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Friedrich Glauser

Krock & Co

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Friedrich Glauser

Krock & Co

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Morgarten, Zürich, 1939
3. Auflage, ISBN 978-3-954182-84-8

www.null-papier.de/studer

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

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Die Ro­ma­ne mit Wacht­meis­ter Stu­der bei Null Pa­pier

An­de­re Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Fried­rich C. Glau­ser

Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (✳ 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

1.

WARUM WAR man nach­gie­big ge­we­sen? Wa­rum hat­te man Frau und Toch­ter den Wil­len ge­las­sen? Jetzt stand man da und soll­te wo­mög­lich die Verant­wor­tung auf sich neh­men, weil man ei­gen­mäch­tig ge­han­delt hat­te und die Lei­che nicht im Gärt­lein ge­blie­ben war, hin­term Haus, dort, wo sie auf­ge­fun­den wor­den war…

Der Tote lag auf dem weiß­ge­scheu­er­ten Tisch im Vor­kel­ler des Ho­tels zum Hir­schen, und über das hel­le Holz schlän­gel­te sich ein schma­ler Strei­fen Blut. Lang­sam fie­len die Trop­fen auf den Ze­ment­bo­den – es klang wie das Ti­cken ei­ner al­ters­mü­den Wand­uhr.

Der Tote: Ein jun­ger Mann, sehr groß, sehr schlank, be­klei­det mit ei­nem dun­kelblau­en Po­lo­hemd, aus des­sen kur­z­en Är­meln die Arme rag­ten, lang und blond be­haart, wäh­rend die Bei­ne in hell­grau­en Fla­nell­ho­sen steck­ten.

Und ne­ben sei­nem Kop­fe lag das Mord­in­stru­ment. Kein Mes­ser, kein Re­vol­ver… Eine un­ge­wöhn­li­che, eine noch nie ge­se­he­ne Waf­fe: die Spei­che ei­nes Ve­lo­ra­des, an ei­nem Ende spitz zu­ge­feilt. Sie war nicht leicht zu ent­de­cken ge­we­sen, denn sie hat­te im Kör­per des To­ten ge­steckt und kaum aus der Haut her­aus­ge­ragt. Erst als Stu­der mit der fla­chen Hand über den Rücken der Lei­che ge­fah­ren war, hat­te er sie füh­len kön­nen. Fast senk­recht war sie in den Kör­per ge­sto­ßen wor­den, dicht un­ter dem lin­ken Schul­ter­blatt, und nir­gends her­aus­ge­kom­men – we­der an der Brust noch am Bauch. Wie vie­le le­bens­wich­ti­ge Or­ga­ne die­ser Spieß durch­bohrt hat­te, wür­de der Arzt erst bei der Lei­chen­öff­nung fest­stel­len kön­nen…

So we­nig rag­te das stump­fe Ende aus dem Rücken her­aus, dass es eine Zan­ge ge­braucht hat­te, um die Mord­waf­fe aus der Wun­de zu zie­hen.

Doch – um eine ers­te Fra­ge auf­zu­wer­fen – wie war der Mör­der mit die­sem Spieß um­ge­gan­gen? Es muss­te doch ein Griff vor­han­den ge­we­sen sein – im Au­gen­blick, da der Stich aus­ge­führt wor­den war. Hat­te man ihn ab­ge­schraubt? Nach­her? Es schi­en fast so, denn eine kaum sicht­ba­re, spi­ra­lig ver­lau­fen­de Li­nie war in den stump­fen Teil ein­ge­schnit­ten… Mecha­ni­ker­ar­beit, ohne Zwei­fel!

