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Die Geschichten in diesem Buch haben sich alle wie geschildert zugetragen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden einzelne Namen und Orte geändert.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96427-2
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: shutterstock/Andresr, Blend Images
Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell
Richte deinen Kurs nach den Sternen und nicht nach den Lichtern vorbeifahrender Schiffe.
Wie war das noch? Es kommt im Leben immer anders, als man denkt?
Trifft heute mal wieder absolut zu: Anstatt einen netten Grillabend mit meiner Frau Karoline und unseren vier Kindern im heimischen Garten zu verbringen, sitze ich in voller Uniform im Wagen und bin auf dem Weg zum Düsseldorfer Flughafen. Ein Kollege ist kurzfristig ausgefallen, vor einer Viertelstunde rief die nette Dame vom Crewkontakt an und teilte mir den spontanen Einsatz mit. Auf mich wartet urplötzlich ein Nachtflug nach Hurghada, ich soll 210 Urlauber mit einem A321 in viereinhalb Stunden nach Ägypten fliegen und das Gleiche nach einer kurzen Bodenzeit wieder retour.
Eigentlich hatte ich mir den Abend anders vorgestellt – und die Nacht natürlich auch. Mein Bereitschaftsdienst wäre in einer knappen Stunde zu Ende gewesen, und ich hatte gehofft, die Firma käme dieses Wochenende ohne mich aus. Aber dass man im Notfall gerufen werden kann, gehört nun mal zum Job eines Piloten, und Flexibilität ist eine unserer Grundvoraussetzungen. Was soll’s? Kommt mein Steak halt zurück in den Kühlschrank, morgen Abend habe ich dafür frei. Noch genügend Zeit, die Holzkohle zum Glühen zu bringen.
Bis zum Airport habe ich noch eine gute halbe Stunde zu fahren. Ich schiebe eine CD von Santana in den Schlitz, ziehe den Schlips auf halb acht und versuche mich zu entspannen. Immerhin habe ich eine lange Nacht vor mir. Aber morgen früh um sechs Uhr werde ich wieder in Düsseldorf sein, und dann können wir unseren verpassten Grillabend nachholen. Wenn Karoline nicht morgen irgendwo hinreisen muss … Sie arbeitet als Kabinenchefin, genau wie ich bei German Transatlantic Airways, und hat ebenfalls Bereitschaft.
Eine Fliegerehe ist schon manchmal eine Herausforderung für die Planung des Alltags, aber weder sie noch ich würden auf unseren Job über den Wolken verzichten wollen!
Ich weiß es noch wie heute, wie ich an den Wochenenden mit meinem Großvater auf der Besucherterrasse des Düsseldorfer Flughafens stand und staunend die Flugzeuge beim Starten und Landen beobachtete. Damals muss ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Mein Opa kannte alle verschiedenen Flugzeugtypen beim Namen, er identifizierte jede Airline an ihrer Lackierung, und gemeinsam überlegten wir uns Geschichten, wo die Maschinen wohl herkamen und wohin sie als Nächstes reisen würden.
Mein Opa hatte mit der Fliegerei eigentlich gar nichts zu tun, er war Bankangestellter, aber die Aviatik war seine große Leidenschaft, und das hat sich wohl irgendwie auf mich übertragen. Seit ich mich erinnern kann, wollte ich Pilot werden! Ich wollte in einem dieser blitzenden Donnervögel sitzen und Gas geben, die Triebwerke aufbrüllen lassen, rechtzeitig am Steuerhorn ziehen und dem Flugzeug dann den Weg nach oben weisen. Die Schwerkraft überwinden, die Welt von oben sehen, durch die Wolken brechen – das stellte ich mir phantastisch vor!
Dass man als Pilot auch so schnöde Dinge wie Bereitschaftsdienst am Wochenende erledigen muss, kam mir damals natürlich nicht in den Sinn. Auch über den Jetlag durch die Zeitverschiebungen, Schlafmangel, enge Cockpits, ständige Checks im Simulator, Stress und Hektik machte ich mir keine Gedanken. Es kam für mich nie etwas anderes infrage, als Pilot zu werden. Und voilà, heute bin ich genau da, wo ich schon als kleiner Knirps hinwollte: auf dem Kapitänssitz eines Langstreckenfliegers!
Seit über einem Vierteljahrhundert ist die Fliegerei mein Leben, und das Flugzeug ist mein zweites Zuhause. Ich habe unglaublich viele interessante Menschen getroffen, fremde Länder, Sitten und Gebräuche kennengelernt und spannende Abenteuer erlebt. Aber ich bin auch auf Probleme gestoßen, zwischenmenschliche Rangeleien, technische Schwierigkeiten, widriges Wetter, medizinische Notfälle, ausflippende Passagiere – die letzten Jahre waren wirklich bunt und aufregend. Doch wenn es streckenweise auch kein Zuckerschlecken war – ich möchte keinen Tag missen! Für Sie hat Fliegen auch etwas Faszinierendes? Sie wollten immer schon einmal Mäuschen im Cockpit spielen, wissen, was die Crew hinter der verschlossenen Cockpittür eigentlich so macht? In den ruhigen Flugphasen – in denen ja der Autopilot bekanntlich alles alleine regelt? Auf den Stopps im Ausland oder gar im Notfall in der Luft? Begleiten Sie mich ein Stück durch mein Leben an Bord – und vergessen Sie bitte nicht, sich anzuschnallen: Es könnte turbulent werden!
Früher, als ich noch ein kleiner Junge war und vom Fliegen träumte, schien mir das Starten und Landen der Flugzeuge immer der spannendste Moment. Der Augenblick, an dem sich das Fahrwerk vom Boden löste, hatte fast etwas Magisches: Schaffte der 250 Tonnen schwere, voll beladene Flieger es wirklich, sich vor dem Ende der Bahn rechtzeitig vom Boden zu trennen? Als ich größer wurde und mich für die Technik zu interessieren begann, tauchten Fragen auf. Wie lange hält so ein Fahrwerk eigentlich? Welchen Belastungen ist es bei der Landung ausgesetzt? Der rabenschwarze Abrieb auf der Landebahn und die kleinen dunklen Gummiwolken bei jeder Landung sprachen für sich. Die schwarzen Streifen auf der Landebahn von Düsseldorf, die ich bei meiner ersten Landung mit einem Großraumjet dort hinterlassen habe, hätte ich mir am liebsten eingerahmt!
So zuverlässig und stabil die »Füße« eines Flugzeugs auch sind, so hatte ich in meiner Karriere als Pilot doch schon diverse Probleme mit bockigen Stelzen. An ein Erlebnis erinnere ich mich besonders deutlich …
Ich war noch ziemlich frisch in der Firma und hatte als Copilot auf dem »Lockheed TriStar«, dem Vorgängermodell unseres Airbusses, gerade mal 1000 Stunden zusammengeflogen.
