Christian Jacq
Ramses.
Band 4: Die Herrin von Abu Simbel
Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter
Rowohlt Digitalbuch
Christian Jacq, geboren 1947 in Paris, promovierte in Ägyptologie an der Sorbonne. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze und wurde von der Académie française ausgezeichnet. Im Zuge seiner Forschungen gründete er das Institut Ramsès, das sich insbesondere der Erhaltung gefährdeter Baudenkmäler der Antike widmet. Neben Beiträgen zur Fachliteratur schrieb er mehrere erfolgreiche Romane. Mit «Ramses» gelang ihm auf Anhieb der Sprung auf die Bestsellerliste.
Trotz der siegreichen «Schlacht von Kadesch» war es Ramses nicht gelungen, die kriegerischen Hethiter dauerhaft zu unterwerfen. Erneut steht der Pharao mit seinen Truppen in Feindesland. Am Hof sind überdies seine Gegner hartnäckig am Werk. Vor allem sein machthungriger Bruder Chenar, seine doppelzüngige Schwester Dolente und der libysche Magier Ofir. In Nubien entgeht das Königspaar nur mit knapper Not tödlichen Fallen. Der Pharao will seiner unzerstörbaren Liebe zu Nefertari ein Denkmal setzen – zwei Felsentempel in Abu Simbel. Noch weiß Ramses nicht, welch furchtbarer Schicksalsschlag ihn dort erwartet.
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel «Ramsès. La Dame d’Abou Simbel» bei Éditions Robert Laffont, S.A., Paris.
Redaktion Heiner Höfener
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013
Copyright © 1998 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Ramsès. La Dame d’Abou Simbel» Copyright © 1996 by Éditions Robert Laffont, S.A., Paris
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ISBN Buchausgabe 978-3-499-22474-4 (10. Auflage 2011)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-21011-0
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-21011-0
Schlächter, der Löwe des Pharaos, brüllte so laut, dass sowohl die Ägypter als auch die Aufständischen vor Schreck erstarrten. Die riesige Raubkatze, für ihre guten und treuen Dienste in der Schlacht bei Kadesch von Ramses mit einem goldenen Halsband ausgezeichnet, war so schwer wie etliche Scheffel Getreide und maß an die acht Ellen. Ihre dichte, flammende Mähne umwallte nicht nur den oberen Teil des Kopfes, sondern auch die Kinnbacken, den Hals sowie die Schultern und die Brust. Das übrige Fell, glatt und kurz, schimmerte in hellem, leuchtendem Braun.
Ihr Unmut war im Umkreis von mehreren Meilen vernehmbar, und jeder begriff, dass Ramses, der seit dem Sieg bei Kadesch «Ramses der Große» genannt wurde, ebenso zornig war.
Doch trug der Pharao diesen Beinamen wirklich zu Recht? Schließlich war es ihm trotz seines Ansehens und seiner Tapferkeit nicht gelungen, den barbarischen Hethitern seine Gesetze aufzuzwingen.
Das ägyptische Heer hatte sich bei dem Kräftemessen auf dem Schlachtfeld als recht enttäuschend erwiesen. Die Generäle, entweder feig oder unfähig, hatten Ramses im Stich gelassen und ihn ganz allein einer unübersehbaren Zahl von Feinden ausgesetzt, die sich ihres Sieges bereits sicher wähnten. Aber der im Licht verborgene Gott Amun hatte das Gebet seines Sohnes erhört und dem Arm des Pharaos übernatürliche Kräfte verliehen.
Nach fünf stürmischen Jahren der Herrschaft war Ramses der Meinung gewesen, sein Sieg bei Kadesch werde die Hethiter lange daran hindern, wieder aufzubegehren, und in den Ostländern werde eine verhältnismäßig friedliche Zeit anbrechen.
Doch darin hatte er sich in hohem Maße getäuscht, er, der mächtige Stier, von der Maat geliebt, der Ägypten beschützt, der Sohn des Lichts. Verdiente er angesichts des erneuten Aufruhrs in seinen angestammten Schutzgebieten Kanaan und Südsyrien diese Krönungsnamen noch? Nicht genug damit, dass die Hethiter den Kampf nicht aufgaben, hatten sie sich auch noch für einen Angriff auf breiter Front mit den Männern des Sandes, den Beduinen, verbündet, mit diesen plündernden Mordgesellen, die es von jeher nach den reichen Landstrichen des Deltas gelüstete.
Der Befehlshaber des nach dem Gott Re benannten Regiments näherte sich dem König.
«Majestät … die Lage ist bedenklicher als erwartet. Das ist kein gewöhnlicher Aufstand. Unseren Spähern zufolge ist ganz Kanaan im Begriff, sich gegen uns zu erheben. Wenn wir dieses erste Hindernis überwunden haben, wird es ein zweites geben, dann ein drittes, dann …»
«Und du verlierst die Hoffnung, dass wir ans Ziel gelangen?»
«Wir laufen Gefahr, große Verluste zu erleiden, Majestät, und die Männer wollen sich nicht für nichts töten lassen.»
«Ist das Überleben Ägyptens etwa kein ausreichender Grund?»
«Ich wollte damit nicht sagen …»
«Dennoch hast du genau das gedacht, Heerführer! Die Lehren, die wir aus Kadesch gezogen haben, waren also vergebens. Bin ich dazu verdammt, nur Feiglinge um mich zu haben, die ihr Leben verlieren, weil sie danach trachten, es zu retten?»
«Mein Gehorsam ist ebenso unerschütterlich wie der Gehorsam der anderen Befehlshaber, Majestät, aber wir wollten dich nur bitten, auf der Hut zu sein.»
«Haben unsere Kundschafter etwas von Acha gehört?»
«Zu meinem Bedauern, Majestät, nein.»
Acha, Ramses’ Freund aus Kindertagen und sein Oberster Gesandter, war in einen Hinterhalt geraten, als er dem Fürsten von Amurru im Land der Zedern einen Besuch abstatten wollte. Wurde er gefoltert, lebte er überhaupt noch, sahen seine Kerkermeister in ihm einen Tauschwert?
Sobald die Kunde von Achas Gefangennahme zu Ramses gedrungen war, hatte er seine Truppen wieder zu den Waffen gerufen, obwohl ihnen das Grauen von Kadesch noch in den Knochen steckte. Um Acha zu retten, musste er Regionen durchqueren, die ihm inzwischen feindlich gesinnt waren, denn einmal mehr hatten die dort herrschenden Fürsten ihren Ägypten geleisteten Treueschwur gebrochen und sich für eine Handvoll Edelmetall und trügerische Versprechungen an die Hethiter verkauft. Aber wer träumte nicht davon, in das Land der Pharaonen einzufallen und sich seiner als unerschöpflich geltenden Reichtümer zu erfreuen?
