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Übersetzung aus dem Französischen von Erika Tophoven-Schöningh
ISBN 978-3-492-97240-6
Juni 2016
© 1988 Éditions du Seuil, Paris Titel der französischen Originalausgabe: »La Preuve«
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1989
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: plainpicture/Glasshouse
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Wieder am Haus der Großmutter angekommen, legt Lucas sich dicht an den Gartenzaun, in den Schatten der Büsche. Er wartet. Ein Militärfahrzeug hält vor dem Grenzwächterhaus. Soldaten steigen aus und legen eine Leiche auf den Boden, die in eine Tarnplane gewickelt ist. Ein Feldwebel kommt aus dem Haus, und auf ein Zeichen schlagen die Soldaten die Plane zurück. Der Feldwebel pfeift durch die Zähne:
– Rauskriegen, wer das ist, das wird nicht leicht sein!
Man muss schon verrückt sein, über diese Scheißgrenze zu wollen, noch dazu am helllichten Tag!
Ein Soldat sagt:
– Die Leute müssten doch wissen, dass es nicht geht.
Ein anderer Soldat sagt:
– Die Leute von hier wissen das. Es sind die andern, die von anderswo herkommen, die's versuchen.
Der Feldwebel sagt:
– Gut, gehen wir mal rüber zu dem Idioten. Der weiß vielleicht was.
Lucas geht ins Haus. Er setzt sich auf die Eckbank in der Küche. Er schneidet Brot, stellt eine Flasche Wein auf den Tisch und dazu einen Ziegenkäse. Es klopft. Der Feldwebel und ein Soldat kommen herein.
Lucas sagt:
– Ich habe Sie erwartet. Setzen Sie sich. Da ist Wein und Käse. Greifen Sie zu.
Der Soldat sagt:
– Gerne.
Er nimmt Brot und Käse. Lucas schenkt Wein ein.
Der Feldwebel fragt:
– Sie haben uns erwartet? Warum?
– Ich habe die Explosion gehört. Nach Explosionen kommt immer einer und fragt, ob ich jemand gesehen habe.
– Und Sie haben niemand gesehen?
– Nein.
– Wie gewöhnlich.
– Ja, wie gewöhnlich. Niemand kommt her und kündet mir an, dass er über die Grenze will.
Der Feldwebel lacht. Auch er nimmt Wein und Käse:
– Könnte ja sein, dass jemand hier rumgestrolcht ist, hier oder im Wald.
– Ich habe niemand gesehen.
– Wenn doch, würden Sie es sagen?
– Wenn ich Ihnen sagte, dass ich es Ihnen sagen würde, würden Sie es nicht glauben.
Der Feldwebel lacht wieder:
– Ich frage mich manchmal, warum man Sie den Idioten nennt.
– Das frage ich mich auch. Ich habe nur eine Nervenkrankheit von einem psychischen Trauma her, in meiner Kindheit, im Krieg.
Der Soldat fragt:
– Was hat er? Was sagt er da?
Lucas erklärt:
– Mein Kopf ist etwas durcheinander wegen der Bombardierungen. Ich habe das gekriegt, als ich noch klein war.
Der Feldwebel sagt:
– Ihr Käse ist sehr gut. Vielen Dank. Kommen Sie mit. Lucas folgt ihnen. Der Feldwebel deutet auf die Leiche und fragt:
– Kennen Sie diesen Mann? Haben Sie ihn schon mal gesehen?
Lucas betrachtet den zerfetzten Körper seines Vaters:
– Er ist ganz entstellt.
Der Feldwebel sagt:
– Man kann jemand auch an den Kleidern erkennen oder an den Schuhen, sogar an den Händen oder an seinem Haar.
Lucas sagt:
– Ich sehe nur, dass er nicht aus unserer Stadt ist. Seine Kleidung ist nicht von hier. Kein Mensch in unserer Stadt trägt so elegante Sachen.
Der Feldwebel sagt:
– Vielen Dank. All das wussten wir schon. Wir sind auch keine Idioten. Ich frage Sie nur, ob Sie ihn irgendwo gesehen oder bemerkt haben?
– Nein. Nirgends. Aber ich sehe, dass man ihm die Nägel ausgerissen hat. Er war im Gefängnis.
Der Feldwebel sagt:
– In unseren Gefängnissen wird nicht gefoltert. Komisch ist nur, dass seine Taschen völlig leer sind. Nicht mal ein Foto oder ein Schlüssel oder eine Brieftasche.
