Ein Fluch, der über einem Ort in der Pampa zu liegen scheint. Eine Heilerin, die vom Tode bedrohte Kinder zu retten versucht. Und zwei exzessiv liebende Mütter, deren Schicksale auf mysteriöse Weise miteinander verbunden sind.
Das Gift ist wie ein Alptraum, der sich schleichend entfaltet. Eine hypnotisierende Geschichte. Packende, fantastische Literatur.
Samanta Schweblin hat einen verstörenden Roman von glasklarer Schönheit geschrieben. Und erweist sich damit als »die beste Erzählerin ihrer Generation« (Página 1|2).
»Spannung wie in den stärksten Filmen Hitchcocks oder David Lynchs.« Letras Libres
»Sie hat Geschichten zu erzählen. Sie hat Rhythmus. Sie hat Poesie. Sie ist verderbt. Sie hat einen einzigartigen Blick auf die Dinge.« Le Monde
»Ein heftiger Roman, ein einschneidendes literarisches Ereignis!« La Nación
Samanta Schweblin, geboren 1978 in Buenos Aires, hat Filmwissenschaften studiert und lebt inzwischen in Berlin. Ihre drei Erzählungsbände sind mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Juan-Rulfo-Preis. Das Gift ist ihr erster Roman und erscheint in über 20 Ländern.
Marianne Gareis lebt in Berlin und hat Werke von u.a. José Saramago, Gonçalo Tavares, Machado de Assis, João Ricardo Pedro, Andréa del Fuego und Sergio Álvarez ins Deutsche übertragen.
DAS GIFT
Roman
Aus dem Spanischen von
Marianne Gareis
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Distancia de rescate bei Literatura Random House, Barcelona.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015
© Samanta Schweblin, 2014
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Umschlagabbildung: Henrik Sorensen/Getty Images
Umschlaggestaltung: Anzinger | Wüschner | Rasp, Marion Blomeyer, München
eISBN 978-3-518-74298-3
www.suhrkamp.de
Für meine Schwester Pamela
»Zum ersten Mal seit Langem
senkte er den Blick und betrachtete seine Hände.
Wenn Sie diese Erfahrung gemacht haben,
werden Sie wissen, was ich meine.«
Jesse Ball, The Curfew
Sie sind wie Würmer.
Was für Würmer?
Wie Würmer, überall.
Es spricht der Junge, er flüstert mir die Worte ins Ohr. Ich bin die, die fragt. Würmer im Körper?
Ja, im Körper.
Erdwürmer?
Nein, andere Würmer.
Es ist dunkel, und ich kann nichts sehen. Die Laken sind rau, sie werfen Falten unter meinem Körper. Ich kann mich nicht bewegen, sage ich.
Das ist wegen den Würmern. Man muss Geduld haben und warten. Und solange man wartet, muss man rausfinden, zu welchem Zeitpunkt genau die Würmer geboren wurden.
Warum?
Weil es wichtig ist, sehr wichtig für alle.
Ich versuche zu nicken, aber mein Körper reagiert nicht.
Was passiert sonst noch in dem Garten vor dem Haus? Bin ich im Garten?
Nein, du bist nicht da, aber Carla ist da, deine Mutter. Ich habe sie vor ein paar Tagen kennengelernt, als wir gerade angekommen waren in dem Haus.
Was macht Carla?
Sie trinkt ihren Kaffee aus und stellt die Tasse auf dem Rasen ab, neben ihrer Liege.
Und sonst noch?
Sie steht auf und geht. Die Sandalen vergisst sie, sie liegen ein paar Meter weiter auf den Stufen zum Swimmingpool, aber ich sage nichts.
Warum?
Weil ich erst mal abwarten will, was sie macht.
Und was macht sie?
Sie hängt sich die Handtasche um und läuft in ihrem goldfarbenen Bikini zum Auto. Zwischen uns beiden besteht eine Art Anziehung, aber es gibt auch Momente der Abstoßung, und in ganz bestimmten Situationen spüre ich das. Bist du dir sicher, dass diese Beobachtungen nötig sind? Haben wir die Zeit dafür?
Die Beobachtungen sind sehr wichtig. Warum seid ihr im Garten?