Wacht­meis­ter Stu­der, von der Ber­ner Fahn­dungs­po­li­zei, hät­te ums Le­ben ger­ne eine Bris­sa­go an­ge­zün­det, aber das ging nicht an, hier, ge­ra­de ne­ben dem To­ten. So blieb nichts an­de­res üb­rig, als hin und her zu lau­fen im schma­len und kur­z­en Raum, den eine Bir­ne, bau­melnd an ei­nem stau­bi­gen Draht, mit ei­nem grau­sam hel­len Licht über­schüt­te­te. Und dazu dem Al­bert Vor­trä­ge zu hal­ten…

Je­des die­ser Selbst­ge­sprä­che be­gann mit der Fest­stel­lung:

»Lü Bär­tu! Worum, zum Tüü­fu, hei mr uff d’Wy­ber­völ­cher g’lost!«

Al­bert Guhl, ein kräf­ti­ger, breit­schult­ri­ger Bur­sche, sie­ben­und­zwan­zig­jäh­rig, Kor­po­ral an der Thur­gau­er Kan­tons­po­li­zei und in Ar­bon sta­tio­niert, hat­te heu­te Stu­ders Toch­ter ge­hei­ra­tet.

– Hät­te man, fuhr der Ber­ner Wacht­meis­ter zu fra­gen fort, die Hoch­zeit nicht ge­ra­de so gut in Bern fei­ern kön­nen? Nein, es hat­te müs­sen durch­ge­s­tiert wer­den, dass sie in Ar­bon statt­fand. »Weil dei­ne Mut­ter eine alte Frau ist und sich vor dem Rei­sen fürch­tet? Gut, das ist ein Grund! Ein stich­hal­ti­ger?«

Al­bert Guhl schwieg. Und Stu­der hob sei­ne mäch­ti­gen Schul­tern – die Hän­de mach­ten die Be­we­gung mit und fie­len dann klat­schend ge­gen sei­ne Ober­schen­kel…

»Und jetz?« frag­te er wei­ter. Lang­sam nä­her­te er sich dem Tisch, bück­te sich und sah dem To­ten ins Ge­sicht…

Ein un­an­ge­neh­mes Ge­sicht! Die Nase lang und ge­bo­gen, wie ein Gei­er­schna­bel, zwei Fur­chen gru­ben sich ein von den Na­sen­flü­geln bis zu den Mund­win­keln, die flei­schi­gen Lip­pen wa­ren ge­schürzt, ent­blö­ßten die Zäh­ne – und es sah aus, als lächle der Tote mit all sei­nen Gold­plom­ben. Und der Blick, be­vor dem To­ten die Au­gen zu­ge­drückt wor­den wa­ren! Stu­der er­in­ner­te sich an ihn: ge­la­den mit Hohn, im Tode noch!

Sah es nicht aus, als wol­le sich der Er­mor­de­te lus­tig ma­chen über die Über­le­ben­den? Kaum hat­te der Wacht­meis­ter die­se Fra­ge ge­dacht, stell­te er sie laut. Und Al­bert, der Schwie­ger­sohn, nick­te, nick­te – aber er tat den Mund nicht auf.

Ob er das Re­den ver­lernt habe, woll­te Stu­der wis­sen.

Al­bert sah auf, schüt­tel­te den Kopf und dann sag­te er, be­schei­den, ohne jeg­li­chen Vor­wurf:

»Wir hät­ten ihn lie­gen­las­sen sol­len, Vat­ter.«

»Lie­gen­las­sen!… Lie­gen­las­sen!…« Stu­der ahm­te ge­häs­sig den Ton­fall des Jun­gen nach. »Lie­gen­las­sen! Da­mit die Bau­ern vom Dorf den Bo­den ver­tram­peln? Hä? Da­mit man gar kei­ne Spu­ren mehr fin­det? Hä?«

»Spu­ren!« mein­te Al­bert lei­se, mit viel ver­söhn­li­chem Re­spekt, der dem Wacht­meis­ter wohl­tat. »Ich glaub, Vat­ter, dass man auf dem Bo­den nicht viel Spu­ren ent­de­cken kann…«

