Night School

 

 

 

 

Für Jack,
der nie den Glauben verloren hat

»Beeil dich!«

»Jetzt mach dich mal locker, ich hab’s gleich.«

Mit zusammengebissenen Zähnen hockte Allie im Dunkeln und sprayte das letzte E, während Mark neben ihr kniete und die Taschenlampe hielt. Ihre Stimmen hallten durch den leeren Gang. Mark musste lachen, und der Lichtstrahl, der auf ihr Werk fiel, zitterte.

Ein Klicken ließ sie hochfahren.

Über ihnen flackerten die Lampen auf und tauchten den Gang in gleißendes Licht.

An der Tür standen zwei Uniformierte.

Langsam ließ Allie die Spraydose sinken, und weil sie den Finger nicht vom Drücker nahm, zog sich der Buchstabe in einer bizarren Linie immer länger, über die ganze Tür zum Rektorenzimmer bis hinunter auf den schmutzigen Linoleumfußboden.

»Renn!«

Sie hatte das Wort noch nicht ausgerufen, da flitzte sie bereits den breiten Gang hinunter, und das Gummi ihrer Turnschuhsohlen quietschte hohl in der Leere der Brixton High School. Sie sah sich nicht um, ob Mark ihr folgte.

Sie wusste nicht, wo die anderen waren, aber wenn sie Harry noch mal erwischten, würde sein Vater ihn umbringen. Mit Karacho bog sie um die Ecke in einen dunklen Flur und sah ganz hinten ein Notausgangschild grün glimmen.

Sie prallte gegen die Doppeltür und stemmte sich mit voller Wucht gegen die Griffstange, die ihr den Weg in die Freiheit öffnen sollte.

Die Stange gab nicht nach.

Ungläubig stemmte sie sich noch einmal dagegen, doch die Tür war verschlossen.

Verdammte Scheiße, dachte sie. Wenn ich hier nicht eben rumgeschmiert hätte, würde ich glatt bei der Lokalzeitung anrufen.

Fieberhaft scannte sie den breiten Flur. Zwischen ihr und dem Haupteingang befanden sich die Polizisten. Der einzige Ausgang an diesem Ende war verschlossen.

Es musste einen anderen Ausweg geben.

Sie hielt den Atem an und lauschte. Stimmen und Schritte, die sich näherten.

Sie stützte die Hände auf die Knie und ließ den Kopf langsam zwischen die Schultern sinken. So durfte es einfach nicht enden. Ihre Eltern würden sie in Stücke reißen. Dreimal in einem Jahr von der Polizei festgenommen? Schlimm genug, dass man sie damals in diese gottverlassene Schule gesteckt hatte. Wohin werden die mich jetzt schicken?

Sie rannte zu einer nahen Tür.

Ein, zwei, drei Schritte.

Sie drückte die Klinke.

Zu.

Auf der anderen Seite des Flurs war noch eine.

Ein, zwei, drei, vier Schritte.

Zu.

Jetzt rannte sie den Polizisten entgegen. Der reine Wahnsinn.

Die dritte Tür ließ sich öffnen. Ein Materialraum.

Vorsichtig schlüpfte sie zwischen Regale mit Papier, Wischeimern und Elektrokrempel, den sie in der Finsternis nicht identifizieren konnte, schloss die Tür und versuchte, ruhiger zu atmen.

Es war stockfinster. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht – direkt vor die Augen – und konnte sie nicht sehen. Sie spürte ihre Hand zwar, wusste, dass sie da war, aber sie konnte sie nicht erkennen, und das raubte ihr die Orientierung. Auf der Suche nach Halt streckte sie die Hände aus, wodurch plötzlich ein kopflastiger Stapel Papier ins Rutschen kam. Ohne den Stapel sehen zu können, versuchte sie verzweifelt, ihn wieder in die Balance zu bringen.

Von draußen waren undeutlich Stimmen zu hören; sie klangen noch sehr fern. Ein paar Minuten, dann sind sie fort, sagte sie sich. Nur noch ein paar Minuten.

Es war heiß und stickig.

Ganz ruhig.

Sie zählte ihre keuchenden Atemzüge … zwölf, dreizehn, vierzehn …

Es passierte trotzdem. Dieses Gefühl, in Beton eingeschlossen zu sein und keine Luft zu kriegen. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, Panik stieg in ihr auf.

Beruhige dich bitte, Allie, flehte sie, in fünf Minuten bist du in Sicherheit. Die anderen werden dich bestimmt nie verpfeifen.

Aber es funktionierte nicht. Ihr wurde schwindelig, und ihr war, als müsste sie ersticken.

Sie musste hier raus.

Während ihr der Schweiß übers Gesicht lief und der Boden unter ihr ins Wanken geriet, streckte sie die Hand nach der Klinke aus.

Nein, nein, nein … Das kann doch nicht sein!

Die Innenseite der Tür war vollkommen glatt.

Sie stemmte sich dagegen, kratzte mit den Nägeln an den Kanten, aber die Tür gab nicht nach. Sie bekam jetzt kaum noch Luft.

Es war so dunkel.

Sie ballte die Fäuste und hämmerte gegen die glatte, unnachgiebige Tür.

»Hilfe! Ich krieg keine Luft! Macht die Tür auf!«

Keine Antwort.

»Helft mir! Ist da jemand?«

Sie hasste den flehentlichen Klang ihrer Stimme. Schluchzend legte sie die Wange an die Tür, schlug gegen das Holz und schnappte nach Luft.

»Bitte.«

Die Tür ging so plötzlich auf, dass sie hilflos nach vorn stolperte, geradewegs in die Arme eines Polizisten.

Er hielt sie auf Armeslänge von sich, leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und musterte ihr wildes Haar und die tränenüberströmten Wangen.

Über ihren Kopf hinweg grinste er seinen Kollegen an. In diesem Augenblick bemerkte Allie Mark, der mit gesenktem Kopf und ohne Baseballcap dastand, den Arm fest im Griff des anderen Polizisten. Und der grinste zurück.

