum jährlichen Stadtfest von Veracruz, wo es gilt, zu immer neuen Versionen von La Bamba zu tanzen und zu balzen, denn dieses Fest ist auch gleichzeitig der städtische Abschlussball der Highschool-Schüler und Schülerinnen. Dort schließt sich der ewige Kreis und man redet lieber über die Instrumentierung der Jaracho-Bands – Geige, Jarana, Gitarre, oft auch Harfe – als über die Zeit, in der »La Bamba« noch der große Piratenüberfall war.

Trotz der Weisheit Salomons »Es geschieht nichts Neues unter der Sonne«, geschieht es manchmal doch: Da entdeckt dann ein Gitarre spielender Plantagen-Arbeiter-Junge aus Kalifornien auf der Suche nach seinen mexikanischen Wurzeln ein altes Volkslied, übernimmt den spanischen Text (obwohl der Sprache gar nicht mächtig), belässt die Akkorde wie sie sind, setzt jedoch einen satten Beat im klaren Viervierteltakt unter das Stück und legt in seine kraftvolle Stimme all das freche Begehren eines 17-Jährigen … und sie­he da, ein Rock’n’Roll-Welthit war geboren!

Dieses kleine Wunder gelang dem 1941 in Pacoima, Kalifornien, geborenen Sänger und Gitarristen Ritchie Valens. Produzent Bob Keane hatte das junge Talent im Mai 1958 entdeckt. Im September wurde La Bamba in den Gold Star Studios in Hollywood von Ritchie Valens (Gesang und Gitarre), Irving Ashby, Carole Kaye (Gitarre), Buddy Clark, Rene Hall (Bass), Ernie Freeman (Klavier) und Earl Palmer (Schlagzeug) aufgenommen und einen Monat später als B-Seite seines selbstkomponierten Liebesliedes »Donna« (für seine Freundin Donna Ludwig) als Single veröffent­licht. Ende Dezember erreichte die Scheibe die US-Billboard-Charts, um Anfang des folgenden Jahres ein Bestseller und Riesen-Radiohit zu werden, und zwar beide Seiten. Das war erst Ritchie Valens’ zweite Single. Dass es zugleich seine letzte zu Lebzeiten veröffentlichte wurde, ist die große Tragik seines kurzen Lebens: Ritchie Valens war erst 17, als er in einer kalten, verschneiten Februar-Nacht nach einem gemeinsamen Konzert zusammen mit dem einflussreichen Rock’n’Roll-Musiker Buddy Holly und dem damals sehr populären Disc-Jockey The Big Bopper sowie dem Piloten in einer viersitzigen Beechcraft Bonanza im US-Bundesstaat Iowa abstürzte. Dieser Tag, der 3. Februar 1959, ging als »The Day the Music Died« in die Annalen der amerikanischen Pop-Geschichte ein und wurde zwölf Jahre später von Don McLean in seinem Song »American Pie« verarbeitet.

Die Aufnahme von La Bamba machte Ritchie Valens jedoch unsterblich. Unter diesem Titel wurde auch sein Leben verfilmt: 1987, unter der Regie von Luis Valdez und mit dem jungen Lou Diamond Phillipps, der Ritchie Valens ein hübsches Gesicht gab. Durch den Film gelangte die Original-Valens-Version noch einmal weltweit in die Hitparaden, neben der ausgezeichneten Filmfassung der Kalifornischen Band Los Lobos, die zum Sommerhit des Jahres 1987 avancierte und es in den USA und England sogar auf Platz Eins schaffte. La Bamba ist der einzig spanischsprachige Titel, der in die Liste der 500 besten Rocksongs aller Zeiten des Musikmagazins Rolling Stone aufgenommen wurde.