– Weil er tro­cken sei wie–n–es Chä­fer­füd­le? Hä? Das wol­le der Jun­ge wohl sa­gen? Dann sol­le er sich mer­ken, dass ihm, dem Wacht­meis­ter Stu­der (»mir, nur ein Wach­me­isch­ter Stu­der«, be­ton­te er) die Auf­klä­rung ei­nes ähn­li­chen Fal­les ge­lun­gen war: da sei der Tote auf ei­nem eben­so tro­ckenen Bo­den ge­le­gen – auf ei­nem Wald­bo­den! (Doch ei­gent­lich war al­ler ech­te Är­ger aus Stu­ders Stim­me ver­schwun­den. – Der Wacht­meis­ter tat nur so. Und Al­bert merk­te dies ganz gut – er lä­chel­te…) – Ganz recht! Auf ei­nem Wald­bo­den! Mit Tan­nen­na­deln drauf! wie­der­hol­te Stu­der und stieß sei­ne Fäus­te so tief in die Ho­sen­ta­schen, dass in der plötz­li­chen Stil­le deut­lich das Geräusch zer­rei­ßen­den Stof­fes zu hö­ren war…

»Saue­rei!« mur­mel­te der Wacht­meis­ter. – Nun wer­de er sein Por­te­mon­naie ver­lie­ren… Und warum, seufz­te er wei­ter, um der Tu­u­sigs­gotts­wil­le warum hat­te man den Aus­flug aus­ge­rech­net nach die­sem Schwar­zen­stein ma­chen müs­sen?

»Aber Vat­ter!« sag­te Al­bert. »Ihr habt doch sel­ber den Hir­schen zu Schwar­zen­stein vor­ge­schla­gen!«

Stu­der brumm­te. Es stimm­te, lei­der! Er hat­te das Ho­tel vor­ge­schla­gen. An der Mit­tags­ta­fel in Ar­bon war von dem al­ten Brauch die Rede ge­we­sen; am Hoch­zeits­tag, hieß es, sei es Sit­te, mit Kut­schen ir­gend­ein Dörf­lein im Ap­pen­zel­ler­land auf­zu­su­chen… Und da war dem Wacht­meis­ter ein­ge­fal­len, dass in Schwar­zen­stein ein Schul­schatz von ihm wir­te­te. Alte Lie­be ros­tet nicht, sagt man, und so­mit wa­ren nicht nur zwei Frau­en (Stu­ders Gat­tin und Toch­ter) am trau­ri­gen Aus­gang des Fes­tes schuld, son­dern drei. Denn das Ibach Anni (jetzt hieß es üb­ri­gens Frau Anna Rech­stei­ner) muss­te man dazu zäh­len, das vor… – vier­zig? – achtund­drei­ßig? – kurz, vor vie­len Jah­ren mit dem Stu­der Köbu in ei­nem Dor­fe des Em­men­tals zur Schu­le ge­gan­gen war…

Das arme Anni! Vor zehn Jah­ren hat­te es den Karl Rech­stei­ner in St. Gal­len zum Mann ge­nom­men, und das Ehe­paar hat­te dann das Ho­tel in Schwar­zen­stein ge­kauft, denn vie­le Fe­ri­en­gäs­te ka­men im Som­mer hier her­auf. Zu­erst war al­les gut ge­gan­gen. Aber dann war der Mann krank ge­wor­den vor drei Jah­ren, und zwi­schen­drin hat­te er ins Süd­ti­rol fah­ren müs­sen – zur Kur.

»Aus­zeh­rung«, sag­te Dr. Sal­vis­berg, der den Kran­ken be­han­del­te.

Und wirk­lich, der Rech­stei­ner sah schlecht aus. Stu­der hat­te ihm, be­glei­tet vom Anni, am Nach­mit­tag einen Be­such ab­ge­stat­tet, und seit­her wur­de er das Bild des Man­nes nicht los. Das Ge­sicht vor al­lem: glatt, spitz, die lin­ke Hälf­te klei­ner als die rech­te –, die Haut­far­be… wie Lät­t…

Ja, das Anni hat­te es nicht leicht. Es hieß freund­lich sein mit den Fe­ri­en­gäs­ten, den kost­ba­ren, da­mit sie übers Jahr nicht aus­blie­ben! Denn sie brach­ten Geld ins Haus – und der kran­ke Rech­stei­ner brauch­te viel! Für Arzt, Apo­the­ke, Ku­ren.