Dabei hatte Ramses der Große so viele Bauwerke begonnen, die noch der Vollendung harrten: sein Tempel der Millionen Jahre in Theben, das Ramesseum, die Tempel von Karnak, Luxor und Abydos sowie sein Haus für die Ewigkeit im Tal der Könige. Obendrein trug er sich mit der Absicht, zwei neue Tempel in Abu Simbel errichten zu lassen, einen Traum aus Stein, den er seiner geliebten Gemahlin Nefertari zum Geschenk machen wollte … Und nun stand er wieder hier, an der Schwelle zum Lande Kanaan, auf der Kuppe eines Hügels, und beobachtete eine feindliche Festung.
«Majestät, darf ich mich erdreisten …»
«Nur Mut, Heerführer!»
«Die Stärke, die du bekundest, ist sehr eindrucksvoll … Sicher hat König Muwatalli die Botschaft verstanden und wird Acha freilassen …»
Der hethitische König Muwatalli, ein kriegslüsterner und listenreicher Mann, wusste wohl, dass er seine Tyrannei nur mit Gewalt aufrechterhalten konnte. Dabei war er an der Spitze eines breit angelegten Bündnisses in seinem Bemühen gescheitert, Ägypten zu erobern, doch nun schob er Beduinen und Aufrührer vor, um erneut zum Angriff zu blasen.
Nur Muwatallis oder Ramses’ Tod konnte diesem Kampf ein Ende bereiten, dessen Ausgang entscheidenden Einfluss auf die Zukunft zahlreicher Völker haben sollte. Falls Ägypten unterlag, würden die hethitischen Machthaber mit ihren Streitkräften dem Land am Nil eine grausame Zwangsherrschaft auferlegen und eine uralte Kultur zerstören, die sich seit König Menes, dem ersten der Pharaonen, entwickelt hatte.
Einen Augenblick lang dachte Ramses auch an Moses. Wo mochte sich dieser weitere Freund aus Kindertagen verbergen, der aus Ägypten geflohen war, nachdem er eine Bluttat begangen hatte? Die Nachforschungen nach ihm waren ergebnislos verlaufen. Manche behaupteten, der Wüstensand habe den Hebräer verschluckt, der so tatkräftig am Bau der neuen, im Delta errichteten Hauptstadt Pi-Ramses mitgewirkt hatte. War Moses zu den Aufständischen übergelaufen? Nein, er würde nie Ramses’ Feind werden.
«Majestät … Majestät, hörst du mir zu?»
Während der Pharao in das feiste und von Angst verzerrte Gesicht des Generals blickte, der nur sein eigenes Wohlergehen im Sinn hatte, sah er für einen Moment die Züge jenes Mannes vor sich, der ihn am meisten hasste: Chenar, sein älterer Bruder. Der Schurke hatte sich in der Hoffnung, Ägyptens Thron zu erringen, mit den Hethitern verbündet. Und als er aus dem großen Gefängnis von Memphis zur Zwangsarbeit in die Oasen gebracht werden sollte, war er während eines Sandsturms verschwunden. Gleichwohl glaubte Ramses, dass er noch am Leben sei und nach wie vor die Absicht hege, ihn zu stürzen.
«Bereite die Truppen auf ein Gefecht vor, Heerführer!»
Kleinmütig schlich der hohe Offizier von dannen.
Wie gern hätte der König mit Nefertari, seinem Sohn und seiner kleinen Tochter die friedliche Stille eines Gartens ausgekostet, wie hätte er dieses bescheidene Glück genossen, fernab vom Klirren der Waffen! Doch er musste sein Land vor dem Einfall nach Blut dürstender Horden bewahren, die nicht zaudern würden, die Tempel einzureißen und die Gesetze der Maat mit Füßen zu treten. Es ging um mehr als nur um ihn. Er hatte nicht das Recht, an sein Wohlbehagen, an seine Familie zu denken, sondern musste Unheil abwenden, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte.
Ramses betrachtete die Festung, die ihm den Zugang zum Landesinneren von Kanaan verwehrte, zu seinem angestammten Schutzgebiet. Zwölf Ellen hohe Mauern mit doppelter Neigung umschlossen diesen wichtigen Stützpunkt. Auf den Zinnen standen Bogenschützen. Die Gräben waren mit scharfkantigen Tonscherben aufgefüllt worden, um den Soldaten, die die Sturmleitern aufstellen mussten, die Füße zu zerschneiden.
Ein vom Meer hereinwehender Wind brachte den Ägyptern ein wenig Kühlung. Sie standen in einer Senke zwischen zwei in praller Sonne liegenden Hügeln. Während ihres Gewaltmarsches bis in diese Region hatten sie sich in behelfsmäßig errichteten Lagern nur kurze Ruhepausen gegönnt. Allein die reichlich entlohnten Söldner fanden sich damit ab, kämpfen zu müssen, indes die erst vor kurzem eingezogenen jungen Krieger schon beim bloßen Gedanken, ihre Heimat auf unbestimmte Zeit zu verlassen, in Trübsal versunken waren und nun befürchteten, in grauenvollen Schlachten ihr Leben zu verlieren. Jeder hatte gehofft, der Pharao werde sich damit zufriedengeben, die Grenzbefestigungen im Nordosten zu verstärken, anstatt sich in ein Wagnis zu stürzen, das in einem furchtbaren Blutbad zu enden drohte.
Es war noch nicht lange her, dass der Statthalter von Gaza, der Hauptstadt Kanaans, den ägyptischen Heerführern ein glanzvolles Festmahl bereitet und gelobt hatte, sich nie wieder mit den Hethitern zu verbünden, mit diesen ob ihrer Grausamkeit berüchtigten Barbaren aus dem Norden. Seine allzu augenfällige Heuchelei hatte Ramses’ Abscheu erregt. Heute überraschte sein Verrat den jungen Herrscher, der erst siebenundzwanzig Jahre zählte, nicht mehr, denn er durchschaute allmählich das verborgene Wesen der Menschen.
Voller Ungeduld brüllte der Löwe von neuem.
Schlächter hatte sich sehr verändert seit jenem Tag, da Ramses das damals noch kleine, todkranke Tier in der nubischen Steppe gefunden hatte. Es war von einer Schlange gebissen worden und wäre unweigerlich verendet. Doch der Löwe und der junge Mann hatten sogleich eine tiefe, geheimnisvolle Zuneigung zueinander gefasst, und zum Glück hatte der heilkundige Setaou – auch er ein Freund aus Kindertagen und Gefährte während der gemeinsamen Jahre in der Schreiberschule – ihm die richtigen Arzneien zu verabreichen gewusst. Dank seiner unglaublichen Widerstandskraft war das Löwenjunge genesen und zu furchterregender Größe herangewachsen. Der König konnte sich keinen besseren Leibwächter vorstellen.
Liebevoll kraulte Ramses die Mähne der Raubkatze, aber auch das vermochte Schlächter nicht zu besänftigen.