Trotz des konstanten Lärmpegels, der an diesem sommerlichen Freitagabend auf der Polizeiwache herrschte, hörte Allie die Stimme ihres Vaters so deutlich, als stände er vor ihr. Sie unterbrach das Gezwirbel an ihren Haaren und sah besorgt zur Tür.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Es tut mir sehr leid, dass Sie so viel Ärger hatten.« Sie kannte diesen Ton in seiner Stimme nur zu gut: gedemütigt. Durch sie. Sie hörte eine zweite männliche Stimme, die sie aber nicht recht verstand, und dann wieder ihren Vater: »Ja, wir werden etwas unternehmen, ich weiß Ihren Rat sehr zu schätzen. Wir werden das besprechen und morgen eine Entscheidung treffen.«

Entscheidung? Was für eine Entscheidung?

Dann ging die Tür auf, und ihre grauen Augen blickten in seine müden blauen. Ihr Herz zog sich ein kleines bisschen zusammen. Er sah älter aus, so unrasiert und zerknittert, wie er war. Und sehr müde.

Er reichte einer Beamtin mehrere Papiere, die sie achtlos auf den vor ihr liegenden Stapel mit Schreibkram legte. Dann griff sie in eine Schublade, nahm den Umschlag mit Allies Sachen heraus und schob ihn über den Schreibtisch Allies Vater zu. Ohne einen der beiden anzusehen, sagte sie roboterhaft: »Wir übergeben dich hiermit in die Obhut deines Vaters. Du kannst jetzt gehen.«

Allie erhob sich steif und folgte ihrem Vater durch den engen, hell erleuchteten Flur zum Ausgang.

Schon von der anderen Straßenseite aus entriegelte ihr Vater mit der Fernbedienung den schwarzen Ford, der mit einem unpassend vergnügten Willkommensgruß antwortete. Als ihr Vater den Motor anließ, wandte sie sich ihm mit einem Blick zu, der ernst war und voller Erklärungen.

»Dad …«

Er spannte den Kiefer an und starrte stur geradeaus.

»Alyson, nicht …«

»Nicht was?«

»Nicht reden. Einfach … dasitzen.«

Die Fahrt verlief schweigsam. Zu Hause stieg er ohne ein Wort aus. Allie schlurfte hinter ihm her, während das ungute Gefühl in der Magengrube anwuchs.

Er wirkte nicht böse. Er wirkte … leer.

Allie ging die Treppe hoch und den Flur entlang, vorbei am verwaisten Zimmer ihres Bruders. In der Sicherheit ihres eigenen Zimmers betrachtete sie sich eingehend im Spiegel. Ihr schulterlanges, hennarotes Haar war strähnig, schwarze Farbe klebte an einer Schläfe, und die Wimperntusche unter den Augen war verschmiert. Sie roch nach altem Schweiß und Angst.

»Na«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »das hätte auch schlimmer ausgehen können.«

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ging es schon auf Mittag zu. Sie kroch unter der zerknitterten Decke hervor und streifte eine Jeans und ein weißes Trägertop über. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür.

Auf Zehenspitzen ging sie in die Küche hinunter, wo die Sonne durch große Fenster auf eine saubere Arbeitsplatte aus Holz schien. Jemand hatte ihr Brot hingestellt, die Butter schmolz langsam vor sich hin. Neben dem Wasserkocher stand eine Tasse mit Teebeutel.

Sie hatte einen Bärenhunger. Sie schnitt sich eine Scheibe Brot ab und steckte sie in den Toaster. Dann machte sie das Radio an, um die Stille zu übertönen, schaltete es aber gleich wieder aus.

Sie aß hastig und blätterte dabei die Zeitung von gestern durch, ohne richtig hinzusehen. Erst als sie fertig war, bemerkte sie den Zettel neben der Küchentür.

A-

Bin Nachmittag zurück. NICHT aus dem Haus gehen.

M

Instinktiv wollte sie nach dem Telefon greifen, um Mark anzurufen, aber es lag nicht an seinem üblichen Platz neben dem Kühlschrank.

Sie lehnte sich gegen die Holztheke und trommelte mit den Fingern darauf herum, während sie auf das stete Ticken der großen Uhr über dem Herd lauschte.

Sechsundneunzig Ticks. Oder Tacks? Wo ist der Untersch…?

»Genau!« Sie richtete sich auf und klatschte die Handflächen auf die Arbeitsfläche. »Scheiß doch drauf.«

Sie rannte nach oben in ihr Zimmer und riss die oberste Schreibtischschublade auf, wo sie ihren Laptop aufbewahrte.

Die Schublade war leer.

Allie stand reglos da und sann darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Ihre Schultern sackten nach unten.

* * *

Ihre Mutter ließ wie gewohnt die Handtasche auf den Tisch im Flur fallen und folgte dann ihrem Mann in die Küche, um Tee zu machen. Durch die offene Tür sah Allie, wie sie ihm kurz beruhigend die Hand auf die Schulter legte und dann zum Kühlschrank ging, um Milch zu holen.

Sieht gar nicht gut aus.

Ein paar Minuten später saßen sie ihr gegenüber auf dem marineblauen Sofa. Das Haar ihres Vaters war jetzt sorgfältig gekämmt, dafür hatte er Ringe unter den Augen. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war ruhig, doch ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.

»Alyson …«, begann ihr Vater, doch dann geriet er ins Stocken und rieb sich müde die Augen.

Ihre Mutter übernahm. »Wir haben darüber gesprochen, wie wir dir helfen können.«

Oje.

»Offenbar bist du auf deiner jetzigen Schule nicht glücklich gewesen.« Sie sprach deutlich und langsam. Allies Augen huschten von einem Elternteil zum andern. »Aber nachdem du in die Schule eingebrochen bist, deine Akte angezündet und ›Ross ist eine Fotze‹ an die Tür der Rektorin gesprüht hast, dürfte es dich kaum überraschen, dass man dort auch nicht sehr glücklich mit dir ist.«

Allie kaute an der Nagelhaut ihres kleinen Fingers und kämpfte gegen den Drang, nervös zu kichern. Jetzt kichern wäre wenig hilfreich.

Ihr Vater beugte sich vor. Zum ersten Mal, seit er sie von der Polizeiwache abgeholt hatte, sah er Allie in die Augen.