Dabei brauchte er doch seinen Ausweis und sogar einen Passierschein, um überhaupt ins Grenzgebiet zu gelangen.
Lucas sagt:
– Er wird seine Papiere im Wald gelassen haben.
– Das glaube ich auch. Man soll nicht rauskriegen, wer er ist. Ich frage mich, wen er wohl dadurch schützen wollte. Wenn Sie zufällig beim Pilzesuchen noch etwas anderes finden sollten, dann bringen Sie's uns doch, nicht wahr, Lucas?
– Verlassen Sie sich drauf, Herr Feldwebel.
Lucas setzt sich auf die Bank im Garten und lehnt seinen Kopf an die weiße Hauswand. Die Sonne blendet ihn. Er schließt die Augen:
Was jetzt?
Weitermachen wie bisher. Weiter morgens aufstehen, abends zu Bett gehen und tun, was man tun muss zum Leben.
Das wird lange dauern.
Vielleicht ein ganzes Leben.
Die Tiere machen Lucas wieder wach. Er steht auf und versorgt sie. Er füttert die Schweine, die Hühner und die Kaninchen. Er holt die Ziegen vom Bach und melkt sie. Er bringt die Milch in die Küche. Er setzt sich auf die Eckbank und bleibt dort sitzen, bis es dunkel wird. Dann steht er auf, geht aus dem Haus und gießt den Garten. Es ist Vollmond. Wieder in der Küche, isst er etwas Käse und trinkt Wein. Er beugt sich aus dem Fenster und erbricht sich. Er räumt den Tisch ab. Er geht ins Zimmer der Großmutter und öffnet das Fenster zum Lüften. Er setzt sich vor die Frisierkommode und betrachtet sich im Spiegel. Später öffnet er die Tür zu seinem Zimmer. Er betrachtet das Doppelbett. Er macht die Tür wieder zu und geht in die Stadt.
Die Straßen sind leer. Lucas geht schnell. Er bleibt vor einem erleuchteten offenen Fenster stehen. Es ist ein Küchenfenster. Er sieht eine Familie beim Abendessen. Eine Mutter und drei Kinder um einen Tisch. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie essen Kartoffelsuppe. Der Vater ist nicht dabei. Er ist vielleicht noch nicht von der Arbeit zurück oder im Gefängnis oder in einem Lager. Oder er ist aus dem Krieg nicht mehr heimgekehrt.
Lucas geht an den lauten Kneipen vorbei, in denen er noch vor Kurzem bisweilen Mundharmonika spielte. Er geht nicht hinein, sondern setzt seinen Weg fort. Er streift zunächst durch die unbeleuchteten kleinen Straßen ums Schloss und biegt dann in die düstere Gasse ein, die zum Friedhof führt. Am Grab seines Großvaters und seiner Großmutter bleibt er stehen.
Großmutter ist vor einem Jahr an einem zweiten Schlaganfall gestorben.
Großvater ist schon lange tot. Die Leute in der Stadt munkelten, seine Frau hätte ihn vergiftet.
Lucas' Vater ist heute gestorben, als er versuchte, über die Grenze zu gehen, und Lucas wird nie erfahren, wo er begraben liegt.
Lucas geht nach Hause. Er klettert an einem Seil in die Dachkammer hinauf. Dort sind ein Strohsack, eine alte Militärdecke und eine Truhe. Lucas öffnet die Truhe, nimmt ein großes Schulheft heraus und schreibt ein paar Sätze hinein. Er schließt das Heft wieder und legt sich auf den Strohsack.
Über ihm, vom Mondlicht beschienen, das durch die Dachluke fällt, baumeln an einem Balken die Skelette der Mutter und des Babys.
Lucas' Mutter und seine kleine Schwester sind vor fünf Jahren umgekommen durch eine Granate, ein paar Tage vor Kriegsende, hier im Garten von Großmutters Haus.
Lucas sitzt auf der Bank im Garten. Er hat die Augen geschlossen. Ein Karren, mit einem Pferd davor, hält vorm Haus. Von dem Geräusch wird Lucas wach. Joseph, der Gemüsebauer, kommt in den Garten. Lucas sieht ihn an:
– Was wollen Sie, Joseph?
