Robert M. Pirsig
Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten
Ein Versuch über Werte
Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort des Autors:
Zehn Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe
Robert M. Pirsig, geb. 1928 in Minneapolis, Minnesota, studierte bereits im Alter von 14 Jahren Biochemie, nachdem bei ihm in frühester Kindheit ein außergewöhnlich hoher Intelligenzquotient festgestellt wurde. Er musste die University of Minnesota allerdings aufgrund seines mangelnden Interesses am Studium nach drei Jahren verlassen. Nach einem mehrjährigen Dienst bei der Armee studierte Pirsig schließlich Philosophie, u.a. in Benares/Indien. Wegen eines psychischen Zusammenbruchs wurde er 1961 eingewiesen und einer Elektroschocktherapie unterzogen, von der er sich erst Jahre später erholte. Eine Motorradreise im Jahr 1968 war der Anlass zur Abfassung des Buchs »Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten«, welches 1974 veröffentlicht wurde und Pirsig weltberühmt machte. 1991 erschien Pirsigs zweites Buch »Lila oder ein Versuch über die Moral« (FTV Bd. 17169). Pirsig verstarb 2017 im Alter von 88 Jahren in Maine, USA.
Covergestaltung: Imke Schuppenhauer, Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1976
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402848-4
Notenstufen in Amerika: A (beste Note), B, C, D und F (für »failed« = »durchgefallen«). (Anm. d. Übers.)
Meiner Familie
Dieses Buch handelt von wahren Begebenheiten. Obwohl vieles aus rhetorischen Gründen verändert wurde, muß es im wesentlichen als Tatsachenbericht gelten. Jedoch sollte es in keiner Weise mit jenem umfassenden System faktischen Wissens in Verbindung gebracht werden, das der Praxis des orthodoxen Zen-Buddhismus zugrunde liegt. Auch von Motorrädern handelt es nicht in diesem faktischen Sinne.
Was aber gut ist, Phaidros,
und was nicht –
müssen wir danach erst andere fragen?
Ohne die Hand vom linken Griff des Motorradlenkers zu nehmen, kann ich auf meiner Uhr sehen, daß es halb neun ist. Der Fahrtwind ist sogar bei sechzig Meilen pro Stunde warm und feucht. Ich frage mich, wie es erst am Nachmittag werden soll, wenn es schon um halb neun so schwül ist.
In den Wind mischen sich stechende Gerüche von den Sümpfen an der Straße. Wir sind in einem Teil der Central Plains, in dem dicht beieinander Tausende von Ententümpeln liegen, und fahren nordwestwärts, von Minneapolis nach den Dakotas. Auf der alten zweispurigen Betonstraße ist nicht mehr viel Verkehr, seit vor einigen Jahren parallel dazu eine vierspurige gebaut wurde. Wenn wir durch sumpfiges Gelände fahren, kühlt sich die Luft spürbar ab. Kaum liegt es hinter uns, erwärmt sie sich wieder.
Ich bin glücklich, wieder in dieses Land zu kommen. Es ist eine Art Nirgendwo, eine Gegend, die für nichts berühmt und gerade deshalb irgendwie anziehend ist. Spannungen lösen sich, wenn man auf so einer alten Straße fährt. Wir holpern über den ramponierten Beton, rechts und links ziehen Rohrkolben vorbei, ab und zu ein Stück Wiese, dann wieder Rohrkolben, Spartgras. Hier und da blinkt offenes Wasser, und wenn man genau hinschaut, kann man Wildenten am Rande der Rohrkolben sehen. Und Schildkröten … Da, ein Sumpfhordenvogel.
Ich klatsche Chris aufs Knie und zeige in die Richtung.
»Was?« schreit er.
»Sumpfhordenvogel!«
Er sagt etwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. »Was?« schreie ich zurück.
Er hält sich hinten an meinem Helm fest und schreit zu mir herauf: »Hab’ ich schon massenweise gesehen, Dad!«
»Ach so«, schreie ich zurück. Dann nicke ich. Mit elf Jahren ist man von Sumpfhordenvögeln nicht sonderlich beeindruckt.
Dazu muß man erst älter werden. Für mich sind da überall Erinnerungen, die er nicht hat. Kalte Morgen, vor langer Zeit, das Spartgras hatte sich braun gefärbt, und die Rohrkolben schwankten im Nordwestwind. Der stechende Geruch kam damals von dem Schlamm, den wir mit unseren hüfthohen Wasserstiefeln aufwühlten, wenn wir vor Sonnenaufgang auf den Anstand gingen, um die Entenjagd zu eröffnen. Oder die Winter, wenn die Tümpel zugefroren und tot waren und ich über Eis und Schnee durch die abgestorbenen Rohrkolben wandern konnte und nichts sah als grauen Himmel und Totes und Kälte. Dann waren die Sumpfhordenvögel fort. Aber jetzt im Juli sind sie wieder da, alles ist quicklebendig, und jeder Fußbreit dieser Sümpfe zirpt und summt und schnarrt und zwitschert, eine Gemeinschaft von Millionen lebender Wesen, deren Dasein sich in einem friedvollen Kontinuum erfüllt.
Wenn man mit dem Motorrad Ferien macht, sieht man die Welt mit anderen Augen an. Im Auto sitzt man ja immer in einem Abteil, und weil man so daran gewöhnt ist, merkt man nicht, daß alles, was man durchs Autofenster sieht, auch wieder bloß Fernsehen ist. Man ist passiver Zuschauer, und alles zieht gleichförmig eingerahmt vorüber.
Auf dem Motorrad ist der Rahmen weg. Man ist mit allem ganz in Fühlung. Man ist mitten drin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und das Gefühl der Gegenwärtigkeit ist überwältigend. Der Beton, der da fünf Zoll unter den Füßen durchwischt, ist echt, derselbe Stoff, auf dem man geht, er ist wirklich da, so unscharf zwar, daß er sich nicht fixieren läßt, aber man kann jederzeit den Fuß darauf stellen und ihn berühren; man erlebt alles direkt, nichts ist auch nur einen Augenblick dem unmittelbaren Bewußtsein entzogen.
Chris und ich fahren mit Freunden, die ein Stück vor uns sind, nach Montana und vielleicht noch weiter. Wir haben bewußt keine festen Pläne gemacht, weil Fahren uns wichtiger ist als Ankommen. Wir machen einfach Ferien. Landstraßen zweiter Ordnung ziehen wir vor. Asphaltierte Bezirksstraßen stehen ganz oben, dann kommen Staatsstraßen, Autobahnen meiden wir, wo es geht. Wir wollen gut vorankommen, aber die Betonung liegt für uns mehr auf dem »gut« als auf dem »vorankommen«, und mit dieser Akzentverschiebung stellt sich ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit ein. Gewundene Bergstraßen sind lang, wenn man nach Sekunden rechnet, aber sie machen viel mehr Spaß, wenn man sich mit dem Motorrad in die Kurve legt, statt daß es einen in irgendeinem Abteil von einer Seite auf die andere zieht. Straßen mit wenig Verkehr sind erfreulicher und außerdem sicherer, Straßen ohne Drive-in-Restaurants und Reklametafeln, Straßen, bei denen Wäldchen und Wiesen und Obstgärten und Rasenflächen fast bis an die Bankette heranreichen, wo einem im Vorüberfahren Kinder zuwinken, wo die Leute von der Veranda aufschauen, um zu sehen, wer da kommt, wo die Antworten, wenn man anhält, um nach dem Weg zu fragen oder andere Auskunft zu erbitten, meist länger ausfallen als erwartet, wo die Leute wissen wollen, woher man kommt und wie lange man schon unterwegs ist.