»Wir verstehen, dass du dich abreagieren willst, Alyson«, sagte er. »Wir verstehen, dass du diese Art gewählt hast, um mit dem, was passiert ist, umzugehen, aber es reicht uns jetzt. Graffiti, Schule schwänzen, Vandalismus … Es reicht. Wir haben’s begriffen.«

Allie öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch ihre Mutter blitzte sie warnend an. Allie winkelte die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

Jetzt sprach wieder ihre Mutter: »Der hilfsbereite Kontaktbeamte bei der Polizei von gestern Abend – der übrigens genau über dich Bescheid wusste – hat vorgeschlagen, dass wir dich auf eine andere Schule schicken. Außerhalb Londons. Weit weg von deinen Freunden

Das letzte Wort sprach sie mit bitterer Verachtung aus, dann sagte sie:

»Heute Morgen haben wir mehrere Telefonate geführt, und wir haben …«, hier machte sie eine Pause, in der sie ihrem Mann einen beinahe unsicheren Blick zuwarf, »wir haben einen Ort gefunden, der auf Teenager wie dich spezialisiert ist, …«

Allie zuckte zusammen.

»… und haben ihn uns am Vormittag angeschaut. Wir haben mit der Rektorin gesprochen, …«

»Die absolut reizend war«, warf ihr Vater ein, doch ihre Mutter beachtete ihn nicht.

»… und sie hat zugestimmt, dass du noch diese Woche anfängst.«

»Moment mal … Diese Woche?«, fragte Allie ungläubig. »Aber wir haben doch erst seit zwei Wochen Sommerferien!«

Allie starrte ihn mit offenem Mund an.

Wohnen?

Das Wort hallte in ihrem Kopf wider.

Das soll wohl ein Scherz sein!

»… was für uns eine große finanzielle Belastung bedeutet, aber wir sind der Meinung, dass es den Versuch wert ist, dich vor dir selbst zu schützen, bevor du dein ganzes Leben wegwirfst. Vor dem Gesetz giltst du jetzt noch als Jugendliche, aber das wird nicht ewig so bleiben.« Er schlug mit der Hand auf die Sofalehne, Allie starrte ihn an. »Du bist fünfzehn, Alyson. Es kann so nicht weitergehen.«

Allie lauschte auf ihren Herzschlag.

Dreizehn Schläge. Vierzehn, fünfzehn …

Das war übel. Unglaublich übel. Geradezu rekordverdächtig übel. Sie beugte sich vor.

»Hört mal, ich weiß, ich hab Mist gebaut. Es ist mir echt peinlich«, sagte sie so aufrichtig sie konnte. Ihre Mutter sah sie ungerührt an, deshalb wandte sie sich flehentlich an ihren Vater. »Aber findet ihr nicht, dass ihr überreagiert? Dad, das ist doch Wahnsinn!«

Erneut warf Allies Mutter ihrem Mann einen Blick zu, gebieterisch diesmal. Er sah Allie traurig an und schüttelte den Kopf.

»Es ist zu spät«, sagte er. »Die Entscheidung ist getroffen. Mittwoch fängst du an. Bis dahin kein Computer, kein Handy, kein iPod. Und keinen Ausgang, du bleibst im Haus.«

Als ihre Eltern aufstanden, kam es Allie so vor, als würde der Richter den Saal verlassen. In der Leere, die sie hinterließen, atmete Allie zitterig aus.

 

Vergeblich. Sie wechselten kaum ein Wort mit ihr.

Am Mittwochnachmittag überreichte die Mutter ihr einen schmalen, elfenbeinfarbenen Umschlag, auf dem ein aufwendig gestaltetes schwarzes Wappen aufgedruckt war, unter dem die Worte Cimmeria Academy standen. Und darunter hatte jemand in schön geschwungener Handschrift geschrieben: »Informationen für neue Schüler«.

Die beiden Blatt Papier waren offenbar mit Schreibmaschine getippt worden. Allie war sich zwar nicht sicher – sie hatte noch nie maschinenbeschriebenes Papier gesehen –, doch die kleinen eckigen Buchstaben hatten sich sichtbar in das dicke, altweiße Papier eingegraben. Der Schrieb enthielt nicht viel Text; die erste Seite war ein Brief der Rektorin, einer gewissen Isabelle le Fanult, die ihrer Freude Ausdruck verlieh, Allie im Internat begrüßen zu dürfen.

Na toll, dachte Allie und schleuderte den Brief beiseite. Die zweite Seite gab mehr her. Füller, Bleistifte und Papier würden von der Schule gestellt werden, teilte man ihr mit, ebenso die Schuluniform. In alle Kleidungsstücke, die sie mitbringen wollte, sollte sie ihre Initialen entweder mit wasserfestem Stift schreiben oder »aufsticken«. Und sie sollte Gummistiefel und eine Regenjacke mitbringen, weil »das Schulgelände weitläufig und ländlich« sei.

Sie überflog den restlichen Brief auf der Suche nach dem ominösen Wort »Schulregeln« – und richtig, da stand es, fett gedruckt:

Das vollständige Regelwerk für das Verhalten auf dem Schulgelände wird dir bei deinem Eintreffen ausgehändigt. Lies es

Und damit der schlechten Nachrichten noch nicht genug:

Den Schülern ist es nicht gestattet, ohne Erlaubnis ihrer Eltern oder der Internatsleitung das Schulgelände zu verlassen. Eine Erlaubnis wird nur in Ausnahmefällen erteilt.

Allies Hand zitterte, als sie die erste Seite vom Boden aufhob, den Brief zurück in den Umschlag steckte und auf ihren Schreibtisch legte.

Was ist das, eine Schule oder ein Gefängnis?

Dann polterte sie die Treppe hinunter in die Küche, wo ihre Mutter Mittagessen machte.

»Ich rufe Mark an«, verkündete sie herausfordernd und nahm das Küchentelefon, das jedes Mal, wenn ihre Eltern zu Hause waren, wie durch Zauberei an seinen Platz zurückkehrte.

»Ach ja?« Ihre Mutter legte das Messer hin.

»Wenn ich schon ins Gefängnis muss, habe ich ja wohl das Recht auf einen Anruf, oder?«, sagte Allie mit einer Stimme, als wäre ihr schreiendes Unrecht geschehen. Das alles ging nun wirklich zu weit.

Ihre Mutter musterte sie eine Weile, dann griff sie achselzuckend wieder nach dem Messer und machte sich daran, eine Tomate in dünne Scheiben zu schneiden.

»Dann ruf ihn halt an.«

Allie musste kurz nachdenken, bevor sie wählte. Marks Nummer war in ihrem Handy eingespeichert, deshalb hatte sie sie eigentlich nie auswendig können müssen.

Es klingelte ein paarmal.

