Christian Jacq
Ramses.
Band 2: Der Tempel der Ewigkeit
Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter
Rowohlt Digitalbuch
Christian Jacq, geboren 1947 in Paris, promovierte in Ägyptologie an der Sorbonne. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze und wurde von der Académie française ausgezeichnet. Im Zuge seiner Forschungen gründete er das Institut Ramsès, das sich insbesondere der Erhaltung gefährdeter Baudenkmäler der Antike widmet. Neben Beiträgen zur Fachliteratur schrieb er mehrere erfolgreiche Romane. Mit «Ramses» gelang ihm auf Anhieb der Sprung auf die Bestsellerliste.
Der junge Thronfolger Ramses im Kampf gegen Verrat, Intrigen und finstere Mordpläne! Unterstützt von seiner klugen Frau Nefertari, seiner erfahrenen Mutter Tuja und wenigen treuen Freunden, kämpft er um den Thron und wird schließlich Pharao.
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel «Ramsès. Le Temple des millions d’années» bei Éditions Robert Laffont, S.A., Paris.
Redaktion Heiner Höfener
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013
Copyright © 1997 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Ramsès. Le Temple des millions d’années» Copyright © 1996 by Éditions Robert Laffont, S.A., Paris
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung C. Günther/W. Hellmann
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Buchausgabe 978-3-499-22472-0 (13. Auflage 2010)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-20991-6
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-20991-6
Ramses war allein. Er wartete auf ein Zeichen des Verborgenen.
Allein in der Wüste, in der unendlichen Weite eines ausgeglühten, verdorrten Landstrichs, allein seinem noch unbekannten Schicksal ausgesetzt.
Mit dreiundzwanzig Jahren war Prinz Ramses eine athletische Erscheinung, sieben Fuß hoch gewachsen, mit prächtigem rotblondem Haar, ovalem Gesicht und straffen, vor Kraft strotzenden Muskeln; eine breite und hohe Stirn, die lebhaften Augen unter auffallend geschwungenen, dichten Brauen sowie die lange, leicht gebogene Nase, die schön geformten Ohren und die vollen Lippen über dem markanten Kinn verliehen seinem Antlitz etwas Gebieterisches und zugleich Verführerisches.
Trotz seiner Jugend hatte er es schon weit gebracht. Er war königlicher Schreiber, in die Geheimnisse von Abydos eingeweiht und zum Mitregenten des Königreichs Ägypten ernannt worden, womit Sethos ihn, den jüngeren Sohn, zum Thronerben und Nachfolger erkoren hatte.
Doch nun war dieser mächtige Pharao, dieser unersetzliche Herrscher, der seinem Land Glück, Wohlstand und Frieden bewahrt hatte, nach fünfzehn Jahren außergewöhnlicher Regentschaft gestorben, nach fünfzehn zu kurzen Jahren, die vorübergeflogen waren wie ein Ibis in der Abenddämmerung eines Sommertages.
Ohne dass Ramses sich dessen bewusst geworden wäre, hatte Sethos als unnahbarer, gefürchteter und strenger Vater ihn nach und nach zum Umgang mit der Macht erzogen, indem er ihm zahlreiche Prüfungen auferlegte, deren erste die Begegnung mit dem wilden Stier, dem Inbegriff der Stärke, gewesen war. Der Jüngling hatte den Mut gehabt, es mit ihm aufzunehmen, ihn aber nicht bezwingen können; wäre Sethos nicht eingeschritten, hätte das Ungeheuer Ramses mit seinen Hörnern zerrissen. Damals hatte sich seinem Herzen die erhabenste Pflicht eines Pharaos eingeprägt: den Schwachen vor dem Starken zu schützen.
Der König, und nur er, kannte das Geheimnis der wahren Macht. Mit magischer, aus der Erfahrung geschöpfter Kraft hatte er es nach und nach Ramses preisgegeben, ihm jedoch dabei seine Absicht nicht enthüllt. Im Laufe der Jahre war der Sohn dem Vater nähergekommen, ihre Gedanken hatten sich im gleichen Glauben, in der gleichen Begeisterung vereint. Ernst und in sich gekehrt, war Sethos zwar sehr wortkarg gewesen, Ramses hatte er indes das einzigartige Vorrecht gewährt, lange Gespräche mit ihm zu führen, bei denen er sich nach Kräften darum bemühte, ihm die wahren Aufgaben des Königs von Ober- und Unterägypten begreiflich zu machen.
Es waren erhellende Stunden gewesen, Augenblicke der Gnade, die nun für immer im Schweigen des Todes versunken waren.
Ramses’ Herz hatte sich wie ein Blütenkelch geöffnet, um die Worte des Pharaos aufzunehmen, sie wie den kostbarsten der Schätze zu bewahren und in seinem Denken und Handeln weiterleben zu lassen. Doch Sethos war zu seinen Brüdern, den Göttern, enteilt, und Ramses blieb allein zurück, des Vaters beraubt.
Er fühlte sich wirklich allein gelassen, unfähig, die Last zu tragen, die auf seinen Schultern lag. Über Ägypten herrschen … Mit dreizehn Jahren hatte er davon geträumt wie ein Kind von einem unerreichbaren Spielzeug; dann hatte er diesem törichten Wunsch entsagt, überzeugt davon, dass der Thron Chenar, seinem älteren Bruder, verheißen sei.
Pharao Sethos und die große königliche Gemahlin Tuja hatten indes anders entschieden. Sie hatten das Verhalten ihrer beiden Söhne beobachtet und dann Ramses für das höchste Amt ausersehen. Warum hatten sie nicht einen anderen dazu ernannt, einen Stärkeren und Tüchtigeren, einen Mann wie Sethos! Im Zweikampf hätte Ramses bereitwillig jedwedem Feind getrotzt, aber würde es ihm gelingen, das Staatsschiff durch die ungewissen Wasser der Zukunft zu steuern? In Nubien hatte er im Gefecht seine Tapferkeit bewiesen. Mit seiner unerschöpflichen Tatkraft würde er, wenn es denn nötig wäre, sogar die Pfade des Krieges beschreiten, um sein Land zu verteidigen, doch wie sollte er einem Heer von Beamten, Würdenträgern und Priestern gebieten, deren Verschlagenheit ihm fremd war?
Der Begründer der Dynastie, der erste Ramses, war ein bejahrter Wesir gewesen, als die Weisen ihm eine Macht übertrugen, die er nicht begehrt hatte. Auch sein Nachfolger, Sethos, war bei seiner Krönung bereits ein reifer und erfahrener Mann gewesen. Doch Ramses zählte erst dreiundzwanzig Jahre und hatte sich bisher damit begnügen können, im schützenden Schatten des Vaters zu leben, seine Weisungen zu befolgen und auch der nichtigsten seiner Aufforderungen nachzukommen. Wie wunderbar es war, auf eine führende Hand zu vertrauen, die ihm den Weg wies! Er konnte nach Sethos’ Befehlen handeln, dabei Ägypten dienen, indem er dem Pharao gehorchte, und er erhielt von ihm stets Antworten auf all seine Fragen … Diese Stütze war nun für immer entschwunden.