Es ist jetzt ein paar Jahre her, daß meine Frau und ich und unsere Freunde zum erstenmal auf den Gedanken kamen, diese Landstraßen zu benutzen. Wir nahmen sie ab und zu, um mal was Neues auszuprobieren oder als Abkürzung zu einer anderen Fernverkehrsstraße, und jedesmal war die Landschaft großartig und wir waren hinterher froh und entspannt. Das wiederholte sich viele Male, bevor uns endlich aufging, was wir eigentlich von Anfang an hätten merken müssen: Diese Landstraßen sind mit den großen Fernstraßen überhaupt nicht zu vergleichen. Der Lebensrhythmus der Leute, die an diesen Straßen wohnen, ist anders, ihre ganze Art ist anders. Sie sind nicht ständig irgendwohin unterwegs. Sie sind nicht zu beschäftigt, um höflich zu sein. Sie kennen sich aus im Hier und Jetzt der Dinge. Nur die anderen, die vor Jahren in die Städte gezogen sind, und ihre verlorenen Nachkommen, die haben es fast völlig vergessen. Für uns war es eine richtige Entdeckung.
Ich habe mich oft gefragt, warum wir erst so spät darauf kamen. Wir sahen es und sahen es doch nicht. Oder besser gesagt, wir waren darauf abgerichtet, es nicht zu sehen. Vielleicht weil man uns eingeredet hatte, das wirkliche Leben spiele sich in den Großstädten ab, und das da sei nichts weiter als langweilige Provinz. Es ist wirklich eigenartig. Da klopft die Wahrheit an die Tür, und man sagt ihr: »Geh, ich warte auf die Wahrheit«, und dann geht sie eben. Eigenartig.
Aber als wir es endlich wußten, konnte uns natürlich nichts mehr von diesen Straßen abbringen, an Wochenenden, an Feierabenden, in den Ferien. Wir sind richtige Landstraßen-Fans geworden mit unseren Motorrädern und haben dabei mit der Zeit manches gelernt.
Zum Beispiel haben wir gelernt, schon auf der Karte die richtigen Straßen ausfindig zu machen. Wenn die Linie sich schlängelt, ist das ein gutes Zeichen. Denn das bedeutet Berge. Wenn es sich aber um die mutmaßliche Hauptverbindung zwischen einer kleineren und einer großen Stadt handelt, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Die besten Straßen sind immer diejenigen, die einen abgelegenen Flecken mit einem anderen verbinden und zu denen es eine Parallelstraße gibt, auf der man schneller ans Ziel kommt. Fährt man von einer größeren Stadt aus nach Nordosten, dann geht es nie lange geradeaus. Kaum ist man auf dem flachen Land, schwenkt die Route nach Norden, dann nach Osten, dann wieder nach Norden, und schon bald ist man auf einer kleinen Landstraße, die nur von den Einheimischen benutzt wird.
Vor allem aber muß man lernen, sich nicht zu verfahren. Da die Straßen nur von den Einheimischen benutzt werden, die sich sowieso auskennen, beschwert sich niemand, wenn die Kreuzungen nicht beschildert sind. Oft genug sind sie es nicht. Und wenn, dann höchstens mit einem kleinen Wegweiser, der unaufdringlich im hohen Gras am Straßenrand steht. Übersieht einer diesen Wegweiser im Gras, dann ist das sein Problem, nicht das der Einheimischen. Obendrein stellt man fest, daß die Autokarten es mit den kleinen Landstraßen oft nicht so genau nehmen. Und immer wieder mal passiert es einem, daß aus einer »Bezirksstraße« ein Fahrweg wird, dann ein schmaler Feldweg, der auf eine Weide führt und einfach aufhört; oder man landet auf dem Hinterhof einer Farm.
So orientieren wir uns hauptsächlich an der Himmelsrichtung und der zurückgelegten Strecke und versuchen im übrigen, jeden Hinweis zu deuten, der sich uns bietet. Ich habe in einer Tasche einen Kompaß für bedeckte Tage, an denen man sich nicht nach der Sonne richten kann, und die Karte habe ich in einer Spezialtasche auf dem Benzintank befestigt, so daß ich die seit der letzten Kreuzung zurückgelegte Strecke verfolgen kann und immer weiß, worauf ich achten muß. Mit diesen Hilfsmitteln und ohne den Zwang, zu bestimmter Zeit irgendwo »anzukommen«, geht es wunderbar, und wir haben Amerika beinahe ganz für uns allein.
An verlängerten Wochenenden fahren wir auf diesen Straßen oft meilenweit, ohne einem anderen Fahrzeug zu begegnen, und dann kreuzen wir eine Fernverkehrsstraße und betrachten uns die Autokolonnen, Stoßstange an Stoßstange bis zum Horizont. Drinnen mißmutige Gesichter. Auf dem Rücksitz schreiende Kinder. Dann wünsche ich mir immer, daß es eine Möglichkeit gäbe, ihnen etwas zu sagen, aber sie sind so mißmutig und haben es offenbar so furchtbar eilig, und außerdem …
Ich habe diese Sümpfe schon tausendmal gesehen, aber sie sind jedesmal wieder neu. Es ist falsch, sie friedvoll zu nennen. Man könnte sie genausogut als grausam und sinnlos bezeichnen, denn das sind sie auch, aber ihre Realität läßt Halbheiten nicht zu. Da! Ein riesiger Schwarm Sumpfhordenvögel fliegt aus seiner Nistkolonie in den Rohrkolben auf, durch unser Geräusch aufgeschreckt. Wieder gebe ich Chris einen Klaps aufs Knie … dann fällt mir ein, daß er das ja schon kennt.
»Was?« schreit er auch diesmal.
»Nichts.«
»Sag doch.«
»Ich wollte nur sehen, ob du noch da bist«, schreie ich, und dann wird kein Wort mehr gewechselt.
Wenn man nicht gerade gerne schreit, führt man auf dem Motorrad keine langen Gespräche. Lieber hält man die Augen offen und denkt über alles mögliche nach. Darüber, was man sieht und hört, über die Stimmung des Wetters und über Erinnerungen, über die Maschine und die Landschaft, durch die man fährt, denkt ausgiebig und in Ruhe über die Dinge nach, ohne Hast und ohne das Gefühl, Zeit zu verlieren.