»Hi. Hier ist Allie.«

»Allie! Verdammte Scheiße. Wo hast du gesteckt?« Er klang so erleichtert, wie sie sich fühlte.

Wütend starrte Allie auf den Rücken ihrer Mutter. »In Sicherheitsverwahrung. Sie haben mir mein Handy und meinen Computer weggenommen. Raus darf ich auch nicht. Und wie läuft’s bei dir?«

»Ach, wie immer.« Er lachte. »Meine Alten sind angepisst, die Schule ist extrem angepisst, aber ich werd’s überstehen.«

»Fliegst du auch?«

»Was? Von der Schule? Nee. Fliegst du denn?«

»Sieht so aus. Meine Eltern wollen mich in ein Straflager schicken, von dem sie steif und fest behaupten, es wäre eine Schule. Irgendwo in der Äußeren Mongolei.«

»Im Ernst?« Er klang aufrichtig bestürzt. »Wie ätzend! Die sind doch bekloppt. Niemand ist verletzt worden, und die Ross wird es schon verwinden. Ich muss irgendwelche Sozialstunden leisten und mich bei allen entschuldigen, und dann geht die ganz normale Schulhölle wieder weiter. Ich kann’s nicht glauben, dass deine Eltern so antiquiert sind.«

»Ich auch nicht. Hör zu, die Antiquierten sagen, dass ich dich nicht mehr anrufen darf, wenn ich erst mal in dieser Sträflingsschule bin. Aber wenn du wissen willst, wo du mich findest, der Ort heißt Cimmer…«

Die Verbindung brach ab. Allie schaute auf und sah, dass ihre Mutter den Stecker aus der Wand gezogen hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

»Das reicht«, sagte sie, nahm Allie sanft das Telefon aus der Hand und wandte sich wieder dem Tomatenschneiden zu.

»Ihr. Spinnt. Doch. Total!« Ihre Worte, erst leise, steigerten sich zu einem Schrei, während sie die Treppe hinaufstampfte. Sie knallte die Tür hinter sich zu, blieb mitten im Zimmer stehen und blickte fassungslos um sich.

Dieser Ort war nicht länger ihr Zuhause.

 

Der Mittwochmorgen begann heiß und strahlend, und zu ihrer Überraschung stellte Allie fest, dass sie irgendwie erleichtert war. Wenigstens hatte sie diese Phase ihrer Bestrafung jetzt hinter sich.

Eine halbe Stunde schaute sie in den Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für enge schwarze Jeans und ein langes schwarzes Top, auf dem in glitzernden Silberbuchstaben quer das Wort »Trouble« stand.

Sie betrachtete sich im Spiegel und fand sich blass. Ängstlich.

Da geht doch noch was.

Sie schnappte sich den Flüssigkajal, malte einen dicken Strich auf ihre Lider und tuschte sich reichlich die Wimpern. Dann langte sie unter das Bett und zog ein Paar kniehohe, dunkelrote Doc Martens hervor, die sie über die Jeans zog. Als sie kurz darauf die Treppe hinunterging, sah sie aus wie ein Rockstar, fand sie. Ihr Gesichtsausdruck war rebellisch.

Beim Anblick ihres Outfits seufzte ihre Mutter dramatisch, sagte aber nichts. Das Frühstück verlief in eisigem Schweigen, danach ließen ihre Eltern sie allein, damit sie fertig packte. Sie stapelte ihre Klamotten auf dem Bett, setzte sich, den Kopf zwischen den Knien, mitten hinein und zählte ihre Atemzüge, bis sie sich beruhigt hatte.

Als sie am Nachmittag zum Wagen gingen, drehte Allie sich noch

Jetzt sah es einfach nur aus wie alle anderen Häuser in der Straße.

Die Autofahrt war eine Qual. Normalerweise wäre sie froh gewesen, an einem strahlend schönen Sommertag wie diesem aus der Stadt rauszukommen, doch als die verstopften Straßen Londons sanft geschwungenen grünen Wiesen wichen, mit wie hingetupften weißen Schafen, die in der Sonne dösten, befiel sie ein Gefühl von Einsamkeit. Die Stimmung im Auto tat ein Übriges. Die Eltern nahmen Allies Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Ihre Mutter hielt die Landkarte und gab ab und zu Anweisungen, wie sie zu fahren hatten.

In den Rücksitz gekauert, starrte Allie böse auf die Hinterköpfe ihrer Eltern. Wieso kaufen die sich kein Navi wie jeder normale Mensch?

Diese Frage hatte sie ihnen schon oft gestellt, aber ihr Vater sagte immer nur, sie ständen zu ihrer Technikfeindlichkeit und dass »jeder Karten lesen können sollte«.

Dann eben nicht.

Ohne Karte blieb Allie nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, wohin genau die Reise ging.

Die Eltern hatten ihr noch nicht verraten, wo das Internat lag, und so rauschten die Städtenamen an ihnen vorbei: Guildford, Camberley, Farnham … Irgendwann verließen sie die Fernstraßen und schlichen auf winzigen Landstraßen zwischen hohen Hecken, die jede Aussicht versperrten, hügelauf, hügelab durch die Dörfer: Well, Dippenhall, Frensham … Nach zwei Stunden bogen sie schließlich in einen schmalen Feldweg ein, der in einen dichten Wald führte, wo

Sie hielten an. Nur das Tuckern des Motors war zu hören.

Eine halbe Ewigkeit passierte gar nichts.

»Vielleicht muss man hupen oder irgendwo klingeln«, flüsterte Allie. Sie ließ den abweisenden schwarzen Zaun auf sich wirken, der sich schier endlos hinzog und dann irgendwo zwischen den Bäumen verlor.

»Nein.« Ihr Vater dämpfte ebenfalls die Stimme. »Die haben bestimmt eine Überwachungskamera oder so was. Die sehen das, wenn jemand kommt. Beim letzten Mal haben wir auch nur ein paar …«

Zitternd setzte sich das Tor in Bewegung und schwenkte mit einem metallischen Scheppern langsam nach innen. Dahinter ging der Wald weiter; durch das dichte Geäst sickerte kaum noch Sonnenlicht.

Allie starrte in den Schatten.

Willkommen in deiner neuen Schule, Allie. Willkommen in deinem neuen Leben.