Ritchie Valens’ La Bamba-Interpretation wurde zum Urstein des cross over Ethno-Rocks, der sich im heutigen Mexiko zum eigenen Chicano-Rock-Stil entwickelte; und Valens selbst zum ersten Latin-Rocker der Musikgeschichte. Ebenso beeinflusste diese eine geniale Aufnahme des alten mexikanischen Volksliedes Latin-Rock-Musiker von Carlos Santana bis Los Lobos. Im Programm hat den Song jede gute Band, selbst Metallica haben La Bamba einst live gespielt. Cover-Versionen gibt es unzählige. Tom Miller, ein bekannter US-Reise-Autor, hat im Jahre 2005 über 80 Fassungen von La Bamba als CD-Kompilation »The Best of La Bamba« herausgegeben.

Und noch auf ganz anderem Wege hat sich La Bamba unsterblich gemacht: »Twist and Shout« war 1963 der erste internationale Top-Ten-Hit der Beatles, den sie immer am Schluss ihrer Konzerte spielten, so auch bei ihrem letzten Auftritt im Candlestick Park, San Francisco, Ende August 1966. Bert Russell hatte das Stück 1961 zusammen mit Phil Medley für die Isley Brothers geschrieben – so sagte er. Bei genauerem Hinhören ist es musikalisch bis hin zum Gitarrenriff identisch mit der Valens-Version von La Bamba. Nun, der Räuber raubt es dem Räuber, »La Bamba« eben.

Ergänzung

Einige Quellen gehen davon aus, dass der schwedisch-amerikanische Sänger und Gitarrist William Clauson während einer Mexiko-Reise dort die »Ur-Version« von La Bamba hörte: schnelle Folklore mit Harfe und Akustik-Gitarrenbegleitung. Clauson verlangsamte das Tempo ein wenig und machte daraus als erster – also noch vor Richie Valens – einen Latin-Folk-Song. Diese Version von Clauson könnte Valens möglicherweise als Vorlage für seine Rock’n’Roll-Fassung gedient haben. Das würde erklären, warum in der Retrospektive, der »Ritchie Valens Story«, William Clauson als Autor von La Bamba genannt wird. Das als seriös geltende Plattenlabel Rhino Records berief sich dabei auf Aussagen von jemandem, der es wissen müsste: der Valens-Produzent Bob Keane. Wenn diese Theorie stimmt, müsste Valens La Bamba bei einem Clausen-Konzert gehört haben – so wie es auch im Valdez-Film zu sehen ist. Denn auf der LP »Clauson in Mexico!« von 1958 sucht man den La Bamba-Titel vergeblich. Erst 1963 veröffentlichte Clauson den Song zusammen mit dem Latin American Trio Los Tres Guaramex auf einer Langspielplatte.

Titel – Autoren – Interpreten

La Bamba

Original-Musik: Traditional – 17. Jahrhundert

Spanischer Text: Traditional – 17. Jahrhundert

Frühe Tonträgeraufnahme: (als »El Jarabe Veracruzano«/ »Die Hochzeit in Veracruz«): Andres Huesca – um 1908

Großartige Version mit zwei verschiedenen Tempi: Harry Belafonte – 1956 ; Label: RCA Victor

Erste Hit-Version: Ritchie Valens – 1958/59; Label: Del-Fi (US)/London (UK)

Typisch mexikanische Folklore-Interpretation: Mariachi Vargas de Tecalitlán – 1963; Label: Arcano (MX)/RCA Victor (US)

Internationaler Top-Ten-Hit: (als »Twist And Shout«) The Beatles – 1963; Label: Odeon (D), Tollie, Capitol (US), Parlophone (UK)

Hit-Produktion aus dem Film »La Bamba«: Los Lobos – 1987; Label: Warner Brothers (US)/Metronome (DE)

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When The Saints Go Marching In