In einem Gewand aus Antilopenleder, dessen unzählige Taschen er mit allerlei Heilmitteln in kleinen Kästchen und Fläschchen gefüllt hatte, kam Setaou den Hügel herauf. Er war stämmig, von mittlerem Wuchs, hatte einen kantigen Schädel und schwarzes Haar, schabte sich nur selten seinen Bart ab und hegte eine Vorliebe für Schlangen und Skorpione. Aus ihrem Gift bereitete er wirksame Arzneien zu. Gemeinsam mit seiner Gemahlin Lotos, einer bezaubernden Nubierin, deren bloßer Anblick die Truppen erfreute, setzte er unermüdlich seine Forschungen fort.
Ramses hatte das Paar mit der Aufsicht über die Pflege kranker oder verwundeter Soldaten betraut. Setaou und Lotos nahmen an allen Feldzügen des Königs teil, nicht etwa aus Begeisterung für den Krieg, sondern weil sie dabei neue Kriechtiere einfangen konnten. Und Setaou vertrat die Ansicht, dass niemand besser als er geeignet sei, seinem Freund Ramses zu Hilfe zu eilen, falls ihm etwas zustoßen sollte.
«Deine Männer sind nicht gerade bester Stimmung», bemerkte er.
«Die Generäle möchten, dass wir den Rückzug antreten», gab Ramses zu.
«Was erwartest du denn, wenn du bedenkst, wie sich die Soldaten bei Kadesch verhalten haben? Im Davonlaufen kann es keiner so schnell mit ihnen aufnehmen. Du wirst deine Entscheidung, wie üblich, allein treffen müssen.»
«Nein, Setaou, nicht allein. Ich hole mir Rat bei der Sonne, den Winden, der Seele meines Löwen, dem Geist, der diesem Boden innewohnt … Sie lügen nicht. Ich muss nur ihre Botschaft richtig deuten.»
«Es gibt keinen besseren Kriegsrat.»
«Hast du mit deinen Schlangen geredet?»
«Auch sie sind Boten des Verborgenen. Ja, ich habe sie befragt, und sie haben mir ohne Umschweife geantwortet: Kehre nicht um! Weshalb ist Schlächter so unruhig?»
«Wegen des Eichengehölzes da drüben, links vor der Festung.»
Setaou schaute in diese Richtung und kaute dabei an einem Schilfrohr.
«Das verheißt nichts Gutes, du hast recht. Eine Falle, wie bei Kadesch?»
«Die hatte doch ihren Zweck sehr gut erfüllt. Deshalb könnten die Hethiter eine neue ersonnen haben, von der sie hoffen, dass sie ebenso wirksam ist. Sobald wir angreifen, werden wir dort aufgehalten, während die Bogenschützen auf den Zinnen mühelos unsere Reihen lichten können.»
Menna, der Knappe des Königs, verneigte sich vor seinem Herrn.
«Dein Wagen steht bereit, Majestät.»
Lange tätschelte der Herrscher seine zwei Pferde, die die Namen «Sieg in Theben» und «Göttin Mut ist zufrieden» trugen. Außer dem Löwen waren sie die Einzigen gewesen, die ihn bei Kadesch nicht im Stich gelassen hatten, als die Schlacht verloren schien.
Dann ergriff Ramses die Zügel, vor den ungläubigen Augen seines Knappen, der Heerführer und der in hohem Ansehen stehenden Streitwagentruppe.
«Majestät», rief Menna besorgt, «du wirst doch nicht …»
«Machen wir einen Bogen um die Festung», befahl der König, «und stürmen wir das Eichengehölz!»
«Majestät … du hast deinen Harnisch vergessen! Majestät!»
Einen ledernen, mit Metallschuppen besetzten Brustpanzer schwenkend, rannte Menna vergebens hinter dem Streitwagen des Königs her, der allein dem Feind entgegenpreschte.
Während Ramses der Große auf dem dahinjagenden Wagen stand, glich er eher einem Gott als einem Menschen: von hohem Wuchs, mit breiter, entblößter Stirn, darüber eine blaue, helmartige Krone, die sich genau der Form seines Kopfes anpasste, auffallend geschwungene, buschige Augenbrauen über dichten Wimpern, der Blick so durchdringend wie der eines Falken, die Nase lang, schmal und leicht gebogen, sanft gerundete Ohren, volle Lippen und ein kräftiges Kinn – die pure Verkörperung der Macht.
Als er sich dem Eichengehölz näherte, verließen die Beduinen ihr Versteck. Die einen spannten ihren Bogen, die anderen schwangen ihren Speer.
Wie bei Kadesch war der König schneller als der Sturmwind und flinker als ein fliehender Schakal. Gleich einem Stier, der seine Feinde niedertrampelt oder auf die spitzen Hörner nimmt, überrollte er die ersten Angreifer und schoss Pfeil um Pfeil ab, die den Aufständischen die Brust durchbohrten.
Dem Anführer der Männer des Sandes war es gelungen, dem erbitterten Ansturm des Herrschers zu entgehen. Mit einem Knie auf dem Boden schickte er sich an, einen langen Dolch zu schleudern, der Ramses von hinten treffen sollte.
Da setzte Schlächter zu einem Sprung an, und den Aufrührern gerann vor Entsetzen das Blut in den Adern. Trotz seines Gewichts und seiner Größe schien der Löwe zu fliegen. Mit ausgestreckten Krallen stürzte er sich auf den Mann, schlug seine Zähne in dessen Kopf und schloss die Kiefer.
Der Anblick war so grauenvoll, dass viele Krieger ihre Waffen fallen ließen und die Flucht ergriffen, um der Raubkatze zu entrinnen, die bereits zwei weitere, ihrem Anführer vergebens zu Hilfe geeilte Beduinen zerfleischte.
Inzwischen hatten die ägyptischen Streitwagen, denen Hunderte von Fußsoldaten folgten, Ramses eingeholt, und es bereitete ihnen keinerlei Mühe, die letzten Widerstandsnester auszuheben.
Bald danach leckte Schlächter sich beruhigt die blutverschmierten Pranken und betrachtete mit nunmehr wieder sanften Augen seinen Herrn. Die Dankbarkeit, die er in Ramses’ Blick wahrnahm, entlockte ihm ein zufriedenes Knurren. Dann legte sich der Löwe neben den Streitwagen des Königs, blieb aber wachsam.
«Das ist ein großer Sieg, Majestät», erklärte der Befehlshaber des Regiments Re.
«Wir sind soeben furchtbarem Unheil entgangen. Weshalb war kein Späher imstande, uns zu melden, dass sich in diesem Gehölz Feinde zusammengerottet hatten?»
«Wir … wir haben diesem Ort keine Beachtung geschenkt, er erschien uns unwichtig.»
«Muss ein Löwe meine Heerführer ihr Handwerk lehren?»
«Majestät wünscht sicher, den Kriegsrat einzuberufen, um den Sturm auf die Festung vorzubereiten.»
«Nein, wir greifen unverzüglich an.»
Am Tonfall des Pharaos erkannte Schlächter, dass die Rast zu Ende war. Ramses streichelte die Kruppen seiner zwei Pferde, die einander ansahen, als wollten sie sich gegenseitig Mut machen.