Während das Tor aufging, zählte sie ihre Herzschläge. Bumm-bumm-bumm … Dreizehn Schläge, dann sah sie die Straße vor sich. Ihr Herz pochte nun so laut, dass sie verstohlen überprüfte, ob ihre Eltern es bemerkt hatten. Aber die warteten ergeben. Ihr Vater trommelte mit den Fingern gegen das Lenkrad.

Bei fünfundzwanzig war das Tor mit einem neuerlichen Zittern wieder eingerastet.

Ihr Vater legte den Gang ein.

Sie fuhren los.

Allie spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte, und konzentrierte sich aufs Atmen. Eine Panikattacke war das Letzte, was sie jetzt

Flipp jetzt nicht aus, sagte sie sich. Das hier ist auch bloß eine Schule. Konzentrier dich.

Es klappte. Ihr Atem beruhigte sich etwas.

Allies Vater lenkte den Wagen auf einen gepflegten Kiesweg, der dicht von Bäumen gesäumt war. Nach der Holperstrecke vorher war der Weg nun so gleichmäßig eben, dass der Wagen geradewegs zu schweben schien.

Allie achtete noch immer genau auf ihren Herzschlag. 123 Schläge lang nichts außer Bäumen und Schatten, dann ein koronarer Trommelwirbel, als sie wieder ins Helle kamen und sie ein Gebäude vor sich sah.

Und schon hatte sie sich verzählt.

Es war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Ein gewaltiges, dreigeschossiges Bauwerk aus dunkelrotem Klinker erstreckte sich zu Füßen eines steilen, bewaldeten Hügels. Im grellen Sonnenlicht wirkte es besonders deplatziert. Der Bau sah aus, als hätte man ihn einer anderen Zeit und einem anderen Ort entrissen und hier abgeworfen, in … wo auch immer sie hier waren. Aus dem zerklüfteten Dach ragten Türmchen, deren scharfe Spitzen wie schmiedeeiserne Dolche in den Himmel stachen.

Heiliger Bimbam.

»Ein beeindruckendes Gebäude«, sagte ihr Vater.

Ihre Mutter schnaubte. »Auf beeindruckende Weise gruselig.«

Furcht einflößend. Der Ausdruck, nach dem sie suchen, ist »Furcht einflößend«.

Als wollte sie einen Kontrast zu dem einschüchternden Bauwerk schaffen, hatte die Sonne den Kiesweg in einen strahlend weißen Pfad verwandelt, der wie ein sanft geschwungener Elefantenzahn zu

Sie waren kaum zum Stehen gekommen, als die Tür aufschwang und eine schlanke Frau lächelnd und leichtfüßig die Treppe heruntersprang. Ihre dichten, dunkelblonden Haare wurden lose von einer Spange gehalten und lockten sich an den Enden, als wären sie froh, da zu sein. Allie war erleichtert, dass die Frau so normal aussah: Sie hatte sich die Brille ins Haar geschoben und trug eine cremefarbene Strickjacke über ihrem blassblauen Kleid.

Allies Eltern stiegen aus und gingen auf die Frau zu, um sie zu begrüßen. Allie blieb unbeachtet sitzen. Schließlich öffnete sie die Tür und kletterte widerwillig aus dem Ford, der ihr mit einem Male so freundlich und vertraut vorkam. Sie ließ die Tür offen.

Statt ihren Eltern zu folgen, lehnte sie sich lieber gegen den Wagen und beobachtete argwöhnisch die Szene. Wartete. Siebenundzwanzig Herzschläge.

Achtundzwanzig. Neunundzwanzig.

»Mr und Mrs Sheridan. Schön, Sie wiederzusehen!« Die Frau hatte eine warme, trällernde Stimme und lächelte ungezwungen. »Ich hoffe, die Fahrt war nicht allzu anstrengend. Zwischen London und hier ist manchmal ein furchtbarer Verkehr. Aber wenigstens haben wir heute herrliches Wetter, nicht wahr?«

Allie bemerkte, dass sie einen ganz leichten Akzent hatte, konnte ihn aber nicht genau bestimmen. Schottisch vielleicht? Er verlieh ihren Worten jedenfalls etwas Besonderes, Vielschichtiges, ließ sie filigraner wirken.

Nach dem Austausch weiterer Höflichkeiten geriet das Gespräch etwas ins Stocken, und die drei wandten sich Allie zu. Das höfliche Lächeln war nun aus dem Gesicht ihrer Eltern verschwunden, und an seine Stelle war wieder jene kultivierte Ausdruckslosigkeit getreten,

»Und du bist bestimmt Allie?«

Eindeutig schottisch, der Akzent. Aber ziemlich ungewöhnlich – kaum wahrnehmbar.

»Ich heiße Isabelle le Fanult und bin die Rektorin der Cimmeria Academy. Du kannst Isabelle zu mir sagen. Herzlich willkommen, Allie.«

Allie war ein wenig erstaunt, mit ihrem Spitznamen angesprochen zu werden und nicht mit »Alyson«, wie von ihren Eltern. Und dass sie die Internatsleiterin mit Vornamen ansprechen sollte, kam ihr ebenfalls komisch vor.

Aber ziemlich cool.

Isabelle streckte ihr eine schlanke, blasse Hand entgegen. Sie hatte eigenartig schöne goldbraune Augen und sah aus der Nähe jünger aus, als man auf den ersten Blick dachte.

Allie wollte nichts mit diesem Ort zu tun haben – und nichts mit dieser Frau –, und doch ertappte sie sich dabei, wie sie ihr die Hand entgegenstreckte. Isabelles Händedruck war überraschend kräftig und kühl. Sie schüttelte ihr die Hand und ließ sie dann sanft wieder los. Allie entspannte sich etwas.

Isabelle hielt ihren Blick noch eine Sekunde länger, und Allie meinte, so etwas wie Wohlwollen in ihrem Ausdruck zu sehen, ehe sie sich wieder an die Eltern wandte und mit einem bedauernden Schulterzucken lächelnd sagte: »Die Regeln unseres Hauses verlangen leider, dass sich die Eltern hier von ihren Kindern verabschieden. Sobald ein Schüler unsere Türschwelle überquert hat, fängt er sein neues Leben in der Cimmeria Academy an, und wir möchten, dass er diesen Schritt selbstständig tut.«

Sie wandte sich wieder an Allie: »Hast du viel Gepäck? Das werden

Zum ersten Mal antwortete Allie: »Ist nicht besonders viel.«

Und das stimmte auch. Das Internat stellte so viele Dinge und erlaubte einem so wenig mitzubringen, dass sie letztlich nur zwei mittelgroße Taschen mitgenommen hatte, die überwiegend mit Büchern und Notizblöcken gefüllt waren. Allies Vater holte sie aus dem Kofferraum. Mit erstaunlicher Leichtigkeit hob Isabelle die größere der beiden Taschen an, tauschte noch ein paar abschließende Nettigkeiten mit Allies Eltern aus und entfernte sich dann.