– Was ich will? Heute war Markt. Ich habe bis sieben Uhr auf Sie gewartet.
Lucas sagt:
– Verzeihen Sie, Joseph. Ich habe vergessen, was für ein Tag heute ist. Meinetwegen können wir das Gemüse schnell aufladen.
– Soll das ein Witz sein? Es ist zwei Uhr nachmittags. Ich bin nicht gekommen, um aufzuladen, sondern um Sie zu fragen, ob ich Ihre Ware überhaupt noch verkaufen soll. Wenn nicht, dann müssen Sie es mir sagen. Mir ist es egal. Ich tue es nur Ihnen zuliebe.
– Aber sicher, Joseph. Ich hatte nur vergessen, dass heute Markt ist.
– Nicht nur heute haben Sie das vergessen. Schon vorige Woche haben Sie es vergessen und die Woche davor.
Lucas sagt:
– Drei Wochen? Das war mir gar nicht bewusst.
Joseph schüttelt den Kopf:
– Da stimmt was nicht bei Ihnen. Was haben Sie mit Ihrem Gemüse und Ihrem Obst gemacht seit drei Wochen?
– Nichts. Aber ich habe den Garten jeden Tag gegossen, glaube ich.
– Das glauben Sie? Da wollen wir mal nachsehen.
Joseph geht hinters Haus, in den Gemüsegarten. Lucas geht mit. Der Gemüsebauer beugt sich über die Beete und flucht:
– Allmächtiger! Sie haben ja alles verkommen lassen! Da, die Tomaten auf der Erde, die Bohnen viel zu dick, die Gurken gelb und die Erdbeeren schwarz! Sind Sie verrückt geworden? Die gute Ware so verkommen zu lassen! Man sollte Sie aufhängen oder an die Wand stellen dafür. Mit Ihren Erbsen ist es für dieses Jahr aus und vorbei, mit den Aprikosen genauso. Die Äpfel und Pflaumen sind noch zu retten. Holen Sie mal einen Eimer!
Lucas bringt ihm einen Eimer, und Joseph macht sich daran, die Äpfel und Pflaumen, die im Gras liegen, aufzusammeln. Er sagt zu Lucas:
– Nehmen Sie einen andern Eimer, und sammeln Sie alles auf, was verfault ist. Vielleicht fressen Ihre Schweine das noch. Himmel! Ihre Tiere!
Joseph stürzt in den Hühnerhof, Lucas hinterher. Joseph sagt, während er sich die Stirn wischt:
– Gottlob, sie sind nicht krepiert. Geben Sie mir mal eine Mistgabel, damit ich etwas saubermachen kann. Wahrhaftig ein Wunder, dass Sie nicht vergessen haben, Ihre Tiere zu füttern!
– Die kann man nicht vergessen! Sie melden sich, sobald sie Hunger haben.
Joseph arbeitet stundenlang, Lucas hilft ihm, lässt sich von ihm kommandieren.
Als es dunkel wird, gehen sie in die Küche.
Joseph sagt:
– Pfui Teufel! So was habe ich noch nie gerochen. Was stinkt hier so?
Er schaut sich um und erblickt eine große Schüssel mit Ziegenmilch.
– Die Milch ist sauer geworden. Weg damit! Kippen Sie sie in den Bach.
Lucas gehorcht. Als er zurückkommt, hat Joseph bereits die Küche gelüftet und die Fliesen gewischt. Lucas steigt hinunter in den Keller und kommt mit einer Flasche Wein und Speck wieder herauf.
Joseph sagt:
– Dazu braucht man Brot.
– Ich habe keins.
Joseph steht wortlos auf und holt einen Laib Brot aus seinem Karren.
– Da haben wir welches. Ich habe es nach dem Markt gekauft. Zu Hause backen wir keins mehr.
Joseph isst und trinkt. Er fragt:
– Sie trinken ja gar nicht. Und essen tun Sie auch nicht. Was ist los, Lucas?
– Ich bin müde. Ich kann nicht essen.
– Sie sind blass unter Ihrer Bräune im Gesicht und nur noch Haut und Knochen.
– Das macht nichts. Das geht vorbei.
Joseph sagt:
– Dachte ich mir doch, dass da etwas nicht ganz richtig ist in Ihrem Kopf. Da steckt bestimmt ein Mädchen dahinter.
– Nein, kein Mädchen.