Weil wir gerade wiedergekommen sind vom See und deine Mutter nicht zu uns reinwill.
Sie will dir keine Umstände machen.
Keine Umstände? Dafür muss ich jetzt dauernd rein- und rauslaufen, zuerst wegen der Limonade, dann wegen der Sonnenmilch, keine Umstände machen ist für mich was anderes.
Warum seid ihr zum See gefahren?
Ich sollte ihr das Autofahren beibringen, das wollte sie schon immer lernen, meinte sie, aber als wir dann am See waren, hatte keine von uns die Geduld dazu.
Was macht sie jetzt im Garten?
Sie öffnet die Tür von meinem Auto, setzt sich hinters Steuer und wühlt eine Weile in ihrer Handtasche herum. Ich nehme meine Beine von der Liege und warte. Es ist zu heiß. Dann hat Carla genug gewühlt und klammert sich mit beiden Händen ans Lenkrad. So bleibt sie einen Augenblick sitzen und starrt auf das Tor oder vielleicht auch auf ihr Haus dahinter.
Was noch? Warum sprichst du nicht weiter?
Weil ich irgendwie festhänge in diesem Bild, ich sehe alles ganz deutlich vor mir, aber manchmal fällt es mir schwer fortzufahren. Ist das vielleicht wegen dem Mittel, das die Krankenschwestern mir spritzen?
Nein.
Aber ich sterbe in ein paar Stunden, das ist doch so, oder? Merkwürdig finde ich, dass ich so ruhig bin. Ich weiß es einfach, obwohl du es mir nicht sagst, und trotzdem ist das was, das man sich selbst unmöglich sagen kann.
Das ist alles nicht wichtig. Wir verlieren Zeit.
Aber es stimmt doch, oder? Dass ich sterben muss.
Was passiert sonst noch in dem Garten?
Carla legt ihre Stirn aufs Lenkrad, und ihre Schultern zucken leicht, sie weint. Meinst du, wir sind schon nah dran an dem genauen Zeitpunkt, zu dem die Würmer geboren werden?
Mach weiter, und denk an die Details.
Carla macht kein Geräusch, aber sie erreicht, dass ich aufstehe und zu ihr hingehe. Ich mochte sie von Anfang an, seit dem Tag, als ich sie in der prallen Sonne die Plastikeimer habe schleppen sehen, mit ihrer Jeans-Latzhose und dem großen roten Dutt. Ich hatte seit meiner Jugend niemanden mehr in so einer Hose gesehen, und dann habe ich sie zu der Limonade überredet und am nächsten Vormittag zum Mate eingeladen und am übernächsten und überübernächsten auch. Sind das die wichtigen Details?
Der genaue Zeitpunkt liegt in einem Detail, man muss nur aufmerksam beobachten.
Ich durchquere den Garten. Während ich den Swimmingpool umrunde, werfe ich einen Blick durchs Esszimmerfenster und überprüfe, ob meine Tochter Nina noch schläft, mit ihrem Plüschmaulwurf im Arm. Ich steige an der Beifahrerseite ins Auto, setze mich, lasse aber die Tür auf und kurble das Fenster herunter, weil es sehr heiß ist. Carlas großer Dutt ist verrutscht, hängt ein wenig zur Seite. Sie lehnt sich zurück, in dem Wissen, dass ich nun wieder bei ihr bin, und sieht mich an.
»Wenn ich es dir erzähle, willst du mich bestimmt nicht mehr sehen.«
Ich überlege, was ich sagen soll, so was wie: »Aber Carla, sei doch nicht albern«, blicke dabei auf ihre Zehen, die sich um den Rand der Pedale spannen, auf ihre langen Beine, auf die schlanken, aber starken Arme. Es verunsichert mich, dass eine Frau, die zehn Jahre älter ist als ich, so viel schöner ist.
»Wenn ich es dir erzähle, willst du bestimmt nicht, dass er mit Nina spielt«, sagt sie.
»Aber Carla, warum sollte ich das nicht wollen?«
»Du wirst es nicht wollen, Amanda«, sagt sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Wie heißt er?«
»David.«
»Ist es deiner? Dein Sohn?«
Sie nickt. Dieser Sohn bist du, David.
Ich weiß, rede weiter.