Und nun die­ser Mord! Er konn­te die Fe­ri­en­gäs­te ver­trei­ben – wer wohnt gern in ei­nem Ho­tel, in dem ein Mord pas­siert ist? Ein solch ge­heim­nis­vol­ler noch? Für die Zei­tun­gen war solch ein ›sen­sa­tio­nel­les‹ Ver­bre­chen ein ge­fun­de­nes Fres­sen! Und so hat­te denn das Anni den Wacht­meis­ter um Bei­stand ge­be­ten. Konn­te man solch eine Bit­te ab­schla­gen? Be­son­ders noch, wenn sie von ei­nem Schul­schatz kam?

Ja, das Anni! Schon in der Schu­le hat­te das Meit­schi viel Mut und Tap­fer­keit ge­zeigt. Und wa­cker war es ge­blie­ben. Kei­ne Kla­ge, nur eine schüch­ter­ne Bit­te, nicht ein­mal das – eine Be­haup­tung eher: Der Ja­kob wer­de schon al­les rich­tig ma­chen…

Wie­der stand Stu­der ne­ben dem Tisch und be­trach­te­te den To­ten… Kopf­schüt­telnd nahm er die son­der­ba­re Waf­fe in die Hand, trat un­ter die Lam­pe und un­ter­such­te sie dort ein­ge­hend.

Und plötz­lich mach­te er sei­ne ers­te Ent­de­ckung.

»Bär­tu!« rief er lei­se. Als der Schwie­ger­sohn ne­ben ihm stand, hielt Stu­der zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger ein stei­fes grau­es Haar. »Lüg ei­nisch!«

»Hm!« mein­te Al­bert.

– Was er mit sei­nem ›Hm‹ sa­gen wol­le, er­kun­dig­te sich Stu­der ge­reizt. Ob die Thur­gau­er alle es ver­nälts Muul hät­ten? Was sei das für ein Haar?

»Kein Men­schen­haar«, sag­te der Al­bert vor­sich­tig.

Der Wacht­meis­ter schnauf­te ver­ächt­lich.

– Dass es kein Men­schen­haar sei, kön­ne ein zwei­jäh­ri­ges Büe­b­li se­hen. Aber von was für ei­nem Tier denn? Geiß? Lamm? Kün­gel? Pferd? Kuh?

Das Haar, das der Wacht­meis­ter noch im­mer zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger dreh­te, war dünn, steif und glän­zend. Lang wie Stu­ders Zei­ge­fin­ger.

Al­bert mein­te schüch­tern, es sehe aus wie ein Hun­de­haar – wor­auf er zur Ant­wort er­hielt, ein Po­li­zist habe nicht zu ra­ten, son­dern er müs­se sei­ne Be­haup­tun­gen auch be­wei­sen kön­nen. Wie er auf den Ge­dan­ken ge­kom­men sei, es kön­ne ein Hun­de­haar sein?

– Weil bei der An­kunft der Ge­sell­schaft ein lang­haa­ri­ger Hund um die Bei­ne der Pfer­de ge­sprun­gen sei, des­sen Fell ex­akt die­se Far­be ge­habt habe. Ja, auch die Län­ge des Haa­res stim­me…

Stu­der nick­te, klopf­te sei­nem Schwie­ger­sohn auf die Schul­ter und mein­te: – Vi­el­leicht wer­de doch noch et­was Rech­tes aus ihm. Dann ging er zur Türe der Kel­ler­kam­mer, riss sie auf, und der Zu­rück­blei­ben­de hör­te Schrit­te, die eine Trep­pe hin­an­stie­gen.

