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ISBN eBook 978-3-89793-312-5
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Klaus Wilczynski
Das
Gefangenen-
schiff
Mit der »Dunera«
über vier Weltmeere
verlag am park
Am 11. Juli 1940, auf dem Höhepunkt des deutschen U-Boot-Krieges gegen England, verließ um 2 Uhr morgens das Truppenschiff »HMT Dunera« den Hafen von Liverpool. An Bord befanden sich rund 2 000 von der britischen Regierung internierte jüdische und politische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. 57 Tage später trafen sie im australischen Sydney ein.
Dies ist die frei erzählte Geschichte von einem dieser Flüchtlinge. Sollten die darin vorkommenden Menschen verstorbenen oder noch lebenden Personen ähneln, so ist es gewollt.
»Ich empfinde mit außerordentlicher Stärke, daß die Geschichte dessen, was diesen unglücklichen Ausländern geschah, einer der schimpflichsten Vorfälle in der gesamten Geschichte dieses Landes ist.«
Lord Cecil am 6. August 1940 im britischen Oberhaus
»Ein zu beklagender und bedauernswerter Fehler«
Sir Winston Churchill
1
Ade Europa, nur noch Stunden verbleiben. Mit unseren kümmerlichen Habseligkeiten trotten wir unlustig hinter ein paar Soldaten her zu unserem letzten Nachtquartier vor der großen, unfreiwilligen Reise – ein verlorener Haufen. Fast ein Jahr schon ist Krieg, und es ist mein elfter Tag hinter britischem Stacheldraht. Würde mich jemand fragen, was ich beim Betreten des leergeräumten Saales empfinde, der zu Seebade-Ferienzeiten des zum Internierungslager umgewandelten Kurorts Douglas auf der Insel Man wahrscheinlich eine Tanzhalle gewesen war, so fiele es mir schwer, den Mischmasch von Gefühlen zu definieren. Bedrückung? Etwas davon gewiß. Wer hat schon das Bedürfnis, »eine Seefahrt, die ist lustig« zu singen, wenn er wie eine Sache wider Willen auf eine Fahrt ins Ungewisse verfrachtet wird? Neugier? Sicher auch, denn Ungewißheit fordert die Phantasie heraus. Abenteuer? Ohne Zweifel. Ich bin 18 Jahre alt, jung genug, einer Herausforderung das Abenteuerliche abzugewinnen. Wehmut? Auch davon ein kleiner Schuß, ist sie doch die Gefährtin eines jeden Abschieds.
Aber es fragt mich natürlich keiner nach meinen Gefühlen. Ebensowenig, wie mich ein ziviler oder uniformierter Mister Unbekannt im Londoner Regierungsviertel gefragt hatte, als er meinen Namen auf eine stattliche Liste internierter jüdischer und politischer Flüchtlinge aus Deutschland setzte, denen er allesamt eine Seereise nach weit weg von England verordnete. So weit weg wie möglich mit diesen undurchsichtigen Typen, am besten auf den Mond.
Eng und düster ist es in der Halle. Die dünnen Strohsäcke versprechen auf dem durch Generationen von Lackschuhen blankgewetzten Parkettboden wenig Polster für müde Knochen. Wir richten uns ein, so gut es geht. Lange währt die Nacht ohnehin nicht. Schon im Morgengrauen geht es los. Ohne Frühstück. Ungewaschen. Ein unfreundlicher Tag kündigt sich an. Es nieselt. Blaugrau wie der Himmel zeigt sich auch die Irische See. Aber die Fähre, auf deren Unterdeck wir mit reichlicher Bewachung Liverpool entgegen schaukeln, hat leichtes Fortkommen. Das für seine Tücke berüchtigte Gewässer zwischen England und Irland verhält sich an diesem 10. Juli 1940 relativ ruhig. Gegen Mittag tauchen am Horizont die Kräne des Hafens von Liverpool auf. An den Liegeplätzen haben Frachter aus allen Teilen des britischen Weltreichs festgemacht. Lebensmittel entladen sie und Rohstoffe für die britische Kriegsmaschine. Auf Reede tanzen Respekt gebietend wachsam die grauen Leiber von Kriegsschiffen. Langsam läuft die Fähre im Hafen ein, macht, wie es der Zufall will, an der selben Pier fest, an der ich eine Woche zuvor, aus einem Internierungslager in York kommend, für die Überfahrt nach Douglas unter Bajonetten an Bord eskortiert worden war.
York, das war ein schlimmes Lager gewesen. Mein erstes.