Joseph mit einem Zwinkern:
– Ich kenne doch die Jugend. Aber es täte mir leid, wenn ein so hübscher Kerl wie Sie sich gehen ließe wegen eines Mädchens.
Lucas sagt:
– Es ist nicht wegen eines Mädchens.
– Wegen was dann?
– Ich weiß es nicht.
– Sie wissen es nicht? Dann brauchen Sie einen Arzt.
– Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Joseph, es geht schon.
– Es geht schon, es geht schon. Er lässt seinen Garten verkommen, die Milch sauer werden, er isst nicht, er trinkt nicht, und er glaubt, das könnte so weitergehen.
Lucas antwortet nicht.
Beim Weggehen sagt Joseph:
– Hören Sie, Lucas. Damit Sie nicht wieder vergessen, wann Markt ist, werde ich an den Tagen eine Stunde früher aufstehen und Sie wecken. Dann laden wir zusammen das Gemüse auf und das Obst und die Tiere, die verkauft werden sollen. Recht so?
– Ja, vielen Dank, Joseph.
Lucas gibt Joseph noch eine Flasche Wein und begleitet ihn zum Karren.
Joseph ruft, während er sein Pferd mit der Peitsche antreibt:
– Vorsicht, Lucas, Vorsicht! Liebe kann tödlich sein!
Lucas sitzt auf der Gartenbank. Er hat die Augen geschlossen. Als er sie wieder aufmacht, sieht er ein kleines Mädchen, das auf einem Ast des Kirschbaums hin- und herschaukelt.
Lucas fragt:
– Was tust du hier? Wer bist du?
Das kleine Mädchen springt herunter, es spielt mit den rosa Schleifen an seinen Zopfenden:
– Tante Leonie lässt sagen, Sie möchten zum Herrn Pfarrer gehen. Er ist ganz allein, weil Tante Leonie nicht mehr arbeiten kann, sie liegt zu Hause, sie steht nicht mehr auf, sie ist zu alt.
Meine Mutter hat keine Zeit, zum Herrn Pfarrer zu gehen, weil sie in der Fabrik arbeitet, und mein Vater auch.
Lucas sagt:
– Ich verstehe. Wie alt bist du?
– Ich weiß nicht genau. Das letzte Mal, als ich Geburtstag hatte, war ich fünf, aber das war im Winter. Und jetzt ist schon Herbst, und ich könnte in die Schule, wenn ich nicht zu spät geboren wäre.
– Es ist schon Herbst!
Das kleine Mädchen lacht:
– Wussten Sie das nicht? Seit zwei Tagen ist Herbst, auch wenn man glaubt, es ist Sommer, weil es noch warm ist.
– Du weißt ja allerhand!
– Ja. Ich habe einen großen Bruder, der bringt mir alles bei. Er heißt Simon.
– Und du? Wie heißt du?
– Agnes.
– Das ist ein schöner Name.
– Lucas auch. Ich weiß, dass Sie Lucas sind, denn meine Tante hat gesagt: »Hol Lucas, der wohnt im letzten Haus, gegenüber von den Grenzsoldaten.«
– Haben die Posten dich denn nicht festgenommen?
– Die haben mich nicht gesehen. Ich bin hintenrum gegangen.
Lucas sagt:
– So eine kleine Schwester wie dich möchte ich auch haben.
– Hast du keine?
– Nein. Wenn ich eine hätte, würde ich ihr eine Schaukel machen. Soll ich dir eine Schaukel machen?
Agnes sagt:
– Ich habe eine zu Hause. Aber ich schaukle lieber auf was anderm. Das macht mehr Spaß.
Sie springt in die Luft, schnappt sich den großen Ast des Kirschbaums und schaukelt lachend daran hin und her.
Lucas fragt:
– Bist du nie traurig?
– Nein, weil ich mich immer mit etwas tröste.
Sie springt wieder herunter:
– Sie müssen schnell zum Herrn Pfarrer gehen. Meine Tante hat es mir schon gestern und vorgestern und vorvorgestern gesagt, aber ich habe es immer wieder vergessen. Ich kriege bestimmt Schimpfe.
Lucas sagt:
– Keine Angst, ich gehe heute Abend hin.
– Gut, dann gehe ich heim.
– Bleib noch ein Weilchen. Willst du Musik hören?
– Was für Musik?
– Du wirst schon sehen. Komm mit.