«Majestät, Majestät … bitte!»
Atemlos vor Aufregung reichte Menna dem König das mit Metallplättchen verstärkte Lederhemd. Jetzt war Ramses bereit, diesen Brustpanzer anzulegen, zumal er der Pracht seines weißen Gewandes mit den weiten Ärmeln nicht allzu sehr schadete. Die beiden Armreife aus Gold und Lapislazuli, die der Herrscher an den Handgelenken trug, waren mit zwei Wildenten verziert. Sie symbolisierten das Königspaar und schienen sich gleich Zugvögeln in die geheimnisvollen Gefilde des Himmels zu erheben. Würde Ramses Nefertari noch einmal wiedersehen, ehe er seine große Reise ins Jenseits antreten musste?
«Sieg in Theben» und «Göttin Mut ist zufrieden» scharrten vor Ungeduld mit den Vorderhufen. Auf ihren Köpfen wippten rote Federn mit blauen Spitzen, und der Harnisch, der ihre Rücken schützte, war ebenfalls rot und blau. Sie konnten es kaum erwarten, auf die Festung loszustürmen.
Die Fußtruppen stimmten ein Lied an, das nach dem Sieg bei Kadesch wie von selbst entstanden war und dessen Worte auch den Furchtsamen Zuversicht verliehen: «Ramses’ Arm ist kraftvoll, sein Herz tapfer, er ist ein Bogenschütze ohnegleichen, ein Schutzwall für seine Soldaten, eine Flamme, die seine Feinde verschlingt.»
Mit zitternden Händen füllte Menna die zwei Köcher des Königs mit neuen Pfeilen.
«Hast du sie überprüft?»
«Ja, Majestät, sie sind leicht, aber robust. Du wirst allein imstande sein, die feindlichen Bogenschützen zu überwältigen.»
«Weißt du nicht, dass Schmeichelei verwerflich ist?»
«Doch, aber ich habe so große Angst! Ohne dich hätten uns diese Barbaren umgebracht.»
«Bereite kräftiges Futter für meine Pferde vor. Wenn wir zurückkommen, werden sie hungrig sein.»
Als sich die Streitwagen der Festung näherten, schossen die kanaanäischen Bogenschützen und die mit ihnen verbündeten Männer des Sandes reihenweise ihre Pfeile ab, die vor und zwischen den ägyptischen Gespannen niederprasselten. Die Pferde wieherten, manche bäumten sich auf, doch die Ruhe des Königs verhinderte, dass seine Elitetruppe in Panik ausbrach.
«Spannt die großen Bogen», befahl er, «und wartet auf mein Zeichen!»
Die Waffenschmiede von Pi-Ramses hatte Bogen aus Akazienholz mit Spannsträngen aus Ochsensehnen verfertigt. Ihre sorgfältig berechnete Krümmung erlaubte es, die Flugbahn eines Pfeils sogar über eine Entfernung von mehr als vierhundert Ellen genau zu planen. Dadurch boten auch die Zinnen, hinter denen sich die in der Festung Eingeschlossenen verschanzten, keinerlei Schutz mehr.
«Alle auf einmal!», rief Ramses mit so dröhnender Stimme, dass sie seine Männer anspornte.
Die meisten Pfeile erreichten ihr Ziel. Am Kopf getroffen, mit durchbohrtem Auge oder durchlöcherter Kehle, sanken unzählige feindliche Bogenschützen tot oder schwer verwundet zu Boden.
Diejenigen, die ihren Platz einnahmen, erlitten das gleiche Schicksal.
In der Gewissheit, dass seine Fußsoldaten nun nicht mehr den Pfeilen der Aufrührer zum Opfer fallen würden, erteilte der König ihnen den Befehl, auf das hölzerne Portal der Festung loszugehen und es mit ihren Äxten zu zertrümmern.
Die ägyptischen Streitwagen fuhren näher heran, sodass die Bogenschützen des Pharaos noch genauer zielen und jede Abwehr vereiteln konnten. Auch die scharfkantigen Scherben in den Gräben blieben wirkungslos, denn entgegen seinen Gewohnheiten ließ Ramses keine Leitern aufstellen, sondern wollte durch das große Tor in das Bollwerk eindringen.
Die Kanaanäer stemmten sich zwar in Scharen gegen das Portal, schafften es aber nicht, dem Druck der Ägypter standzuhalten. Es kam zu einem furchterregenden Kampfgetümmel. Die Fußsoldaten des Pharaos stiegen über einen Berg von Leichen und strömten gleich einer zerstörerischen Flutwelle in das Innere der Festung.
Nach und nach wichen die Belagerten zurück. Dabei verfingen sich manche noch in ihren weiten, blutbefleckten Gewändern und fielen übereinander.
Ägyptische Schwerter zerschmetterten Helme, brachen Knochen, gruben sich in Lenden und Schultern, durchschnitten Sehnen, schlitzten Bäuche auf.
Dann senkte sich plötzlich beklemmende Stille über die Garnison. Frauen flehten die Sieger an, die Überlebenden zu schonen, die sich auf einer Seite des großen Innenhofes aneinanderdrängten.
Ramses’ Streitwagen fuhr in die zurückeroberte Zitadelle ein.
«Wer befiehlt hier?», fragte der König.
Aus dem kläglichen Häufchen der Besiegten trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren vor, dem der linke Arm fehlte.
«Ich bin der älteste Soldat … Alle meine Vorgesetzten sind tot. Ich bitte den Herrn der Beiden Länder untertänig um Gnade.»
«Weshalb sollte ich Milde gegen jene walten lassen, die ihr Wort nicht gehalten haben?»
«Dann möge der Pharao uns wenigstens einen schnellen Tod gewähren.»
«Vernimm meine Entscheidungen, Kanaanäer: In deiner Provinz werden alle Bäume gefällt und ihr Holz nach Ägypten gebracht. Die Gefangenen – Männer, Frauen und Kinder – werden ins Delta geführt und dort zu Arbeiten herangezogen, die für das Wohl des Staates von Nutzen sind. Alle Viehherden und Pferde gehen in unseren Besitz über. Die dem Tode entronnenen Soldaten werden in meine Armee eingezogen und fortan unter meinen Befehlen kämpfen.»
Glücklich, dass sie mit dem Leben davongekommen waren, verneigten sich die Besiegten tief.
Setaou war nicht unzufrieden. Es gab nur wenige wirklich schwer Verwundete, und der Heilkundige hatte genügend rohes Fleisch und Honig zur Verfügung, um Verbände anzulegen, die das Blut stillen würden. Mit flinken, sicheren Fingern schob Lotos die klaffenden Ränder der Wunden zusammen und hielt sie durch Haftbinden aneinander, die sie über Kreuz anbrachte. Dabei linderte das Lächeln der schönen Nubierin die Schmerzen der Versehrten. Auf Bahren wurden sie zum Siechenzelt des Feldlagers getragen, wo man sie mit Salben und Ölen einrieb und ihnen einen Heiltrank verabreichte, ehe sie nach Ägypten zurückkehrten.