Ich möchte gerne die vor uns liegende Zeit dazu nutzen, über manches zu sprechen, was mich schon länger beschäftigt. Wir haben es ja meistens so eilig, daß wir kaum einmal richtig zum Reden kommen. Die Folge davon ist ein tägliches seichtes Einerlei, eine endlose Monotonie, die uns nach Jahren verwundert fragen läßt, wo denn die ganze Zeit geblieben ist, und bedauern, daß sie unwiederbringlich dahin ist. Jetzt aber, da wir etwas Zeit haben und es auch wissen, möchte ich sie nützen und mit einiger Tiefe von Dingen reden, die mir wichtig scheinen.
Was ich mir vorstelle, ist eine Chautauqua – eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein – nach Art jener wandernden Sommerschulen, die einst mit ihren Zelten durch Amerika zogen, dieses Amerika, dasselbe, in dem wir uns jetzt befinden, und populäre Vorträge hielten, die erbauen und unterhalten, den Verstand schärfen und den Zuhörern Kultur und Aufklärung bringen sollten. Die Chautauquas mußten dem hektischeren Rundfunk, Film und Fernsehen weichen, und es scheint, daß dieser Wandel sich nicht nur zum Guten ausgewirkt hat. Vielleicht aufgrund dieser Veränderung fließt der Bewußtseinsstrom der Nation jetzt schneller und breiter, aber er ist wohl auch seichter geworden. Die alten Kanäle fassen ihn nicht mehr, und auf seiner Suche nach neuen richtet er an seinen Ufern zunehmend Chaos und Zerstörung an. In dieser Chautauqua möchte ich keine neuen Bewußtseinskanäle ausheben, sondern lediglich die alten ein bißchen vertiefen, die angefüllt sind mit dem Schlick schal gewordener Gedanken und zu oft wiederholter Plattheiten. »Was gibt es Neues?« ist eine ewig interessante, ins Breite gehende Frage, die aber, geht man allein ihr nach, nur zu einer endlosen Kette von Trivialitäten und Modeerscheinungen führt, dem Schlick von morgen. Ich möchte mich statt dessen mit der Frage »Was ist das Beste?« befassen, einer Frage, die in die Tiefe geht statt in die Breite und deren Antworten den Schlick flußabwärts schwemmen können. Es gab in der Geschichte der Menschen Zeitalter, in denen die Kanäle des Denkens zu tief eingegraben und Veränderungen daher unmöglich waren; in diesen Epochen geschah nie etwas Neues, und die Frage nach dem »Besten« wurde dogmatisch entschieden, aber so ist es heute nicht mehr. Jetzt, so scheint mir, reißt der Strom unseres kollektiven Bewußtseins seine eigenen Ufer fort, kennt seine große Richtung, seine Bestimmung nicht mehr, überflutet die Niederungen und isoliert die Höhen, besinnungslos nur dem ungelenkten Antrieb gehorchend, den die Trägheit seiner Masse ihm verleiht. Ein gewisses Vertiefen der Kanäle tut not.
Die anderen beiden, John Sutherland und seine Frau Sylvia, sind vor uns auf einen Rastplatz an der Straße ausgebogen. Zeit, sich zu strecken. Als ich neben ihnen anhalte, nimmt Sylvia gerade den Helm ab und schüttelt ihr loses Haar, während John seine BMW auf den Ständer hebt. Keiner sagt etwas. Wir waren schon so oft miteinander unterwegs, daß wir mit einem Blick erfassen, wie der andere sich fühlt. Im Moment sind wir einfach nur still und schauen uns um.
Die Picknick-Bänke sind zu so früher Stunde noch leer. Wir haben den ganzen Platz für uns. John geht über das Gras zu einer gußeisernen Pumpe und fängt an, sich Wasser zum Trinken hochzupumpen. Chris schlendert durch eine lichte Baumgruppe hinter einem grasbewachsenen Buckel zu einem Bach hinunter. Ich starre in die Gegend.
Nach einer Weile setzt sich Sylvia auf die Holzbank und streckt ihre Beine; langsam und ohne aufzuschauen hebt sie erst das eine, dann das andere hoch. Langes Schweigen schlägt ihr immer aufs Gemüt. Ich mache eine Bemerkung darüber. Sie schaut auf und senkt dann den Blick wieder.
»Es waren die vielen Leute in den Autos, die uns entgegenkamen«, sagt sie. »Der erste sah so traurig aus. Aber beim nächsten war es genau dasselbe und beim nächsten und beim nächsten, es war bei allen das gleiche.«
»Die sind zur Arbeit gefahren.«
Sie beobachtet genau, aber es war eigentlich nichts Ungewöhnliches daran. »Stell dir vor, zur Arbeit«, wiederhole ich. »Montagmorgen. Noch ganz verschlafen. Wer fährt schon am Montagmorgen grinsend zur Arbeit?«
»Es ist nur, weil sie mir so verloren vorkamen«, sagt sie. »Als ob sie alle tot wären. Wie ein Leichenzug.« Sie stellt die Füße wieder auf den Boden und läßt sie dort stehen.
Ich weiß, was sie sagen will, aber im Grunde genommen hat es weder Hand noch Fuß. Man arbeitet, um zu leben, und genau das tun sie. »Ich habe mir die Sümpfe angeschaut«, sage ich.
Nach einer Weile blickt sie auf und fragt: »Was hast du gesehen?«
»Einen ganzen Schwarm Sumpfhordenvögel. Sie flogen plötzlich auf, als wir vorbeifuhren.«
»Oh.«
»Es hat mir gut getan, sie wiederzusehen. Sie verknüpfen die Dinge, Gedanken und so. Du weißt, was ich meine?«
Sie denkt eine Weile nach, und dann lächelt sie, und die Bäume hinter ihr haben ein intensives Grün. Sie versteht eine Sprache, die nichts mit dem zu tun hat, was man sagt. Eine Tochter.
»Ja«, sagt sie. »Sie sind schön.«
»Achte mal auf sie«, sage ich.
»Mach’ ich.«
John erscheint und kontrolliert das Gepäck auf der Maschine. Er zieht ein paar von den Stricken fester, öffnet die Satteltasche und kramt darin herum. Er nimmt mehrere Sachen heraus und legt sie auf die Erde. »Falls du mal ein Seil brauchst, wende dich vertrauensvoll an mich«, sagt er. »Mann, ich glaube, ich hab fünfmal soviel Zeug dabei, wie wir brauchen.«
»Bis jetzt kein Bedarf«, erwidere ich.
»Zündhölzer?« sagt er, indem er weiterkramt. »Sonnenmilch, Kämme, Schuhbänder … Schuhbänder? Wozu brauchen wir Schuhbänder?«
»Fang nicht wieder damit an«, sagt Sylvia. Sie sehen sich ausdruckslos an und schauen dann beide zu mir her.
»Schuhbänder können immer mal reißen«, erkläre ich feierlich. Sie lächeln, aber sie lächeln sich nicht an.
Gleich darauf kommt Chris zurück, wir können weiter. Während er sich fertig macht und aufsteigt, fahren die anderen beiden los und Sylvia winkt. Wir sind wieder auf der Straße, und ich sehe ihnen nach, wie sie davonziehen.