Es machte schon auf seine Präsens mit einem Maschinengewehr auf der Spitze eines imposanten Turms aufmerksam, als wir, eine kleine Gruppe frisch Internierter, in den von Generationen rußender Lokomotiven geschwärzten Bahnhof der Stadt einrollten. Der Turm gehörte zur Schokoladenfabrik »Cadbury«, in deren süßer Nachbarschaft eine so um das Wohl der deutschen Emigranten besorgte Obrigkeit das Camp auf dem Gelände eines Sportplatzes eingerichtet hatte. Rundherum Stacheldraht und Wachposten, vorn ein doppelt gesicherter und mit Bajonetten bewachter Eingang. Das ganze von einer solchen Strenge, daß man beim Passieren des Tores fast glaubte, jeden einzelnen Stachel des damit reichlich bewehrten Zauns zustechen zu fühlen. Der 30. Juni 1940 war es gewesen, dieser erste Tag im Lager, der 48. Geburtstag meiner in irgendeinem Winkel Berlins hängengebliebenen Mutter
Die Unterkünfte standen auf einem Gelände außerhalb der Sportfläche. Ich landete in einer Baracke, in der fast nur Jugendliche untergebracht waren. Der Bretterbau wirkte auf den ersten Blick deprimierend. Auf den zweiten ebenfalls. Kleine Fenster ließen kaum Licht hinein. Bedrückende Enge. Die zweistöckigen Betten in dem Halbdunkel standen so dicht, als wollten sie sich aneinander reiben. Während ich das einzige noch freie in Beschlag nahm, richteten sich neugierige Augen auf mich. Deren Besitzer ließen sich jedoch sonst wenig bei der Tätigkeit stören, der sie gerade mit Inbrunst frönten. Sie aßen ihr Mittag. Gegessen wurde ausnahmslos in der Baracke. Elend wenig gab es, völlig ungenügend für junge Menschen, und es schmeckte ekelhaft. Die Portion, die sie mir zuwiesen, schlang ich schnell hinunter, was bei den Minirationen kein Kunststück war. Ich wollte schnell aus der stickigen Bude herauskommen. Draußen schien die Sonne.
Ehe ich dazu kam, mich für den Rest des Tages an die frische Luft zu verdrücken, hatten alle längst aufgegessen und der Hüttenälteste bekam mich beim Wickel. Knochig und erheblich älter als seine »Jünger«, war er offenkundig nicht nur von Amts wegen der Mittelpunkt des Hüttenlebens. Das Sprechen freilich bereitete ihm physische Mühe, er keuchte. Dies und die ungesund lila-bläuliche Gesichtsfarbe verrieten den Asthmatiker. Er stellte sich mir als Hubert Passauer vor.
Dem Namen zum Trotz stammte er jedoch nicht aus Bayern, sondern aus Berlin, was mein geschultes Berliner Ohr sofort wahrnahm. Passauer, jüdischer und politischer Flüchtling in einer Person, übte auf die jungen Leute um sich herum einen starken Einfluß aus. Nicht, daß er sich aufdrängte. Er besaß einfach eine besondere Ausstrahlung. Und er war ein richtiger Kumpel. Als einen solchen respektierten, akzeptierten die Jungen ihn.
Eine zusammenhaltende, festgefügte Gemeinschaft war das, in die ich da hineinschneite. Daß sie mich ohne viel Getue und Vorbehalte sofort in ihren Kreis aufnahm, machte das Lagerleben schon wesentlich erträglicher. Ein gemeinsames Schicksal hatte diese jüdischen Jugendlichen zusammengebracht. Überwiegend kleinbürgerlich-mittelständischer Herkunft, zwischen 16 und 19 Jahren alt, stammten sie aus allen Teilen Deutschlands. Nach dem 9. November 1938, der schändlichen »Reichspogromnacht« der Nazis, holten jüdische Hilfsorganisationen sie nach England, wo sie in Leeds dank großzügiger Spender aus dem Gastland eine von solchen Körperschaften unterhaltene Schule für angehende Handwerker besuchen konnten. Die etwas anders geartete Vorsorge der Regierung seiner Majestät brachte diese liebenswerte, ruppige Meute Halbwüchsiger nach dem Fall Frankreichs als Gefahr für das Empire hinter Stacheldraht.
Mit einem Bärenhunger im Bauch standen sie mit mir abends vor den Betten in der Baracke zum Zählappell. Ein Soldat rannte unter den Augen eines Leutnants wie ein Schäferhund die Reihen entlang, wobei er statt zu bellen mit Fingern und Lippen eins und eins und eins zusammenzählte, um am Ende seinem ungeduldig auf den Fußspitzen wippenden Vorgesetzten erleichtert das Ergebnis zuzubrüllen: »25, Sir!«. Sir stellte daraufhin sein Wippen ein und begab sich nach draußen, wo er mit Kameraden, die auf gleiche Weise in einem anderen Schuppen Inventur gemacht hatten, das Ergebnis der Viehzählung austauschte. Die Summe stimmte nie. Worauf sich das ganze wiederholte. Ergebnis: » 25, Sir!« Überraschenderweise hatte keiner von uns entbunden, noch war einer entschlafen. Wer wußte aber schon, ob solches sich vielleicht in einer anderen Baracke abgespielt hatte? Jedenfalls kam zu irgendeinem Zeitpunkt die Zahl zusammen, die es sein sollte. Worauf die Baracke trotz des Stacheldrahts um das gesamte Lager, der Posten draußen und des Maschinengewehrs auf dem Turm wie ein Knast abgeschlossen wurde.