Der Dienstplan offenbarte einen sogenannten »Lumpensammler«: Die Reise sollte zunächst nach Punta Cana in der Dominikanischen Republik gehen. Dort stiegen die meisten Gäste aus und einige wieder ein, um mit uns direkt im Anschluss nach Santo Domingo – drei Dörfer weiter – zu reisen. Da war für uns Feierabend; die wartenden Kollegen würden die Maschine zurück nach Deutschland bringen. Ich freute mich auf ein paar Tage Sonne auf der Kokosnussinsel, auch wenn ich das Gefühl hatte, dort so gut wie jeden Palmwedel zu kennen. Gern wäre ich mal in die Staaten oder nach Asien geflogen, aber offenbar musste man sich in meiner Firma erst einmal in der Karibik seine Lorbeeren verdienen.
Die erste Etappe des Fluges war angenehm ruhig, wir hatten weder mit Turbulenzen außerhalb noch innerhalb des Flugzeugs zu kämpfen. Im Cockpit saßen neben mir noch Siegbert Müller als Kapitän und unser Flugingenieur Bernie. Seine Frau Louise war die Kabinenchefin und ihre Crew ein Haufen hoch motivierter und kompetenter Kolleginnen. Sie hatten die Passagiere gnadenlos im Griff, und das war auch gut so, denn gerade auf Reisen in die Karibik entgleisten dem einen oder anderen Gast nach zu viel freiem Alkohol in der dünnen Kabinenluft die guten Manieren. An diesem Tag aber klappte alles wie am Schnürchen. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und ließ den Blick zum Horizont schweifen. Herrlich, so konnte man sich das Fliegerleben gefallen lassen! Der Einsatz war mit dreizehn Stunden zwar lang, aber zum Dienstende winkten ein Hotel unter Palmen, ein kühles karibisches Bier und ein netter Abend mit der Crew. Beim gemeinsamen Schluck zum Feierabend, dem »Afterlanding«, ließ es sich herrlich klönen, alten Zeiten lauschen und auch mal ein bisschen flirten. Die blonde Stewardess, die nach dem Start den ersten Kaffee ins Cockpit gebracht hat, die war schon fesch. Vielleicht hatte sie nachher Lust auf einen Spaziergang am Strand? Ich nahm mir vor, später vorsichtig vorzufühlen, und griff mir in bester Stimmung die Zeitung, denn im Moment gab es nichts für mich zu tun. Der Job war einfach genial, mit dem schönsten Spielzeug der Welt einmal über den Atlantik düsen, dort ein paar Tage auf Firmenkosten Urlaub machen und dafür auch noch Geld bekommen! Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen.
Als der letzte Urlauber in Santo Domingo das Flugzeug verlassen hatte, kam die übernehmende Crew an Bord. Wir tauschten uns kurz aus, der Flieger war in Topform, und dann verabschiedeten wir uns. Ein klappriger Bus brachte uns samt großem Gepäck zu unserem Hotel.
Es war nicht wirklich der Hit an Unterkunft; der Teppich, ein vier Zentimeter hoher Plüsch, schien ein merkwürdig knisterndes Eigenleben zu führen und war für karibische Verhältnisse – feucht und heiß – die absolut falsche Wahl zur Dekoration von Hotelzimmern. Wir ließen unsere Koffer nie länger als unbedingt nötig offen, und das aus gutem Grund. Die hiesigen cucarachas, die ohne Probleme die Länge einer Zigarettenschachtel erreichen konnten und unerhört laut in den Zimmern hin und her schraddelten, waren nämlich äußerst unbeliebte Souvenirs.
Zu unserem Afterlanding kamen leider nur Luise, Bernie, Siegbert und zwei Mädels aus der Kabine. Die anderen waren von der Rennerei an Bord wohl doch zu müde. Schade, aber wir hatten ja noch ein paar gemeinsame Tage vor uns.
Am nächsten Morgen konnten wir unsere Sachen schon wieder einpacken, denn wir reisten als Gäste mit einer Let-410 Turbolet, einer zweimotorigen Maschine, die von den Dominikanern gechartert worden war, nach Puerto Plata. Dort würden wir in zwei Tagen den Jet für unsere Heimreise übernehmen. Let-Aircraftindustries war ein tschechischer Flugzeughersteller, der sich auf kleine Passagier-, Transport- und Segelflugzeuge spezialisiert hatte. In der ehemaligen DDR wurden die Let-410 des Öfteren für VIP-Flüge von höheren Funktionären eingesetzt, unsere Bundeswehr stellte das letzte Modell im Jahr 2000 im Zuge der Flottenbereinigung außer Dienst. Heutzutage kann man es im Luftwaffenmuseum in Berlin besichtigen.
Unsere Mädchen bekamen beim Anblick der Propellerkiste feuchte Hände, manche richtige Schweißausbrüche, bei ihnen war der Brummer nicht gut gelitten. Die meisten von ihnen waren das Fliegen in diesen kleinen Mühlen nicht gewohnt und trauten ihnen nicht viel zu. Die schangelige Inneneinrichtung war ihnen suspekt, oder störte sie das fehlende WC? An dem Flieger war Anfang der Neunzigerjahre jedoch überhaupt nichts auszusetzen, außer dass er vielleicht durch die Propeller ein wenig laut war und aufgrund der fehlenden Druckkabine auch immer schön in Ameisenkniehöhe – unter 15 000 Fuß, also in etwa 5000 Metern – unterwegs war. Da musste man natürlich öfter durch die Wolken durch- anstatt darüber hinwegfliegen – und das schüttelte. Mir machten die Turbulenzen nichts aus, im Gegenteil: Hier war ich näher am Geschehen als auf den großen Schiffen, in denen vieles automatisiert ist. Nur 19 Passagiere hatten Platz, das Cockpit war durch eine schmale Trennwand etwas verdeckt, man konnte rechts und links vorbeisehen und den Jungs einen Besuch abstatten. Getränke für die durstige Crew gab es aus einer Kühlbox zur Selbstbedienung – inwieweit man da bei eineinhalb Stunden zulangte, blieb jedem selbst überlassen; wie gesagt, eine Toilette gab es nicht an Bord. Die Aussicht unterwegs war klasse, wir flogen relativ ruhig über den grünen Dschungel der Dominikanischen Republik hinweg, ein fast unberührtes Paradies. Zumindest sah es von oben so aus. In Küstennähe wechselten sich zerklüftete Felsen mit riesigen Feldern ab, auf denen Tabak und Zuckerrohr wuchsen, aber dann machte sich schnell wieder das grüne Dickicht breit, keine Straße, kein Dorf, nichts Zivilisiertes war mehr zu erkennen. Es gab einem das Gefühl, als wäre die Insel unbewohnt und nicht Herberge von Tausenden Touristen.
Die beiden dominikanischen Piloten waren mächtig stolz auf ihre kleine Maschine und ließen es sich nicht nehmen, uns in die Finessen der Let-410 einzuweihen. Ich fühlte mich an meine Ausbildung und meine ersten Flugversuche erinnert, schließlich hatte ich meine Karriere auf einem 19-sitzigen Turboprop-Flieger vom Typ Jetstream 31 begonnen.