Lucas nimmt das kleine Mädchen auf den Arm, geht mit ihm in sein Zimmer, setzt es auf das große Bett und legt eine Platte auf das alte Grammofon. Er hockt sich auf den Boden, legt den Kopf auf die Arme und hört zu.
Agnes fragt:
– Weinst du?
Lucas schüttelt den Kopf.
Sie sagt:
– Ich habe Angst. Ich mag die Musik nicht.
Lucas ergreift ein Bein des kleinen Mädchens und drückt es fest. Das Mädchen schreit:
– Du tust mir weh! Lass mich los!
Lucas lockert den Griff.
Als die Platte abgelaufen ist, steht er auf und dreht sie um. Das kleine Mädchen ist verschwunden. Lucas hört Schallplatten, bis die Sonne untergegangen ist.
Am Abend macht Lucas einen Korb mit Gemüse, Kartoffeln, Eiern und Käse zurecht. Er schlachtet ein Huhn, nimmt es aus und packt auch Milch und eine Flasche Wein in den Korb.
Er klingelt an der Pfarrei, keiner kommt und macht auf. Er geht durch die offene Hintertür hinein und stellt seinen Korb in die Küche. Er klopft an die Schlafzimmertür und tritt ein.
Der Pfarrer, ein hagerer alter Mann, sitzt an seinem Schreibtisch. Im Licht einer Kerze spielt er Schach, allein.
Lucas zieht einen Stuhl an den Schreibtisch heran, setzt sich dem alten Mann gegenüber und sagt:
– Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer.
Der Pfarrer sagt:
– Ich zahle Ihnen nach und nach zurück, was ich Ihnen schulde, Lucas.
Lucas fragt:
– Bin ich schon lange nicht mehr hier gewesen?
– Seit Anfang des Sommers. Wissen Sie das nicht mehr?
– Nein. Wer hat Sie unterdessen versorgt?
– Leonie hat mir jeden Tag etwas Suppe gebracht. Aber seit ein paar Tagen ist sie krank.
Lucas sagt:
– Bitte verzeihen Sie mir, Herr Pfarrer.
– Verzeihen? Ich habe Sie seit vielen Monaten nicht bezahlt. Ich habe kein Geld mehr. Staat und Kirche sind getrennt, ich werde für meine Arbeit nicht mehr entlohnt. Ich muss von dem leben, was die Gläubigen mir geben. Aber die Leute glauben, es könnte ihnen schaden, in die Kirche zu gehen. Nur ein paar alte Frauen kommen zum Gottesdienst.
Lucas sagt:
– Wenn ich nicht gekommen bin, dann nicht wegen des Geldes, das Sie mir schulden. Es ist schlimmer.
– Wieso schlimmer?
Lucas senkt den Kopf:
– Ich hatte Sie ganz und gar vergessen. Ich hatte auch meinen Garten vergessen und den Markt, die Milch und den Käse. Ich hatte sogar vergessen zu essen. Monatelang habe ich in der Dachkammer geschlafen, ich hatte Angst, in mein Schlafzimmer zu gehen. Es musste erst ein kleines Mädchen, die Nichte von Leonie, kommen, damit ich den Mut hatte, wieder hineinzugehen. Sie hat mich auch an meine Pflichten Ihnen gegenüber erinnert.
– Sie haben mir gegenüber keinerlei Pflichten. Sie verkaufen Ihre Ware und leben davon. Wenn ich Sie nicht mehr bezahlen kann, ist es normal, dass Sie mir nichts mehr liefern.
– Ich sage Ihnen noch mal, es ist nicht wegen des Geldes. Verstehen Sie mich recht.
– Das müssen Sie mir erklären. Ich höre.
– Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll.
Der Pfarrer steht auf und nimmt Lucas' Gesicht in seine Hände:
– Was ist mit Ihnen geschehen, mein Kind?
Lucas schüttelt den Kopf:
– Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Es ist wie eine Krankheit.
– Ich sehe schon. Eine Art Seelenkrankheit. Weil Sie noch so jung sind und vielleicht auch zu viel allein.
Lucas sagt:
– Mag sein. Ich koche etwas, und wir essen zusammen. Ich habe selbst lange nichts mehr gegessen. Wenn ich etwas esse, muss ich mich erbrechen. Mit Ihnen zusammen ginge es vielleicht.
Er geht in die Küche, macht Feuer und stellt das Huhn mit dem Gemüse auf.