Auf die Idee für die Chautauqua, die mir für diese Fahrt vorschwebt, haben die beiden mich vor vielen Monaten gebracht, und vielleicht – ich bin mir da nicht ganz sicher – vielleicht hängt das mit der Unterströmung von Disharmonie zusammen, die zwischen ihnen herrscht.
Ganz harmonisch geht’s wohl in den wenigsten Ehen zu, aber in ihrem Fall ist es ernster. Wenigstens habe ich den Eindruck.
Es liegt nicht daran, daß sie charakterlich nicht zueinander passen; es ist etwas anderes, wofür man keinem von beiden die Schuld geben kann, wofür sie beide keine Lösung wissen und wofür wohl auch ich keine Lösung habe; ich mache mir nur so meine Gedanken.
Den Anstoß gab eine scheinbar belanglose Meinungsverschiedenheit zwischen John und mir über eine an sich unwichtige Frage: Inwieweit soll man sein Motorrad selbst warten? Für mich ist es selbstverständlich und durchaus normal, mich der kleinen Werkzeuggarnitur und der Betriebsanleitung zu bedienen, die man mit jedem Motorrad mitgeliefert bekommt, und die Maschine eigenhändig zu warten und zu pflegen. John hat da Bedenken. Ihm ist es lieber, wenn ein richtiger Mechaniker diese Arbeiten übernimmt und dafür sorgt, daß sie ordnungsgemäß ausgeführt werden. Keiner der beiden Standpunkte ist ungewöhnlich, und diese geringfügige Differenz hätte sich niemals so auswachsen können, würden wir nicht so oft Touren miteinander machen und in Gasthäusern an der Landstraße beim Bier sitzen und über alles reden, was uns gerade einfällt. Es fällt uns meistens das ein, woran wir in der halben oder dreiviertel Stunde seit unserer letzten Unterhaltung gedacht haben. Wenn es um die Straßen oder die Leute oder Erinnerungen von früher geht oder um etwas, was in der Zeitung steht, kommt ganz von selbst eine erfreuliche Unterhaltung in Gang. Aber immer wenn ich über die Leistung der Maschine nachgedacht habe und davon anfange, kommt gar nichts in Gang. Das Gespräch stockt. Keiner sagt mehr etwas, betretenes Schweigen. Es ist, als würden zwei alte Freunde, ein Katholik und ein Protestant, im besten Einvernehmen ein Bier miteinander trinken, und irgendwie käme einer auf das Thema Geburtenkontrolle. Eisiges Schweigen.
Wenn man so was erst einmal gemerkt hat, geht es einem damit natürlich wie mit einem Zahn, aus dem die Plombe herausgefallen ist. Man kann ihn einfach nicht mehr in Ruhe lassen. Man muß ihn ringsherum befühlen, mit der Zunge sondieren, ihn abklopfen und an ihn denken, nicht weil einem das Spaß macht, sondern weil es einen nun mal beschäftigt und man nicht mehr davon loskommt. Und je mehr ich das Thema Motorradwartung sondiere und abklopfe, um so ärgerlicher wird er, was natürlich mich wiederum reizt, immer weiter zu bohren und zu sondieren. Nicht daß ich es darauf anlegte, ihn zu ärgern; vielmehr scheint es, daß der Ärger nur ein Symptom für etwas Tieferes ist, etwas unter der Oberfläche, was man nicht auf den ersten Blick sieht.
Wenn man über Geburtenkontrolle redet, und es stellt sich heraus, daß die Standpunkte unvereinbar sind, dann geht es dabei nicht um die Frage, ob mehr oder weniger Babys auf die Welt kommen sollen. Das ist nur an der Oberfläche. Die tiefere Ursache ist ein Glaubenskonflikt – Glaube an empirische Sozialplanung auf der einen, Glaube an die Autorität Gottes, wie sie sich in den Lehren der katholischen Kirche offenbart, auf der anderen Seite. Man kann Beweise für den praktischen Nutzen der Geburtenkontrolle anführen, bis man schwarz wird, und erreicht trotzdem nichts, weil der andere einem die Voraussetzung nicht abnimmt, daß alles gesellschaftlich Nützliche von vornherein auch gut ist. Sein Begriff von gut und schlecht hat andere Quellen, die er genauso hoch oder noch höher einschätzt als den gesellschaftlichen Nutzen.
Genauso ist es mit John. Ich könnte ihm den praktischen Wert der Motorradwartung predigen, bis ich heiser wäre, und würde trotzdem nichts bei ihm ausrichten. Zwei Sätze über dieses Thema, und er kriegt ganz glasige Augen, fängt von etwas anderem an oder schaut einfach weg. Er will nichts davon hören.
Sylvia teilt darin seinen Standpunkt, ja sie vertritt ihn sogar noch entschiedener. »Das ist eine ganz andere Welt«, sagt sie, wenn sie nachdenklich gestimmt ist. Und sonst: »So was wie Dreck und Abfall.« Die beiden wollen es einfach nicht verstehen. Sie wollen nichts davon hören. Und je mehr ich darüber nachdenke, woran es liegt, daß ich Mechanikerarbeit mag und die beiden sie so verabscheuen, um so unbegreiflicher finde ich es. Es scheint, daß die eigentliche Ursache dieser zunächst belanglosen Meinungsverschiedenheit sehr, sehr tief sitzt.
Unfähigkeit scheidet von vornherein aus. Sie sind wahrhaftig intelligent genug. Beide könnten in anderthalb Stunden lernen, wie man ein Motorrad wartet, wenn sie nur mit Verstand und Energie an die Sache herangingen; und die ersparten Ausgaben, Scherereien und Wartezeiten würden sie reichlich für die Mühe entschädigen. Das wissen sie auch. Oder vielleicht doch nicht. Was weiß ich. Ich habe sie nie danach gefragt. Daß wir uns halbwegs vertragen, ist mir wichtiger.
Ich erinnere mich aber, daß mir einmal doch beinahe die Geduld ausgegangen wäre, an einem glühend heißen Tag vor einer Bar in Savage, Minnesota. Wir hatten etwa eine Stunde in der Bar gesessen, und als wir herauskamen, waren die Maschinen so heiß, daß man sich kaum draufsetzen konnte. Ich warte abfahrbereit mit laufendem Motor, aber Johns Maschine springt nicht an, obwohl er wie besessen den Kickstarter tritt. Es stinkt nach Benzin, als ob gleich um die Ecke eine Raffinerie wäre, und ich sage ihm das, weil ich glaube, das müßte reichen, um ihm klarzumachen, daß sein Motor abgesoffen ist.
»Ja, ich rieche es auch«, sagt er und kickt weiter. Er kickt und kickt und schluckt und kickt, und ich bin sprachlos. Schließlich ist er völlig außer Atem, der Schweiß läuft ihm übers ganze Gesicht, er kann nicht mehr. Ich schlage ihm deshalb vor, daß wir die Kerzen herausnehmen, um sie zu trocknen und die Zylinder auslüften zu lassen, und unterdessen noch auf ein Bier hineingehen.