Viel zu schnell war der Flug um, auch wenn wir mit 365 Stundenkilometern nun wirklich nicht flott unterwegs waren. Die Mädels seufzten erleichtert und krabbelten aus dem Flieger. Für mich hatten diese kleinen Kisten noch viel von Abenteuer und Freigeist, das Fliegen wurde auf das Wesentliche reduziert. Der Hersteller verzichtete auf jeglichen elektronischen Firlefanz. Jeder Steuerimpuls der Piloten wurde über Seilzüge auf die Steuerflächen übertragen – das war Fliegen wie zu den guten alten Zeiten. Alles, was das Flugzeug tat, jede Erschütterung, Vibration, das Zerren des Windes an den Steuerflächen, fühlten die Piloten in ihrer Steuersäule. Obwohl, bei einem tropischen Gewitter über der Insel saß ich dann doch lieber in meinem großen Vogel und flog über dem ganzen Wettergeschehen.
Wir verbrachten ein paar gemütliche Tage am Strand von Puerto Plata, bis es für uns wieder packen hieß, eine Flugzeugladung Kreuzfahrer begehrte eine Heimreise nach Düsseldorf.
Der Flug sollte abends starten und am frühen Morgen landen. Nachdem wir die Sicherheitskontrollen passiert hatten, nahm die gesamte Kabinencrew in der vorderen Kabine Platz und erhielt ein Briefing durch die Purserette, wie Louises Position als Kabinenchefin im Fachjargon genannt wird. Kapitän Müller und ich begaben uns ins Cockpit, wo der Rampagent schon die für die Reise benötigten Flugunterlagen für uns hinterlegt hatte. Rampagenten sind verantwortlich für den pünktlichen Abflug der Flugzeuge – sie kümmern sich um die korrekte Beladung, den Betankungsvorgang, das Boarden, die Entsorgung von Brauchwasser und Betankung von Frischwasser. Sie sind der lebende Kommunikationsknoten zwischen Bodenpersonal und Flugzeugbesatzung.
Zunächst verschafften Kapitän Müller und ich uns einen kurzen Überblick über die Flugstrecke und das Wettergeschehen, das uns diese Nacht auf dem Heimweg begleiten würde. Entsprechend legten wir die zu betankende Menge Kerosin fest. Es war Aufgabe des Flugingenieurs, den Tankvorgang zu überwachen, während Kapitän Müller mir das Kabinenbriefing zugedacht hatte; das war nicht so sein Ding, und er wälzte diese Aufgabe gern auf seinen Copiloten ab. Also begab ich mich zu unserer Crew, um den Kolleginnen Flugzeit und Flugweg vorzustellen. Ich nutzte dazu eine der Übersichtskarten, die die Wolkenbänder und Jetstreams über der westlichen Hemisphäre darstellten und wo der Flugweg durch die Dispatcher, die Flugplaner, eingezeichnet wurde. Es war eine einfache, aber plastische Darstellung, die gern angenommen wurde. So konnte ich das Interesse meiner Kollegen wecken und hatte ihre volle Aufmerksamkeit während des Briefings. Abschließend wünschte ich noch einen schönen Flug und nette Passagiere, dann verschwand ich wieder im Cockpit.
Der Flugingenieur war mit seinen Aufgaben bereits fertig und begab sich nach draußen auf das Vorfeld, um den sogenannten Walkaround, die visuelle Sicherheitsüberprüfung des Fliegers, und den Betankungsvorgang durchzuführen.
Ich stellte meine Arbeitstasche auf die vorgesehene Position rechts neben mich und überprüfte meine Sauerstoffmaske auf Funktion. Da ich den heutigen Flug durchführen sollte, gehörte es mit zu meinen Aufgaben, alle Schalttafeln über mir, vor mir und auf der Konsole zwischen den Piloten zu überprüfen. Die Philosophie des Ganzen lautete: Alle weißen Lichter müssen aus sein, sonst stimmt etwas nicht. Bei Fehlern leuchteten gelbe und rote Warnlampen; ansonsten hatten sämtliche Schalttafeln dunkel zu sein.
Den Flugplan musste ich per Hand in das Flugmanagementsystem eingeben. Dann gab ich die Gewichte der Passagiere, der Koffer und der Fracht sowie die Spritmenge ein. Wenn der Flugingenieur zurück im Cockpit war, musste er nur noch die Einstellwerte für die Triebwerksleistung und die Abhebegeschwindigkeit zum Start aus seinen Tabellen nehmen, dann waren wir startbereit. Für einen Außenstehenden mag das alles furchtbar technisch klingen, doch die Arbeiten werden sehr schnell zur Routine und gehören zu jeder Startvorbereitung einfach dazu.
Siegbert Müller und ich besprachen noch unsere Abflugroute und das Verhalten im Fall eines Triebwerkausfalls beim Start, auch das wurde regelmäßig besprochen, bevor es auf die Reise ging. Fertig, jetzt konnten die Gäste kommen.
Louise war so nett, uns mit einer Mülltüte als Abfalleimer auszustatten, die sie salopp an den Stellknopf meines Sitzes hängte. Die vorhandenen Mülleimer waren schräg hinter jedem Pilotensitz unter dem Fenster platziert und damit äußerst ungünstig zu erreichen. Außerdem spendierte sie uns eine Runde Kaffee. In Anbetracht der langen Nacht, die vor uns lag, war dieser herzlich willkommen.
Nach einer guten halben Stunde kam Louise erneut ins Cockpit:
»Boarding completed, Chef, alle Gäste an Bord.«
»Dann kannst du die Tür zumachen«, brummte Siegbert. »Wir haben schon alle Papiere und können dann los.«
»Geht klar. Braucht ihr noch was vor dem Start?« Louise schaute fragend in die Runde.
»Noch so ’n Tässchen von deinem prima Bohnenkaffee wär’ fein«, proklamierte Bernie und kniepte grinsend ein Auge zu. »Natürlich nur, sofern du dazu noch Zeit hast, Süße.«
»Alter Charmeur!« Louise lachte und schüttelte dabei ihren blonden Zopf. Natürlich bekam Bernie noch seinen Kaffee, auch wenn wir schon dabei waren, in Richtung Startbahn zu rollen. Bernie war wirklich ein Unikat: markantes Gesicht, dominante Nase, Vollbart, mit seinen eins neunzig so groß wie ich, immer gut gelaunt und immer in Cowboystiefeln – selbst zur Uniform! Wahrscheinlich zog er sie noch nicht mal zum Schlafen aus. Ich nahm mir vor, Louise bei Gelegenheit mal danach zu fragen.