Carla wischt sich mit den Handknöcheln die Tränen ab, und ihre goldenen Armbänder klimpern. Zu dem Zeitpunkt habe ich dich noch kein einziges Mal gesehen, aber als ich Señor Geser, dem Verwalter des Hauses, das wir gemietet haben, erzählte, ich hätte Kontakt zu Carla, fragte er gleich, ob ich dich schon kennengelernt hätte.
Carla antwortet:
»Er war meiner. Jetzt ist er es nicht mehr.«
Ich sehe sie verständnislos an.
»Er gehört mir nicht mehr.«
»Carla, einen Sohn hat man ein Leben lang.«
»Nein, meine Liebe«, sagt sie. Ihre Nägel sind lang, und ihr spitzer Finger vor meinen Augen verleiht ihren Worten Nachdruck.
Ich erinnere mich an die Zigaretten meines Mannes, öffne das Handschuhfach und reiche sie ihr zusammen mit dem Feuerzeug. Sie reißt sie mir fast aus der Hand, und dabei weht mir der Duft ihrer Sonnenmilch entgegen.
»Als David geboren wurde, war er ein Sonnenschein.«
»Natürlich«, sage ich und merke, dass ich jetzt still sein muss.
»Als ich ihn zum ersten Mal in den Arm gelegt bekam, hatte ich unglaubliche Angst. Ich war überzeugt davon, dass ihm ein Finger fehlt.« Sie lächelt über diese Erinnerung, steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. »Die Krankenschwester meinte, nach einer Narkose kommt es öfter vor, dass man ein bisschen paranoid ist, aber bevor ich nicht alle zehn Finger abgezählt hatte, war ich nicht davon zu überzeugen, dass alles gutgegangen war. Was gäbe ich jetzt dafür, wenn David einfach nur ein Finger fehlen würde.«
»Was ist los mit David?«
»Er war ein Sonnenschein, Amanda, wirklich, er war ein Sonnenschein. Den ganzen Tag hat er nur gelächelt. Am liebsten war er draußen. Der Marktplatz war das Größte für ihn, immer schon. Ist dir aufgefallen, dass man hier mit dem Kinderwagen nicht weit kommt? Im Dorf ja, aber von hier bis zum Marktplatz muss man ja zwischen den Bauernhäuschen und den Bretterbuden an der Fahrbahn durch, und das ist echt schwierig wegen dem ganzen Lehm, aber er fand das so toll, dass ich ihn, bis er zwei war, die ganzen zwölf Querstraßen weit huckepack genommen habe. Und wenn er dann die Rutsche sah, fing er an zu johlen. Wo ist denn hier der Aschenbecher?«
Er befindet sich unter dem Armaturenbrett. Ich ziehe den Behälter heraus und gebe ihn ihr.
»Dann wurde David krank, ungefähr in der Zeit, von der ich gerade spreche, also vor sechs Jahren. Das war in einer schwierigen Phase. Ich hatte gerade angefangen, auf der Farm von Sotomayor zu arbeiten, habe überhaupt zum ersten Mal im Leben gearbeitet. Ich sollte Sotomayors Buchhaltung übernehmen, aber mit Buchhaltung hatte das eigentlich nichts zu tun. Eher habe ich seine Unterlagen sortiert und ihm beim Zusammenrechnen geholfen, das hat Spaß gemacht. Ich fuhr immer in den Ort, erledigte die Geschäfte, war toll angezogen. Das kennt ihr Städter nicht, hier braucht man einen Vorwand, um sich zurechtzumachen, und meiner war perfekt.«
»Und dein Mann?«
»Omar hat Pferde gezüchtet. Ja, du hast richtig gehört. Er war ein anderer Mensch, Omar.«
»Ich glaube, ich habe ihn gestern gesehen, als ich mit Nina einen Spaziergang gemacht habe. Er fuhr mit dem Lieferwagen vorbei, hat unseren Gruß aber nicht erwidert.«