Und das Schicksal erdreistete sich, von ihm, Ramses, einem ungestümen jungen Mann, zu fordern, dass er den Platz des verstorbenen Königs einnahm!
Täte er nicht besser daran, lauthals lachend in die Wüste zu fliehen, so weit, dass niemand ihn finden würde?
Gewiss, er konnte sich auf seine Verbündeten verlassen: auf seine Mutter Tuja, die ihm unbeirrbar und treu zur Seite stand; auf seine Gemahlin, die so schöne und stille Nefertari; und auch auf seine Freunde aus der Kindheit, den Hebräer Moses, der Aufseher über die königlichen Bauarbeiten geworden war, den Gesandten Acha, den Schlangenbändiger Setaou und auf Ameni, seinen Obersten Schreiber, der sein eigenes Los mit dem von Ramses verband.
Nur, würde die Schar seiner Feinde nicht mächtiger sein? Chenar fand sich bestimmt nicht damit ab, auf den Thron zu verzichten. Welche geheimen Bündnisse mochte er geschlossen haben, um zu verhindern, dass sein Bruder über das Land herrschte? Wäre Chenar in diesem Augenblick vor ihn hingetreten, hätte Ramses ihm keinerlei Widerstand entgegengesetzt. Da er die Doppelkrone so sehr begehrte, sollte er sich doch ihrer bemächtigen!
Aber durfte Ramses seinen Vater verraten und sich der Bürde entziehen, die er ihm auferlegt hatte? Es wäre so leicht, sich vorzugaukeln, Sethos habe sich geirrt oder hätte seine Meinung noch ändern können … Nein, er würde sich nicht selbst belügen. Sein Schicksal hing von der Antwort des unsichtbaren Gottes ab.
Hier, in der Wüste, in dieser unheildräuenden roten Erde, sollte sie ihm zuteilwerden.
Die Augen gen Himmel gewandt, saß Ramses in der Haltung eines Schreibers da und wartete. Ein Pharao musste ein Mann der Wüste sein. Mochte das in den Steinen und im Sand verborgene Feuer seine Seele stärken oder ihn verderben. Es sollte sein Urteil sprechen.
Die Sonne näherte sich ihrem höchsten Stand, der Wind legte sich. Da jagte eine Gazelle über die Dünen. Wie aus dem Nichts entstanden, drohte von irgendwoher Gefahr, war unversehens spürbar.
Ein gewaltiger Löwe tauchte auf, mindestens acht Ellen lang und gewiss so schwer wie mehrere Scheffel Getreide! Seine flammende Mähne verlieh ihm das Aussehen eines siegreichen Kriegers, dessen muskulöser Körper sich geschmeidig bewegte.
Als er Ramses entdeckte, stieß er ein furchterregendes Gebrüll aus, das in einem Umkreis von etlichen Meilen zu hören war. Die große Raubkatze mit dem beängstigenden Gebiss und den scharfen Krallen blickte unverwandt auf ihre Beute.
Der junge Mann hatte keinerlei Möglichkeit, ihr zu entrinnen.
Sie kam näher und blieb erst kurz vor Sethos’ Sohn stehen. Eine Weile starrten sie einander an.
Mit seinem Schweif verscheuchte das Tier eine Fliege, dann kam es, plötzlich unruhig geworden, noch näher.
Ramses erhob sich und hielt seinem Blick stand.
«Das bist ja du, Schlächter, mein Löwe! Du also, den ich vor dem sicheren Tod bewahrt habe! Was hast du nun mit mir vor?»
Einen Moment lang vergaß Ramses die Gefahr und sah wieder das Löwenjunge vor sich, das einst in einem Gestrüpp der nubischen Steppe zu verenden drohte. Nach dem Biss einer Schlange hatte es unglaubliche Widerstandskraft bewiesen, ehe es dank der Heilmittel Setaous genas und zu einer Riesenkatze heranwuchs, der Ramses den Namen «Schlächter» gegeben hatte.
Der Löwe war zum ersten Mal aus dem Gehege ausgebrochen, in das man ihn während der Abwesenheit des Prinzen einschloss. Hatte das Raubtier in ihm wieder die Oberhand gewonnen, sodass er nun blutgierig und erbarmungslos den Mann anfallen würde, den er immerhin eine Zeitlang als seinen Herrn anerkannt hatte?
«Entscheide dich, Schlächter! Entweder du wirst mein lebenslanger Verbündeter, oder du gibst mir den Tod.»
Da richtete sich der Löwe auf und legte Ramses die Vorderpranken auf die Schultern. Er versetzte ihm damit zwar einen heftigen Schlag, doch der Prinz wankte nicht. Die Krallen blieben eingezogen, während die Schnauze der Raubkatze die Nase des jungen Mannes beschnüffelte.
Zwischen ihnen bestand Freundschaft, Vertrauen und gegenseitige Achtung.
«Du hast mein Schicksal bestimmt.»
Von nun an hatte Ramses, dem Sethos den Namen «Sohn des Lichts» verliehen hatte, keine andere Wahl mehr.
Er würde kämpfen wie ein Löwe.
Im Palast von Memphis herrschte große Trauer. Die Männer rasierten sich nicht mehr, die Frauen trugen ihr Haar offen. Während der siebzig Tage, die Sethos’ Einbalsamierung in Anspruch nahm, würde Ägypten, so gut es eben ging, ohne Pharao überdauern müssen. Der König war tot, der Thron blieb leer, bis der Nachfolger offiziell verkündet wurde, was erst geschehen konnte, wenn Sethos beigesetzt war und sich mit dem Licht des Himmels vereint hatte.
Auf Anweisung des Regenten und der großen königlichen Gemahlin Tuja waren die Grenzposten zur Wachsamkeit aufgerufen und die Truppen dazu angehalten worden, mögliche Eindringlinge aus den Fremdländern abzuwehren. Obgleich von den Hethitern im Augenblick keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien, so konnte dennoch ein Überfall nicht ausgeschlossen werden. Seit Jahrhunderten galten die reichen Provinzen des Deltas, in denen Ackerbau und Viehzucht betrieben wurde, als verlockende Beute für die «Männer des Sandes», für die Beduinen des Sinai, und bisweilen schlossen sich die Fürsten des Morgenlandes zusammen, um den Nordosten Ägyptens anzugreifen.
Sethos’ Aufbruch ins Jenseits hatte Angst ausgelöst. Wenn ein Pharao das Diesseits verließ, drohten die Mächte des Chaos über Ägypten hereinzubrechen und eine von Dynastie zu Dynastie gewachsene Kultur zu zerstören. Würde der junge Ramses dazu imstande sein, die Beiden Länder, das Niltal im Süden und das Delta im Norden, vor Unheil zu bewahren? Die Männer von höchstem Rang setzten keinerlei Vertrauen in ihn und hätten es gern gesehen, wenn er seinem gewandteren und weniger aufbrausenden Bruder Chenar gewichen wäre.