Ramses dankte den Soldaten, die, um ihr Land zu verteidigen, Schaden an ihrem Leib auf sich genommen hatten. Dann rief er die hohen Offiziere zusammen und tat ihnen seine Absicht kund, den Feldzug gen Norden fortzusetzen, wobei er nach und nach wieder alle Festungen Kanaans einzunehmen gedachte, die mit Hilfe der Männer des Sandes unter den Einfluss der Hethiter geraten waren.
Die Begeisterung des Pharaos übertrug sich auf seine Heerführer. Die Angst wich aus ihren Herzen, und jeder freute sich über die Nacht und den Tag, die er ihnen als Ruhepause zugestand. Ramses aß mit Setaou und Lotos zu Abend.
«Wie weit willst du vordringen?», fragte der Heilkundige.
«Wenigstens bis in den Norden Syriens.»
«Bis … bis Kadesch?»
«Das werden wir noch sehen.»
«Falls der Feldzug zu lange dauert», bemerkte Lotos, «dann reichen unsere Arzneien nicht aus.»
«Die Hethiter haben sehr schnell einen neuen Vorstoß gewagt, deshalb müssen wir noch schneller sein.»
«Wird dieser Krieg jemals enden?»
«Ja, Lotos, an dem Tag, an dem der Feind seine endgültige Niederlage erleidet.»
«Mir ist es ein Gräuel, über Staatsgeschäfte zu reden», wandte Setaou mürrisch ein. «Komm, Liebste, lass uns dem Feuer der Hathor huldigen, ehe wir uns auf die Suche nach Schlangen begeben. Ich habe das Gefühl, dass wir in dieser Nacht einige einsammeln werden.»
In der kleinen Kapelle neben seinem Zelt inmitten des Lagers hielt der Pharao die Morgenriten ab. Verglichen mit den Tempeln von Pi-Ramses war sie ein sehr bescheidenes Heiligtum, doch das tat dem Eifer, den der Sohn des Lichts dabei an den Tag legte, keinen Abbruch. Nie würde sein Vater Amun den Menschen sein wahres Wesen enthüllen, nie würde er sich in irgendeine Form pressen lassen, dennoch spürten alle die Gegenwart des Verborgenen.
Als der Herrscher die Kapelle verließ, gewahrte er einen Soldaten, der mit einem Strick eine Säbelantilope festhielt und diesen Spießbock nur unter Mühen zu bändigen vermochte.
Ein sonderbarer Soldat, fürwahr, in seinem bunten Gewand, mit langen Haaren, einem kurzen und spitzen Kinnbart und einem Blick, der dem des Pharaos auswich. Und weshalb hatte er dieses ungezähmte Tier ins Feldlager geführt, so nahe an das königliche Zelt?
Ramses blieb keine Muße, sich weitere Fragen zu stellen, denn in diesem Augenblick ließ der Beduine den Spießbock los, der mit gesenktem Kopf, die spitzen Hörner gegen den Bauch des unbewaffneten Herrschers gerichtet, auf ihn zurannte.
Schlächter schnellte mit einem Satz über die linke Flanke der Antilope und hieb ihr seine Krallen in den Nacken. Sie brach unter der Last des Löwen zusammen und war auf der Stelle tot.
Fassungslos zog der Mann des Sandes einen Dolch aus seinem Gewand, doch er kam nicht mehr dazu, ihn zu benutzen. Er fühlte einen heftigen Schmerz im Rücken. Gleich darauf wurde sein Blick von einem eisigen Nebel getrübt, der ihn zwang, die Waffe fallen zu lassen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und er sackte sterbend zu Boden, mit einem Speer zwischen den Schulterblättern.
Ruhig und lächelnd stand Lotos hinter ihm. Die hübsche Nubierin hatte überraschende Geschicklichkeit bewiesen und ließ nicht einmal das geringste Anzeichen von Erregung erkennen.
«Danke, Lotos.»
Da trat Setaou aus seinem Zelt. Auch unzählige Soldaten liefen herbei, sahen den Löwen seine Beute verschlingen und entdeckten den Leichnam des Beduinen. Tief erschüttert warf sich der Knappe Menna zu Ramses’ Füßen.
«Das tut mir leid, Majestät! Ich verspreche dir, ich werde die Wachposten ausfindig machen, die diesem Verbrecher Zutritt zum Lager gewährt haben, und sie hart bestrafen.»
«Rufe die Trompetenträger zusammen, und weise sie an, zum Aufbruch zu blasen.»
Zunehmend verärgert, vor allem über sich selbst, brachte Acha seine Tage damit zu, durch das Fenster im Obergeschoss des Palastes, in dem er gefangen gehalten wurde, auf das Meer hinauszublicken. Wie hatte er, der Vorsteher der geheimen Kundschafterdienste Ägyptens und der Oberste Gesandte Ramses’ des Großen, nur in die Falle gehen können, die ihm der Fürst von Amurru gestellt hatte?
Als einziger Sohn einer wohlhabenden adligen Familie war Acha gemeinsam mit Ramses an der höchsten Schule von Memphis ausgebildet worden, hatte dort glanzvolle Ergebnisse erzielt und sich zu einem eleganten jungen Mann mit erlesenem Geschmack entwickelt, von dem die Frauen angetan waren. Er hatte ein schmales Gesicht, feingliedrige Hände, vor Scharfsinn sprühende Augen, eine einschmeichelnde Stimme und liebte es, neue Kleidermoden einzuführen. Doch hinter diesem unbestechlichen Verfechter der Eleganz verbarg sich ein tatendurstiger Mann und ein Gesandter ersten Ranges, der mehrere fremde Sprachen beherrschte, ein überragender Kenner der ägyptischen Schutzgebiete und des hethitischen Königreichs.
Nach dem Sieg bei Kadesch, der den Gelüsten der Hethiter nach Ausdehnung ihres Machtbereichs endgültig hätte Einhalt gebieten müssen, war es Acha ratsam erschienen, sich so schnell wie möglich in die Provinz Amurru zu begeben, die sich jenseits des Berges Hermon, im Westen der Handelsstadt Damaskus, am Mittelländischen Meer entlangzog. Der Gesandte hatte gehofft, diese Provinz zu einem wehrhaften Stützpunkt zu machen, von dem aus aufs beste unterwiesene Einsatztrupps jeden Versuch der Hethiter, nach Kanaan und in die Grenzgebiete des Deltas vorzurücken, im Keim ersticken könnten.
Als der Oberste Gesandte Ägyptens an Bord eines mit Geschenken für den Fürsten von Amurru, den bestechlichen Benteschina, beladenen Schiffes im Hafen von Berytos eingelaufen war, hatte er keinen Zweifel daran gehegt, dass er auch von Hattuschili empfangen werde, dem Bruder des Hethiterkönigs, der sich dieser Region bemächtigt hatte.