Hinter verriegelter Tür, damit uns niemand klaute, saßen wir auf unseren Betten herum und klönten oder spielten Skat. Jung, robust, manche fast noch Kinder, verkrafteten meine Hüttengenossen die ihnen unverständliche, ungerechte Internierung mit einer Mischung aus derbem Humor und Wurschtigkeit. Hubert Passauer, der einzige wirklich Erwachsenen unter ihnen, fügte sich jungenhaft mit unverkennbarem Spaß an der Sache in die Gemeinschaft ein. Wieviel Kraft ihm seine Krankheit dabei abforderte, ließ er sich durch nichts anmerken. Stets war er für die Jungen da, bei jedem Jux mit dabei, mit jedem Problem konnten sie zu ihm kommen.
Unangekündigt beendete in allen Baracken ausgehendes Licht die abendliche Runde. Von zentraler Stelle für die Dauer der Nacht abgeschaltet, signalisierte die erlöschende Beleuchtung Bettzeit. Auch in dieser Hinsicht war die Entmündigung der Internierten von einer Perfektion, die wir von den Nazis Verfolgten und außer Landes Gejagten in jenem durch beschämende Niederlagen gekennzeichneten Jahr 1940 der britischen Kriegsführung gegen Hitler gewünscht hätten. Kaum eingeschlafen in der noch ungewohnten, miefigen Baracke, weckte mich lautes Klopfen auch schon wieder auf. Im Halblicht, das die von draußen hereinleuchtenden Scheinwerfer verbreiteten, sah ich jemanden an der Tür stehen und sie mit beiden Fäusten bearbeiten. Das Trommelkonzert dauerte solange an, bis ein Posten die Tür schimpfend, ob der Trommler verrückt geworden sei, aufschloß. Verrückt war er nicht, er mußte nur auf die Toilette. In der Baracke gab es keine Möglichkeit, nicht einmal einen Eimer fürs kleine Geschäft. Die Gelegenheit, nachts die Blase zu erleichtern, hing, was ich als Gipfel der Schikane empfand, letztlich vom guten Gehör eines wachhabenden Soldaten ab und dessen Gnade, den potentiellen Pinkler zur und von der Latrine zu eskortieren. Jede Nacht mußte einer.
An meinem dritten Tag im Lager York, wo unmittelbare Tuch- oder besser Stacheldrahtfühlung mit der Schokoladenfabrik Üppigkeit vortäuschte, fand die mit regelmäßigen nächtlichen Störungen gekoppelte Schmalkost ein Ende. Das Camp sollte teilweise geräumt, seine Insassen verlegt werden. Ein Gerücht sagte, auf die Insel Man. Doch so genau wußte es keiner von uns. Was kaum einen störte, denn fast jeder war nun schon gelernter Internierter, hatte seine Erfahrungen und kannte die Regeln. Daher wußten wir zumindest eines genau: Andere nehmen dem Internierten die Entscheidungen ab. Am Ende fügt sich alles. Beeinflussen kannst du es sowieso nicht.
In dieser wenig tröstlichen Gewißheit zog morgens ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Männern, Jugendlichen, halben Kindern, Lahmen und Greisen mit Koffern und Taschen beladen unter Bewachung durchs Lagertor zum Bahnhof von York. Wer immer auch den am Straßenrand Maulaffen feilhaltenden Spießbürgern den Ausmarsch angekündigt hatte, er erreichte sein Ziel. Sobald sie uns sahen, bildete sich ein feindseliges Spalier. Die Menge verfolgte unseren kläglichen Zug mit bösen Augen, erging sich in obszönen Verwünschungen, selbst biedere Hausfrauen spukten vor uns vermeintlichen Spionen und Saboteuren aus. Es flogen auch einige Steine. Im ersten Moment fühlte ich mich durch die unverdienten Demütigungen niedergedrückt. Gleich darauf hätte ich mich selbst ob solcher Schlappschwänzigkeit backpfeifen können. Ich drückte das Kreuz durch und marschierte zornig über die Dummheit der aufgehetzten Menschen weiter. Neben mir sang einer meiner Yorker Hüttenkameraden trotzig, »Leckt mir’n Arsch, ich geh ins Kloster, ich geh ins Kloster, leckt mir’n Arsch«. Das verstand zwar keiner in der aufgebrachten Menge, aber es half.