Die große königliche Gemahlin Tuja hatte seit dem Tod ihres Gemahls ihre Gewohnheiten nicht geändert. Erst zweiundvierzig Jahre alt, eine erhabene Erscheinung von sehr schlankem Wuchs mit edler und gerader Nase, mit großen, mandelförmigen Augen, die streng und durchdringend blickten, und mit einem beinahe kantigen Kinn, erfreute sie sich ungeteilter Achtung. Stets hatte sie Sethos zur Seite gestanden. Wenn der Pharao außer Landes weilte, hatte sie während seiner Abwesenheit Ägypten mit eiserner Hand regiert.
Kaum dass der Morgen zu dämmern begann, erging sich Tuja gern ein wenig in ihrem Garten voller Tamarisken und Sykomoren. Dabei plante sie ihren Arbeitstag, in dessen Verlauf Zusammenkünfte mit weltlichen Würdenträgern und Rituale zu Ehren der Götter einander abwechselten.
Seit Sethos’ Tod erschien ihr selbst der kleinste Handgriff jeden Sinns beraubt. Tuja wünschte sich nur noch, so schnell wie möglich ihrem Gemahl zu folgen – in eine Welt ohne Zwist, fernab vom Getümmel der Menschen, doch sie konnte sich der Last der Jahre, die das Schicksal ihr noch auferlegte, nicht entziehen. Schließlich musste sie ihrem Land von dem Glück, das ihr zuteilgeworden war, etwas zurückerstatten, indem sie ihm bis zu ihrem letzten Atemzug diente.
Aus dem morgendlichen Dunst tauchte Nefertaris elegante Gestalt auf. «Schöner als die Schönen des Palastes», wie das Volk von ihr zu sagen pflegte, hatte Ramses’ Gemahlin glänzend schwarzes Haar und blaugrüne Augen, die unglaubliche Sanftmut ausstrahlten. Als ehemalige Musikantin im Tempel der Göttin Hathor in Memphis und Leinenweberin von beachtlichem Geschick war Nefertari zwar im Geiste der alten Gelehrten wie etwa des Weisen Ptah-hotep erzogen worden, entstammte jedoch keiner Adelsfamilie. Dennoch hatte sich Ramses unsterblich in sie verliebt, in ihre Schönheit, ihren Scharfsinn und in ihre für eine noch so junge Frau erstaunliche Reife. Obwohl Nefertari nicht danach trachtete zu gefallen, wirkte sie verführerischer als jede andere. Tuja hatte sie zur Vorsteherin ihres Hausstandes erkoren, und diese Stellung behielt sie auch als Gemahlin des Regenten bei. Zwischen der Königin von Ägypten und Nefertari war echte Freundschaft, eine nahezu verschwörerische Gemeinschaft entstanden. Die beiden verstanden einander ohne große Worte.
«Wie viel Tau heute Morgen liegt, Majestät! Wer könnte je die verschwenderische Fülle besingen, die unser Land uns beschert?»
«Warum stehst du so früh auf, Nefertari?»
«Du hättest die Ruhe doch nötiger, meinst du nicht?»
«Ich finde keinen Schlaf mehr.»
«Wüsste ich nur deinen Kummer zu lindern, Majestät!»
Ein trauriges Lächeln spielte um Tujas Lippen.
«Ich vermisse Sethos allzu sehr. Der Rest meiner Tage wird nur noch ein langes Leiden, in dem mich allein eine glückliche Regentschaft deines Gemahls ein wenig zu trösten vermag. Künftig wird dies für mich der einzige Grund sein, noch zu leben.»
«Ich mache mir Sorgen, Majestät.»
«Was befürchtest du?»
«Dass Sethos’ Wille sich nicht erfüllt.»
«Wer sollte es wagen, sich dagegen aufzulehnen?»
Nefertari schwieg.
«Du denkst an Chenar, nicht wahr? Ich kenne seine Eitelkeit und seinen Ehrgeiz, aber er wird nicht so töricht sein, sich dem Willen seines Vaters zu widersetzen.»
Die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages tauchten den Garten der Königin in goldenes Licht.
«Hältst du mich für zu arglos, Nefertari? Wie es scheint, teilst du meine Ansicht nicht.»
«Majestät …»
«Soll das heißen, dass du etwas Genaues erfahren hast?»
«Nein, es ist nur so ein Gefühl, ein unbestimmtes Gefühl.»
«Du bist scharfsinnig, dein Verstand ist schnell wie der Blitz, und Verleumdungen liegen dir fern. Nur, um zu vereiteln, dass Ramses über Ägypten herrscht, gibt es doch keine andere Möglichkeit, als ihn zu ermorden?»
«Eben davor habe ich Angst, Majestät.»
Sachte strich Tuja mit der Hand über einen Tamariskenzweig.
«Meinst du, Chenar wäre imstande, ein Verbrechen zu begehen, um selbst die Herrschaft zu übernehmen?»
«Diese Vorstellung lässt mich ebenso schaudern wie dich, doch es gelingt mir nicht, sie zu verscheuchen. Verurteile mich, wenn sie dir undenkbar erscheint, aber ich konnte nicht länger schweigen.»
«Wie wird für Ramses’ Sicherheit gesorgt?»
«Sein Löwe und sein Hund wachen über ihn, desgleichen Serramanna, der Vorsteher seiner Leibwache. Seit Ramses von seiner einsamen Wanderung durch die Wüste zurückgekehrt ist, vermochte ich ihn davon zu überzeugen, dass er nicht ohne Schutz bleiben darf.»
«Die Staatstrauer währt nun schon zehn Tage», erklärte die große königliche Gemahlin. «In zwei Monaten wird Sethos’ einbalsamierter Leichnam in seinem Haus für die Ewigkeit beigesetzt. Danach wird Ramses gekrönt, und du wirst Königin von Ägypten.»
Ramses verneigte sich vor seiner Mutter, dann drückte er sie liebevoll an sich. Von ihr, die so zerbrechlich wirkte, konnte er lernen, sein Schicksal mit Würde zu tragen.
«Warum erlegt uns Gott nur eine so grausame Prüfung auf?»
«Sethos’ Geist lebt in dir weiter, mein Sohn. Seine Zeit ist abgelaufen und die deine beginnt. Wenn du sein Werk fortsetzt, wird er den Tod besiegen.»
«Sein Schatten ist übermächtig.»
«Bist du nicht der Sohn des Lichts, Ramses? Vertreibe die Finsternis, die uns umgibt, und lass nicht zu, dass uns das Chaos verschlingt.»
Der junge Mann trat einen Schritt zurück.
«Mein Löwe und ich haben in der Wüste einen Pakt geschlossen.»
«Das war doch das Zeichen, das du dir erhofftest, nicht wahr?», fragte die Königin.
«Ja, gewiss, aber gestattest du mir, dich um etwas zu bitten?»
«Sprich!»
«Wenn mein Vater außerhalb Ägyptens weilte, um den Fremdländern seine Stärke kundzutun, dann regiertest doch du.»
«So gebietet es unsere Tradition.»