Afrika/USA 18./19. Jahrhundert

Vom Spiritual über Gospel zu Jazz

Zwischen 1619, der Ankunft der ersten Sklavenschiffe in Amerika, und 1865, dem offiziellen Ende der Sklaverei als Ergebnis des amerikanischen Bürgerkrieges, – also 246 Jahre lang – wurden schätzungsweise 10 Millionen Afrikaner in den Süden von Nord-Amerika deportiert. Die Mehrzahl der Sklaven musste unter extrem harten Bedingungen auf riesigen Baumwoll- und Tabakplantagen schuften. Durch die Gottesdienste der Plantagenbesitzer und die Missionierung von Gruppen protestantischer Christen, wie anfangs den Quäkern, und später den Methodisten und Baptisten, kamen die Geknechteten Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Botschaft der Bibel und der Lehre und Leidensgeschichte von Jesus in Berührung. Zwei sehr unterschiedliche Kulturen trafen aufeinander: Weiße christliche Lehren mit getragenen Chorälen, Psalmen, Hymnen und liturgischen Gesängen wurden nun mit schwarzer religiöser Ekstase, afrikanischen Rhythmen (Polyrhythmik) und ungewohnter Harmonik (Pentatonik) und mit inbrünstigem Gesang wiedergegeben. Als Ergebnis dieser Kulturvermischung bildeten sich religiöse Gesänge heraus, deren Inhalte einerseits das eigene Schicksal und das unendlich große Leid mit dem Wunsch nach Freiheit waren, und andererseits verwandte Geschichten der Bibel, die die Unterdrückung des Volkes Israel in Ägypten und die babylonische Gefangenschaft thematisierten. Das Grundmotiv Befreiung, wie der Auszug aus Ägypten und der Einzug ins Gelobte Land unter Moses, wurde sowohl bei der Arbeit auf den Feldern als auch später bei schwarzen Gottesdiensten aus tiefster Überzeugung besungen. Typisches Merkmal vieler Lieder war das Call and Response: Ein Gesangspart wird von einem Sänger vorgesungen, mehrere Nachsänger antworten im Chor.

Die Vokalgesänge, die in der Zeit zwischen dem späten 18. Jahrhundert und Mitte des 19. Jahrhunderts durch die schwarzen Leibeigenen entstanden, werden allgemein als »Spirituals« (dt., geistliche Lieder) oder »Negro Spirituals« bezeichnet. Damit die Spirituals nicht in Vergessenheit gerieten, gab es glücklicherweise verdiente Menschen, die die Songs gesammelt, bearbeitet und publiziert haben; unter anderem waren dies: Isaac Watts (1707), John Newton (1779), Richard Allen (1801), Philipp Bliss (1874), W. E. B. Du Bois (1903), John Wesley (1915?), James Weldon Johnson (1925), Howard W. Odum und Guy B. Johnson (1925) und Edward Boatner (1927). Aus diesem großen Kultur-Schatz gab es einige Lieder, die besonders beliebt waren, öfter gespielt wurden als andere und so im Laufe der Zeit sehr bekannt wurden. Manche von ihnen gelangten sogar zu weltweitem Ruhm.

Eines dieser Lieder ist When The Saints Go Marching In. Ob der Song in seiner heute bekannten Form auch irgendwann mal von Sklaven auf den Plantagen als Spiritual gesungen oder vielleicht später – Ende des 19. Jahrhunderts – als eine Art Trauermarsch gespielt wurde, ist nicht überliefert. Falls es so war, hat The Saints eine Umkehrung erfahren. Wir wissen nämlich, dass er in der Geburtsstadt des Jazz, in New Orleans, der Hafenstadt am Mississippi River in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts (besonders um 1910 bis 1920) bei den traditionellen Beerdigungen auf dem Rückweg vom Friedhof zur Innenstadt als swingendes Jazzstück gespielt wurde. Üblicherweise wurde diese Musik im New Orleans-Stil gespielt, also eine Besetzung mit Trompete, Posaune, Klarinette, Tuba und Banjo. Lutz Eikelmann, deutscher Jazz-Musiker, klärt uns auf: »Jazz war zu Beginn eine lebensbejahende Musik, die unter widrigen Umständen entstand. Von der Sklaverei ›befreite‹, aber dennoch weiterhin unterdrückte Afro-Amerikaner zeigten einem gewissen System den Stinkefinger und lebten eine Lebensfreude und einen freien Geist, diesen widrigen Umständen zum Trotz. Wie man bei einer traditionellen New Orleans Beerdigung auf dem Weg zum Friedhof Hymnen und Trauermärsche spielt, nach der Beisetzung dann tänzelnd mit fröhlicher Musik durch die Straße nach Hause oder in die nächste Kneipe zieht und damit den Sieg des Lebens über den Tod triumphieren lässt, so schreit der Jazzgeist die Botschaft hinaus: ›Wir sind glücklich, nicht weil die Umstände glücklich sind, sondern trotzdem!‹«