Kurz nachdem wir von der Startbahn abgehoben hatten und das Fahrwerk einfuhr, leuchtete eine gelbe Warnlampe auf. »Truck LVR« nannte sich die Warnmeldung, und sie besagte nichts Gutes: Anscheinend war das Fahrwerk nicht ordnungsgemäß eingefahren. Spätestens bei der Landung in Düsseldorf könnte das zu gravierenden Problemen führen, wenn das Fahrwerk beim Aufsetzen kollabierte. Die Meldung bezog sich auf die Hydraulik. Der Flugzeughersteller wollte sichergehen, dass das Flugzeug unter keinen Umständen steuerlos werden konnte, und baute daher aus Redundanzgründen vier verschiedene Hydrauliksysteme ein. Sie dienten der Steuerung der Flugrichtung und der Kontrolle über Steigen und Sinken und bewegten die Speedbrakes, die Bremsklappen, die auf den Tragflächen versteckt waren. Beim Ausfall von bis zu drei Systemen wäre der TriStar immer noch manövrierfähig geblieben, aber dies wäre klar ein Notfall gewesen.
Es galt nun zu eruieren, was genau für ein Problem vorlag. Von innen konnten wir schlecht überprüfen, ob das Fahrwerk korrekt eingefahren war. Bernie war ein ruhiger, lockerer Zeitgenosse, der sich eigentlich durch nichts aus der Fassung bringen ließ. Er probierte routiniert verschiedene Möglichkeiten durch, doch egal, was er an seinem Instrumentenbrett auch schaltete, der Fehler, der durch das gelbe Warnsignal moniert wurde, ließ sich nicht beseitigen.
Mir wurde langsam warm, und ich zog meinen Schlips vom Kragen. Wir hatten zwar noch die Ersatzsysteme, aber mit einem defekten Flugzeug fliegt man nicht über den Atlantik. Von der Firma hätte es dazu auch niemals eine Genehmigung gegeben. Da wir das Problem nicht isolieren konnten, entschieden wir nach gemeinsamem Kriegsrat und Rücksprache über Kurzwellenradio mit unserer Technik zu Hause, nach Miami zu fliegen und den Fehler beheben zu lassen. Dort gab es derzeit genug Wartungspersonal, welches sich mit einem TriStar bestens auskannte.
Kapitän Müller informierte die Gäste, dass wir wegen einer technischen Unregelmäßigkeit in Miami landen müssten. Mehr war es bis jetzt nicht, aber wir wollten und mussten auf Nummer sicher gehen!
Leider erreichten wir den Flughafen zur abendlichen Rushhour. Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir eine Parkposition zugewiesen bekommen hatten. Unser Bodenpersonal kümmerte sich um die Fluggäste, sie mussten mit ihrer gesamten Habe den Flieger verlassen, das Gepäck wurde ausgeladen, und für alle wurden flott Hotelzimmer arrangiert. Wir stiegen auch mit aus und überließen die Maschine der hiesigen Technik. Die fand nach einer ausführlichen Prüfung in der Nacht ein Leck in einer Hydraulikleitung im Fahrwerksschacht. Dieses wurde mit einem neu angefertigten Ersatzstück repariert, die komplette Leitung sollte in Düsseldorf in der eigenen Werft ausgetauscht werden. Wir waren froh, mit diesem Missgeschick hier in Miami zu sein und nicht irgendwo über dem Großen Teich. Wir drei im Cockpit hatten alle möglichen Fehlerszenarien durchgespielt und letztendlich die richtige Entscheidung getroffen – darauf waren wir stolz. Solche Zwischenfälle passierten zwar extrem selten, aber ein verantwortungsvoller Pilot würde nie das Risiko einer Atlantiküberquerung eingehen, wenn auch nur der kleinste Zweifel an der Lufttüchtigkeit seines Fliegers bestünde. Später, bei einem kurzen Bier an der Hotelbar, merkte ich, wie die Last von meinen beiden Kollegen abfiel. Und ich hatte schon gedacht, dass ich mir zu viele Sorgen gemacht hatte, doch offensichtlich erging es ihnen auch nicht anders. In einer solchen Situation gilt es, ruhig zu bleiben und überlegt zu handeln. Auch dies war ein Teil meiner Ausbildung gewesen: Emotionen waren im Moment der Problembewältigung nicht angebracht, sie verhinderten nur ein klares, zielgerichtetes Denken. Aber wenn man dann sicher am Boden war, fiel die Last wie ein Felsbrocken von einem ab.
Wir verabschiedeten uns früh, denn wir hatten nur eine Mindestruhezeit von zehn Stunden – was nicht zehn Stunden Bettruhe bedeutete, sondern die Zeit vom Check-out bis zum Check-in, und da war die Transferzeit zum Hotel nicht mit eingerechnet.
Am nächsten Morgen checkten Kapitän Müller, Flugingenieur Bernie und ich wieder am Flughafen ein, um einen Testflug zu machen, auch bekannt als Werkstattabnahmeflug. Das war in diesem Fall notwendig, da es für unseren Flug nach Hause acht Stunden über den Atlantik gehen sollte – ohne jegliche Ausweich- oder Landemöglichkeit. Nach allen nötigen Checks mussten wir noch etwa 35 Minuten auf unsere Rollfreigabe warten, bis der Tower es endlich geschafft hatte, für uns ein Startfenster freizuschaufeln.
Auf einem der verkehrsreichsten Flugplätze Nordamerikas mal eben Platzrunden zu drehen, um die Funktionsfähigkeit unseres Fahrwerks zu testen – das wäre zu heutigen Zeiten unmöglich. Damals bemühten sich alle, damit wir unseren Vogel möglichst schnell wieder nach Hause fliegen konnten. Gegen zehn Uhr morgens war es dann so weit, Kapitän Müller drückte die Schubhebel der drei Triebwerke nach vorne, wir beschleunigten auf 135 Knoten und hoben nach nur 25 Sekunden ab. Ohne Passagiere und Gepäck war unsere Lady megaleicht und wäre wie ein junges Rennpferd in den blauen Himmel über Florida geschossen, hätten wir nicht rechtzeitig die Zügel angezogen. Aber unser freiheitversprühender, fröhlicher Ritt dauerte nicht lange. Kaum hatten wir den Bodenkontakt verloren, leuchtete wieder dieses verhasste kleine gelbe Warnlämpchen auf, und das Fahrwerk ließ sich nicht einfahren! Es bewegte sich kein bisschen, was unschwer zu hören war, und das war ein mieses Gefühl. Kein dumpfes Rumpeln, kein Klacken der Verriegelung, nur stumpfes Brausen unter uns, als hätten wir ein Loch im Rumpf.
Ich war heilfroh, dass wir so nahe an einem Flughafen waren. Wieder zog ich mir den Schlips vom Hals. Ein Seitenblick auf meine Kollegen bestätigte meine Vermutung: Die Stimmung im Cockpit war sekundenschnell von erwartungsfroh-gespannt über gedrückt zu niedergeschlagen-frustriert gefallen, denn so war die Nacht völlig umsonst gewesen und ein Rückflug über den Atlantik leider unmöglich. Wir landeten nach der Platzrunde, rollten auf die zugewiesene Position und nahmen erneut Kontakt mit der Firma in Deutschland auf.