»Ja, so ist Omar heute«, sagt Carla und schüttelt den Kopf. »Als ich ihn kennenlernte, hat er noch gelächelt und Rennpferde gezüchtet. Er hielt sie auf der anderen Seite vom Dorf, hinterm See, aber als ich schwanger wurde, hat er alles hierher verlagert. Das hier war mein Elternhaus. Omar meinte, wenn ich es in Brand stecken würde, könnten wir einen Haufen Geld kriegen und alles renovieren. Ich wollte Teppichboden. Völliger Quatsch, ich weiß, wenn man wohnt, wo ich wohne, aber wie sehr habe ich mir das gewünscht. Omar hatte zwei Luxus-Mutterstuten, die bereits zwei Jungstuten zur Welt gebracht hatten, Tristeza Cat und Gamuza, die später verkauft wurden und Rennen liefen und immer noch laufen, in Palermo und San Isidro. Danach wurden zwei weitere geboren und ein Hengstfohlen, aber an deren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Damit so ein Geschäft gut läuft, brauchst du einen Deckhengst, und Omar haben sie immer den besten ausgeliehen. Er hat einen Teil des Geländes für die Stuten abgezäunt, dahinter ein Gehege für die Fohlen eingerichtet, Luzerne angepflanzt und dann in aller Ruhe den Stall gebaut. Der Deal war, dass er den Deckhengst ausleihen und dann zwei bis drei Tage behalten konnte. Wenn später die Fohlen verkauft wurden, ging ein Viertel des Geldes an den Besitzer von dem Hengst. Das ist viel Geld, aber wenn es ein guter Deckhengst ist und die Fohlen ordentlich gepflegt werden, kann jedes zwischen 200.000 und 250.000 Pesos einbringen. Deshalb war das geheiligte Tier also gerade bei uns. Omar ließ es den ganzen Tag nicht aus den Augen, folgte ihm wie ein Schatten, zählte mit, wie oft er jede Stute bestieg. Wenn Omar wegmusste, wartete er, bis ich von Sotomayor zurück war, und dann war ich dran, aber ich habe nur ab und zu mal nach ihm Ausschau gehalten, vom Küchenfenster aus. Eines Nachmittags, als ich gerade den Abwasch machte, fiel mir auf, dass ich den Deckhengst schon länger nicht mehr gesehen hatte. Ich ging zum anderen Fenster und weiter zum nächsten, das nach hinten rausging, aber nichts: die Stuten alle da, vom Deckhengst keine Spur. Ich nahm David auf den Arm, der ja schon laufen konnte und mir ständig hinterherrannte im Haus, und ging raus. Bei so was gibt’s nicht viel zu deuten, ein Pferd ist entweder da, oder es ist nicht da. Es war offensichtlich über den Zaun gesprungen. Das kommt zwar selten vor, passiert aber. Ich ging zum Stall und betete zu Gott, es möge dort sein, aber nein. Da fiel mir der Bach ein, der etwas tiefer liegt, ein Pferd könnte dort Wasser trinken, ohne dass man es vom Haus aus sieht. Ich erinnere mich noch daran, dass David gefragt hat, was los ist, und ich habe ihn auf den Arm genommen, als ich das Haus verließ. Er umschlang meinen Hals, und seine Stimme klang ganz abgehackt, weil ich mit Riesenschritten umherlief. ›Da isses, Mama!‹, hat David plötzlich gerufen. Und da stand der Deckhengst und trank Wasser aus dem Bach. Inzwischen nennt David mich ja nicht mehr ›Mama‹. Wir sind also zum Bach runtergestiegen, und David wollte auf den Boden. Ich habe ihm gesagt, dass er sich von dem Pferd fernhalten soll. Ich ging mit vorsichtigen Schritten auf das Tier zu. Es schreckte immer wieder zurück, aber ich war geduldig, und nach einer Weile wurde es zutraulich. Ich konnte es am Halfter packen. Was für eine Erleichterung, ich erinnere mich genau, wie ich geseufzt und gerufen habe, ›Wenn ich dich verloren hätte, hätte ich auch mein Haus verloren, du elende Kreatur‹. Siehst du, Amanda, das ist wie mit dem Finger, von dem ich dachte, er würde David fehlen. Man denkt, ›das eigene Haus zu verlieren‹ ist das Schlimmste, und dann kommt es viel schlimmer, und man würde sein Haus und sein Leben dafür geben, nur um die Zeit zurückdrehen und das Halfter von diesem verdammten Tier loslassen zu können.«