Das Rätselraten, wohin die unter so reger Anteilnahme des unangenehmeren Teils der Yorker Bevölkerung begonnene Reise gehen sollte, endete, als der Eisenbahnzug in den Fährbahnhof von Liverpool rollte. Ausnahmsweise konnten die Gerüchtemacher, deren Biotop jede von Stacheldraht eingezäunte Fläche war, einen Treffer verbuchen. Es ging tatsächlich auf die Insel Man. Das mit abfahrbereiten Maschinen an der Pier wartende Schiff schipperte uns ruhig über die Irische See zu den Ufern jenes Eilands, dessen Weltruhm auf seinen schwanzlosen Katzen und internationalen Motorradrennen beruhte. Zwei große Internierungslager für eine Handvoll echter Nazis und Tausende per plötzlichen Federstrich zu feindlichen Ausländern ernannte Flüchtlinge vor den Kumpanen selbiger Nazis bescherten der bei den Briten zu besseren Zeiten auch als Sommerfrische beliebten Insel eine zweifelhafte neue Attraktion. Der Zauberstab des Kriegsministeriums hatte einfach die durch den Krieg verwaisten Badeorte Onken und Douglas unter Mithilfe einiger Kilometer um sie herum gelegten Stacheldrahts höchst genial in riesige Käfige verwandelt.
Unter solchen Umständen kam ich, ungefragt, wie man verstehen wird, mit meinen neuen Freunden aus der Leedser Schule vom Lager York zu einer vom Innen- oder Kriegsminister – als ob es einen Unterschied machte- verordneten Stacheldrahtkur im Central Camp Douglas an den Ufern der Irischen See.
2
Wie ein Bumerang sind wir also wieder in dem Hafen angekommen, an dem unsere kleine Rundfahrt als Internierte seiner Majestät König Georg VI. begann. Ein Meer, und wenn es auch nur ein kleines ist, liegt zwischen uns, der Insel Man und dem Camp in Douglas, wir sind um einige Erfahrungen reicher, harren der Dinge, die man über uns kommen lassen wird und wissen nur, daß die große, die unbekannte, die Rundfahrt ins Blaue erst vor uns liegt. Neben mir pfeift einer der Handwerkslehrlinge aus Leeds »California here I come, right to where I started from«, Kalifornien, hier komme ich, direkt dorthin zurück wo ich startete. Nur, daß es eben nicht das warme Kalifornien sondern das regnerische Liverpool ist, wo unseres Bleibens abermals keine lange Dauer gegeben sein dürfte.
Wir stehen unten auf dem überfüllten Deck der Fähre und üben uns in der Hauptbeschäftigung der Soldaten und Internierten, dem Warten. Bis irgendwie, irgendwann der Befehl kommt, auf dem Oberdeck anzutreten. Wieder oder immer noch hungrig, beladen mit unseren Koffern und Taschen, steigen wir die eisernen Stufen hinauf. Zusammengedrängt wie die Sardinen geht das Warten oben an Deck weiter. Denn die Büchse, in die man uns für die Überfahrt gepreßt hatte, ist zwar oben offen, doch ihren Inhalt kann sie nicht freigeben, weil keiner die Reeling am Ausstieg öffnet, keine Gangway für den Landgang angelegt wird. Nur warten, stehen und warten. Es gießt indessen in Strömen. Bald sind wir bis auf die Haut durchnäßt. Uns fröstelt. Die Beine werden allmählich steif. Nichts rührt sich. Hinter den großen Scheiben des Salons auf dem Oberdeck sitzen die Herren Offiziere der Bewachung schön warm und trocken in bequeme Plüschsessel zurückgelehnt, sie dinieren in aller Seelen Ruhe. Einen Gang nach dem anderen lassen sie sich schmekken. Suppe, Hauptgericht, Nachspeise, Wein. Draußen regnet und regnet es. Draußen stehen wir, die Menschen zweiter Klasse, die fucking Germans. Stehen, warten, sehen dem Essen zu, aber das macht uns nicht satt. Seit letzten Abend haben wir weder gegessen noch getrunken.
Mein Magen grollt. Ich habe eine Stinkwut im Leib. Endlich kommt sie dann, die Erlösung, denn die Herren Offiziere sind gesättigt. Nach der Verdauungszigarette erheben sie sich, blicken kurz nach draußen, wo wir uns die Beine in den Bauch stehen, ziehen die ledernen Koppel und Schulterriemen zurecht und geruhen, dem Warten der vor Nässe triefenden Masse außerhalb der kuscheligen Messe ein Ende zu bereiten. Wir dürfen, sollen, müssen von Bord gehen.