Die früheste, heute noch erhaltene Tonträgeraufnahme von When The Saints Go Marching In, datiert aus dem Jahre 1923, stammt von der schwarzen Vokalgruppe Paramount Jubilee Singers. Von den zahlreichen späteren Interpreten, die The Saints gespielt und bekannt gemacht haben, muss einer hervorgehoben werden: Louis Armstrong (1901–1971), schwarzer Trompeter und Sänger, einer der bedeutendsten Jazzmusiker überhaupt und wahrscheinlich weltweit der bekannteste. »Satchmo« (von Satchelmouth), wie er wegen seines großen Mundes von seinen Fans liebevoll genannt wurde, war ein brillanter Musiker, ein atemberaubender Improvisator und ungewöhnlicher Sänger mit Raspelstimme. Alle seine Produktionen sprühten nur so vor Fantasie, Lust und Leidenschaft. Satchmo hat The Saints mehr als 15 Mal aufgenommen und somit dafür gesorgt, dass der Titel heute ein Evergreen und Jazz-Standard ist. Schon die erste Einspielung vom Mai 1938 in New York ist eine Klasse für sich!

Eine andere Weiterentwicklung des Spiritual ist der Gospel, der im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als geistliche Kirchenmusik der Schwarzen bei Gottesdiensten nicht nur gesungen, sondern auch mit Instrumenten in (meist) swingenden Rhythmen präsentiert wurde, und der sich Anfang der 1930er-Jahre mit Jazz- und Blueselementen vermischte und sehr populär wurde. Auch die zu Beginn der 1960er entstandene Soul-Musik weist starke Gospel-Elemente auf. Den Unterschied zwischen Spiritual und Gospel erklärt die schwarze Sopranistin und Gospelsängerin Jo Ann Pickens aus Texas so: »Spirituals sind die ursprüngliche Form und Grundlage aller afroamerikanischen Musik – ihre Wurzel. Gospelmusik hat ihren Ursprung in der Kirche und ist nicht so alt wie die Spirituals. Es gibt zwar stilistische Unterschiede, aber in den letzten Jahren hat sich das etwas vermischt. Man könnte also einen Spiritual nehmen und einen Gospelsong daraus machen, was häufig geschehen ist.« Von den Interpreten, die The Saints als Gospel gesungen haben, ragt die schillernde Persönlichkeit Mahalia Jackson (1912–1972) mit ihrer Aufnahme von 1959 heraus. Die schwarze Sängerin, die sich ausschließlich der Gospelmusik verschrieben hatte, bezeichnete ihre Musik als »spirituell-geistlich«, im Gegensatz zum »hoffnungslosen« Blues, der so etwas wie ein weltliches Gegenstück zum Gospel ist.

Neben den Darbietungen von Armstrong und Jackson, gibt es zahlreiche wichtige Aufnahmen, so z. B. vom Trompeter Ken Colyer, der den Dixieland-Jazz in Europa bekannt gemacht hat. Ken Colyer’s Jazzmen – mit dabei waren so bedeutende Musiker wie Chris Barber, Monty Sunshine und Lonnie Donegan – spielten The Saints bereits 1953. Auch von den frühen Beatles, 1961 als Begleitband von Tony Sheridan, gibt es eine Produktion, ebenso wie vom Soul-Titan James Brown, dem »King Of Zydeco« Clifton Chenier, der R’n’B-Legende Fats Domino, des Weiteren von Judy Garland, Golden Gate Quartet, Louis Prima, Dr. John ... – diese Liste ließe sich nahezu unendlich fortsetzen. Und last but not least, sogar »The Boss« reihte sich in die Aufzählung der Interpreten ein: Bruce Springsteen, einer der erfolgreichsten Rockmusiker der USA, spielte den Klassiker 2006 live in Dublin.