«Du besitzt Erfahrung im Umgang mit der Macht, und jeder verehrt dich. Warum solltest nicht du den Thron besteigen?»
«Weil das nicht Sethos’ Wille war. Er verkörperte das Gesetz, dieses Gesetz, das wir lieben und achten. Dich, mein Sohn, hat er zu seinem Nachfolger erkoren, deshalb musst du herrschen. Ich werde dir nach besten Kräften dabei helfen und dich beraten, wenn du dies wünschst.»
Ramses bedrängte sie nicht länger.
Seine Mutter war der einzige Mensch, der den Lauf des Schicksals hätte umlenken und ihn von seiner Bürde befreien können, doch Tuja würde dem verstorbenen König treu bleiben und an seiner Entscheidung nichts ändern. Wie groß Ramses’ Zweifel und Ängste auch sein mochten, er musste seinen eigenen Weg gehen.
Serramanna, der Vorsteher der Leibwache, verließ kaum noch den Flügel des Palastes, in dem der künftige König von Ägypten seine Pflichten erfüllte. Dass Ramses den Sarden, einen ehemaligen Seeräuber, in dieses Vertrauensamt berufen hatte, zog allerlei Gerede nach sich. Einige waren überzeugt, der Riese mit dem gezwirbelten Schnurrbart würde früher oder später Sethos’ Sohn verraten.
Vorerst gelangte jedoch niemand ohne seine Genehmigung in den Palast hinein. Die große königliche Gemahlin hatte ihm eingeschärft, jeden Eindringling zu vertreiben und sich, falls Gefahr drohte, ohne Zögern seines Schwerts zu bedienen.
Als der Widerhall eines Streits an seine Ohren drang, stürzte Serramanna in die für Besucher bestimmte Vorhalle hinaus.
«Was geht hier vor?»
«Dieser Mann will uns zwingen, ihn durchzulassen», antwortete einer der Wachsoldaten und zeigte auf einen bärtigen Hünen mit üppigem Haupthaar und breiten Schultern.
«Wer bist du?», fragte Serramanna.
«Moses, der Hebräer, ein Jugendfreund von Ramses und Aufseher auf den Baustätten des Pharaos.»
«Was willst du?»
«Für gewöhnlich verschließt mir Ramses seine Tür nicht.»
«Heute bestimme ich hier.»
«Ist der Regent etwa eingesperrt?»
«Nur zu seiner Sicherheit … Welchen Grund hat dein Besuch?»
«Das geht dich nichts an.»
«Dann scher dich wieder nach Hause, und komm diesem Palast nicht mehr zu nahe, sonst lasse ich dich ins Gefängnis werfen.»
Nicht weniger als vier Wachsoldaten waren vonnöten, um Moses festzuhalten.
«Wenn du Ramses nicht meldest, dass ich hier bin, wird es dir noch leidtun.»
«Deine Drohungen beeindrucken mich nicht.»
«Mein Freund erwartet mich. Hast du das begriffen?»
Langjährige Seeräuberei und unzählige erbitterte Kämpfe hatten Serramannas Gespür für Gefahren geschärft. Dieser Moses da erschien ihm jedoch trotz seiner Körperkraft und der lauten Stimme aufrichtig.
Ramses und der Hebräer umarmten einander.
«Das ist kein Palast mehr», entrüstete sich Moses, «sondern eine Festung.»
«Meine Mutter, meine Gemahlin, mein Oberster Schreiber, Serramanna und noch ein paar andere rechnen mit dem Schlimmsten.»
«Das Schlimmste … Was soll das heißen?»
«Ein Mordanschlag.»
An der Tür, die vom Audienzsaal des Regenten in den Garten hinausführte, döste sein riesiger Löwe, und zwischen dessen Vorderpranken lag Wächter, der goldgelbe Hund.
«Was hast du mit den beiden schon zu befürchten?»
«Nefertari ist überzeugt, dass Chenar seinem Wunsch zu herrschen nicht entsagt hat.»
«Eine Gewalttat, noch ehe Sethos beigesetzt ist … Das passt nicht zu ihm. Er handelt lieber im Verborgenen und setzt auf Zeit.»
«Die Zeit ist für ihn jetzt knapp geworden.»
«Da hast du recht … Dennoch wird er es nicht wagen, sich an dir zu vergreifen.»
«Mögen die Götter dich erhören! Ägypten würde dabei nichts gewinnen. Was spricht man in Karnak?»
«Man munkelt allerlei gegen dich.»
Unter der Leitung eines Baumeisters übte Moses das Amt des Aufsehers in der weitläufigen Tempelanlage von Karnak aus, wo Sethos mit dem Bau einer riesigen Säulenhalle begonnen hatte, der durch den Tod des Pharaos unterbrochen worden war.
«Wer munkelt?»
«Die Priester des Amun, einige Adlige, der Wesir des Südens … Deine Schwester Dolente und ihr Gemahl Sary stacheln sie auf. Sie verwinden die Verbannung nicht, in die du sie geschickt hast, so weit von Memphis entfernt.»
«Hat dieser elende Sary nicht versucht, mich aus dem Weg zu räumen? Mich und Ameni, meinen Obersten Schreiber, unseren Freund aus Kindertagen. Dass ich von ihm und meiner Schwester verlangt habe, Memphis zu verlassen und nach Theben zu ziehen, ist noch eine sehr milde Strafe.»
«Diese giftigen Blumen gedeihen nur im Norden. Im Süden, in Theben, da verkümmern sie. Du hättest strenger verfahren und sie wirklich des Landes verweisen sollen.»
«Dolente ist meine Schwester, Sary war mein Erzieher und Lehrer.»
«Darf ein König seinen Angehörigen gegenüber so nachsichtig sein?»
Ramses war tief beleidigt.
«Ich bin noch nicht König, Moses!»
«Du hättest dennoch Anklage erheben und der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen können.»
«Wenn meine Schwester und ihr Gemahl sich nicht zurückhalten, werde ich mit aller Härte gegen sie vorgehen.»
«Ich wollte, ich könnte dir glauben. Du bist dir kaum bewusst, welch erbitterte Feinde du hast.»
«Ich trauere um meinen Vater, Moses.»
«Und du vergisst dabei dein Volk und dein Land! Meinst du etwa, Sethos freut sich in seinen himmlischen Gefilden über ein derart lasches Verhalten?»
Wäre Moses nicht sein Freund gewesen, hätte Ramses ihn geohrfeigt.
«Muss das Herz eines Königs denn gefühllos sein?»
«Wie soll ein Mann herrschen können, wenn er sich in seinem Schmerz vergräbt, so berechtigt der auch sein mag? Chenar hat versucht, mich für seine Ziele zu gewinnen und gegen dich aufzuhetzen. Kannst du jetzt besser ermessen, in welcher Gefahr du schwebst?»
Ramses war bestürzt.
«Dein Widersacher ist nicht zu unterschätzen», fuhr Moses fort. «Wachst du endlich aus deiner Betäubung auf?»