Nur schwerfällig kommt die Masse Mensch mit Gepäck in Bewegung. Das mißfällt den Soldaten. Jetzt plötzlich geht es ihnen nicht schnell genug, sie treiben zur Eile an. Damit erreichen sie das Gegenteil. Der Abgang gerät zum Chaos, stockt allmählich. Alles drängt in Richtung auf die schmale, zum Trichter gewordene Gangway, der sich nur tröpfelnd landwärts entlädt, wo es sich vor dem Eingang zu einem unfreundlichen Monstrum von Abreisehalle wieder staut. Die abgrundhäßliche Halle stammt noch aus der Zeit, als die Queen Victoria auf der Höhe ihrer Macht stand. Damals zogen von hier zwirbelbärtige Kolonialbeamte, Tropenhelm unter dem Arm, samt Familien hinaus in alle Himmelsrichtungen, um ein Imperium zu verwalten, in dem die Sonne nie unterging. Jetzt gleicht das Relikt einstiger »Glory«, in dessen Kuppel sich Staub und Ruß einer ganzen Epoche festgesetzt haben, einem quirligen mittleren Tollhaus.
Von See her drängen wir hinein, und der Gangway-Trichter speit noch immer den menschlichen Inhalt der Fähre aus Douglas aus. Kaum sind wir drin in dem unfreundlichen Gebäude, stoßen wir auf einen Gegenstrom, den ein kurz zuvor unter der Kuppel eingefahrener Eisenbahnzug entladen hatte. Zur gleichen Zeit läuft auf dem Nebengleis ein weiterer Zug mit Internierten ein. Der Bahnsteig ist aber noch so voll, daß die Leute drinnen die Türen kaum öffnen können. Zwar bläkt ein Lautsprecher, die Insassen des eben aus dem Lager Huyton angekommenen Zuges sollten mit dem Aussteigen warten, bis sie Anweisung dazu erhielten. Doch natürlich zwängen sich einige trotzdem hinaus. Vergeblich bemühen sich Soldaten, dem heillosen Durcheinander Richtung zu geben. Eingezwängt zwischen gegenläufigen Kolonnen feiern durch die Internierung getrennte und in verschiedene Lager verschlagene Bekannte, Freunde und Verwandte seelenruhig Wiedersehensrituale.
Die halbe jüdische Emigration aus Deutschland und Österreich scheint auf dem Fährbahnhof auf der Suche nach Verwandten und nach Nachrichten über den Verbleib von Familien durcheinander zu wirbeln. Und keiner von ihnen allen weiß, wohin die eigene Reise gehen soll.
Schließlich löst sich der Wirrwarr beinahe unmerklich auf, was an ein Wunder grenzt. Vielleicht bewirkt das auch ein Masseninstinkt. Jedenfalls ordnen sich die Gruppen und Grüppchen, die sich behindernden Kolonnen und schiebenden Formationen wie durch einen unsichtbaren Magneten angezogen zu einem breiten, relativ ordentlichen Block von mehr als zweieinhalbtausend Menschen. Der wälzt sich im Trauermarschtempo einem vielen noch unsichtbaren, gemeinsamen Ziel entgegen. Mittendrin nähere ich mich geschubst, geschoben, von Ungeschickten mit Koffern in die Kniekehlen gestoßen, schrittweise dem Hallenausgang, durch den sich der Menschenstrom ins Freie auf eine Anlegestelle ergießt.
Da sehe ich sie liegen – hoch wie ein Haus, abweisend und grau. Aus dem breiten Schornstein kräuselt sich feiner, schmutzigblauer Dunst von Dieselabgasen, steigt träge in den verhangenen Himmel, um in den niedrigen Wolken aufzugehen. Achtern spuckt keuchend eine Öffnung in Stößen Wasser ins ölig schimmernde Hafenbecken. Im Takt damit dringt verhaltenes Motorengeräusch ans Ohr.
Ja, da liegt sie, die »Dunera«! »HMT Dunera«, bitteschön, Seiner Majestät Truppenschiff Dunera. 1937 gebaut für den Transport von 1 600 Soldaten des Königs. Zu welchen Tiefen sie sich doch jetzt im vermeintlichen Sicherheitsinteresse der Britannia herablassen muß! Ihr 12 815 Tonnen tragender Leib, den mächtige Diesel mit 26 Knoten durch alle Meere und an alle Küsten bringen können, an denen britische Soldaten ihre Knochen hinhalten, wartet darauf, eine bunt zusammengewürfelte Ladung internierter Zivilisten an Bord zu nehmen.