Welche Bedeutung hat die textliche Aussage von The Saints? »O Lord I want to be in that number – When the saints go marching in« heißt soviel wie »Ich möchte dabei sein, wenn die Heiligen einziehen«. »Welche Heiligen ziehen wo ein?«, könnte man fragen. Nicht die »Heilig-Gesprochenen« im katholischen Sinne sind hier gemeint, sondern das Einziehen des Einzelnen als Geheilter ins Paradies – in die Welt der Einheit, die nicht wie die unserige der Polarität unterliegt; so wie Jesus schon sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Der apokalyptisch anmutende Text anderer Strophen sollte nicht als Weltuntergangsvision begriffen werden – vom »Ende der Welt« sprechen die Weisen, wenn »das Bewusstsein aus seinem Traum der Identifikation mit den Formen erwacht und sich daraus zurückzieht« (Eckhart Tolle). »And when the sun refuse to shine« – »Wenn die Sonne sich weigert zu scheinen« – »When the moon turns red with blood« – »Wenn der Mond rot wie Blut wird« – »When Gabriel blows in his horn« – die Gerichtsposaune des Erzengel Gabriel – und »When they crown him King of Kings« – »Wenn sie den König der Könige krönen« – den wiederkommenden Christus. Wie schon im Neuen Testament der Bibel angedeutet (z. B.: »Taufe mit Feuer und dem Heiligen Geist« – Mt. 3,11) ist es der Kampf der polaren Gegensätze zwischen Yin und Yang, der die Gestalt eines apokalyptischen Dualismus annehmen kann, wenn der Mensch dazu bereit ist. Ist er dazu bereit, ist er im wahrsten Sinne des Wortes erlöst von dieser unserer Welt. Denn: die widerstandsfreie Verschmelzung der Gegensätze von Objekt und Subjekt führt uns zur Einheit – zu Gott.

Ergänzung

Verwechslungsgefahr: Der Gospel-Song »When The Saints Are Marching In« von 1896, komponiert von James Black, getextet von Katherine Purvis, unterscheidet sich von When The Saints Go Marching In in jeder Beziehung, sowohl den Text als auch die Musik betreffend.

Titel – Autoren – Interpreten

When The Saints Go Marching In

Musik: Traditional – 18./19. Jahrhundert

Englische Texte: Traditional – 18./19. Jahrhundert

Neuer Text: (als »The Five Penny Saints«) Sylvia Fine – 1959

Eine der ältesten Aufnahmen: Paramount Jubilee Singers – 1923; Label: Paramount

Legendäre Jazz-Einspielung auf Schellackplatte: Louis Armstrong – 1938; Label: Decca (US)/Brunswick (DE)

Ergreifende Gospel-Live-Fassung: Mahalia Jackson – 1958; Label: Columbia

Humorvolle Special-Version: (als »The Five Penny Saints«) Louis Armstrong & Danny Kaye – 1959; Label: London

Stimmige New Orleans-Aufnahme mit neuer Melodie und überarbeitetem Text: Dr. John – 2004; Label: Parlophone

Getragene Live-Produktion: Bruce Springsteen & The Sessions Band – 2006/07; Label: Sony (US), Columbia (DE)

Coverbild

Those Were The Days

Russland 18./19. Jahrhundert

Die russische Zigeunerromanze

von Hermann Müller

»Ein Lied geht um die Welt«, so möchte man feststellen, schaut man auf die Vielzahl von Anleihen, Interpretationen und Übersetzungen, die die Reise des Songs Those Were The Days begleiten. Die Vermutungen um das Entstehen dieser Komposition wirken zuweilen recht mysteriös oder widersprüchlich. Seine Ursprünge scheinen aber letztendlich auf ein altes russisches (evtl. ukrainisches) Volkslied mit dem Titel »Дорогой длинною« – »Dorogoj Dlinnoyu« (dt., auf einem langen Weg) zurückzugehen, wobei der Textverfasser unbekannt ist. Russische Zigeuner sehen es als eines ihrer wichtigen Lieder innerhalb ihrer musikalischen Tradition. Andere Quellen behaupten, das Stück sei von zwei russischen Autoren verfasst worden: der Komponist Boris Fomin (1900–1948) soll es Mitte der 1920er-Jahre nach einem Text des »vergessenen« Dichters Konstantin Podrevskii geschrieben haben.