Die Firma ordnete an, dass wir als Werkstattflug nach Atlanta im Bundesstaat Georgia fliegen sollten. Dort befand sich die Heimatbasis von Delta Airlines. Delta betrieb zu der Zeit die größte Flotte von TriStar L1011 und hatte den Auftrag erhalten, unser Flugzeug zu reparieren. In Miami hatten die Kollegen von der Technik keine Möglichkeit, den Flieger aufzubocken, in Atlanta schon. Das war aber die Voraussetzung, um das Ein- und Ausfahren des Fahrwerks am Boden zu testen.
Unsere Mädels waren inzwischen auch am Flughafen eingetroffen und kamen zu uns an Bord.
»Hey Jungs«, begrüßte uns Louise. »Habt ihr unseren Vogel jetzt endgültig flügellahm gekriegt?«, unkte sie. Ich konnte sie verstehen, in so einer Situation half wirklich nur Galgenhumor.
»Schätzeken, mit den Flügeln hat das nichts zu tun, eher mit den Füßen«, erklärte Bernie seiner Frau.
»Weiß ich doch«, antwortete sie. »Wir haben euch so die Daumen gedrückt, dass der Abnahmeflug in Ordnung ist. Was für ein Mist!«
»Das kannst du laut sagen«, mischte sich nun auch Siegbert ein. »Was glaubst du, was das unsere Firma kostet? Unsere Gäste werden mit Delta nach Hause geflogen. Sicher sind einige deswegen ganz schön sauer, vor allem wegen der verschenkten Zeit. Aber Sicherheit geht nun mal vor. Uns bleibt nur noch, das Baby hier heil nach Hause zu kriegen.« Liebevoll strich er mit der Hand über die Innenverkleidung der Tür.
»Wie geht es denn jetzt für uns weiter?«, wollte Sabine wissen, die blonde Stewardess aus der vorderen Küche.
»Wir fliegen jetzt mit euch gemeinsam nach Atlanta. Wir haben allerdings die Auflage, dass wir nicht das Fahrwerk einfahren dürfen.«
»Wieso das? Das schluckt doch Unmengen von Sprit?!« Louise war immer so praktisch.
»Ja, das stimmt. Aber solange der Fehler nicht eruiert werden kann, gehen wir lieber auf Nummer sicher. Was, wenn das Fahrwerk ein-, aber nicht wieder ausfährt? Wir gehen kein Risiko ein«, erklärte Siegbert den Mädchen. »Der Flug nach Atlanta sollte etwa drei Stunden betragen. Durch das nicht eingefahrene Fahrwerk wird es an Bord viel lauter als sonst sein, und wir können weder so hoch noch so schnell wie normal fliegen. Mehr als 250 Knoten Fahrt sind nicht gestattet, um das Fahrwerk nicht zu beschädigen.«
»Also rund 450 Stundenkilometer statt 890«, seufzte Louise. »Das wird ja eine Ewigkeit dauern!«
»Durch die ausgefahrenen Füße ist unsere Aerodynamik etwa so schnittig wie die eines Albatros im Landesanflug mit ausgefahrenen Plattfüßen«, warf ich ein und machte mir Gedanken um den Kerosinverbrauch, der durch den ungewohnten Luftwiderstand drastisch steigen würde.
»Bernie, du tankst aber ein bisschen mehr, oder?« Claudia, eine dunkelhaarige Kollegin mit kunstvoller Steckfrisur, wirkte besorgt.
»Natürlich, was denkst du denn, Maus?« Bernie zeigte ein Panoramagrinsen und tätschelte Claudia beruhigend die Schulter.
»Neun Tonnen pro Flugstunde waren der normale Durst unseres roten Raumschiffs. Flugingenieur Bernie tankt 35 000 kg Jet A1, vorsichtshalber einiges mehr als nötig, da uns keiner mit Sicherheit sagen kann, wie viel wir tatsächlich verballern werden. Aus dem Himmel zu fallen wegen Spritmangel inklusive nicht korrekt verriegeltem Fahrwerk, das braucht nun wirklich kein Mensch!«
Mir grummelte es in der Magengegend, aber Angst hatte ich keine. Kann ich mir als Pilot auch nicht leisten. Ich vertraute der Technik unseres Flugzeugs und meinen beiden Kollegen. Gute Voraussetzungen, um unser fliegendes Büro sicher nach Atlanta zu bringen.
Die Stimmung war angespannt, als wir in Miami losflogen. Wir rechneten mit allem! Gewissenhaft kontrollierten wir unsere Instrumente, und das öfter als notwendig. Die Atmosphäre im Cockpit normalisierte sich, als sich ein Mehrverbrauch von 35 Prozent herauskristallisierte. Dafür hatte Bernie genug Sprit eingepackt. Louise kredenzte uns Kaffee, leider nur schwarz und süß, denn eine frische Beladung an Catering gab es nicht, und unsere Düsseldorfer Milch war schon längst zu Pudding mutiert. Aber es war einer der besten Kaffees meines Lebens, nicht der Qualität wegen, sondern weil er die Spannung nahm. Wir konnten wieder dumme Sprüche klopfen, frei nach dem Motto von Konsalik: »Hurra, wir leben noch!« – und hatten nicht die Bohne Ahnung, was uns alles noch so heimsuchen sollte.
Tags darauf zeigte sich bei allen die Müdigkeit. Ich hatte im Hotel in Atlanta nicht sonderlich gut geschlafen, das Erlebte geisterte durch meine Träume, und die Anspannung und der Stress der letzten Stunden trugen ein Übriges dazu bei.
Die Crew war inzwischen zusammengeschweißt wie eine Familie, Sorgen und Ängste verbanden sehr rasant. In Atlanta waren wir nach der Landung direkt vor die Werft gerollt, ein Schlepper wurde ans Bugrad montiert und zog die kranke Lady in die Halle. Wir gingen von Bord und wurden in ein nahe gelegenes Hotel gebracht. Auf ein Afterlanding hatte diesmal niemand große Lust, wir mussten unsere Familien informieren, dass wir einen Tag später heimkamen, mancher aus der Crew musste den Babysitter neu planen, und so hing jeder seinen eigenen Gedanken nach.
Von der Technik erfuhren wir am nächsten Morgen, dass mehrere Hydraulikleitungen ausgetauscht worden waren – der Fehler war behoben. Man hatte das Flugzeug extra auf die sogenannten »Jacks« aufgebockt, sodass man auch am Boden Fahrwerksfunktionen testen konnte. Alles war in bester Ordnung. Lediglich die Fixed-Door, die einen Teil des Fahrwerkschachtes abschloss, fehlte. Hinter dem Begriff Fixed-Door verbarg sich ein Teil der Fahrwerksverkleidung, die am Hauptfahrwerksbein fest angebracht war. Wegen der fehlenden Tür war das Flugzeug nun »restricted«, also eingeschränkt. Das bedeutete, wir durften nicht so hoch und nicht so schnell fliegen. Elf Stunden würde die Flugzeit über den Atlantik betragen.