»Streng dich an und schreib uns ab und zu mal«, sagte ihr Vater. Er war immer noch etwas distanziert, wirkte aber traurig. Hastig umarmte er sie.

Die Mutter strich Allie eine Strähne aus dem Gesicht. »Bitte gib dieser Schule eine Chance. Und ruf an, wenn du uns brauchst.« Sie umarmte Allie kurz und fest, dann ließ sie los und ging zum Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Hände neben dem Körper, stand Allie still da und sah zu, wie der Wagen wendete und den gepflegten Kiesweg zurückfuhr. Sie spürte Tränen aufsteigen und schüttelte heftig den Kopf, um sie abzuwehren.

»Beim ersten Mal ist es immer schwer«, sagte Isabelle mit sanfter Stimme. »Aber es wird leichter.«

Schwungvoll wandte sie sich in Richtung Treppe und sagte über die Schulter: »Wir haben leider noch ein gutes Stück zu laufen. Du wirst sehen, dieses Haus hört gar nicht mehr auf.«

Ihre Stimme verlor sich im Innern des Gebäudes. Nach kurzem Zögern folgte Allie ihr.

»Ich geb dir unterwegs eine Blitzführung …«, sagte Isabelle, aber

Drinnen war es düster und kalt. Ein Bleiglasfenster hoch über ihrem Kopf brach das helle Sonnenlicht und verwandelte es in ein vielfarbiges Halbdunkel. Die Decken waren mindestens sechs Meter hoch und wurden von einem mächtigen Bogengewölbe aus Stein gehalten. Der Steinboden war über die Jahrhunderte von Tausenden Füßen glatt poliert worden. Mannshohe Kerzenständer standen wie Wachposten in allen Ecken. Einige Wände waren mit alten Gobelins bedeckt, doch Allie hatte keine Zeit, sie näher zu betrachten, weil sie der Rektorin hinterherhetzen musste.

Von der Eingangshalle ging es weiter in einen breiten Gang mit dunklem Holzboden. Isabelle betrat den ersten Raum zur Rechten. Darin befanden sich über ein Dutzend große, runde Holztische, um die jeweils acht Stühle gruppiert waren. An der einen Wand gab es einen gewaltigen Kamin, der sie deutlich überragte.

»Das ist der Speisesaal. Hier wirst du sämtliche Mahlzeiten einnehmen«, sagte Isabelle und hielt einen Moment inne, damit Allie den Raum auf sich wirken lassen konnte, bevor sie sich umdrehte und weiter den Gang entlangmarschierte.

Kurz darauf durchquerte sie eine weitere, überwölbte Tür, diesmal auf der anderen Seite des Ganges. Der riesige, weitgehend leere Raum hatte einen abgeschliffenen Holzboden, und die Decke, von der gewaltige Kandelaber aus Metall hingen, war fast so hoch wie die im Eingangsbereich. Neben dem Kamin sah Isabelle wie eine Zwergin aus.

»Das ist der Rittersaal. Hier finden unsere Veranstaltungen statt, Bälle, Versammlungen und so weiter. Das ist der älteste Teil des Gebäudes. Viel älter als die Fassade. Sogar noch älter, als er aussieht.«

Sie machte kehrt und folgte weiter dem Gang. Allie hatte Mühe,

Zwei Treppen höher wandte sich Isabelle nach links, ging einen breiten Flur entlang und stieg eine etwas schmalere Treppe hinauf, die zu einem lang gezogenen, dunklen Gang führte, der von weiß gestrichenen Holztüren gesäumt war.

»Das ist der Schlaftrakt für die Mädchen. Moment, du hast die 329.« Sie eilte den Flur entlang, bis sie die entsprechende Nummer gefunden hatte, und riss die Tür auf.

Das Zimmer war dunkel und klein. Es gab ein nacktes Einzelbett, eine Frisierkommode und einen Schreibtisch aus Holz sowie einen Kleiderschrank – allesamt im selben makellosen Weißton. Isabelle ging durchs Zimmer und fummelte an einem Riegel, den Allie nicht sehen konnte, worauf ein Holzfensterladen aufschwang, der ein kleines Bogenfenster verdeckt hatte. Schlagartig wurde der Raum vom goldenen Licht der Nachmittagssonnne erhellt.

»Hier muss nur mal ein bisschen gelüftet werden«, sagte Isabelle fröhlich und ging Richtung Tür. »Deine Schuluniformen sind im Kleiderschrank, die Größe haben uns deine Eltern durchgegeben. Sag Bescheid, falls irgendwas nicht passt. Es müsste eigentlich alles da sein, was du brauchst. Ich lass dich jetzt mal in Ruhe auspacken.

Sie drehte sich noch einmal um. »Ich habe gesehen, dass du in letzter Zeit etwas Schwierigkeiten in Englisch hattest, deswegen habe ich dich zu mir in den Kurs gesteckt. Das ist ein Ergänzungskurs für eine kleinere Gruppe. Ich hoffe, der ist interessant für dich.«

Überwältigt von der Flut der Informationen, konnte Allie nur stumm nicken, ehe ihr klar wurde, dass sie etwas erwidern musste. Stockend sagte sie: »Ich … komm schon zurecht.«

Isabelle legte den Kopf schief und musterte einen Moment lang ihr Gesicht, dann nickte sie. »In dem Umschlag da sind jede Menge Informationen über die Schule und deine Kurse«, sagte sie und deutete auf den Schreibtisch. Allie war der große Umschlag mit ihrem Namen darauf noch gar nicht aufgefallen, und nun fragte sie sich, wie sie ihn hatte übersehen können.

»Noch irgendwelche Fragen?«

Allie wollte schon den Kopf schütteln, hielt dann aber inne. Sie sah auf ihre Füße und zupfte am Saum ihres T-Shirts. Dann schaute sie auf und sagte zögernd: »Sie sind doch die Internatsleiterin, oder?«

Isabelle sah sie leicht verdutzt an und nickte.