Es gibt Segelschiffe, Dampfschiffe, Motorschiffe, Postschiffe, Frachtschiffe, Flußschiffe und Küstenschiffe. Es gibt große und kleine Schiffe, solche, die so etwas wie eine Seele besitzen und seelenlose, die kalt sind wie ein Block Eis. Es gibt Schiffe, deren ganzes Schiffsleben am Tage des Abwrackens eine Null hinterläßt, mit ihnen verbindet sich nichts. Aber es gibt auch Schiffe, die in den Geschichtsbüchern oder im Leben der Menschen prägende, untilgbare Spuren hinterlassen. Zu denen gehören die »Mayflower«, mit der die Pilgerväter in die neue Welt kamen, die »Endeavour« des Kapitäns Cook und gewiß auch das Polarschiff »Fram« von Nansen und Amundsen, das heute noch in Oslo zu bewundern ist. Nicht zu vergessen die Schiffe der letzten Hoffnung, auf denen Tausende europäische Juden noch im letzten Moment ihr nacktes Leben nach Palästina retteten, aus dem später der Staat Israel hervorging.
Auf ihre Art ist auch die »Dunera« eines von den Schiffen, die tief und bestimmend in das Schicksal von Menschen eingreifen. Keiner, der in Liverpool ihre ungastlichen Planken betritt, wird, wenn er sie 57 Tage später verläßt, derselbe geblieben sein. Sie wird Leben verändern, Lebenspläne und Weltbilder zerstören, Anstöße zu neuen geben. Über sie wird man Bücher schreiben und einen Film drehen. Sie wird das britische Unterhaus beschäftigen, einem Oberstleutnant das Kriegsgericht einbringen und einigen hundert entwurzelten Menschen eine neue Heimat. Ein solches Schiff ist sie, nur wissen wir es noch nicht.
»Dunera«. Im steilen Winkel führt die Gangway von den Holzplanken des Liverpooler Piers auf sie hinauf ins Ungewisse. Von allen Seiten umschließen Soldaten in den neuen Kampfanzügen der British Army die im Schleichgang vorrückende und an Bord kletternde Menschenmenge wie eine zähnefletschende Meute Hütehunde. Nur, echte Hütehunde kläffen zwar, aber sie beißen nicht.
Wiederholt kommt der schleppende Zug der die Gangway Ersteigenden an deren Fuß ins Stocken. Den Grund dafür sehe ich, ein Atom im allgemeinen Gedränge, das mich Zentimeter um Zentimeter voranschiebt, erst, als nach endlosen Minuten der riesige Schiffsleib unmittelbar vor mir aufragt. Es spielen sich auf der Brücke zwischen Kai und Schiff so unglaubliche Szenen ab, daß fast jeder aus Selbsterhaltungstrieb zögert, ehe er das mit schlappen Halteseilen versehene Brett betritt. Kräftige Stöße mit Gewehrkolben helfen den Zögernden nach, sich dem auf der Gangway stehenden Spalier von Soldaten auszuliefern, die dort den altpreußischen Brauch des Spießrutenlaufens schöpferisch weiterentwickeln.Unter Kolbenhieben jagen sie die Internierten auf das Deck der »Dunera« in die Arme eines Duos oder Trios, das ihnen als Willkommensgruß an Bord Koffer und Taschen aus den Händen reißt. Ein Teil des Gepäcks fliegt gleich ins Wasser. Was oben bleibt, schlitzen sie mit den Bajonetten auf, greifen hinein und bedienen sich freimütig. Reste fliegen zusammen mit demolierten Gepäckstücken auf einen großen Haufen an Deck. Wer Glück hat, dem nehmen die Exekutoren der Begrüßungszeremonie seine lumpigen Habseligkeiten nur ab, ohne ihre Bereicherungstriebe und Zerstörungswut daran zu befriedigen. Aber seine Sachen ist auch er erst einmal los, denn niemand darf einen Koffer oder selbst das kleinste Stück mit sich nehmen.
Derart von ihrer irdischen Habe fürs erste befreit, dürfen die eingeschüchterten Menschen sich unter den Augen wohlgefällig zuschauender Offiziere weiter auf die ihnen zugedachten Decks jagen lassen. Ich beobachte das Treiben vor mir mit Kribbeln im Bauch und denke, wie gut sie mich doch – im Nachhinein betrachtet – behandelt haben, als sie mich vor noch nicht einmal 14 Tagen abholten.
3
Ich wußte ja, daß ich bald dran sein würde. Nach einem Jahr Krieg hatte es die Katastrophe von Dünkirchen gegeben. Die Wehrmacht hatte das britische Expeditionskorps in Frankreich bis an die Kanalküste zurückgetrieben. Geschlagen die Briten – hinter ihnen deutsche Panzer, über ihnen Görings Luftwaffe, vor ihnen das breite Wasser.
Dann das »Wunder von Dünkirchen«, wie es die Briten nannten. Hunderte Schiffe, Boote, Flußdampfer und Nußschalen eilten, stampften, tuckerten zu dem schmalen Küstenstreifen vor der französischen Hafenstadt. über sich das Heulen der Stukas, neben sich krepierende Fliegerbomben, die haushohe Fontänen aufschießen ließen und die See in einen Höllenstrudel verwandelten, vor sich die Mündungen deutscher Artillerie. Doch die in höchster Not zusammengetrommelte Armada eilte, stampfte, tuckerte, bis der letzte Mann vom Strand an Bord genommen und sicher auf heimatlichem Boden abgesetzt war. Gerettet das Gros des britischen Expeditionskorps. Am Strand von Dünkirchen umspülte die Flut die zurückgelassenen Fahrzeuge und schweren Waffen.