Wir waren erleichtert, dass einer Heimreise nichts mehr im Weg stand. Das Catering an Bord war diesmal vom Feinsten. War das der Unterschied zu amerikanischen Airlines, oder wollte unsere Firma uns etwas Besonderes gönnen? Ich wusste es nicht, langte aber gern zu, die Verpflegung in den letzten Stunden war doch eher sparsam gewesen. Wie sollte man denn dabei denken?
Wir starteten am Morgen und waren froh, dass es endlich nach Hause ging. Die Kabinenbesatzung begleitete uns »deadhead«, sie hatten, da wir ja keine Gäste beförderten, keine besonderen Pflichten an Bord. Alle bis auf Louise, die als Purserette für das Scharfstellen der Rutschen in den Türen für den Fall einer Evakuierung verantwortlich war. Dass wir einer solchen nur knapp entgingen, ahnten derzeit weder die Mädchen noch wir.
Beim Start beschleunigte unser Flieger schnell auf seine Abhebegeschwindigkeit, da wir außer 70 000 kg Kerosin und acht schlanken Flugbegleiterinnen nichts an Bord hatten. Beim Einfahren des Fahrwerks rumpelte es lauter als gewöhnlich, aber dann war das Fluggeräusch wieder normal. Wir schoben dies auf den leeren Flieger und machten uns keine weiteren Gedanken. Keine zickigen Warnlämpchen blinkten – alles war schön. Der Himmel war wolkenlos, und als wir Irland erreichten, beleuchtete der Mond das Meer. Weit und breit war kein anderes Flugzeug zu sehen oder im Funk zu hören. Auch das Kurzwellenradio schwieg. Ich musste in diesen fast kitschig romantischen Momenten oft an Antoine de Saint-Exupéry denken, den Autor des »Kleinen Prinzen«. Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich als Aufklärungsflieger betätigt und war eines Morgens nicht von einem seiner Flüge zurückgekehrt. Lange Zeit galt er als verschollen. Wie mochte er sich wohl gefühlt haben – so ganz allein an Bord? In diesem Moment war ich froh, dass wir zu dritt flogen. Einsame Entscheidungen zu fällen konnte auch mal ins Auge gehen. Es wurde gemunkelt, Antoine habe sich einfach verflogen, und ihm sei der Sprit ausgegangen. Nun, dies würde uns in dieser sternenklaren Nacht nicht passieren. Bernie hatte alles im Blick, unser TriStar lag wie ein geöltes Brett in der Luft und schob sich mit drei satt schnurrenden Motoren durch die beginnende Nacht.
Wir näherten uns gegen dreiundzwanzig Uhr deutscher Zeit Düsseldorf und bereiteten uns auf die Landung vor. Normalerweise herrschte dort von zweiundzwanzig Uhr abends bis sechs Uhr morgens weitgehend Flugverbot; da wir aber als technischer Überführungsflug galten, erhielten wir eine Sondergenehmigung. Wir befanden uns im Endanflug, das Wetter war immer noch klar, unsere Maschine schwebte brummend auf den Platz zu, und ich zog den Hebel für das Fahrwerk. Plötzlich blinkte uns das zickige Warnlämpchen »Truck Lever« wieder entgegen! Über dem Fahrwerkshebel leuchteten zwei grüne Lampen, die dritte blieb flammend rot.
Im nächsten Moment brummte Bernie hinter uns: »Wir verlieren ein Hydrauliksystem!«
Adrenalin schoss mir bis unter die Haarwurzeln; ich war mir sicher, Bernie und Siegbert ging es nicht anders. Was sollten wir tun? Sprit hatten wir Gott sei Dank noch genügend an Bord, also hatten wir wenigstens keinen Zeitdruck. Das Vertrackte an unserer Geschichte: Es war Nacht. Und über Düsseldorf war der Himmel nicht nur dunkel, sondern rabenschwarz! Niemand konnte sehen, was unter unserem Flugzeug passiert war. War das rechte Hauptfahrwerk nun draußen oder nicht? Und wenn ja – war es verriegelt? Das würde sowieso keiner außer uns feststellen können, wenn wir mit unserem Schiff anlanden würden. Verdammt! Bei Tag hätte man leicht feststellen können, ob das Fahrwerk richtig ausgefahren war: Dann würde man auf den Tragflächen zwei Bolzen erkennen. Das Bugfahrwerk ließ sich über ein Periskop aus dem »Weinkeller« erkennen – dem kleinen Raum unter dem Cockpit, der unzählige Schaltanlagen und Sicherungen enthält. Aber bei Nacht war leider alles anders.
»Düsseldorf Tower, GTA 769, wir starten durch. Haben Fahrwerkprobleme, erbitten Radar-Vektoren für einen neuen Anflug.«
»Verstanden, GTA 769, fliegen Sie eine Rechtskurve Steuerkurs 060 Grad. Was sind Ihre Absichten?«, fragte der Fluglotse.
»GTA 769, wir erklären den Notfall. Unser rechtes Hauptfahrwerk verriegelt nicht in der ausgefahrenen Position.«
»OK 769, Ihr Notfall wurde um 23:35 Zulu protokolliert. Die Flughafenfeuerwehr ist informiert.«
»Roger Tower. Wir beabsichtigen einige tiefe Vorbeiflüge, damit Sie sich unser Fahrwerk ansehen können.«
»Einverstanden, 769, wir werden Sie beobachten, Sie sind freigegeben für jeden benötigten Kurs und Flughöhe.«
Wir brachen den Landeanflug ab, flogen über den Rhein, drehten nach Osten weg und starteten einen neuen Anflug in Richtung West. Zur gleichen Zeit fand in Düsseldorf ein großes Sommerfest unserer Firma statt. Die Party hatte offenbar schon weit vor Mitternacht einen feuchtfröhlichen Höhepunkt erreicht, und wie ich später erfuhr, dachten die Kolleginnen und Kollegen, wir würden ein bisschen Reklame für die Firma fliegen. Sie winkten ausgelassen zu uns herauf und konnten zum Glück nicht sehen, wie wir schwitzten. Beim nächsten Anflug düsten wir, wie mit den Lotsen vereinbart, direkt über den Tower in der Hoffnung, dass die Controller unser ausgefahrenes Fahrwerk würden bestätigen können. Das konnten sie dann auch, leider wussten wir jedoch nicht, ob es auch verriegelt war oder bei der Landung kollabieren würde. In diesem Fall würde die rechte Tragfläche mit dem Triebwerk auf die Bahn aufschlagen, es würde Funkenflug geben, im schlimmsten Fall würde das Flugzeug Feuer fangen. Ein Totalschaden wäre die Maschine in jedem Fall!
Was einem in einer solchen Situation durch den Kopf geht, ist sagenhaft – einerseits spult man automatisch einstudierte Handlungen ab, andererseits spielt der Kopf auch Kino: Was wäre, wenn?