Nach fünf Mi­nu­ten etwa war der Wacht­meis­ter zu­rück. Er schob vor sich her ein klei­nes Männ­chen mit ei­ner ro­ten Knol­len­na­se, de­ren Ge­wicht den Kopf des Man­nes nach vor­ne zog.

»Hocked ab«, sag­te Stu­der und stell­te einen Stuhl in die Mit­te des Rau­mes, so zwar, dass der Sit­zen­de den To­ten nicht se­hen konn­te.

Und Wacht­meis­ter Stu­der von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei be­gann wie­der ein­mal je­nes Spiel, von dem er in schwa­chen Stun­den be­haup­te­te, es ver­der­be den Cha­rak­ter – doch war es ihm der­ma­ßen in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen, dass er die Pen­sio­nie­rung viel­leicht nur des­halb ab­ge­lehnt hat­te, weil er es nicht miss­en konn­te… Ers­tens gab es ihm Macht über sei­ne Mit­menschen und zwei­tens kann­te er des­sen Re­geln bes­ser als man­cher Un­ter­su­chungs­rich­ter.

Das Spiel be­gann mit den üb­li­chen Fra­gen.

»Name?« – »Küng Jo­han­nes.« – »Al­ter?« – »Neun­und­fünf­zig.« – »Be­ruf?« – »Stall­knecht.« – Also er habe die Lei­che ge­fun­den? – Ja. – Wo? – Im Gar­ten hin­term Haus. – »Um wel­che Zeit?«

Das Männ­lein schwieg. Es rieb mit ei­nem schwar­zen Zei­ge­fin­ger an sei­ner di­cken Nase, stell­te dann die­se Be­schäf­ti­gung ein, um eine rie­si­ge sil­ber­ne Zwie­bel mit viel Mühe – der grü­ne Schurz war ihm da­bei im Weg – aus dem Gi­let­täsch­li zu zie­hen; die Uhr wur­de lan­ge an­ge­st­arrt und dann mit lei­ser Stim­me geant­wor­tet: »Vier­tel vor zeh­ni!« Hier­auf ver­schwand die Zwie­bel.

»Si­cher?« frag­te Stu­der. »Wills Gott!« ant­wor­te­te das Mann­li. –Wa­rum es dann bis Vier­tel ab zehn ge­dau­ert habe, bis die Wir­tin be­nach­rich­tigt wor­den sei? – Er habe, er­klär­te Küng, zu­erst den Pfer­den noch Ha­ber ge­ben müs­sen, denn die Gäs­te hät­ten doch um halb elf ab­fah­ren wol­len.

– Und da sei der Tote ein­fach im Gärt­li lie­gen­ge­blie­ben? – Ni­cken, lan­ges, schweig­sa­mes Ni­cken.

»Gut… Und habt Ihr den To­ten er­kannt?«

Wie­der das schwei­gen­de Ni­cken, das den Wacht­meis­ter lang­sam un­ge­dul­dig mach­te.

»So red doch, Küng!« sag­te er är­ger­lich. »Wer war’s?«

»Stie­ger hat er ge­hei­ßen. Er ist je­man­den be­su­chen kom­men. Über den Sonn­tag. Der Stie­ger hat in St. Gal­len ge­ar­bei­tet. – Und die an­de­re auch. Ich glaub«, Küng kratz­te an sei­ner Nase, »ich glaub, sie ar­bei­ten bei­de auf dem glei­chen Büro.«

»Die an­de­re?« frag­te Stu­der. »Wie heißt sie?«

»Loppa­cher! Mar­tha Loppa­cher. Sie hat Fe­ri­en, Er­ho­lungs­fe­ri­en hat sie ge­macht – weil sie krank war… Vier Wo­chen ist sie schon hier.«

Schwei­gen. Stu­der hat­te sein No­tiz­buch ge­zo­gen und schrieb die Na­men ein mit sei­ner win­zi­gen Schrift.