»Um Himmels willen, nein! Bloß nicht diesen ganzen Zirkus!«
»Was für ein Zirkus?«
»Na, das Werkzeug auspacken und der ganze Zirkus. Überhaupt nicht einzusehen, warum sie nicht anspringt, eine nagelneue Maschine. Und ich halte mich genau an die Betriebsanleitung. Schau her, die Luftklappe ist zu, ganz nach Vorschrift.«
»Die Luftklappe ist zu?«
»Ja, so steht’s doch in der Anleitung.«
»Aber doch nur, wenn der Motor kalt ist!«
»Entschuldige mal, wir waren mindestens eine halbe Stunde da drin«, sagt er.
Das wirft mich um. »Aber bei der Hitze heute, John«, sage ich. »In so kurzer Zeit kühlt der Motor nicht einmal ab, wenn es friert.«
Er kratzt sich am Kopf. »Na schön, aber warum schreiben sie das dann nicht in die Anleitung?« Er macht die Luftklappe auf, und beim zweiten Antreten läuft der Motor. »Ich glaube, das war’s«, stellt er befriedigt fest.
Tags darauf waren wir in derselben Gegend unterwegs, und alles fing wieder von vorne an. Diesmal war ich fest entschlossen, kein Wort zu sagen, und als meine Frau mir zuredete, hinüberzugehen und ihm zu helfen, schüttelte ich den Kopf. Ich sagte ihr, solange er nicht von sich aus käme, würde ihn jedes Hilfsangebot nur kränken. Wir gingen deshalb ein Stück abseits, setzten uns in den Schatten und warteten.
Mir fiel auf, daß er zu Sylvia übertrieben höflich war, ein Zeichen, daß er eine Stinkwut hatte, während er unentwegt den Kickstarter trat, und sie sah flehentlich zu uns herüber. Ein Wort nur, eine einzige Frage, und ich wäre hingegangen, um die Diagnose zu stellen. Aber nein. Es muß eine geschlagene Viertelstunde gedauert haben, bis er den Motor endlich zum Laufen brachte.
Später tranken wir wieder Bier drüben am Minnetonka-See, und alle am Tisch redeten, nur er war still, und es war ihm anzusehen, daß sich ihm diesmal inwendig alles verknotet hatte. Nach so langer Zeit. Wohl um die Knoten zu lösen, sagte er schließlich: »Weißt du …, wenn das Ding so wie vorhin durchaus nicht anspringen will, dann … könnte ich platzen vor Wut. So was treibt mich glatt zur Raserei.« Das schien ihn zu erleichtern, und er fuhr fort: »Die hatten ja auch nur diese eine Maschine, verstehst du? Diesen Ausschuß. Sie überlegten hin und her, was sie damit anfangen sollten, ans Werk zurückschicken oder verschrotten oder was sonst … und im allerletzten Moment kam dann ich daher. Mit tausendachthundert Dollar in der Tasche. Und schon waren sie ihre Sorgen los.«
Ich betete ihm wieder mal die ganze Litanei herunter, daß er die Maschine doch selber warten sollte, und er gab sich ehrlich Mühe, mir zuzuhören. Manchmal gibt er sich wirklich Mühe. Aber dann war es plötzlich wieder aus, er ging an die Bar und bestellte noch eine Runde für uns alle, und das Thema war gestorben.
Er ist nicht stur, nicht engstirnig, nicht faul, nicht dumm. Es gab keine einfache Erklärung. Deshalb blieb es in der Schwebe, wie ein Rätsel, bei dem man irgendwann aufsteckt, weil es keinen Zweck hat, sich ewig im Kreise zu drehen und nach einer Lösung zu suchen, die es gar nicht gibt.
Ich habe mich auch gefragt, ob nicht vielleicht mein eigener Standpunkt der ungewöhnliche war, aber auch diese Möglichkeit schied aus. Die meisten Motorradfahrer, die längere Touren machen, warten ihre Maschinen selbst. Autofahrer machen im allgemeinen nichts am Motor, aber es gibt ja in jedem größeren Ort eine Autowerkstatt mit teuren Hebebühnen, Spezialwerkzeug und Diagnosegeräten, die der durchschnittliche Autobesitzer sich nicht leisten kann. Außerdem ist der Motor beim Auto komplizierter und schwerer zugänglich als beim Motorrad, weshalb die Abstinenz in diesem Fall gerechtfertigt ist. Aber ich möchte wetten, daß sich für Johns Maschine, eine BMW R 60, von hier bis Salt Lake City kein Mechaniker findet. Es brauchen ihm bloß die Unterbrecherkontakte oder die Zündkerzen zu verschmoren und er ist geliefert. Ich weiß, daß er keinen Reservesatz Unterbrecherkontakte dabei hat. Er weiß nicht mal, was Unterbrecherkontakte sind. Ich möchte wissen, was er macht, wenn die Maschine ihn im Westen von South Dakota oder Montana im Stich läßt. Vielleicht verkauft er sie dann den Indianern. Aber was er im Augenblick macht, weiß ich genau. Er gibt sich die größte Mühe, nur ja keinen Gedanken darauf zu verschwenden. Die BMW ist berühmt dafür, daß sie unterwegs keine Scherereien macht, und darauf verläßt er sich.
Ich dachte erst, daß sich diese Einstellung der beiden auf Motorräder beschränkte, aber mit der Zeit wurde mir klar, daß es um mehr ging … Als ich eines Morgens in ihrer Küche wartete, weil sie noch nicht fertig waren, merkte ich, daß der Wasserhahn über der Spüle tropfte, und mir fiel ein, daß er auch das letzte Mal schon getropft hatte, ja daß er schon immer getropft hatte, solange ich zurückdenken konnte. Als ich John darauf ansprach, erklärte er mir, er habe versucht, die Dichtung auszuwechseln, aber es sei nicht gegangen. Weiter nichts. Damit war die Sache für ihn offenbar erledigt. Wenn man einen tropfenden Wasserhahn reparieren will, und es geht nicht, dann ist man eben vom Schicksal dazu verdammt, mit einem tropfenden Wasserhahn zu leben.
Ich fragte mich im stillen, ob es ihnen nicht auf die Nerven ging, dieses ewige tripp-tripp-tripp, Woche für Woche, jahrein, jahraus, aber nichts deutete darauf hin, daß es sie aufregte oder auch nur störte; ich kam deshalb zu dem Schluß, daß Dinge wie tropfende Wasserhähne ihnen nichts ausmachten. Solche Leute gibt’s ja.