Die Mädels in der Kabine mussten sich sehr verloren vorkommen. Keine von ihnen hatte je so eine Notlage erlebt. Aber wir konnten auch nicht viel Information weitergeben, wir wussten schließlich selbst noch nichts. Ich war sehr erleichtert, dass wir keine Passagiere mit an Bord hatten. So brauchten die Mädels wenigstens keine Evakuierung für 288 Menschen vorzubereiten. Dazu gehörte einiges an Nervenstärke, auch wenn dies jährlich in den Trainingsstunden geübt wurde. Man wusste jedoch nie, wie die Gäste reagieren würden. Blieben sie cool? Verloren sie die Nerven? Fingen sie an zu weinen, zu beten, laut zu werden? Im Prinzip galt das auch für die Stewardessen, besonders die ganz jungen, unerfahrenen. Trotz bester Schulungen ließ sich nie vorhersagen, wie sie in einer Notsituation wirklich reagieren bzw. agieren würden.
Unsere Mädels blieben relativ gelassen, was wohl zum großen Teil mit an Louise lag. Sie flog seit über zwanzig Jahren und hatte an Bord schon so einige Ausraster erlebt, sowohl von Gästen als auch im Kollegenkreis. Sie war wie ihr Mann Bernie die Ruhe selbst, und wenn sie doch aufgeregt war, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
Nach dem vierten Vorbeiflug berieten wir uns im Cockpit nochmals. Die Kabine musste für eine mögliche Evakuierung informiert werden, und Kapitän Müller rief Louise zu sich. Sie erschien sofort, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn sprachen Bände.
»Louise, wir haben ein Problem.«
»Ja, das habe ich mir schon gedacht, ein normaler Anflug auf Düsseldorf fühlt sich doch ein wenig anders an«, entgegnete sie trocken.
»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos …« Kapitän Müller räusperte sich, doch sein Grinsen war etwas linkisch. »Mehrere Hydrauliksysteme sind ausgefallen, unser Schätzchen hat sich über dem Atlantik wohl offenbar etwas verkühlt.«
Louise zog mit beiden Händen energisch ihre Uniformweste glatt und blieb gefasst: »Das heißt …?«
Kapitän Müller räusperte sich erneut, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und schien nach den passenden Worten zu suchen.
»Das heißt, durch die Luftwirbel und Vibrationen sind mehrere Hydraulikleitungen unterbrochen worden, und es wurden auch noch elektrische Leitungen beschädigt. Den genauen Schaden können wir noch nicht beziffern, aber mit einer normalen Landung ist wohl nicht mehr zu rechnen. Wir wissen zwar nach Auskunft des Towers, dass das Fahrwerk draußen ist, aber ob es wirklich verriegelt ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Leider verweigert die dazugehörige Anzeige ihren Dienst …«
Louise schluckte, zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen, aber hörte weiterhin aufmerksam zu.
»Louise, ich möchte, dass du die Mädels informierst. Wir müssen mit einer härteren Landung rechnen.«
Logisch, wenn das Fahrwerk kollabierte – das waren sehr dezent gewählte Worte für eine uns möglicherweise bevorstehende Katastrophe. Aber Kapitän Müller bemühte sich, sachlich zu bleiben: »Es ist möglich, dass Reifen platzen, es könnte auch sein, dass das Flugzeug stark abbremst oder heftig hin und her schlingert … Wir werden unser Bestes tun, aber versprechen kann ich leider nichts. Bereite deine Kolleginnen bitte auf eine Notlandung vor. Ich werde einen Schaumteppich für uns organisieren, damit das Baby hier im Fall eines Falles wenigstens nicht in Flammen aufgeht.«
Ich konnte den Kloß in Louises Hals förmlich sehen, als sie aus dem Cockpit verschwand.
Es gab nur noch eine sinnvolle Option für uns, eine Notlandung in Düsseldorf! Wir brauchten kein Mayday mehr zu rufen, der Flughafen war sowieso schon komplett gesperrt. Keine Postmaschine, kein weiterer Irrläufer wegen technischer Defekte durfte landen, der gesamte verbleibende Flugverkehr wurde nach Köln oder nach Münster umgeleitet.
Eine einzige Möglichkeit hatten wir noch, um zu kontrollieren, ob das Fahrwerk draußen war: Bernie musste auf den Tragflächen nach den beiden Pinnen suchen. Warum zum Teufel war es draußen so dunkel? Inzwischen hatte sicherlich auch die hiesige Presse von unserem Problem Wind bekommen. Es gab immer genügend Journalisten, die den Flughafenfunk illegal abhörten.
Louise kam noch einmal ins Cockpit, um die Kabine klar zu melden.
»Sag mal, Bernie, ich hab dich noch nie laufen sehen, was bist du denn gerade so durch die Kabine gerannt?«, wandte sie sich an ihren Mann.
»Ich hab nach dem Pin geguckt, der uns bestätigt, dass das Fahrwerk draußen ist«, murmelte er ziemlich leise. Das war sonst gar nicht so seine Art, weder leise zu reden, noch, sich schneller zu bewegen als unbedingt nötig. Ich musste schlucken und starrte konzentriert aus meinem Cockpitfenster.
»Und?« Louise wartete gespannt auf eine Antwort.
»Hab ihn gesehen, den Lümmel! Das Fahrwerk ist bestimmt draußen. Aber der Chef will auf Nummer sicher gehen.« Ich sah im Augenwinkel, wie Bernie die Hand seiner Frau drückte und fragte:
»Wie geht es euch? Wie haben die Mädels reagiert?«
»Ach, du, mach dir keinen Kopf, zwei haben zwar direkt angefangen zu heulen und wollen morgen kündigen, aber die anderen fünf haben es ziemlich cool weggesteckt. Inzwischen haben sich alle gefangen, nachdem ich das Wort zum Sonntag gepredigt habe – das passt schon.«
Louise klemmte sich energisch eine blonde Locke hinter das Ohr, so als wollte sie damit ihre Aussage noch einmal bekräftigen. Aber zitterte ihre Hand nicht ein wenig?
»Wie sagte der Chef so schön?«, fuhr Louise tapfer fort. »›Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.‹ Ihr kriegt das hin, da bin ich ganz sicher!« Sie drückte Bernie einen Kuss auf die Wange, und mir wurde ganz flau im Magen. Hoffentlich würden wir sie nicht enttäuschen!
Zu dieser Zeit, anno 1990, als wir uns die Hemden durchschwitzten, gab es noch die Möglichkeit, einen Schaumteppich auf die Landebahn spritzen zu lassen. Das dauerte vierzig Minuten, aber wir hatten Sprit genug und beschlossen, die Zeit abzuwarten, weil Kapitän Müller jede Möglichkeit in Anspruch nehmen wollte, die wir hatten. Was für ein Chaos! Der Schaumteppich sollte eventuell entstehende Funken verhindern und damit die Gefahr von Funkenflug und Explosionen durch austretendes Kerosin drastisch mildern … Der Glaube versetzte ja bekanntlich Berge.