›Stie­ger‹, schrieb er, mal­te ein Kreuz hin­ter den Na­men und ›Loppa­cher Mar­tha‹. Dann wur­de ihm plötz­lich be­wusst, dass al­les bis jetzt wirk­lich nur ein Spiel ge­we­sen war, denn was er da ge­fragt hat­te, wuss­te er schon. Aber es war so viel an­de­res da­zu­ge­kom­men: Auf­re­gung, das Schrei­en der Frau­en, der Trans­port der Lei­che. So fühl­te der Wacht­meis­ter das Be­dürf­nis, Ord­nung in sei­ne ver­wirr­ten Ge­dan­ken zu brin­gen.

»Vier Wo­chen?« frag­te er ge­dan­ken­voll. »Und was hat sie in der Zeit ge­trie­ben?«

»Hä… Spa­zier­gäng g’­macht, g’le­se… ond off de Wees g’schlo­fe… Ond ka­ri­sier­t…«

Stu­der blick­te zu sei­nem Schwie­ger­sohn hin­über, aber dem schi­en nichts auf­ge­fal­len zu sein. So muss­te sich denn der Wacht­meis­ter ganz al­lein an der Aus­drucks­wei­se des Küng Jo­han­nes er­göt­zen.

»Kares­siert?« wie­der­hol­te er. »Wie mei­net Ihr das?«

»Eh de Nar­re g’­macht mit de Manns­bil­der.«

»Mit wem? Mit al­len? Oder nur mit ei­nem?«

»B’­son­ders mit­’s Gro­fe-n-Ernst. Isch gar en su­u­be­re Fe­ger, de Gro­fe-n-Ernst…«

– Wie hei­ße der Mann? Graf Ernst? Und was trei­be er? – Er sei Ve­lo­händ­ler… – Was sei er? Ve­lo­händ­ler? – Ja, Ve­lo­händ­ler. – Und habe der Graf Ernst etwa einen Hund? – »Seb glob i!« – Was für einen Hund? – Die Her­ren hät­ten ihn si­cher ge­se­hen. Bei der An­kunft sei er um die Bei­ne der Ros­se ge­sprun­gen…

Stu­der sah den Hund deut­lich vor sich: Eine Art Spitz, kein rein­ras­si­ges Tier, mit ei­nem grau­en Fell; dicht stan­den die star­ren Haa­re.

Ve­lo­händ­ler? – Die Waf­fe war die Spei­che ei­nes Fahr­ra­des! Und die­ser Ve­lo­händ­ler hat­te auch noch einen Hund?… Halt! Ein Hun­de­haar und eine Spei­che wa­ren noch kei­ne Be­wei­se?… Nein! Es ge­hör­te noch mehr da­zu…

Vor al­lem muss­te man die­sen Graf Ernst ken­nen­ler­nen. Was hat­te der Küng be­haup­tet? Der Mann sei ein… ein… rich­tig! »En su­u­be­re Fe­ger.« Dar­un­ter stell­te sich Wacht­meis­ter Stu­der einen Dorf­gückel vor, einen hüb­schen, nicht sehr ge­schei­ten Bur­schen, der es ver­stand, den Frau­en­zim­mern schön zu tun. Umso er­staun­ter war er, als er auf sei­ne Fra­ge nach dem Al­ter des Graf Ernst die Ant­wort er­hielt, der Mann sei über fünf­zig.

»Über fünf­zig?« wie­der­hol­te Stu­der er­staunt. Ob das nicht ein we­nig alt sei für »en su­u­be­re Fe­ger«? Da platz­te das Mann­li mit der ro­ten Kar­tof­fel­na­se los, es lach­te und lach­te. Dies La­chen aber mach­te den Wacht­meis­ter wild, denn Stu­der ver­stand, dass man ihn ver­spot­ten woll­te… Es war die Stra­fe da­für, dass er sich, als Ber­ner Fahn­der, in ei­nem frem­den Kan­ton mit ei­nem Mord­fall be­schäf­tig­te. Aber, weiß Gott, er hat­te es ja nur ge­tan, um dem Anni Ibach, dem Schul­schatz aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, zu hel­fen!