Memphis, das am Übergang vom Niltal zum Delta gelegene wirtschaftliche Zentrum des Landes, schlummerte in einer Art bleiernem Schlaf. Im Hafen «Gute Reise» blieben die meisten Handelsschiffe am Kai vertäut, denn während der siebzig Tage Trauer ruhten die Geschäfte, und in den geräumigen vornehmen Häusern der Adligen wurde kein einziges Festmahl abgehalten.
Sethos’ Tod hatte in der großen Stadt Erschütterung ausgelöst. Unter seiner Herrschaft war der Wohlstand gewachsen, doch in den Augen der wichtigsten Kaufleute mochte er leicht ins Wanken geraten, wenn ein schwacher Pharao Ägypten verwundbar und unbeständig machte. Und wer konnte schon an Sethos heranreichen? Chenar, sein älterer Sohn, hätte das Land sicher gut verwaltet, der erkrankte Herrscher hatte ihm jedoch den jungen und hitzköpfigen Ramses vorgezogen, dessen Äußeres eher einem Verführer entsprach denn dem Oberhaupt eines Staates. Bisweilen begingen selbst die hellsichtigsten Männer Fehler, und wie in Theben raunte man einander zu, dass Sethos sich vielleicht geirrt habe, als er seinen jüngeren Sohn zum Nachfolger erkor.
Voller Ungeduld durchmaß Chenar die Besucherhalle im Hause des Meba, des Obersten Gesandten, der ein verschwiegener Mann von etwa sechzig Jahren mit sehr würdevollem Auftreten war und dessen breites Gesicht Beruhigung ausstrahlte. Als Feind von Ramses unterstützte er Chenar, dessen politische und wirtschaftliche Ansichten ihm vortrefflich erschienen. Lag die Zukunft nicht darin, große Märkte in den Ländern am Mittelmeer und im Osten von Ägypten zu erschließen, indem man möglichst viele Handelsbeziehungen knüpfte, selbst wenn man dafür einige nicht mehr ganz zeitgemäße Werte preisgeben musste? Es war doch wohl besser, Waffen zu verkaufen, anstatt sich ihrer bedienen zu müssen.
«Ob er überhaupt kommt?», fragte Chenar.
«Er ist auf unserer Seite, sei unbesorgt», beteuerte Meba.
«Ich mag Rohlinge wie ihn nicht, sie richten ihr Fähnchen nach dem Wind.»
Der ältere Sohn des verstorbenen Königs war ein kleiner, gedrungener und recht beleibter Mann mit rundem Gesicht und Pausbacken. Die wulstigen, lüsternen Lippen verrieten seine Vorliebe für gutes Essen, während die flinken braunen Augen von ständiger innerer Erregung zeugten. Wegen seiner Leibesfülle verabscheute er die Sonne und körperliche Bewegung, und mit seiner öligen, getragenen Stimme wollte er Vornehmheit und eine Ruhe zum Ausdruck bringen, an der es ihm jedoch oft mangelte.
Chenar war aus Eigennutz friedliebend. Er hielt es für widersinnig, sein Land gegen Einflüsse von außen abzuschirmen, um es zu schützen. Nur Hüter der Moral, die nicht imstande waren, ihr Glück zu machen, benutzten dafür das Wort Verrat. Ramses, nach altem Stil erzogen, verdiente es nicht, zu herrschen, und wäre dazu auch nicht fähig. Deshalb empfand Chenar keinerlei Gewissensbisse dabei, eine Verschwörung anzuzetteln, die ihm selbst zur Macht verhelfen sollte: Ägypten würde es ihm danken.
Dazu war es allerdings unerlässlich, dass sein wichtigster Verbündeter den gemeinsamen Absichten nicht abgeschworen hatte.
«Gib mir etwas zu trinken», verlangte Chenar.
Meba kredenzte seinem erlauchten Gast eine Schale Bier.
«Wir hätten ihn nicht ins Vertrauen ziehen sollen.»
«Er wird schon kommen, davon bin ich überzeugt. Vergiss nicht, dass er so schnell wie möglich in seine Heimat zurückkehren möchte.»
Endlich meldete der Wachsoldat die Ankunft des so sehnlich erwarteten Besuchers.
Der blonde Menelaos mit dem durchdringenden Blick, der Sohn des Atreus, Günstling des Kriegsgottes, König von Lakedämon und der große Schlächter von Troja, trug einen doppelten Brustpanzer und einen breiten Leibriemen mit goldener Schließe. Ägypten hatte ihm für die Zeit, deren es bedurfte, um seine Schiffe zu reparieren, Gastfreundschaft gewährt, doch seine Gemahlin, Helena, wollte das Land der Pharaonen nicht mehr verlassen, denn sie befürchtete, an seinem Hof schlecht behandelt zu werden und das Dasein einer Sklavin fristen zu müssen.
Da Helena die Unterstützung und den Schutz der Königin Tuja genoss, waren Menelaos die Hände gebunden. Zum Glück bot Chenar ihm seine Hilfe an, wobei er ihm jedoch eindringlich riet, sich zu gedulden, bis sie einen siegverheißenden Plan ersonnen hätten.
Sobald Chenar Pharao war, mochte Menelaos samt Helena nach Griechenland aufbrechen.
Seit mehreren Monaten passten sich die griechischen Soldaten der Bevölkerung ihres Gastlandes an. Manche waren ägyptischem Kommando unterstellt worden, andere hatten kleine Läden eröffnet, und alle schienen mit ihrem erfreulichen Los zufrieden zu sein. In Wirklichkeit warteten sie jedoch nur auf einen Befehl ihres Anführers, um zur Tat zu schreiten und – diesmal in größerem Ausmaß – ihren Erfolg mit dem Trojanischen Pferd zu wiederholen.
Argwöhnisch musterte der Grieche den Obersten Gesandten.
«Schick diesen Mann fort», forderte er Chenar auf. «Ich möchte mich mit dir allein unterhalten.»
«Meba ist unser Verbündeter.»
«Ich sage es nicht noch einmal.»
Mit einer Handbewegung bedeutete Chenar dem Obersten Gesandten, sich zu entfernen.
«Wie stehen die Dinge?», erkundigte sich Menelaos.
«Es ist an der Zeit, dass wir etwas unternehmen.»
«Bist du dir da ganz sicher? Eure sonderbaren Gebräuche und diese endlose Einbalsamierung bringen einen noch um den Verstand.»
«Wir müssen handeln, ehe die Mumie meines Vaters beigesetzt wird.»
«Meine Männer sind bereit.»
«Ich bin kein Freund sinnloser Gewalt und …»
«Genug der Ausflüchte, Chenar! Ihr Ägypter scheut euch davor zu kämpfen. Wir Griechen haben jahrelang gegen die Trojaner gefochten und sie niedergemetzelt. Wenn du möchtest, dass dieser Ramses stirbt, dann sag es ein für allemal und vertrau auf mein Schwert!»
«Ramses ist mein Bruder, und eine List ist bisweilen wirksamer als rohe Gewalt.»
«Nur gemeinsam führen sie zum Sieg. Willst du mich, einen Helden des Trojanischen Krieges, die Feldherrnkunst lehren?»