Inzwischen wusste Acha seinen Widersacher genau einzuschätzen: Von kleinem Wuchs, kränklichem Aussehen, aber klug und listig, war Hattuschili ein gefährlicher Gegner. Er hatte seinen Gefangenen genötigt, Ramses einen Brief zu schicken, mit dem er das Heer des Pharaos in einen Hinterhalt locken sollte. Doch Acha war es gelungen, eine verschlüsselte Warnung in seinen Worten zu verstecken, von der er hoffte, dass sie das Misstrauen des Königs geweckt hatte.
Wie würde Ramses sich verhalten? Das Wohl des Staates gebot ihm schließlich, seinen Freund den Händen der Feinde zu überlassen und einen Feldzug gen Norden anzutreten. Und so, wie Acha ihn kannte, war er überzeugt, dass der Pharao nicht zögern würde, mit äußerster Härte gegen die Hethiter vorzugehen, welches Wagnis er auch immer damit auf sich nehmen mochte. Aber stellte der Oberste Gesandte Ägyptens nicht ein vortreffliches Tauschmittel dar? Benteschina hegte sicher den Wunsch, ihn gegen eine ansehnliche Menge edlen Metalls an Ägypten zu verkaufen.
Genau genommen hatte Acha nur eine dürftige Aussicht, am Leben zu bleiben, aber sie war seine einzige Hoffnung. Indes machte ihn diese erzwungene Untätigkeit reizbar. Seit seinen Jugendjahren war er daran gewöhnt, den Dingen nicht ihren Lauf zu lassen, sondern sie selbst in Gang zu bringen, und es war ihm unerträglich, die Ereignisse einfach nur abzuwarten. Auf die eine oder andere Art musste er handeln. Vielleicht dachte Ramses ja, Acha sei bereits tot, oder er plante einen Angriff auf breiter Front, nachdem er seine Armee mit den neuesten Waffen ausgerüstet hatte.
Je länger Acha darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich selbst zu befreien.
Ein Diener brachte ihm, wie jeden Tag, ein üppiges Mittagsmahl. Über den Vorsteher des Palastes, der den gefangengehaltenen Ägypter wie einen Gast hohen Ranges behandelte, konnte Acha sich wahrlich nicht beklagen. Noch während er sich an einem Stück gebratenen Rindfleisches gütlich tat, vernahm er den schweren Schritt des Herrn über diese Stätte.
«Wie ergeht es unserem edlen ägyptischen Freund?», fragte Benteschina, der Fürst von Amurru, ein überaus wohlbeleibter Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart.
«Dein Besuch ehrt mich.»
«Ich verspürte Lust, mit Ramses’ Oberstem Gesandten eine Schale Wein zu trinken.»
«Weshalb begleitet Hattuschili dich nicht?»
«Unser edler hethitischer Freund ist andernorts beschäftigt.»
«Wie schön es ist, nur edle Freunde zu haben … Wann werde ich Hattuschili wiedersehen?»
«Das weiß ich nicht.»
«Ist das Land der Zedern nunmehr ein Stützpunkt der Hethiter geworden?»
«Die Zeiten ändern sich, mein lieber Acha.»
«Fürchtest du nicht Ramses’ Zorn?»
«Zwischen dem Pharao und meinem Fürstentum ragen fortan unüberwindliche Festungswälle auf.»
«Sollte ganz Kanaan unter hethitischem Einfluss stehen?»
«Stelle mir nicht zu viele Fragen … Lasse dir gesagt sein, dass ich mich durchaus mit der Absicht trage, dein kostbares Leben gegen einige Reichtümer einzutauschen. Ich hoffe nur, dass dir bei der Übergabe nichts Böses zustößt, aber …»
Mit hämischem Lächeln kündigte Benteschina dem Gesandten an, dass man ihn womöglich aus dem Wege räumen würde, ehe er erzählen könnte, was er in Amurru gesehen und gehört habe.
«Bist du sicher, dass du dich für die richtige Seite entschieden hast?»
«Gewiss, mein Freund! Um die Wahrheit zu sagen, die Hethiter haben dem Gesetz des Stärkeren Geltung verschafft. Und da die Rede davon ist, dass Sorgen in großer Zahl Ramses hindern, frohen Mutes die Geschicke seines Landes zu lenken … Sei es eine Verschwörung, sei es eine verlorene Schlacht, vielleicht auch beides zusammen, irgendetwas führt bestimmt zu seinem Tod oder dazu, dass er von einem Herrscher abgelöst wird, der zu mehr Zugeständnissen bereit ist.»
«Da kennst du Ägypten schlecht, Benteschina, und Ramses noch schlechter.»
«Ich vermag mir ein Urteil über die Menschen zu bilden. Trotz der Niederlage bei Kadesch wird der hethitische König Muwatalli letzten Endes den Sieg davontragen.»
«Du lässt dich auf ein gewagtes Spiel ein.»
«Ich liebe den Wein, die Frauen und das Gold, aber ich bin kein Glücksritter. Die Hethiter haben den Krieg im Blut, die Ägypter nicht.»
Verstohlen rieb sich Benteschina die Hände.
«Falls du einen bedauerlichen Unfall bei deiner Übergabe vermeiden möchtest, mein lieber Acha, dann solltest du ernsthaft darüber nachsinnen, das Lager zu wechseln. Nehmen wir einmal an, du würdest Ramses falsche Auskünfte erteilen … Nach unserem Sieg wird man dich dafür belohnen.»
«Verlangst du von mir, dem Obersten Gesandten Ägyptens, dass ich Verrat übe?»
«Hängt nicht alles von den Umständen ab? Ich habe dem Pharao auch einmal Treue gelobt …»
«Einsamkeit ist meinen Überlegungen nicht gerade förderlich.»
«Möchtest du vielleicht … eine Frau?»
«Eine Frau von erlesener Bildung, sehr einfühlsam …»
Benteschina trank seine Schale Wein leer und wischte sich mit dem rechten Handrücken die feuchten Lippen.
«Welches Opfer würde ich nicht bringen, wenn es gilt, deine Überlegungen zu beflügeln!»
Die Nacht war hereingebrochen. Der schwache Schein zweier Öllampen erhellte das Gemach, in dem Acha, mit einem kurzen Schurz bekleidet, auf seinem Bett lag.
Ein Gedanke ließ ihn nicht zur Ruhe kommen: Hattuschili hatte Amurru verlassen. Dieser Aufbruch und ein gleichzeitiger Vorstoß der Hethiter in die ägyptischen Schutzgebiete längs des Mittelländischen Meeres passten nicht zusammen. Wären die hethitischen Krieger in großen Horden in diese Regionen eingefallen, warum hätte Hattuschili dann seinen Stützpunkt aufgeben sollen, von dem aus er die Lage im Blick behalten könnte? Gewiss wagte sich Muwatallis Bruder auch nicht weiter gen Süden vor. Es stand also zu vermuten, dass er in seine Heimat zurückgekehrt war, aber aus welchem Grund?