Was mich von dieser Meinung abbrachte, weiß ich nicht mehr … Intuition, ein plötzliches Begreifen, oder vielleicht Sylvias fast unmerklich veränderte Stimmung, immer wenn das Tropfen besonders laut war und sie etwas sagen wollte. Sie hat eine sehr leise Stimme. Eines Tages, als sie gerade sprach und das Tropfen übertönen mußte und dann auch noch die Kinder hereinplatzten und sie aus dem Konzept brachten, verlor sie die Beherrschung. Bestimmt hätte sie die Kinder längst nicht so grob angefahren, wenn nicht außerdem noch der Wasserhahn getropft hätte, während sie etwas sagen wollte. Erst als beides zusammenkam, das Tropfen und die lauten Kinder, fuhr sie aus der Haut. Was mich dabei so empörte, war, daß sie nicht dem tropfenden Wasserhahn die Schuld gab und daß sie es ganz bewußt nicht tat. Es stimmte überhaupt nicht, daß das Tropfen sie nicht störte! Sie unterdrückte den Ärger darüber, obwohl dieser gottverdammte tropfende Wasserhahn sie schier zur Verzweiflung trieb! Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht zugeben, wie sehr ihr das zu schaffen machte.
Wie kommt einer dazu, seinen Ärger über einen tropfenden Wasserhahn zu unterdrücken, fragte ich mich.
Doch dann sah ich den Zusammenhang mit der Motorradwartung, und eine dieser Glühbirnen ging über meinem Kopf an, und ich dachte: Ahhhhhh!
Es ist gar nicht die Motorradwartung und auch nicht der Wasserhahn. Die ganze Technik können sie nicht ausstehen. Und da fügte sich eins ins andere, und ich wußte, jetzt hab’ ich’s. Sylvias gereizte Reaktion, als ein Bekannter das Programmieren von Computern als »kreativ« bezeichnete. Auf keinem ihrer Bilder, ob Zeichnung, Gemälde oder Photo, auch nur ein technischer Gegenstand. Natürlich regt sie sich nicht über den Wasserhahn auf, dachte ich. Man unterdrückt immer momentanen Ärger über etwas, was man aus tiefster Seele und ein für allemal haßt. Natürlich schaltet John beim Thema Motorradwartung jedesmal ab, selbst wenn ihn das teuer zu stehen kommt. Das ist ja Technik. Und bestimmt, ja natürlich, na klar. Es ist ganz einfach, man muß nur drauf kommen. Um vor der Technik aufs Land hinaus zu fliehen, in die frische Luft und die Sonne, deswegen vor allem machen sie Motorradfahrten. Und wenn ich sie ihnen gerade dann und dort wieder in Erinnerung bringe, wo sie sich endgültig vor ihr sicher glauben, dann sind sie furchtbar verschnupft. Das ist der Grund, weshalb das Gespräch jedesmal stockt und die Stimmung frostig wird, sobald das Thema zur Sprache kommt.
Auch sonst paßt noch manches in dieses Bild. Ab und zu einmal sprechen sie in möglichst wenigen, gequälten Worten über »es« oder »das alles«, etwa in einem Satz wie: »Man kann dem einfach nicht entgehen.« Wenn ich sie fragte, was sie damit meinen, würden sie vielleicht antworten: »Na eben den ganzen Kram« oder: »Den ganzen Betrieb« oder gar: »Das System«. Sylvia sagte einmal, um sich zu rechtfertigen: »Dir macht das ja alles nichts aus, du kommst glänzend damit zurecht.« Ich fühlte mich damals so geschmeichelt, daß ich mich genierte, zu fragen, was sie mit diesem »das« meinte, und so tappte ich weiter im dunkeln. Ich dachte, es sei etwas Geheimnisvolleres als die Technik. Jetzt weiß ich aber, daß mit »es« vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Technik gemeint ist. Aber so kann man es eigentlich auch wieder nicht sagen. »Es« ist so etwas wie eine Kraft, die die Technik entstehen ließ, etwas Undefiniertes, aber Unmenschliches, Mechanisches, Lebloses, ein blindwütiges Monstrum, eine Todeskraft. Etwas Entsetzliches, wovor sie davonlaufen, dem sie aber, und das wissen sie, nie entkommen werden. Das sind viel zu große Worte, aber weniger pathetisch ausgedrückt, weniger genau definiert ist es das schon. Irgendwo gibt es Menschen, die damit umzugehen wissen, die es beherrschen und verwalten, aber das sind Techniker, und die sprechen eine inhumane Sprache, wenn sie von ihrer Arbeit reden. Es dreht sich alles um Teile und Funktionen höchst sonderbarer Apparate, aus denen man nie schlau wird, sooft man sie auch erklärt bekommt. Und diese Apparate, diese Monstren der Techniker, fressen unaufhaltsam ihr Land auf, verschmutzen ihre Luft und ihre Seen, und es gibt keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, und kaum eine, davor zu fliehen.
Es braucht nicht viel, damit einer zu dieser Einstellung kommt. Man gehe nur durch ein ausgesprochenes Industriegebiet in einer Großstadt, da hat man sie überall vor sich, die Technik. Als erstes sieht man auf hohe Stacheldrahtzäune, verschlossene Tore, Schilder mit einer Aufschrift wie BETRETEN VERBOTEN, und dahinter, durch die verrußte Luft, häßliche, absonderliche Formen, Gebilde aus Metall und Ziegelstein, deren Zweck man nicht kennt und deren Herren man nie zu sehen bekommt. Wozu das alles gut ist, weiß man nicht, keiner sagt einem, warum es überhaupt da ist, und so kann man sich nur befremdet fühlen, entfremdet, als einer, der da nichts verloren hat. Die das besitzen und darüber Bescheid wissen, wollen einen nicht dahaben. Die ganze Technik hat einen zum Fremden im eigenen Land gemacht. Ihre bloße Gestalt, ihr Aussehen, ihre Rätselhaftigkeit besagen: »Raus hier.« Man weiß, daß es irgendwo eine Erklärung für all das gibt und daß es ohne Zweifel auf irgendeine indirekte Art der Menschheit dient, aber das sieht man nicht. Was man sieht, sind die Schilder BETRETEN VERBOTEN, KEIN ZUTRITT; nichts, was den Menschen dient, statt dessen nur »verzwergte« Menschen – »Menschlein« – Ameisen gleich, die diesen absonderlichen, unbegreiflichen Gebilden dienen. Und man denkt sich, selbst wenn ich dazugehörte, selbst wenn ich kein Fremder wäre, wäre ich auch nur so eine Ameise im Dienst der Gebilde. So kommt es, daß man schließlich Feindseligkeit empfindet, und ich glaube, das ist es, was letztlich hinter der ansonsten unerklärlichen Einstellung von John und Sylvia steckt. Alles, was mit Ventilen und Wellen und Schraubenschlüsseln zu tun hat, ist ein Teil dieser dem Menschen entfremdeten Welt, an die sie am liebsten gar nicht denken. Sie wollen sich nicht hineinziehen lassen.