«Du musst erst Helena zurückerobern.»
«Helena, Helena, schon wieder sie! Diese Frau ist ein Fluch, aber ich kann nicht ohne sie nach Lakedämon heimkehren.»
«Also wenden wir meinen Plan an.»
«Wie sieht der aus?»
Chenar lächelte. Dieses Mal stand das Glück ihm zur Seite, denn mit der Hilfe des Griechen würde er sein Ziel erreichen.
«Es gibt nur zwei größere Hindernisse: den Löwen und Serramanna. Wir werden den ersten vergiften und den zweiten aus dem Weg räumen. Dann entführen wir Ramses, und du nimmst ihn mit nach Griechenland.»
«Warum wollen wir ihn nicht gleich töten?»
«Weil der Beginn meiner Herrschaft nicht mit Blut befleckt sein soll. Offiziell werden wir kundtun, Ramses habe dem Thron entsagt und sich zu einer langen Reise entschlossen. In ihrem Verlauf wird ihm dann allerdings ein bedauerlicher Unfall zustoßen.»
«Und Helena?»
«Sobald ich gekrönt bin, muss meine Mutter mir gehorchen und wird aufhören, deine Gemahlin zu beschützen. Sollte Tuja sich als uneinsichtig erweisen, lasse ich sie in einen Tempel einschließen.»
Menelaos überlegte.
«Für einen Ägypter ist das nicht übel ausgeheckt … Besitzt du das nötige Gift?»
«Selbstverständlich.»
«Der griechische Offizier, den wir in die Leibgarde deines Bruders einschleusen konnten, ist ein erfahrener Soldat, er wird Serramanna die Kehle durchschneiden, während er schläft. Wann soll es geschehen?»
«Bewahre noch ein wenig Geduld, ich muss erst nach Theben reisen. Sobald ich zurück bin, schlagen wir zu.»
Helena kostete jeden Augenblick ihres Glücks aus, das sie für immer entschwunden gewähnt hatte. In einem leichten, nach Blüten duftenden Kleid, den Kopf zum Schutz vor der Sonne mit einem Schleier bedeckt, lebte sie am ägyptischen Hof wie in einem wundervollen Traum. Ihr, die von den Griechen als «verderbte Hündin» geschmäht wurde, war es gelungen, Menelaos zu entkommen, diesem lasterhaften, niederträchtigen Tyrannen, dessen größtes Vergnügen darin bestand, sie zu demütigen.
Tuja, die große königliche Gemahlin, und Nefertari, Ramses’ Gemahlin, hatten ihr ihre Freundschaft angeboten und gestatteten ihr, sich frei zu bewegen. In diesem Land war das anders als in Lakedämon, wo die Frau, mochte sie auch noch so fürstlichen Geblüts sein, in den hinteren Gemächern eingesperrt wurde.
War Helena wirklich schuld am Tod Tausender Griechen und Trojaner? Sie hatte diesen mörderischen Wahn nicht gewollt, der so viele Jahre lang junge Männer dazu trieb, einander zu töten, doch die Stimme des Volkes klagte sie weiterhin an und verurteilte sie, ohne ihr Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen. Hier, in Memphis, machte man ihr keine Vorwürfe. Sie webte, hörte Musik, musizierte selbst, badete in dem See, der nur dem Vergnügen diente, und ergötzte sich an den unerschöpflichen Reizen der Palastgärten. Das Klirren der Waffen war verklungen, dem Gesang der Vögel gewichen.
Mehrmals am Tag erhob Helena ihre weißen Arme und betete zu den Göttern, dass dieser Traum nie zu Ende gehen möge. Sie wünschte sich nur, die Vergangenheit, Griechenland und Menelaos zu vergessen.
Während sie über einen sandigen, zu beiden Seiten von Perseas gesäumten Pfad schritt, entdeckte sie den Kadaver eines Kranichs. Helena ging näher heran und stellte fest, dass der Bauch des schönen Vogels aufgeschlitzt war. Da kniete sie nieder und betrachtete aufmerksam seine Eingeweide. Sowohl unter den Griechen als auch unter den Trojanern wusste jeder um ihre seherischen Fähigkeiten.
Eine ganze Weile verharrte die Gemahlin des Menelaos in tiefer Niedergeschlagenheit.
Was sie aus den Innereien des beklagenswerten Kranichs herausgelesen hatte, versetzte sie in Angst.
Theben, die große Stadt im Süden Ägyptens, war die Stätte des Amun, jenes Gottes, der den Arm der Befreier bewaffnet hatte, als sie vor vielen Jahrhunderten die grausamen und barbarischen Hyksos vertrieben, die aus dem Osten eingedrungenen Eroberer. Seit das Land seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, huldigten die Pharaonen Amun, und von Generation zu Generation vergrößerten und verschönerten sie ohne Unterlass seinen Tempel. So war Karnak das größte und reichste Heiligtum geworden, eine Art Staat im Staate, in dem der Oberpriester sich mehr als Herrscher mit ausgedehnten Machtbefugnissen gebärdete denn als Mann des Gebets.
Bei ihm hatte Chenar gleich nach seiner Ankunft in Theben um Audienz nachgesucht. Die beiden Männer unterhielten sich in einer aus Holz errichteten, von Glyzinien und Geißblatt überwucherten Laube, nicht weit vom heiligen See entfernt, von dem ein wenig Kühlung ausging.
«Bist du etwa ohne Gefolge gekommen?», erkundigte sich der Oberpriester verwundert.
«Von meinem Besuch hier wissen nur sehr wenige.»
«Aha … Dann möchtest du also, dass ich darüber Stillschweigen bewahre.»
«Hältst du deine Einwände gegen Ramses noch immer aufrecht?»
«Mehr denn je. Er ist jung, hitzköpfig und jähzornig. Er würde auf verheerende Weise herrschen. Sethos hat einen Fehler begangen, als er sich für ihn entschied.»
«Traust du mir zu, dass ich regieren kann?»
«Welchen Rang würdest du dem Tempel des Amun einräumen, falls du den Thron besteigen solltest?»
«Den höchsten selbstverständlich.»
«Sethos hat den Priestern anderer Götter den Vorzug gegeben, wie etwa denen von Heliopolis und Memphis. Mein einziger Ehrgeiz besteht darin, nicht erleben zu müssen, dass Karnak auf den zweiten Platz verwiesen wird.»
«Das liegt wohl in der Absicht von Ramses, nicht in meiner.»
«Was schlägst du vor, Chenar?»
«Zu handeln, und zwar schnell.»
«Mit anderen Worten, noch ehe Sethos’ Mumie beigesetzt wird.»
«Das ist in der Tat die letzte Gelegenheit, die wir haben.»
Chenar wusste nicht, dass der Oberpriester des Amun schwer krank war. Nach der Meinung seines Arztes hatte er nur noch wenige Monate oder gar nur noch wenige Wochen vor sich. Eine rasche Lösung erschien dem Würdenträger daher wie ein Wink der Götter. So würde er noch erleben können, dass Ramses die höchste Macht entrissen und Karnak gerettet wurde.