Großbritannien erwartete die deutsche Invasion. Schlecht vorbereitet, ohne ausreichende Waffen. Die sich zu Tausenden für die »Home Guards«, die Heimatarmee, meldenden älteren Männer exerzierten mit Besenstielen. Mit Gewehren aus dem Ersten Weltkrieg patrouillierten sie die offenen Küsten, vor denen die Schiffe der Navy wachten. Ein Volk war aufgerufen, auf der Hut zu sein. Und während die Männer und Frauen in Uniform den Blick nach außen richteten, lenkte die Regierung den Blick der Zivilbevölkerung nach innen. Wer sind sie wirklich, diese Ausländer, die während der letzten Jahre ins Land kamen, fragten sich mit einem Mal viele Leute, die eben noch viel Sympathie für die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich gehabt hatten. Was weiß man wirklich von ihnen, was werden sie bei der bevorstehenden Invasion tun? Die Regierung mußte schon ihre guten Gründe gehabt haben, Scharen dieser Individuen nach dem Fall der Niederlande ohne viel Federlesens hinter Stacheldraht zu stecken. Trau schau wem … Jetzt, nach Dünkirchen, stutzte man ja Gott Lob denen, die noch frei herumliefen, die Flügel. Sie konnten nicht mehr ohne Sondererlaubnis im Land herumstreifen und spionieren. Gleich einsperren hätte man sie sollen, alle, interniert sie alle. Und »Interniert sie alle!«, forderten Schlagzeilen Tag um Tag, allen voran in Millionenauflagen der »Daily Express«, das Flaggschiff im Verlag von Churchills Informationsminister Lord Beaverbrook.
Das ausgelegte Gift des Mißtrauens wirkte sicher. Von Freundlichkeit keine Spur mehr bei den Ortspolizisten des mittelenglischen Industriestädtchens Craighborough, wo ich lebte, seit ich Deutschland im Frühjahr 1937 verließ, und bei denen ich die Erlaubnis für eine Fahrt von ein paar Meilen zum Zahnarzt beantragen mußte. Zwar hielten meine Kollegen im Betrieb, in dem ich Maschinenbau lernte, noch zu mir, jedoch erinnerte mich ihr Verhalten irgendwie an den bitteren Witz, den sich die deutschen Juden erzählten, es gebe in Deutschland 66 Millionen anständige Juden. Jeder Deutsche kenne einen. Die Kollegen kannten einen anständigen Deutschen.
Eine solche Stimmung herrschte schon, als eines Tages auch in Craighborough die Luftschutzsirenen zum ersten mal heulten. Ihr schauriges Auf-und-ab schreckte die Bürger aus abendlicher Ruhe. Im Hause meiner Wirtsleute, der Taylors, stand bereits der Frühstückstisch für den nächsten Morgen gedeckt. Wir Untermieter, alles junge Männer, saßen in den Sesseln des Aufenthaltsraums, lasen, lernten, tauschten uns bis in die Nacht hinein über mehr oder weniger wahre Abenteuer mit der zumeist willigen Weiblichkeit der Stadt aus, als das ohrenbetäubende Warnsignal uns zur Kellertreppe stürzen ließ. Der Luftschutzraum, den ich den Taylors erst wenige Wochen zuvor in dem verzweifelten Drang eingerichtet hatte, irgend etwas Nützliches für den Krieg gegen Hitler zu tun, stand vor der Bewährungsprobe.
Während wir die wenigen Stufen zum Keller hinunterstiegen, kam auch schon Schutz suchend die Nachbarsfamilie aus der kleinen Sackgasse, in der sich das Haus der Taylors befand, das als einziges unterkellert war. Unten hatte man sich schnell eingerichtet. Tür zu, das zermürbende Warten begann. Warten worauf? Überreizte Nerven projizierten in der trübe beleuchteten Enge Visionen, so beklemmend wie die sticke Luft. Aber draußen rührte sich nichts. Hinter gequält sorgloser Konversation und Witzeleien verbarg sich das Bedürfnis, die unheimliche Stille zu brechen. Wir hockten auf Bänken und Gartenstühlen unter der dünnen Decke des Taylorschen Kellers, ein Häuflein Männer und Frauen – kriegsunerfahren- wartend.