Wenn dem so ist, dann stehen sie nicht allein da. Es ist gar keine Frage, daß sie darin ihrem natürlichen Empfinden folgen und nicht etwa irgend jemanden nachahmen. Aber auch viele andere folgen ihrem natürlichen Empfinden und ahmen niemanden nach, und die natürlichen Empfindungen sehr vieler Menschen sind sich in diesem Punkt auffallend ähnlich; betrachtet man sie deshalb als Kollektiv, wie es Journalisten tun, dann drängt sich die Illusion einer Massenbewegung auf, einer technikfeindlichen Massenbewegung, einer regelrechten technikfeindlichen politischen Linken, die scheinbar aus dem Nichts auftaucht, sich drohend erhebt und sagt: »Macht Schluß mit der Technik. Geht damit woanders hin. Wir wollen sie hier nicht haben.« Noch wird sie im Zaum gehalten durch das dünne Netz einer Logik, die besagt, daß es ohne Fabriken keine Arbeitsplätze und keinen Lebensstandard gäbe. Aber es gibt menschliche Kräfte, die stärker sind als Logik, und wenn sie in ihrem Haß auf die Technik stark genug werden, kann dieses Netz zerreißen.
Man hat Klischees und Schablonen wie »Beatnik« und »Hippie« für die Feinde der Technik, die Systemgegner, erfunden und wird weiter welche erfinden. Aber man macht nicht Massenmenschen aus Individuen, indem man sie kurzerhand in eine Schablone preßt. John und Sylvia sind keine Massenmenschen, so wenig wie die meisten anderen, die ihren Weg gehen. Vielmehr scheint es, daß sie sich gegen das Dasein als Massenmensch auflehnen. Sie glauben, daß die Technik eine Menge mit den Kräften zu tun hat, die Massenmenschen aus ihnen machen wollen, und sie mögen sie nicht. Einstweilen ist es meist noch passiver Widerstand, Flucht aufs Land sooft es geht und dergleichen, aber es ist nicht gesagt, daß er immer so passiv bleibt.
Ich bin nicht ihrer Meinung, was die Motorradwartung angeht, aber nicht weil ich kein Verständnis für ihre Einstellung zur Technik hätte. Ich meine nur, daß ihre Flucht vor der Technik, ihr Haß auf sie, selbstzerstörerisch ist. Der Buddha, die Gottheit, wohnt in den Schaltungen eines Digitalrechners oder den Zahnrädern eines Motorradgetriebes genauso bequem wie auf einem Berggipfel oder im Kelch einer Blüte. Wer das nicht wahrhaben will, erniedrigt den Buddha – und damit sich selbst. Das ist es, worüber ich in dieser Chautauqua sprechen möchte.
Wir sind jetzt aus den Sümpfen heraus, aber es ist immer noch so diesig, daß man direkt zur gelben Sonnenscheibe hinaufschauen kann, als ob Rauch oder Smog am Himmel hinge. Aber wir sind jetzt in einer grünen Landschaft. Die Farmhäuser sind sauber und weiß und frisch. Es gibt hier weder Rauch noch Smog.
Die Straße zieht sich und will kein Ende nehmen … Wir machen Pausen, um zu rasten und Mittag zu essen, wechseln belanglose Worte und stellen uns auf die lange Fahrt ein. Die einsetzende Nachmittagsmüdigkeit dämpft die Aufregung des ersten Tages, und wir kommen zügig vorwärts, nicht schnell, nicht langsam.
Wir haben Seitenwind aus Südwest bekommen, und das Motorrad legt sich scheinbar ganz von selbst in die Böen, um ihrem Druck zu begegnen. Seit einer Weile geht von dieser Straße ein ungutes Gefühl aus, ein banges Unbehagen, als würden wir beobachtet oder als folgte uns jemand. Aber vor uns ist nirgends ein Auto zu sehen, und im Spiegel sind nur weit hinten John und Sylvia.
Wir sind noch nicht in den Dakotas, aber an den großen Feldern sieht man, daß es nicht mehr weit ist. Manche von ihnen sind blau von Flachsblüten, und langgezogene Wellenbewegungen gehen darüber hin wie über die Oberfläche des Ozeans. Die Hügel greifen weiter aus und beherrschen jetzt alles andere, bis auf den Himmel, der höher geworden zu sein scheint. Ferne Farmhäuser sind so klein, daß wir sie kaum sehen. Das Land tut sich auf.
Es gibt keine bestimmte Stelle, keine scharfe Grenze, wo die Central Plains aufhören und die Great Plains anfangen. Gerade solch ein allmählicher Übergang wird einem unversehens bewußt, so wie wenn man aus einem Küstenhafen ausläuft, irgendwann bemerkt, daß die kabbelige See einer weit ausholenden Dünung gewichen ist, sich umdreht und sieht, daß das Land außer Sicht ist. Die Bäume sind seltener geworden, und plötzlich weiß ich, daß es keine bodenständigen Arten mehr sind. Man hat sie hierher gebracht und an den Häusern und in Reihen zwischen den Feldern angepflanzt, um den Wind zu brechen. Aber wo sie nicht angepflanzt wurden, ist kein Unterholz, kein Jungholzwuchs – nur Gras; ein paar Wildblumen auch und Sträucher, aber hauptsächlich Gras. Das ist jetzt Grasland. Wir sind in der Prärie.
Ich habe das Gefühl, keiner von uns kann sich wirklich vorstellen, wie diese vier Julitage in der Prärie sein werden. Erinnerungen an Autofahrten durch die Prärien wissen nur von Flachheit und großer Leere, so weit das Auge reicht, von grenzenloser Monotonie und Langeweile, während man Stunde um Stunde fährt, nirgendwo hinkommt und sich fragt, wie lange das noch so weitergehen soll, ohne eine Biegung der Straße, ohne jede Abwechslung in der Ebene, die nach allen Richtungen bis an das Horizont reicht.
John hatte befürchtet, Sylvia würden die Strapazen einer solchen Fahrt zuviel werden, und zunächst vorgehabt, sie mit dem Flugzeug nach Billings, Montana, vorauszuschicken, aber Sylvia und ich hatten ihm das gemeinsam ausgeredet. Mein Argument war, daß physische Strapazen einem nur dann etwas ausmachen, wenn man nicht in der richtigen Stimmung ist. Dann kommt einem jede Unbequemlichkeit gerade recht als Vorwand für die eigene schlechte Laune. Ist man dagegen in der richtigen Stimmung, dann können einem physische Unannehmlichkeiten nicht viel anhaben. Und wenn ich an Sylvias Stimmungen und Gefühle dachte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie klagen würde.
Mit dem Flugzeug in den Rocky Mountains anzukommen, hätte außerdem bedeutet, sie in einem Zusammenhang zu sehen, nämlich als hübsche Kulisse. Nach tagelanger anstrengender Fahrt über die Prärien würde man sie dagegen anders sehen, als ein Ziel, ein gelobtes Land. Wären nun John und ich und Chris mit diesem Gefühl angekommen und Sylvia hätte die Berge nur »nett« und »hübsch« gefunden, dann hätte es mehr Unstimmigkeiten zwischen uns gegeben, als die Hitze und die Monotonie der Dakotas uns bescheren konnten. Und überhaupt, ich unterhalte mich gern mit ihr, und ich denke auch an mich.