Diese Annahme liegt im Bereich des Möglichen, denn wir wissen, dass Fomin sich zum Entsetzen seines Vaters als Musiker durchschlug, was im revolutionsgeschüttelten Russland in der Zeit vor und nach 1920 gewiss nicht einfach war. Er war ein begabter Pianist und komponierte ca. 150 Lieder.

Verschiedene russische Interpreten befassten sich mit dem Titel. Als erste bekannte Aufnahme gilt allgemein die von Alexander Wertinsky – irgendwann aus den 1920er-Jahren. Wertinsky war Sänger, Schauspieler und Dichter und auch Kultfigur des russischen Kunstkreises der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine andere schöne »Dorogoj Dlinnoyu«-Aufnahme mit russischem Text gibt es von Rada und Nikolai Volshaninov, Mitglieder einer Zigeunerfamilie.

Die Suche nach den genauen Wurzeln des Werkes gestaltet sich schwierig und es wäre wünschenswert, wenn sich einmal ein russischer Musikforscher dieser Sache annehmen würde.

Das Thema des russischen Ursprungstextes ist ein nostalgischer Rückblick auf eine vergangene leidenschaftliche Liebe und gar nicht so verschieden von dem englischen Text, den der Amerikaner Eugene »Gene« Raskin 1962 als Those Were The Days für einen Auftritt mit seiner Frau Francesca zu einem Kabarettprogramm schrieb. Während der Poet im russischen Text seinen wehmütigen Erinnerungen auf einer Pferdeschlittenfahrt in mondbeleuchteter Nacht nachgeht, sinniert Raskin in seiner Fassung ebenso sehnsüchtig über vergangene Träume und verlegt den Ort in eine Taverne, in der feuchtfröhliche Treffen stattfanden: »Those were the days my friend, we’d thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day ...« – »Das waren die Tage mein Freund, wir dachten sie würden niemals enden, wir würden singen und tanzen für immer und einen Tag.« Im April des gleichen Jahres nahm die US-amerikanische Folkgruppe The Limeliters als erste die Raskin-Version für ihr Album »Folk Matinee« als Schallplatte auf.

Für die im Internet verbreitete Behauptung, die Schauspielerin Maria Schell hätte Those Were The Days 1957 in der amerikanischen Film-Produktion “The Brothers Karamazov“ (“Die Brüder Karamasow“) gesungen, konnten wir trotz intensiver Suche (Film, Soundtrack, Biographien) keine Bestätigung finden.

Den enormen Durchbruch erreichte der Song erst, als der Beatle Paul McCartney die walisische Sängerin Mary Hopkin produzierte. Die 1950 geborene Hopkin wurde von dem damals angesagten spindeldürren Fotomodell Twiggy in der TV-Talentshow »Opportunity Knocks« entdeckt. Auf Twiggys Empfehlung gelangte Mary in die Studios der Beatles, die gerade das Plattenlabel Apple Records gegründet hatten und eine Reihe neuer Singles einspielen wollten. Paul erinnerte sich dabei an den Song von Gene und Francesca Raskin, den er bei deren Auftritt im Club Blue Lamp in London gehört hatte. Das schien für McCartneys Entdeckung Mary der geeignete Titel für eine neue Single zu sein. Anscheinend hatte er jedoch vorher das Lied anderen Sängern angeboten, wie beispielsweise Donovan, die jedoch ablehnten.

Those Were The Days erschien als 5-Minuten-Single von Mary Hopkin gesungen auf dem Apple Label Ende August 1968 und wurde ein überwältigender Erfolg. Ob in England, USA, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Italien, überall eroberte die Nummer Spitzenplätze in den Charts, sodass am Ende des Jahres die Single bereits fünf Millionen Mal verkauft wurde.