«Ich dulde jedoch keinerlei Gewaltanwendung», erklärte der Oberpriester. «Amun hat uns Frieden beschert, und der darf nicht gebrochen werden.»
«Sei ohne Sorge! Selbst wenn Ramses unfähig ist, über Ägypten zu herrschen, so ist er doch mein Bruder und ich empfinde große Zuneigung für ihn. Nicht einen Augenblick habe ich daran gedacht, ihm auch nur das geringste Leid anzutun.»
«Was hast du mit ihm vor?»
«Er ist ein junger Mann voller Tatkraft, ihn locken Abenteuer und Ferne. Von einer für ihn zu schweren Bürde befreit, wird er eine weite Reise antreten und mehrere Fremdländer besuchen. Sobald er zurückkehrt, werden seine Erfahrungen für uns sehr wertvoll sein.»
«Mir liegt auch daran, dass Königin Tuja deine wichtigste Ratgeberin bleibt.»
«Das versteht sich von selbst.»
«Bleib Amun treu, Chenar, dann wird dir das Schicksal hold sein.»
Der erstgeborene Sohn des Sethos verneigte sich ehrerbietig. Die Leichtgläubigkeit dieses alten Priesters kam ihm wunderbar zustatten.
Dolente, die ältere Schwester von Ramses, rieb ihre fettige Haut mit Salben ein. Weder schön noch hässlich, zu hochgewachsen und fortwährend müde, hasste sie Theben und den Süden. Eine Frau ihres Standes vermochte nur in Memphis zu leben, wo sie ihre Zeit damit zubrachte, sich mit den tausenderlei Klatschgeschichten zu beschäftigen, die das vergoldete Dasein der adligen Familien belebten.
In Theben langweilte sie sich. Gewiss, sie wurde von der besten Gesellschaft empfangen und eilte von einem Festmahl zum anderen, was sie ihrer Stellung als Tochter des großen Sethos verdankte. Doch die Mode hinkte hier der Mode von Memphis hinterher, und ihr Gemahl, der schmerbäuchige und einstmals fröhliche Sary, Ramses’ ehemaliger Erzieher, versank nach und nach in Schwermut. Er, der frühere Vorsteher des Kap, jener höchsten Schule, in der die künftigen Würdenträger des Königreichs ausgebildet wurden, war durch Ramses’ Schuld zum Müßiggang verurteilt.
Zugegeben, Sary war der Anstifter einer schändlichen Verschwörung gewesen, die darauf abgezielt hatte, Ramses zu beseitigen, und Dolente hatte gegen ihren jüngeren Bruder Partei für Chenar ergriffen. Ja, sie hatten den falschen Weg eingeschlagen, aber müsste Ramses ihnen nicht jetzt, da Sethos gestorben war, verzeihen?
Seine Grausamkeit forderte ihre Rache heraus. Eines Tages würde das Glück Ramses schon verlassen, und dann konnten Dolente und Sary daraus ihren Nutzen ziehen. Inzwischen gab Dolente sich der Körperpflege hin, und Sary las oder schlief.
Chenars Ankunft schreckte die beiden aus ihrer dumpfen Trägheit auf.
«Mein geliebter Bruder!» rief Dolente aus, während sie ihn umarmte. «Bringst du uns gute Nachrichten?»
«Schon möglich.»
«Spann uns nicht auf die Folter!», drängte Sary.
«Ich werde König.»
«Naht also die Stunde unserer Rache?»
«Kehrt mit mir nach Memphis zurück! Ich werde euch verbergen, bis Ramses verschwunden ist.»
Dolente wurde bleich.
«Verschwunden …»
«Keine Sorge, Schwesterchen! Er unternimmt eine Reise in ferne Länder.»
«Wirst du mir ein wichtiges Amt bei Hof zuweisen?», fragte Sary.
«Du hast dich zwar ungeschickt verhalten», antwortete Chenar, «doch deine Fähigkeiten bedeuten mir viel. Sei mir treu ergeben, dann steht dir eine glanzvolle Laufbahn bevor.»
«Darauf hast du mein Wort, Chenar.»
Iset, die Schöne, langweilte sich zu Tode in dem prunkvollen Palast von Theben, in dem sie mit viel Liebe ihren Sohn Kha aufzog, dessen Vater Ramses war. Die anmutige, heitere Iset hatte grüne Augen, eine zierliche und gerade Nase sowie einen edel geformten Mund. Sie war eine überaus hübsche Frau und die zweite Gemahlin des Regenten.
«Zweite Gemahlin …» Wie schwer es ihr fiel, sich mit diesem Titel und den Umständen abzufinden, die damit einhergingen! Dennoch gelang es ihr nicht, auf die sanfte und kluge Nefertari eifersüchtig zu sein, die schon durch ihre äußere Erscheinung für die Rolle der künftigen Königin wie geschaffen schien, obwohl sie keinerlei Ehrsucht an den Tag legte.
Iset wünschte sich, in ihrem Herzen möge Hass auflodern und sie dazu bewegen, mit allem Ingrimm gegen Ramses und Nefertari zu kämpfen, doch nach wie vor liebte sie diesen Mann, der ihr so viel Glück und Lust bereitet und dem sie einen Sohn geschenkt hatte.
Auf Macht und Würden legte Iset, die Schöne, keinen Wert, sie liebte Ramses um seiner selbst willen, liebte seine Kraft, seine Ausstrahlung. Dass sie fernab von ihm leben musste, war eine bisweilen unerträgliche Prüfung. Warum merkte er nicht, wie sehr sie darunter litt?
Bald würde Ramses König sein und ihr nur noch von Zeit zu Zeit kurze Besuche abstatten, bei denen sie ihm gewiss von neuem erlag, weil sie nicht imstande war, ihm zu widerstehen. Wenn sie sich wenigstens in einen anderen Mann verlieben könnte … Doch alle Bewerber, die zurückhaltenden wie die aufdringlichen, waren reizlose Wesen ohne Persönlichkeit.
Als der Vorsteher des Palastes ihr Chenars Besuch meldete, wunderte Iset sich: Was tat der ältere Sohn Sethos’ noch vor der Beisetzung in Theben?
Der Saal, in dem sie ihn empfing, war dank der schmalen, dicht unter der Decke angebrachten Fenster, durch die nur spärliche Lichtstreifen einfielen, gut belüftet.
«Du siehst großartig aus, Iset.»
«Was willst du?»
«Ich weiß, dass du mich nicht liebst, doch ich weiß auch, dass du klug bist und eine Gelegenheit zu schätzen vermagst, die dir Vorteile einbringt. In meinen Augen bist du zur großen königlichen Gemahlin geboren.»
«Ramses hat sich anders entschieden.»
«Und wenn er nichts mehr zu entscheiden hätte?»
«Was willst du damit sagen?»
«Mein Bruder verfügt immerhin über einen gesunden Menschenverstand. Er hat begriffen, dass es seine Fähigkeiten übersteigen würde, über Ägypten zu herrschen.»