»Und wieso machen Sie dann das alles?« Allie machte eine ausholende Geste.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Isabelle perplex. »Wieso mache ich was

Allie versuchte eine Erklärung. »Mich an der Tür abholen, mir mein Zimmer zeigen, mich durchs Haus führen …«

Isabelle zögerte mit der Antwort. Sie hatte die Arme locker vor der Brust verschränkt. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Allie, deine Eltern haben mir eine ganze Menge über dich erzählt. Ich weiß, was passiert ist, und die Sache mit deinem Bruder tut mir sehr leid. Ich

Sie ging zur Tür und ließ für kurze Zeit ihre Hand auf der Klinke ruhen.

Dreimal aus- und zweimal einatmen.

»Ich schicke die Vertrauensschülerin zu dir hoch, damit sie sich vorstellt und alle deine Fragen beantwortet«, sagte Isabelle. »Um sechs, da bleibt euch noch genügend Zeit vor dem Abendessen, um alles zu regeln. Die Essenszeiten hier sind streng – bitte sei pünktlich!«

Behutsam machte sie die Tür hinter sich zu, dann rauschte sie mit dem ihr eigenen Tempo ab. Allie atmete tief durch.

Nun, da sie den Raum für sich hatte, kam sie endlich zum Nachdenken. Wieso hatten ihre Eltern Isabelle von Christopher erzählt? Das war doch immer eine reine Familienangelegenheit gewesen. Und was für eine seltsame Schule war das? Wieso war ihnen auf dem Weg hierher kein einziger Schüler begegnet? Das Gebäude wirkte wie ausgestorben.

Sehr merkwürdig.

Sie wuchtete ihre Tasche aufs Bett, machte den Reißverschluss auf und begann ihre Sachen auszuräumen. Die Bücher ließen sich in dem schmalen Regal neben dem Schreibtisch verstauen, die Klamotten kamen in die Kommode. Doch als sie die Schubladen aufmachte, stellte sie fest, dass darin schon jede Menge T-Shirts, Shorts und Pullover lagen. Sie waren entweder weiß oder nachtblau und hatten das Cimmeria-Wappen auf der Brust.

Verdutzt starrte sie das Kleid an. Was hatte so was hier zu suchen?

Sie war noch nie auf einer richtigen Tanzveranstaltung gewesen – an ihren bisherigen Schulen hatte es derlei nicht gegeben. Die Vorstellung, ein teures Abendkleid zu tragen und damit auf einen richtigen Ball zu gehen, jagte ihr einen nervösen Schauer über den Rücken. Sie konnte ja nicht mal tanzen.

Sie strich über den geschmeidigen Stoff und versuchte sich vorzustellen, wie sie an Canapés knabberte und dabei Small Talk machte. Sie lachte bitter.

Nicht meine Welt.

Allie hängte die Kleider zurück in den Schrank, schloss die hölzerne Tür und setzte sich an den kleinen Holzschreibtisch vor dem Fenster. Von ihrem Stuhl aus sah sie blauen Himmel und grüne Baumwipfel. Jetzt am Nachmittag war es etwas kühler, und die Luft roch nach Kiefer und Sommer. Sie öffnete den Umschlag und zog ein Bündel Papiere hervor. Isabelle hatte keinen Scherz gemacht, als sie von »jede Menge Informationen« sprach.

Das erste Blatt war ein Gebäudeplan, auf dem die Lage der Schlaftrakte, Klassenzimmer, Speisesäle und Lehrerunterkünfte skizziert war. Auf dem zweiten Blatt stand ihr Stundenplan: Englisch, Geschichte, Biologie, Algebra, Französisch – die üblichen Verdächtigen.

 

Internatsordnung.

 

Er enthielt jede Menge Blätter, die jemand in einer wunderschön altmodischen Schrift von Hand beschrieben hatte. Doch bevor Allie sie durchlesen konnte, klopfte es.

Die Tür ging auf, und ein hübsches Mädchen in einer Cimmeria-Uniform – weiße, kurzärmlige Bluse mit Wappen zu dunkelblauem, knielangen Faltenrock – betrat das Zimmer. Sie hatte ein ernstes Gesicht, fand Allie. Die glatten, weißblonden Haare streiften gerade so ihre Schultern, und an den Füßen trug sie rosa Birkenstock. Der Nagellack passte farblich perfekt zu den Sandalen, bemerkte Allie, und sie kam sich mit einem Mal unbeholfen und jungenhaft vor.

Wann habe ich mir das letzte Mal die Nägel lackiert?

Sie hatte das Gefühl, dass die andere sich Mühe gab, sie nicht anzustarren.

»Allie?« Die heisere Stimme wollte nicht recht zu ihrem Äußeren passen.

Allie nickte und erhob sich von ihrem Schreibtisch.

»Ich heiße Jules und bin Vertrauensschülerin in deiner neuen Klasse. Isabelle hat mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen.«

»Äh, danke.« Allie zupfte nervös am Saum ihres Oberteils und fragte sich, ob sie sich hätte umziehen sollen.

Eine kurze Pause entstand. Jules zog fragend die Augenbrauen hoch und versuchte es noch einmal. »Sie dachte, du hättest vielleicht Fragen, bei denen ich dir helfen könnte.«

Allie überlegte fieberhaft, welche interessante Frage sie stellen könnte. Doch ihr fiel keine ein. »Müssen wir wirklich jeden Tag Uniform tragen? Die ganze Zeit?«

»Ich war irgendwie gerade dabei, sie zu lesen.« Allie wünschte sich, sie würde nicht immer über ihre Worte stolpern. Jules wirkte so selbstbewusst. »Ist ja ganz schön viel zu lesen.«

»Für den ersten Tag ist es ziemlich viel«, gab Jules zu. »Mein erster Tag wäre sicher genauso schrecklich gewesen, wenn mein Bruder mir nicht geholfen hätte. Viele von uns haben Verwandte, die auch schon hier waren – du auch?«

Allie schüttelte den Kopf. »Bis vor ein paar Tagen hatte ich noch nie von der Schule gehört.«

Jules schien überrascht, doch sie sagte nur: »Na, dann zeige ich dir lieber noch ein bisschen unseren Schlaftrakt, obwohl es da, ehrlich gesagt, nicht viel zu sehen gibt.«

Allie machte einen Schritt in Richtung Tür, doch Jules warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihr Outfit.