Wenn ich diese Felder betrachte, stelle ich mir vor, daß ich zu ihr sage: »Siehst du? … Siehst du?«, und ich glaube, daß sie es wirklich sieht. Ich hoffe, sie wird später an diesen Prärien etwas sehen und wahrnehmen, worüber ich nicht mehr mit anderen reden mag; etwas, das hier existiert, weil alles andere nicht existiert, das bemerkbar wird, weil alles andere fehlt. Sie scheint manchmal so niedergedrückt von der Monotonie und Langeweile ihres Stadtlebens, daß ich mir dachte, sie würde vielleicht in diesem endlosen Gras und Wind etwas sehen, das sich zuweilen einstellt, wenn Monotonie und Langeweile bejaht werden. Es ist da, aber ich habe keine Namen dafür.
Jetzt sehe ich am Horizont etwas, von dem ich nicht glaube, daß die anderen es sehen. Weit hinten im Südwesten – man sieht es nur vom Gipfel dieses Hügels aus – hat der Himmel einen dunklen Rand. Aufkommendes Unwetter. Vielleicht war es das, was mich beunruhigt hat. Weil ich mich dem Gedanken daran bewußt verschlossen habe, obwohl ich die ganze Zeit wußte, daß es bei der Luftfeuchtigkeit und dem Wind mehr als wahrscheinlich war. Zu dumm, daß uns das ausgerechnet am ersten Tag passieren muß, aber wie ich schon sagte, auf dem Motorrad ist man mitten drin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und Unwetter gehören ganz entschieden dazu.
Wenn es nur Gewitterwolken oder vereinzelte Böen sind, kann man versuchen, sie zu umfahren, aber das da ist etwas anderes. Dieser lange, dunkle Streifen ohne vorausgehende Zirruswolken ist eine Kaltfront. Kaltfronten sind ungemütlich, und wenn sie von Südwesten kommen, sind sie am ungemütlichsten. Oft bringen sie Tornados mit sich. Wenn sie aufziehen, verkriecht man sich am besten in ein Loch und wartet, bis sie über einen weg sind. Sie sind bald vorbei, und in der kühlen Luft hinter ihnen läßt es sich gut fahren.
Warmfronten sind die schlimmsten. Sie können Tage dauern. Ich muß daran denken, wie Chris und ich vor ein paar Jahren in Kanada unterwegs waren; wir schafften ungefähr 130 Meilen und gerieten dann in eine Warmfront, vor der man uns umsonst eindringlich gewarnt hatte, weil wir ahnungslos waren. Die ganze Geschichte war irgendwie blöd und deprimierend.
Wir hatten ein leichtes Motorrad mit sechseinhalb PS, das mit viel zuviel Gepäck und viel zuwenig gesundem Menschenverstand beladen war. Die Maschine brachte es bei Vollgas und mäßigem Gegenwind nur auf etwa fünfundvierzig Meilen pro Stunde. Es war keine Tourenmaschine. Wir erreichten am ersten Abend einen großen See in den North Woods und zelteten im strömenden Regen, der die ganze Nacht über anhielt. Ich vergaß, einen Graben um das Zelt zu ziehen, und gegen zwei Uhr morgens drang am Boden so viel Wasser ein, daß beide Schlafsäcke klitschnaß wurden. Am Morgen waren wir durchnäßt und deprimiert und unausgeschlafen, aber ich dachte, der Regen würde schon nachlassen, wenn wir nur erst ein Stück gefahren wären. Aber nichts dergleichen. Um zehn war der Himmel so schwarz, daß alle Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern fuhren. Und dann fing es erst richtig zu schütten an.
Wir hatten die Ponchos an, die uns in der Nacht als Zelt gedient hatten. Jetzt blähten sie sich wie Segel und bremsten uns trotz Vollgas auf dreißig Meilen pro Stunde ab. Auf der Straße stand das Wasser im Handumdrehen zwei Zoll hoch. Blitze zuckten ringsum krachend herab. Ich sehe noch das entgeisterte Gesicht einer Frau, die uns aus einem überholenden Auto heraus anstarrte und sich offenbar fragte, was um Himmels willen wir bei dem Wetter auf einem Motorrad machten. Ich hätte es ihr bestimmt auch nicht sagen können.
Wir fielen auf fünfundzwanzig ab, dann auf zwanzig. Fehlzündungen traten auf, und mit stotterndem, spuckendem und knallendem Motor erreichten wir im Schrittempo gerade noch eine verlotterte alte Tankstelle an einem abgeholzten Waldstück.
Ich hatte mich damals genau wie John noch kaum mit Motorradwartung befaßt. Ich weiß noch, wie ich, den Poncho über dem Kopf, damit es nicht in den Tank regnete, die Maschine zwischen den Beinen hin und her schwenkte. Ich meinte zu sehen, wie drinnen das Benzin schwappte. Ich kontrollierte die Kerzen, die Unterbrecherkontakte und den Vergaser und trat den Kickstarter, bis ich nicht mehr konnte.
Wir gingen hinein – es war eine Tankstelle mit Stehausschank und Restaurant – und aßen angebrannte Steaks. Dann ging ich wieder hinaus und versuchte es noch einmal. Chris stellte am laufenden Band Fragen und ging mir allmählich auf die Nerven, weil er nicht begriff, wie ernst unsere Lage war. Schließlich sah ich ein, daß es keinen Zweck hatte, und gab mich geschlagen, und mein Ärger über ihn verflüchtigte sich. Ich brachte ihm so schonend wie möglich bei, daß alles aus sei. Wir würden in diesen Ferien nirgendwohin mit dem Motorrad fahren. Chris schlug vor, nachzusehen, ob noch Benzin im Tank sei, aber das hatte ich ja schon getan, oder einen Mechaniker zu suchen. Aber es gab keine Mechaniker. Nur abgeholzte Kiefern und Gebüsch und Regen.
Ich setzte mich mit ihm am Straßenrand ins Gras und starrte in die Bäume und ins Unterholz. Ich beantwortete Chris geduldig all seine Fragen, und mit der Zeit wurden es immer weniger. Und dann hatte er endlich begriffen, daß unsere Fahrt wirklich zu Ende war, und fing zu weinen an. Er war damals acht, glaube ich.
Wir fuhren per Anhalter in unsere Stadt zurück, mieteten einen Anhänger für unser Auto, holten das Motorrad bei der Tankstelle ab, transportierten es nach Hause und fuhren dann noch mal in die Ferien, diesmal mit dem Auto. Aber es war nicht dasselbe. Und wir hatten eigentlich nicht viel Spaß auf dieser Fahrt.
Zwei Wochen nach dem Ferienende baute ich eines Abends nach der Arbeit den Vergaser aus, um nach dem Fehler zu suchen, aber ich fand auch diesmal nichts. Ich wollte den Vergaser von dem Fett säubern, bevor ich ihn wieder einbaute, und machte den Absperrhahn am Tank auf, um ein bißchen Benzin ausfließen zu lassen. Aber es kam keins. Der Tank war leer. Ich konnte es nicht fassen. Ich kann es noch immer kaum fassen.
PS