«Hoher Herr …»
Eine leise, bebende Stimme schreckte Acha aus seinen Gedanken. Er richtete sich auf und sah im Halbdunkel eine junge Frau in einem kurzen, hemdartigen Gewand, mit gelöstem Haar und nackten Füßen.
«Fürst Benteschina schickt mich her … Er hat mir aufgetragen … Er verlangt …»
«Setze dich zu mir.»
Zögernd gehorchte sie.
Sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein, war blond und ein wenig rundlich, sehr anziehend. Behutsam streichelte Acha ihre Schulter.
«Bist du verheiratet?»
«Ja, Hoher Herr, aber der Fürst hat mir versprochen, dass mein Gemahl nichts davon erfährt.»
«Welchen Beruf übt er aus?»
«Er ist Zöllner.»
«Gehst du auch einer Beschäftigung nach?»
«Ich leite im Amt für Briefschaften die dringenden Sendschreiben an die richtigen Boten weiter.»
Acha ließ die Träger des Kleides über ihre Schultern gleiten, küsste die blonde Frau in den Nacken, dann legte er sie auf das Bett.
«Kommen dir dort Neuigkeiten aus der Hauptstadt von Kanaan zu Ohren?»
«Bisweilen ja … Aber darüber darf ich nicht sprechen.»
«Halten sich hier viele hethitische Krieger auf?»
«Auch darüber darf ich nicht sprechen.»
«Liebst du deinen Gemahl?»
«Ja, Hoher Herr, ja …»
«Ist es dir nicht widerwärtig, ihn zu betrügen?»
Sie wandte den Kopf ab.
«Antworte auf meine Fragen, dann rühre ich dich nicht an.»
Mit Hoffnung im Blick betrachtete sie den Ägypter.
«Gibst du mir dein Wort?»
«Bei allen Göttern Amurrus, ja, ich gebe dir mein Wort.»
«Es sind noch nicht sehr viele Hethiter hier. Nur einige Dutzend Ausbilder unterweisen unsere Soldaten.»
«Ist Hattuschili abgereist?»
«Ja, Hoher Herr.»
«Wohin?»
«Das weiß ich nicht.»
«Wie steht es um Kanaan?»
«Die Lage ist unklar.»
«Wird die Provinz nicht von den Hethitern beherrscht?»
«Es sind Gerüchte in Umlauf, die einander widersprechen. Manche behaupten, der Pharao habe Gaza, die Hauptstadt Kanaans, wieder in seine Gewalt gebracht und der Statthalter der Provinz sei bei dem Angriff getötet worden.»
Acha spürte, wie neue Hoffnung in ihm aufstieg, als werde er dem Leben wiedergegeben. Ramses hatte nicht nur seine Botschaft entschlüsselt, sondern holte zum Gegenschlag aus und hinderte die Hethiter daran, weiter vorzudringen. Deshalb war Hattuschili abgereist, um König Muwatalli zu warnen.
«Tut mir leid, meine Schöne.»
«Du … du hältst dein Wort nicht!»
«Doch, aber ich muss gewisse Vorkehrungen treffen.»
Acha fesselte sie und steckte ihr einen Knebel in den Mund. Er brauchte einige Stunden Vorsprung, ehe sie Alarm schlug. Als er ihren Mantel entdeckte, den sie an der Tür des Gemachs abgestreift hatte, kam ihm der rettende Einfall, wie er aus dem Palast schleichen könnte. Er warf sich das Kleidungsstück über, setzte die Kapuze auf und eilte zur Treppe.
Im Erdgeschoss fand ein Festmahl statt.
Einige Gäste, die zu viel getrunken hatten, waren bereits eingeschlafen, andere gaben sich zügellos ihrer Leidenschaft hin. Acha stieg über zwei nackte Leiber hinweg.
«Wo willst denn du hin?»
Der Ägypter konnte nicht weglaufen. Mehrere Bewaffnete bewachten die Tür des Palastes.
«Bist du mit dem Ägypter schon fertig? Komm her, Kleine …»
Nur wenige Schritte trennten den Gesandten von der Freiheit.
Da zog Benteschina ihm mit schmieriger Hand die Kapuze vom Kopf.
«Du hast Pech, mein lieber Acha.»
Pi-Ramses, die im Delta neu erbaute Hauptstadt, trug den Beinamen «die Türkisfarbene», da blaugrün schimmernde Kacheln die Fassaden der Häuser schmückten. Wer in den Straßen von Pi-Ramses lustwandelte, bestaunte die Tempel, den Königspalast, die künstlich angelegten Seen, den Hafen. Er weidete sich am Anblick der mit Obstbäumen bestandenen Haine, der Kanäle voller Fische oder geriet in helles Entzücken über die vornehmen Wohnsitze adliger Familien und über die von Blumen gesäumten Alleen. Jeder tat sich gütlich an Datteln und Granatäpfeln, an Oliven und Feigen, wusste den fruchtigen Geschmack edler Weine zu schätzen und sang ein bei allen beliebtes Lied: «Welche Wonne ist es, in Pi-Ramses zu wohnen, wo der Kleine so geachtet wird wie der Große, wo Akazie und Sykomore ihren Schatten spenden, wo die Wände in Gold und Türkis erstrahlen, wo der Wind voller Sanftmut weht und Vögel über die Weiher flattern.»
Doch Ameni, der Oberste Schreiber des Königs, sein Gefährte seit jenen Tagen, da sie gemeinsam die Schule besucht hatten, und ein unermüdlicher Diener seines Herrn, vermochte diese Lebensfreude nicht zu teilen. Wie so viele andere Bewohner der Stadt hatte er das Gefühl, dass in ihr nicht mehr die vertraute Fröhlichkeit herrschte, weil Ramses ihr fern war.
Fern und in Gefahr.
Keiner Mahnung zur Vorsicht Gehör schenkend, keinen Aufschub duldend, war er gen Norden aufgebrochen, um Kanaan und Syrien zurückzuerobern, und hatte seine Truppen in ein Abenteuer von ungewissem Ausgang geführt.
Wiewohl Ameni auch das Amt des «Sandalenträgers des Pharaos» innehatte, war er ein Mann von kleinem Wuchs, schmächtig und beinahe kahlköpfig, mit zartem Knochenbau, bleicher Gesichtsfarbe und langen, schmalen Händen, die schöne Hieroglyphen zeichnen konnten. Zwischen diesem Sohn eines Gipsbrenners und Ramses bestanden unsichtbare Bande. Ganz im Sinne der seit den Anfängen des Pharaonenreichs überlieferten Redensart war er «Auge und Ohr des Königs». Er hielt sich selbst stets im Hintergrund, führte aber die Aufsicht über etwa zwanzig ergebene und äußerst sachkundige Schreiber. Als unermüdlicher Arbeiter schlief er nur wenig, aß hingegen viel, ohne dabei jemals dicker zu werden. Nur selten verließ er seine Amtsstube, in der ein Binsenhalter aus vergoldetem Holz prangte, ein Geschenk des Pharaos. Sobald Ameni diesen wie eine Säule geformten, von einer Lilie gekrönten Gegenstand berührte, erwachte seine Tatkraft zu neuem Leben, und er nahm den nächsten Berg von Schriftstücken in Angriff, der jedweden anderen Schreiber entmutigt hätte. In seiner Amtsstube, die er mit eigener Hand sauber hielt, waren die sorgsam geordneten Papyrusrollen in hölzernen Truhen und Tonkrügen verwahrt oder lagen, in Leder gehüllt, auf Wandbrettern.