»Willst du nicht erst deine Uniform anziehen?«

Allie errötete und verschränkte die Arme vor der Brust, aber Jules schien es nicht zu bemerken.

»Ich warte draußen«, sagte Jules und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, aus dem Zimmer.

Kaum war die Tür hinter ihr zu, riss Allie den Kleiderschrank auf, zog eine gefällige Kombi aus weißer Bluse und blauem Rock hervor, wie Jules sie trug, und warf sie aufs Bett. Hatte sich Jules über ihre Klamotten lustig gemacht? Sie war sich nicht ganz sicher, aber Jules war so … perfekt.

Natürlich hat sie sich über mich lustig gemacht, dachte Allie bitter. Mädchen wie sie machen das so. Mädchen mit perfekt lackierten Fußnägeln … Wütend schnürte sie ihre Stiefel auf und kickte sie unters Bett.

Sie stöberte im Kleiderschrank nach akzeptablen Schuhen, fand aber nur ein paar praktische schwarze Oxford-Schuhe mit Gummisohlen und adrette weiße Schulmädchensocken. Allie schnitt eine Grimasse und zog sie an.

Blöde perfekte Mädchen.

Sie überprüfte ihr Aussehen im Spiegel auf der Rückseite der Tür und fühlte sich etwas unbehaglich wegen ihres kräftigen Make-ups – Jules hatte nur Lipgloss aufgetragen. Aber da war auf die Schnelle nichts zu machen.

Sie strich sich mit den Händen die Haare glatt und spazierte zur Tür hinaus. Jules lehnte an der Wand.

»Jetzt siehst du aus wie eine von uns«, sagte sie beifällig, als sie den schmalen Flur entlangliefen.

Allie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Hier waren früher die Bediensteten untergebracht«, erklärte Jules. Sie schien den Ärger, der in Allie brodelte, nicht wahrzunehmen. »Das Gebäude wurde aber über die Jahre immer wieder erweitert, sodass es heute viel größer ist als früher. Hier«, sagte sie und wies auf eine Tür, die keine Nummer trug, »ist das Bad. Es wird von allen gemeinsam benutzt, weshalb man besser früh oder spät hingeht oder eben Wartezeit einplanen muss.«

Sie wandten sich wieder Richtung Treppe. Das Gebäude wirkte nun belebter, überall waren uniformierte Schüler, die sich unterhielten und lachten.

»Den Speisesaal hat dir Isabelle vermutlich schon gezeigt«, sagte Jules. »Den Aufenthaltsraum auch?«

Allie schüttelte den Kopf.

»Das ist der wichtigste Raum in der ganzen Schule«, sagte Jules und führte sie durchs Treppenhaus. »Die meisten Schüler verbringen

»Prep?«, fragte Allie.

Jules sah sie an, als könnte sie nicht glauben, dass Allie danach fragen musste.

»Hausaufgaben«, erklärte sie und öffnete eine Tür am Fuß der Treppe.

Sie betraten einen gemütlichen Raum mit Ledersofas. Auf dem Boden lagen Orientteppiche, in der Ecke stand ein Klavier, und es gab Bücherregale, die bis zur Decke reichten und voll mit Büchern und Spielen waren. Bei einigen der Tische waren Schachbretter auf die Platte gemalt. Der Raum war menschenleer, bis auf einen Jungen, der ganz hinten in einem tiefen Sessel saß und sie über den Rand eines uralt aussehenden Buchs hinweg beobachtete. Er hatte glattes, schwarzes Haar, einen festen Mund und riesige, dunkle Augen, die von dichten Wimpern umstanden waren; die Füße hatte er locker auf einen Schachtisch gestützt. Ihre Blicke begegneten sich, und Allie hatte das seltsame Gefühl, dass er wusste, wer sie war. Er lächelte nicht und sagte kein Wort, schaute sie nur unverwandt an. Als sie es nicht mehr aushielt, riss sie ihren Blick los und wandte sich wieder Jules zu, die sie erwartungsvoll ansah.

Sag was.

»Und, äh, es gibt hier … keinen Fernseher? Oder … eine Stereoanlage?« Sie meinte, von der anderen Seite des Raums ein unterdrücktes Glucksen zu hören, doch sie verkniff sich, noch einmal zu dem Jungen hinzuschauen.

Wieder machte Jules dieses verblüffte Gesicht, so als hätte Allie gefragt, was es eigentlich mit dieser golden leuchtenden Kugel am Himmel auf sich hatte.

»Nein, nichts dergleichen.« Jules’ Stimme klang streng. »Keinen Fernseher, keinen iPod, keine Laptops, keine Handys … Eigentlich

Bei jedem verbotenen Gerät, das Jules aufzählte, wurde Allies Herz schwerer. Statt einer Antwort schüttelte sie nur stumm den Kopf.

Jules holte tief Luft, um es ihr zu erklären.

»Von uns wird erwartet, dass wir lernen, uns auf traditionelle Weise zu beschäftigen. Zum Beispiel mit Konversation und Lesen. Glaub mir, du wirst hier so mit Hausaufgaben auf Trab gehalten, dass du sowieso keine Zeit zum Fernsehen hast.« Jules wandte sich zum Gehen. »Das steht auch alles in dem Hefter …«

Dieser blöde Hefter. Bis ich den ganzen Mist gelesen habe, ist die halbe Nacht rum, und das alles nur, damit ich genau Bescheid weiß, was für ein bescheuerter Ort das ist.

Ohne sich noch einmal nach dem Jungen im Sessel umzudrehen, folgte sie Jules über den Flur. Im Vorbeigehen strich Jules mit der Hand über eine Tür. »Das ist die Bibliothek – die wirst du bald zur Genüge kennenlernen.«

Sie durchquerten den Hauptflur, Jules drückte eine schwere Tür auf, durch die sie in den Ostflügel des Gebäudes gelangten.

»Hier sind die Klassenzimmer. Du findest dich am einfachsten zurecht, wenn du dir erst mal die Nummern merkst. Hinter jedem deiner Kurse steht eine Raumnummer. Wir merken uns die Klassenzimmer nach Lehrern, aber das wird dir am Anfang nicht viel bringen, weil die Namen nicht an der Tür stehen. Die Räume mit den Nummern eins bis zwanzig sind im Erdgeschoss, hundert bis hundertzwanzig im ersten Stock, und alles darüber hinaus ist für dich tabu.«