Er deckt den Tisch und öffnet eine Flasche Wein.
Der Pfarrer kommt in die Küche:
– Ich sage es noch mal, Lucas, ich kann Sie nicht bezahlen.
– Sie müssen doch etwas essen.
– Ja, aber ich brauche kein Festmahl. Etwas Kartoffeln oder Mais würden mir genügen.
Lucas sagt:
– Sie werden essen, was ich Ihnen bringe, und wir reden nicht mehr von Geld.
– Das kann ich nicht annehmen.
– Es ist leichter zu geben als zu nehmen, nicht wahr? Stolz ist eine Sünde, Herr Pfarrer.
Sie essen schweigend. Sie trinken Wein. Lucas muss sich nicht erbrechen. Nach dem Essen spült er das Geschirr. Der Pfarrer geht wieder in sein Zimmer. Lucas kommt zu ihm:
– Ich muss jetzt gehen.
– Wohin gehen Sie?
– Ich laufe in den Straßen herum.
– Ich könnte Ihnen das Schachspiel beibringen.
Lucas sagt:
– Ich glaube nicht, dass ich mich dafür interessieren könnte. Es ist ein kompliziertes Spiel, das viel Konzentration verlangt.
– Versuchen wir's mal.
Der Pfarrer erklärt das Spiel. Sie spielen eine Partie. Lucas gewinnt.
Der Pfarrer fragt:
– Woher können Sie Schach?
– Aus Büchern. Aber es ist das erste Mal, dass ich richtig spiele.
– Kommen Sie wieder zum Spielen?
Lucas kommt jeden Abend. Der Herr Pfarrer macht Fortschritte, die Partien werden interessant, obwohl immer Lucas gewinnt.
Lucas schläft wieder in seinem Zimmer in dem großen Bett. Er vergisst nicht mehr, wann Markt ist, er lässt die Milch nicht mehr sauer werden. Er kümmert sich um die Tiere, den Garten, den Haushalt. Er geht wieder in den Wald, um Pilze zu sammeln und trockenes Holz. Er geht auch wieder zum Fischen.
Als Kind fing Lucas die Fische mit der Hand oder mit der Angel. Jetzt denkt er sich ein Verfahren aus, wonach die Fische aus dem Fluss in ein Becken geleitet werden, aus dem sie nicht mehr heraus können. Lucas braucht sie nur mit einem Netz herauszuholen, wenn er frischen Fisch haben will.
Abends isst Lucas mit dem Herrn Pfarrer, spielt ein oder zwei Partien Schach und wandert dann wieder durch die Straßen der Stadt.
Eines Abends kehrt er in der ersten Kneipe ein, an der er vorbeikommt. Früher war es ein gut geführtes Café, sogar im Krieg. Jetzt ist es ziemlich finster dort und beinahe leer.
Die Kellnerin, eine hässliche, verhärmte Person, ruft von der Theke herüber:
– Wieviel?
– Einen Halben.
Lucas setzt sich an einen Tisch voller Rotweinflecken und Zigarettenasche. Die Kellnerin bringt ihm einen halben Liter Landwein. Sie kassiert sofort.
Als er seinen halben Liter getrunken hat, steht er auf und geht wieder. Er wandert weiter, bis zum Hauptplatz. An der Buch- und Schreibwarenhandlung bleibt er stehen und betrachtet lange das Schaufenster: Schulhefte, Bleistifte, Radiergummis und ein paar Bücher. Lucas geht in die Kneipe gegenüber.
Hier ist etwas mehr Betrieb, aber es ist noch schmutziger als in der andern. Der Fußboden ist mit Sägemehl bestreut.
Lucas setzt sich nahe an die offene Tür, denn es gibt keine andere Lüftung im Lokal.
Ein paar Grenzsoldaten sitzen an einem langen Tisch. Sie haben Mädchen bei sich. Sie singen.
Ein kleiner, abgerissener alter Mann setzt sich zu Lucas an den Tisch:
– Na, spielst du was?
Lucas ruft:
– Einen Halben mit zwei Gläsern!
Der kleine Alte sagt:
– Du solltest mir kein Glas spendieren, du solltest nur spielen. Wie früher.
– Ich kann nicht mehr spielen wie früher.
– Ich versteh dich. Aber spiel trotzdem. Ich würde mich freuen.
Lucas schenkt den Wein ein:
– Trink.