Die­ser Küng Jo­han­nes war das ers­te spür­ba­re Hin­der­nis. Wäre es nicht ge­schei­ter, den Schwie­ger­sohn vor­zu­schi­cken? Der stamm­te aus der Nähe und kann­te die Ge­bräu­che bes­ser, auch die Spra­che… Nein! Gera­de dem Schwie­ger­sohn muss­te man zei­gen, dass man noch nicht zum al­ten Ei­sen ge­hör­te, dass die ›Gäng-gäng‹, wie sie in der Ost­schweiz die Ber­ner nann­ten, kei­ne Du­bel wa­ren…

2.

Die Hit­ze im Vor­kel­ler war schier un­er­träg­lich. Flie­gen summ­ten um die Lam­pe, setz­ten sich auf das Ge­sicht des To­ten, lie­fen über sei­ne nack­ten Arme.

Dem Wacht­meis­ter war das Spiel plötz­lich ver­lei­det. Stu­der hät­te kei­nen Grund für sei­ne plötz­li­che Mü­dig­keit an­ge­ben kön­nen. Er hat­te den Ver­lei­der! Bas­ta! Mor­gen kam der Ver­hör­rich­ter mit sei­nem Ak­tu­ar und dem Chef der Ap­pen­zel­ler Kan­tons­po­li­zei. Moch­ten die Her­ren sich dann wei­ter um den Fall küm­mern. Das ein­zig Lang­wei­li­ge an der Sa­che war, dass nie­mand das Ho­tel ver­las­sen durf­te und die Hoch­zeits­ge­sell­schaft des­halb hier über­nach­ten muss­te… Ein teu­rer Aus­flug wür­de das wer­den! Drei Kut­scher, sechs Pfer­de… und die Hoch­zeits­ge­sell­schaft: die Mut­ter des Al­bert, zwei On­kel, drei Tan­ten… Aus Bern wa­ren nur die El­tern der jun­gen Frau mit­ge­kom­men. Stu­der nahm sich vor, mit der Mut­ter sei­nes Schwie­ger­soh­nes die Kos­ten des Aus­flu­ges zu tei­len.

Er warf noch einen Blick auf den To­ten und jag­te den Al­bert und den Küng zur Tür hin­aus; dann ver­lang­te er von der Wir­tin ein Lein­tuch, um die Lei­che zu­zu­de­cken. Lan­ge, sehr lan­ge starr­te er in das Ge­sicht des To­ten. »Ge­mein!« flüs­ter­te er. »Ge­mein­heit… Das ist das rich­ti­ge Wort!« Und be­deck­te das Ant­litz end­lich…

Dann lösch­te er end­gül­tig das Licht, ver­sperr­te die Tür und be­gab sich in den ers­ten Stock. Sei­ne Frau lag schon im Bett; dar­um trat er auf den Bal­kon hin­aus, zün­de­te eine Bris­sa­go an und blick­te über das stil­le Land.

Die Stra­ße war ein lan­ges wei­ßes Band, das sich rechts und links in der Dun­kel­heit ver­lor. Ein Bach plät­scher­te… Die Ju­ni­nacht roch nach ge­mäh­ten Wie­sen, Blu­men und ver­zet­tel­tem Mist. Noch ein an­de­rer Ge­ruch dräng­te sich auf, den Stu­der zu­erst nicht kann­te. Aber dann wuss­te er plötz­lich, was es war: Es roch deut­lich nach ros­ti­gem, al­tem Ei­sen, das die Son­ne er­hitzt hat und nun die tags­über auf­ge­spei­cher­te Wär­me aus­at­met. Der Wacht­meis­ter beug­te sich vor und sah rechts von der Wirt­schaft, am Stra­ßen­rand, einen bau­fäl­li­gen Schup­pen. Und nun – ein Wol­ken­vor­hang zer­riss plötz­lich, der Mond, nicht grö­ßer als ein Zitro­nen­schnitz, streu­te sein Licht über die Land­schaft – war rund um den Schup­pen ein Ge­wirr zu se­hen: Alte Rä­der, viel Draht, ros­ti­ge Fass­rei­fen… Auf der Schup­pen­wand aber schim­mer­te ein wei­ßes Schild, auf dem mit dunklen Buch­sta­ben stand:

Ernst Graf, Ve­lo­händ­ler

Soso! »De Gro­fe-n-Ernst« – wohn­te ge­ra­de ne­ben dem Ho­tel ›zum Hir­schen‹.

Im Schlaf­zim­mer mein­te eine ver­schla­fe­ne Stim­me, der Va­ter sol­le doch ins Bett kom­men. Mor­gen sei auch noch ein Tag. Da warf Wacht­meis­ter Stu­der von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei seuf­zend die nur halb ge­rauch­te Bris­sa­go fort, so­dass sie auf der Stra­ße un­ten wie ein miss­ra­te­nes Feu­er­werk ein paar Fun­ken von sich gab.

– Hof­fent­lich, mein­te das Hedy noch, brin­ge die­se Mord­ge­schich­te den Kin­dern kein Un­glück.

»Cha­bis!« sag­te Stu­der, der nur im ge­hei­men ein we­nig aber­gläu­bisch war. Dann leg­te er den Kopf auf die ge­fal­te­ten Hän­de und starr­te in die Dun­kel­heit. Der Mond wan­der­te – nun schi­en er ins Zim­mer und der Wacht­meis­ter fand, er glei­che je­man­dem… Er grü­bel­te, grü­bel­te. Und plötz­lich wuss­te er es: Der Rech­stei­ner, der kran­ke Wirt des Ho­tels ›zum Hir­schen‹ hat­te ein un­re­gel­mä­ßi­ges Ge­sicht, wie der Mond, der am Ab­neh­men war.

3.

Stu­der er­wach­te um halb vier. Drau­ßen war es schon hell. Er stand lei­se auf, um sei­ne Frau nicht zu we­cken, nahm dann sei­ne schwar­zen Schnür­schu­he in die Hand, schlich hin­aus und über den Gang die Trep­pen hin­ab. An der Tür des Vor­kel­lers blieb er eine Wei­le ste­hen, lausch­te… Im gan­zen Hau­se herrsch­te die glei­che Stil­le wie hin­ter der Tür. Sach­te schloss Stu­der auf, trat in den Vor­kel­ler und blieb vor dem Tisch ste­hen. Er wuss­te selbst nicht, was er hier woll­te. Aber plötz­lich kam ihm in den Sinn, dass er am Abend vor­her die Klei­der der Lei­che nicht un­ter­sucht hat­te. Er schlug das wei­ße Lein­tuch zu­rück – das Ta­schen­durch­su­chen wür­de nicht schwie­rig sein. Es ka­men ja nur die Ho­sen in Fra­ge…

Ein Por­te­mon­nai­e… Vier Zwan­zi­ger­no­ten, drei Fünfli­ber, Münz… Ein Nas­tuch. Ein Sack­mes­ser an ei­ner Ket­te… In der hin­te­ren Ta­sche ein dickes Por­te­feuil­le.

Brie­fe, Brie­fe, Brie­fe… »Herrn Jean Stie­ger, Se­kre­tär, Bahn­hof­stra­ße 25, St. Gal­len…«

Hm. Der Herr Stie­ger konn­te sich nicht Jo­hann oder Hans nen­nen wie ein ge­wöhn­li­cher St. Gal­ler. Son­dern ›Jean‹! Er hat­te sich wohl ein­ge­bil­det, es sei vor­neh­mer.

Auf al­len Brief­um­schlä­gen die glei­che Schrift. Zwan­zig Um­schlä­ge – aber alle leer!

Ver­ständ­nis­los schüt­tel­te Stu­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­