«Heißt das …»
«Das heißt, dass ich zum Wohl unseres Landes diese schwierige Aufgabe übernehme und du die Königin der Beiden Länder wirst.»
«Ramses hat dem Thron bestimmt nicht entsagt, du lügst!»
«Aber nein, liebliche und schöne Freundin! Er bereitet sich auf eine lange Reise in Gesellschaft des Menelaos vor und hat mich aus Ehrfurcht vor dem unauslöschlichen Ruhm unseres Vaters gebeten, Sethos’ Nachfolge anzutreten. Sobald mein Bruder zurückkehrt, werden ihm alle Vorrechte zuteil, die seinem Stand gebühren, dessen kannst du dir ganz sicher sein.»
«Hat er … von mir gesprochen?»
«Ich fürchte, er hat dich ebenso vergessen wie seinen Sohn. Ihn zieht es nur mit aller Macht in die weite Ferne.»
«Nimmt er Nefertari mit?»
«Nein, er dürstet danach, andere Frauen zu entdecken. Ist mein Bruder in seinem Vergnügen nicht unersättlich?»
Iset, die Schöne, schien ratlos zu sein. Chenar hätte gern nach ihrer Hand gegriffen, doch das war zu früh. Falls er etwas überstürzte, würde sie ihn abweisen. Zunächst musste er die junge Frau in Sicherheit wiegen, danach konnte er sie mit Sanftmut und Überredungskunst erobern.
«Der kleine Kha wird die beste Erziehung genießen», versprach er, «und du brauchst dir um ihn keine Sorgen mehr zu machen. Sobald Sethos in seinem Grab liegt, kehren wir gemeinsam nach Memphis zurück.»
«Ist … ist Ramses dann schon fort?»
«Ja, sicher.»
«Wird er denn an der Beisetzung nicht teilnehmen?»
«Ich bedaure das, aber so ist es. Menelaos ist nicht gewillt, seine Abreise noch länger zu verschieben. Iset, vergiss Ramses und bereite dich darauf vor, Königin zu werden!»
Iset verbrachte eine schlaflose Nacht.
Chenar hatte bestimmt gelogen. Nie und nimmer würde Ramses Ägypten aus freien Stücken verlassen, um sich auf einer Reise in fremde Länder zu zerstreuen. Falls er bei Sethos’ Bestattung nicht anwesend war, dann geschah das gegen seinen Willen.
Gewiss, Ramses behandelte sie grausam, doch sie würde ihn nicht verraten, indem sie sich Chenar in die Arme warf. Iset verspürte keinerlei Verlangen danach, Königin zu werden, und sie verabscheute diesen mondgesichtigen Ehrgeizling mit seinem salbungsvollen Gerede, der sich seines Sieges so sicher wähnte.
Ihr war klar, was sie zu tun hatte. Sie musste Ramses vor der Verschwörung warnen, die sich gegen ihn zusammenbraute, und vor den bösen Absichten, die sein älterer Bruder im Schilde führte.
Auf einem Papyrus verfasste sie einen langen Brief, in dem sie ausführlich berichtete, was Chenar ihr gesagt hatte, dann ließ sie den Vorsteher der königlichen Boten rufen, deren Aufgabe es war, Schriftstücke nach Memphis zu befördern.
«Diese Nachricht ist wichtig und dringend.»
«Ich werde mich darum kümmern», versicherte der Beamte.
Wie in Memphis regte sich während der Trauerzeit auch im Hafen von Theben nur sehr wenig. An der Anlegestelle für die in Richtung Norden fahrenden Schnellboote dösten die Soldaten vor sich hin. Der Vorsteher der königlichen Boten wandte sich an einen der Schiffer.
«Mach die Leinen los, wir laufen aus.»
«Das geht nicht.»
«Warum nicht?»
«Weil der Oberpriester von Karnak es so angeordnet hat.»
«Davon habe ich nichts gehört.»
«Der Befehl ist soeben erteilt worden.»
«Mach trotzdem die Leinen los, denn ich habe eine wichtige Nachricht für den königlichen Palast von Memphis!»
Ein Mann erschien an Deck des Bootes, das der Beamte gerade anheuern wollte.
«Befehl ist Befehl», erklärte er, «und du musst dich daran halten.»
«Wer bist du, dass du in diesem Ton mit mir sprichst?»
«Chenar, der ältere Sohn des Pharaos.»
Der Vorsteher der königlichen Boten verneigte sich.
«Verzeih mir meine Dreistigkeit!»
«Ich bin geneigt, sie zu vergessen, wenn du mir die Nachricht übergibst, die Iset, die Schöne, dir anvertraut hat.»
«Aber …»
«Sie ist doch für den königlichen Palast in Memphis bestimmt?»
«Ja, für deinen Bruder Ramses.»
«Ich reise gleich ab und fahre direkt zu ihm. Oder befürchtest du etwa, ich sei kein geeigneter Bote?»
Der Beamte überreichte Chenar den Papyrus.
Sobald das Boot Fahrt aufgenommen und sich entfernt hatte, zerriss Chenar Isets Brief und ließ die Schnipsel im Wind davonflattern.
Es war eine warme, von Düften getränkte Sommernacht. Kaum zu glauben, dass Sethos sein Volk verlassen hatte und ganz Ägypten den Tod eines Königs beklagte, der den Pharaonen des Alten Reichs ebenbürtig war. Für gewöhnlich herrschte abends fröhliches Treiben, auf den Dorfplätzen und in den Straßen der Städte wurde getanzt und gesungen, und man erzählte sich Geschichten, vor allem Fabeln, in denen Tiere die Stelle der Menschen einnahmen und sich zumeist weiser als sie verhielten. Doch in dieser Zeit der Trauer, während der königliche Leichnam einbalsamiert wurde, war jedes Lachen und Scherzen verstummt.
Wächter, der goldgelbe Hund von Ramses, schmiegte sich im Schlaf an die Flanke Schlächters, des gewaltigen Löwen, der den Garten des Regenten bewachte. Der Hund und der Löwe hatten sich, kaum dass die Gärtner mit dem Bewässern der Pflanzen fertig waren, im kühlen Gras niedergelassen.
Unter den Gärtnern befand sich ein Grieche, ein Soldat des Menelaos, der sich bei ihnen eingeschlichen hatte. Ehe er sich nach getaner Arbeit zurückzog, hatte er in einem Lilienbeet vergiftete Fleischbällchen ausgelegt. Die gefräßigen Tiere würden ihnen bestimmt nicht widerstehen können. Selbst wenn es mehrere Stunden dauern sollte, bis die Raubkatze verendete, so vermochte doch kein Tierarzt sie zu retten.
Wächter witterte als Erster einen ungewohnten Geruch.
Er gähnte, streckte sich, hielt seine Schnauze schnuppernd in die Nachtluft und trottete zu den Lilien. Sein Spürsinn führte ihn zu den Fleischbällchen, die er lange beschnüffelte. Darauf kehrte er zum Löwen zurück. Wächter war nicht selbstsüchtig, er wollte sich nicht allein an einem so schönen Fund gütlich tun.