Er holt seine Mundharmonika aus der Tasche und fängt an, ein trauriges Lied zu spielen, ein Lied von Liebe und Auseinandergehn.
Die Grenzsoldaten und die Mädchen stimmen mit ein. Eines der Mädchen setzt sich neben Lucas und streicht ihm übers Haar:
– Seht mal, wie süß der ist.
Lucas hört auf zu spielen und steht auf.
Das Mädchen lacht:
– Ist der aber scheu!
Draußen regnet es. Lucas geht in eine dritte Kneipe und verlangt noch mal einen halben Liter. Als er anfängt zu spielen, wenden sich die Gesichter ihm zu, senken sich dann aber wieder über die Gläser. Die Leute hier trinken, aber reden nicht miteinander.
Plötzlich pflanzt sich ein großer, kräftiger Mann, der nur noch ein Bein hat, mitten im Saal auf, genau unter der einzigen Glühbirne, und fängt an, auf seine Krücken gestützt, ein verbotenes Lied zu singen.
Lucas begleitet ihn auf der Mundharmonika.
Die andern Gäste trinken rasch ihr Glas leer und verlassen einer nach dem andern die Kneipe.
Die Tränen laufen dem Mann übers Gesicht, als er die beiden letzten Verse singt:
»Dieses Volk hat schon gesühnt
was geschehen ist und was kommen wird.«
Am nächsten Tag geht Lucas in die Buch- und Schreibwarenhandlung. Er sucht sich drei Bleistifte aus, ein Paket kariertes Papier und ein dickes Heft. Als er zur Kasse kommt, sagt der Buchhändler, ein dicker, blasser Mann, zu ihm:
– Ich habe Sie lange nicht gesehen. Waren Sie fort?
– Nein, ich hatte nur zu viel zu tun.
– Ihr Papierverbrauch ist beachtlich. Ich frage mich manchmal, was Sie damit machen.
Lucas sagt:
– Ich schreibe gern weiße Blätter voll mit einem Bleistift. Nur so zum Zeitvertreib.
– Das müssen ja Berge sein mit der Zeit.
– Ich vergeude viel. Die missratenen Seiten nehme ich zum Feueranmachen.
Der Buchhändler sagt:
– Leider hab ich sonst keine so schreibbesessenen Kunden wie Sie. Der Laden läuft nicht mehr. Vorm Krieg ging's. Da gab es hier viele Schulen. Oberschulen, Internate, Kollegien. Die Studenten bummelten abends durch die Straßen und amüsierten sich. Es gab auch ein Konservatorium hier und jede Woche Konzerte und Theateraufführungen. Sehen Sie sich jetzt mal die Straße an. Nur Kinder und alte Leute. Ein paar Arbeiter, ein paar Weinbauern. Keine Jugend mehr in der Stadt. Die Schulen sind alle ins Innere des Landes verlegt worden, außer der Grundschule. Die jungen Leute, sogar die, die nicht studieren, gehen woanders hin, in Städte, wo mehr los ist. Unsere Stadt ist eine tote Stadt. Grenzgebiet, abgesperrt, vergessen. Man kennt jeden, der hier wohnt, vom Sehen. Es sind immer dieselben Gesichter. Kein Fremder kommt hier rein.
Lucas sagt:
– Es gibt Grenzsoldaten. Die sind jung.
– Ja, die Ärmsten. Eingesperrt in Kasernen und nachts patroullieren. Und alle sechs Monate werden sie abgelöst, damit sie nicht mit der Bevölkerung warm werden. Diese Stadt hat zehntausend Einwohner, dazu dreitausend ausländische Soldaten und zweitausend eigene Grenzsoldaten. Vorm Krieg hatten wir fünftausend Studenten und im Sommer Touristen. Die Touristen kamen aus dem Landesinnern, aber auch von der andern Seite der Grenze.
Lucas fragt:
– War die Grenze offen?
– Ja, freilich. Die Bauern von drüben verkauften ihre Ware hier, und die Studenten gingen zu den Dorffesten auf die andere Seite. Auch der Zug fuhr weiter bis zur nächsten großen Stadt im andern Land. Jetzt ist unsere Stadt die Endstation. Alles aussteigen! Und Papiere vorzeigen!
Lucas fragt:
– Konnte man ungehindert hinüber und wieder zurück? Konnte man denn ins Ausland reisen?