»That’s how I got the job, cause they didn’t know anybody else … they could have found a real arranger …« – »So habe ich den Job gekriegt, weil sie niemanden sonst kannten ... sie hätten einen richtigen Arrangeur finden können ...« Mit diesen Worten beschrieb der damalige Musikstudent für klassische Musik, Richard Hewson, die Situation, nachdem er von Peter Asher, dem A&R-Mann (Artist & Repertoire) bei Apple im Sommer 68 den Auftrag erhielt, Days zu arrangieren. Dabei war – offensichtlich – weniger Hewsons mangelnde Erfahrung in Sachen Arrangement verantwortlich, als vielmehr seine klassische musikalische Ausbildung, da McCartney einige Orchesterpassagen in Days eingebaut sehen wollte. Dennoch, Hewson wollte über die Art der Instrumentierung in seinem Arrangement von Those Were The Days eher eine alte countrymäßige Atmosphäre entwickeln: Akustische Gitarre, Violine/Bratsche, Klarinetten, Standbass, Tuba und ein der ungarischen Zigeunermusik nahestehendes Instrument, ein Cembalon. Hewson dachte dabei an einen seiner Professoren, Gilbert Webster, der dieses Instrument ausreichend beherrschte. Herausgekommen ist ein nostalgisch klingendes Arrangement, das wie ein Salon-Orchesters der 1930er-Jahre klingt und ganz hervorragend zum Song passt. Der Knabenchor am Ende des Stückes erinnert an eine Art filmischen Abspann, wie er in alten Heimatfilmen nicht selten zu finden ist, ein sehnsuchtsvolles »fair-well«.

Those Were The Days wurde von zahlreichen Interpreten mit teilweise unterschiedlichem Text und in verschiedenen Sprachen dargeboten, von dem Sänger Bobby Vinton, den Schauspielern Carroll O’Connor & Jean Stapleton und dem französischen Orchesterleiter Raymond Lefèvre; die Sängerinnen Alexandra, Dalida, Sandie Shaw und Dolly Parton sangen es ebenso, wie die holländische Party-Formation Hermes House Band, um nur einige zu nennen. Für Freunde der russischen Sprache müssen Nikolai Erdenko, Nani Bregvadze, Edita Pieha und Theodore Bikel erwähnt werden. Auch Mary Hopkin begnügte sich nicht mit einer englisch gesungenen Version; als der große Triumph von Those Were The Days abzusehen war, nahm die Waliserin den Song auch in anderen Sprachen auf. Mary Roos, Paola, Sandie Shaw und Karel Gott probierten es auf Deutsch: »An jenem Tag mein Freund, da haben wir gemeint, die Zeit blieb stehn, allein nur für uns zwei ...«

2004 starb Gene Raskin im hohen Alter von 95 Jahren in New York, wo er auch geboren wurde. Gene verstand als Professor für Architektur offensichtlich nicht nur von der Gestaltung von Bauwerken etwas, er war auch als »Architekt« von Those Were The Days maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus einer russischen Zigeunerromanze ein Welterfolg wurde.

Titel – Autoren – Interpreten

Those Were The Days

Musik: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Boris Fomin – zw. 1917 u. 1920)

Russischer Text: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Konstantin Podrevskii)

Englischer Text: Gene Raskin – 1962

Deutscher Text: (als »An jenem Tag«) Heinz Korn – 1968

Angeblich die erste Tonaufzeichnung in Russisch als »Doro­goj Dlinnoyu«: Alexander Wertinsky – 1926

Gypsy-Aufnahme in Russisch: Rada und Nikolai Volshaninov – 19??

Erster Tonträger in Englisch: The Limeliters – 1962; Label: RCA Victor

Mega-Hit-Version: Mary Hopkin – 1968; Label: Apple

Spätere Produktion mit Chart-Notierung: Hermes House Band – 2003; Label: Polydor