«Soeben ist ein Bote der Armee eingetroffen», meldete ihm einer seiner Gehilfen.
«Führe ihn herein.»
Der mit Staub bedeckte Soldat schien am Ende seiner Kräfte zu sein.
«Ich überbringe eine Nachricht des Pharaos.»
«Zeige sie mir!»
Ameni stellte fest, dass sie tatsächlich Ramses’ Siegel trug, und obwohl er dabei außer Atem geriet, brachte er sie im Laufschritt in den Palast.
Königin Nefertari hatte an diesem Tag bereits den Wesir empfangen, dann den Obersten Verwalter des Palastes, den Schreiber des Rechnungswesens, den Aufseher über die königliche Tafel, den Vorsteher der Ritualpriester, den Obersten Bewahrer der Geheimnisse, den Ersten Priester aus dem Haus des Lebens, den Oberkämmerer, den Vorsteher des Schatzhauses, den der Speicher sowie zahlreiche andere hohe Beamte, die alle genaue Anweisungen erhalten wollten, um nur ja nichts ohne die Zustimmung der Großen königlichen Gemahlin zu unternehmen, der es während der Abwesenheit des Pharaos oblag, das Land zu regieren. Zum Glück stand ihr Ameni unermüdlich zur Seite, und Tuja, die Mutter des Königs, leistete ihr mit wertvollen Ratschlägen Beistand.
Die Schönste der Schönen, wie Nefertari wegen ihres schwarzen, glänzenden Haars, der blaugrünen Augen und des gleich einer Göttin strahlenden Antlitzes auch genannt wurde, stellte sich tapfer der Prüfung, die ihr Macht und Einsamkeit auferlegten. Von den Schriften der Weisen überaus angetan, hatte sich die ehemals dem Tempel geweihte Musikantin ein zurückgezogenes Leben voll stiller Andacht erhofft, doch durch Ramses’ Liebe war aus dem scheuen jungen Mädchen die Königin Ägyptens geworden, die nun entschlossen und ohne jedwede Anzeichen von Schwäche ihre Aufgaben zu erfüllen suchte.
Allein die Verwaltung des Hofstaats der Königin stellte eine schwere Bürde dar. Seit mehr als tausend Jahren gehörte ihm eine Lehranstalt an, in der sowohl Ägypterinnen als auch fremdländische Mädchen ausgebildet wurden, darüber hinaus eine Schule der Weberei und Werkstätten, die Schmuck, Spiegel, Vasen, Fächer, Sandalen und Gegenstände für den Vollzug der religiösen Riten verfertigten. Nefertari herrschte über eine vielköpfige Schar von Priesterinnen, Schreibern, Verwaltern ihrer Liegenschaften, über Handwerker und Bauern, und ihr lag daran, die für jeden Bereich Verantwortlichen persönlich zu kennen. Sie war geradezu davon besessen, Ungerechtigkeiten und Fehler zu vermeiden.
Doch in diesen von Angst erfüllten Tagen, in denen Ramses sein Leben wagte, um Ägypten vor einem Überfall der Hethiter zu bewahren, musste die Große Königsgemahlin ihre Mühen verdoppeln und das ganze Land regieren, ungeachtet dessen, wie erschöpft sie sich auch fühlen mochte.
«Ameni, endlich! Hast du Neuigkeiten für mich?»
«Ja, Majestät, einen Papyrus, den ein Bote der Armee gebracht hat.»
Die Königin hatte sich nicht in Ramses’ Arbeitszimmer niedergelassen, das bis zu seiner Rückkehr verwaist bleiben sollte, sondern in einem geräumigen, mit hellblauen Kacheln verzierten Gemach mit Blick auf den Garten, in dem Wächter, der goldgelbe Hund des Pharaos, unter einer Akazie vor sich hin döste.
Nefertari brach das Siegel des Papyrus und las die in hieratischer Schrift abgefassten und von Ramses selbst unterzeichneten Worte.
Kein Lächeln erhellte ihr ernstes Antlitz.
«Er bemüht sich, meinen Kummer zu zerstreuen.»
«Hat der König Erfolge erzielt?»
«Kanaan ist aufs Neue unterworfen, der treubrüchige Statthalter wurde getötet.»
«Welch schöner Sieg!», rief Ameni begeistert aus.
«Der König rückt weiter gen Norden vor.»
«Und weshalb bist du so betrübt?»
«Weil er bis Kadesch ziehen will, wie groß dieses Wagnis auch sein mag. Zuvor wird er versuchen, Acha zu befreien, und dabei ohne Zögern sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Und wenn sich das Glück von ihm abwendet?»
«Seine Magie wird ihn gewiss nicht im Stich lassen.»
«Wie könnte Ägypten ohne ihn weiterleben?»
«Fürs Erste, Majestät, führst du, die Große königliche Gemahlin, die Staatsgeschäfte ganz vortrefflich, und schließlich wird Ramses zurückkehren, dessen bin ich mir sicher.»
Auf dem Flur wurde das Geräusch hastiger Schritte vernehmbar. Dann klopfte es an die Tür, und Ameni öffnete sie.
«Majestät … Iset steht kurz vor der Niederkunft, sie verlangt nach dir!»
Iset die Schöne hatte lebhafte grüne Augen, eine zierliche Nase sowie einen edel geformten Mund, und für gewöhnlich lag etwas überaus Verführerisches in ihren Zügen. Selbst in diesen Stunden der Wehen bewahrte sie sich noch die Anmut der Jugend, mit der sie einst Ramses in ihren Bann gezogen hatte und seine erste Liebe geworden war. Oft dachte sie an die Schilfhütte am Rande eines Weizenfeldes zurück, in der sie und der Prinz sich einander hingegeben hatten.
Doch dann entbrannte Ramses für Nefertari, die zur Königin wie geschaffen war. Iset zog sich zurück, zumal sie weder Ehrgeiz noch Eifersucht kannte und mit Nefertari ebenso wenig in Wettstreit hätte treten können wie irgendeine andere. Und Macht erschreckte sie eher. Nur ein Gefühl lebte in Isets Herzen fort: die Liebe zu Ramses.
In einem Augenblick der Torheit hätte sie einmal beinahe an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen, aus verletzter Eitelkeit, brachte es dann aber doch nicht über sich, ihm Schaden zuzufügen, und kehrte den Mächten des Bösen rasch den Rücken. Gereichte es ihr nicht zu höchstem Ruhm, dass sie seinem Sohn Kha, einem Knaben von außerordentlicher Klugheit, das Leben schenken konnte?