Als die Feuerwehr endlich die Bereitstellung des Schaumteppichs meldete, starteten wir unseren finalen Anflug – diesmal aus Richtung Osten, der Wind hatte gedreht. Wir näherten uns der Landebahn, das Flugzeug war voll konfiguriert, das heißt eingestellt für die Landung: Klappen, Geschwindigkeit, Höhe – alles lief nach Plan. Kapitän Müller flog, Bernie und ich lasen die Checklisten und unterstützten ihn. Wir näherten uns der Landebahn, und dann war es so weit: In 300 Metern Höhe erkannten wir die Flughafenfeuerwehr mit ihrem gespenstisch blinkenden Blaulicht auf dem Vorfeld, immer im Abstand von wenigen Hundert Metern entlang der Landebahn, sodass nur Sekunden nach dem Stillstand des Flugzeugs ein Löschfahrzeug da sein und eingreifen konnte.
Im Moment des Aufsetzens waren wir noch 130 Knoten schnell – 240 km/h. Der Kapitän bremste den Flieger ab und war bemüht, das rechte Fahrwerk bis zum allerletzten Moment in der Luft zu halten. Die Spannung im Cockpit war zum Zerreißen gespannt, kein überflüssiges Wort, kein Handgriff, der nicht unbedingt nötig war. Kommunikation mit Gott? Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte – zu sehr hatte der Flieger meine Erwartungen in den letzten 24 Stunden enttäuscht. Ich hatte zuvor blind an die Maschine und ihre Fähigkeiten geglaubt, und doch hatte sie uns drei Mal hintereinander ein Schnippchen geschlagen.
Wir setzten auf, komplett, auch mit dem rechten Fahrwerk. Und es hielt! Wir rutschten noch weiter durch den Schaumteppich, der nach rechts und links wegspritzte, aber unsere Lady blieb stabil. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte Kapitän Müller die Maschine endlich zum Stehen, und wir wurden augenblicklich eingekreist von blau blinkenden Feuerwehrautos.
Nach einem kurzen Moment der Stille knisterte unser Lautsprecher.
»Herzlichen Glückwunsch, Jungs. Das habt ihr super hingekriegt!«, quäkte es aus der Box. Der Mann im Tower beglückwünschte uns, sicher war er froh, dass nichts Schlimmeres passiert war.
Uns ging buchstäblich die Luft aus, Kapitän Müller sank seufzend in seinem Sitz zusammen, und Bernie informierte sichtlich erleichtert die Kabinencrew, dass alles in Ordnung sei. Die Kollegen von der Technik sicherten das Fahrwerk, indem sie die »gearpins« in die dafür vorgesehenen Löcher des Fahrwerks steckten, um ein unbeabsichtigtes Einklappen zu verhindern. Dann kuppelten sie einen Schlepper vor unseren Vogel und zogen ihn in den Hangar.
Am nächsten Morgen stand in der Zeitung:
»Flugzeug landete in Düsseldorf auf Schaumteppich. Passagiere und Besatzung alle wohlauf.«
Hatte er wohl nicht richtig zugehört, der kleine Nachrichtendieb. Mit Gästen an Bord wäre die Situation sicher noch um einiges spektakulärer und aufregender vonstattengegangen. Aber ehrlich gesagt hatten wir auch so Aufregung genug!
Die Maschine wurde auf Herz und Nieren überprüft, der Schaden behoben, die fehlende Fixed-Door ersetzt, und schon bald ging unser Flieger wieder auf große Reise. Die Crew wurde von der Geschäftsleitung zu einem feudalen Essen eingeladen, und drei Tage später flogen auch wir weiter. Warum auch nicht? War ja nichts passiert.
Seit den Achtzigerjahren geht kein Flugzeug mehr mal eben so verloren. Solange die Flüge über Kontinente führen, über denen eine Kontrolle durch das sogenannte SSR-Radar (Sekundär-Radar) durchgeführt wird, bekommen die Fluglotsen jeden Flieger auf ihrem Radarschirm als Symbol angezeigt. Zusätzlich stehen neben dem Symbol die Geschwindigkeit, Flugrichtung und Höhe und natürlich die Flugnummer. Das Verschwinden eines Fliegers vom Radarschirm kann zwei Gründe haben: Entweder haben die Piloten den Transponder, der das entsprechende Frage- und Antwortsignal an die Radarantenne sendet, ausgeschaltet, oder aber die Maschine fliegt so niedrig über dem Boden, dass sie vom Radar nicht erfasst werden kann. Letzteres wird gern von Militärpiloten praktiziert, um unerkannt zu bleiben. Anders ist das bei einem Flugzeugcrash – ohne Strom kein Signal vom Transponder. Dann heißt es in den Nachrichten: »Die Maschine war plötzlich vom Radar verschwunden.« Natürlich gibt es immer noch Gegenden auf unserem Globus, die nicht von Fluglotsen überwacht werden können. Dazu gehören vor allem die Wüstenzonen Afrikas, die Polarregionen und natürlich die großen Ozeane. Für uns Europäer hat der Atlantische Ozean hier eine besondere Stellung. Täglich fliegen Hunderte Verkehrsflugzeuge in beiden Richtungen über den Großen Teich. Dass man hier trotzdem vom Radar erkannt wird, hat in erster Linie militärische Hintergründe, denn es geht schließlich auch darum, Freund und Feind zu unterscheiden.
Aufgabe der Piloten ist es, sich beim Überfliegen bestimmter geografischer Positionen zu melden und einen Report abzugeben. Das wird jeden zehnten Längengrad gemacht, den man überflogen hat, es sei denn, die Flugzeit zwischen zwei Punkten beträgt länger als 60 Minuten, dann melden sich die Piloten alle 30 Minuten über Kurzwellenradio. Bleibt diese Meldung aus und ist das Flugzeug nicht innerhalb der nächsten Stunde erreichbar, wird von den zuständigen Lotsen die Unsicherheitsphase ausgelöst, die bestimmte – nicht öffentliche – Maßnahmen einleitet.
Vor ein paar Jahren hat der Datenfunk in der Luftfahrt Einzug gehalten und erleichtert den Piloten so die Arbeit. Funksprüche werden nur noch beim Erstkontakt mit einer neuen Kontrollstelle ausgetauscht, danach geht alles über ein hochmodernes Fernschreibsystem mit Überwachungsfunktion, bekannt unter dem Namen FANS, Future Air Navigation System.
Vor zwanzig Jahren war das System noch nicht ganz so weit ausgefeilt, es konnte sogar vorkommen, dass man sich mit einem Flugzeug »verflog«, ohne dass es sofort bemerkt wurde, weder von der Besatzung noch vom Bodenpersonal. Das glauben Sie nicht? Ist mir aber passiert, Anfang der Neunzigerjahre. Ich war noch relativ neu auf der Langstrecke und nahm als Copilot an der Reise teil.