Da! Ein rhythmisches, metallisches Hämmern drang plötzlich in unseren unterirdischen Mikrokosmos. Dazu rauschte es, als fege Feuer durch trockenes Gestrüpp. Die Frauen schrien auf. Sekunden nur lastete Ungewißheit schwer auf der Brust, dann lachte irgendwer: »Es war doch nur die Eisenbahn.« Direkt hinter dem Haus, dessen Einfahrt die weit ausladende Krone einer mächtigen alten Zeder überdachte, befand sich die Strecke London – Schottland. Nur Drahtzaun trennte den Garten von der Böschung ab, an deren Fuß der Schienenstrang verlief, auf dem auch während des Alarms Güterzüge mit kriegswichtigem Material rollten. Jedesmal, wenn ein neuer Zug vorbeiratterte, wiederholte sich die Hysterie im Luftschutzkeller. Mit der Zeit reichte es mir. Ich trat die Flucht nach oben an, wo es vielleicht gefährlicher werden konnte. Aber das erschien mir immer noch besser zu sein, als meine Nerven in einem Kellerloch durch dieses Theater strapazieren zu lassen. Um meinen Abgang unverfänglich zu motivieren, sagte ich den Taylors, ich wollte zur Beruhigung der Gemüter nur schnell nachsehen, was draußen wirklich los sei. Vielleicht drohe ja überhaupt keine Gefahr mehr.
»Oh Gott«, stöhnte Mistress Taylor, die wohlgenährte, ihrem zierlichen Gatten Horace körperlich weit überlegene Dame des Hauses in ihrem schönsten Waliser Dialekt. »Sie wollen doch nicht etwa nach draußen? Das ist ja sooo gefährlich. Wir werden keine ruhige Minute haben.«
Ausgerechnet die Taylor tut besorgt, sagte ich mir. Dieses eiskalte Luder, das ihrem Mann das Leben genauso zur Hölle machte wie uns Untermietern, und vor dem das arme Dienstmädchen Mae, das sie mit schrillen Befehlen von früh bis spät durchs Haus jagte, buchstäblich zitterte. »Schon gut, Mistress Taylor«, erwiderte ich schroff. »Ich gehe jedenfalls.« Noch in der Kellertür tönte mir ihre Mahnung, gut aufzupassen, hohl in den Ohren.
Der Himmel über dem verdunkelten, wie tot daliegenden Craighborough war sternenklar. Eine ideale Nacht für Bombenangriffe. Hinter dem Haus reichte der Blick ungestört durch Bäume oder Häuser über den Bahnschacht hinweg bis zum Horizont. Gebannt stand ich vor dem Drama, das sich dort, ganz weit hinten, wie am künstlichen Himmel einer Theaterbühne abspielte.
Gebündeltes weißes Licht zahlloser Scheinwerfer huschte sich kreuzend und jagend über das schwarze Firmament. Plötzlich vereinigten sich die suchenden Lichtfinger an einem Punkt zu einem einzigen, blendend hellen Kreis und am Boden zuckten rötliche Blitze auf. Gleichzeitig ließ sich bei intensivem Hinhören das dumpfe Bellen von Flugabwehrkanonen vernehmen. Dazwischen stiegen am Horizont Rauchwolken und der grelle Schein von Explosionen auf, deren gruseliges Wumm gleich darauf wie von einem fernen Planeten in Craighborough ankam. Da hinten lag Derby. Der deutsche Angriff galt den Flugzeugmotorenwerken von Rolls Royce.
Regungslos verfolgte ich das grausige Schauspiel, als lautes Dröhnen eines wiederholt aussetzenden Flugzeugmotors mich nach oben blicken ließ. Über mir schwebte, groß und zum Greifen niedrig ein schwarzer Schatten. Ein offenbar angeschossener deutscher Bomber suchte verzweifelt, wieder Höhe zu gewinnen. Unweit von Craighborough stürzte er ab.
Was sich unterdessen im Keller des Taylorschen Hauses abspielte, blieb mir verborgen. Aber als ich schließlich die Treppe wieder hinabstieg und die Kellertür öffnete, fing ich gerade noch die letzten Wortfetzen eines Gesprächs zwischen meiner geschwätzigen Wirtin und deren Nachbarin auf. »…persönlich ist er ja ein recht netter Bursche«, hörte ich die Taylor in patronisierendem Ton sagen, »aber trotzdem. Sie sollten sie besser alle internieren.« Dann endeckte sie mich und alle weiteren Kommentare blieben ihr im Halse stecken.
In diesem Moment machte ich die für mein weiteres Leben wichtige Erfahrung, wie wirksam Kampagnen der Boulevardpresse bei simplen Gemütern sind.
Mit meiner Internierung rechnete ich zu jener Zeit jeden Tag. Am Morgen, an dem sie dann geschah, schien die Sonne warm durch die Scheiben des Erkerzimmers, in dem ich wohnte.
Das sogenannte warme Wasser in der Kanne, die das Hausmädchen Mae vor die Tür gestellt hatte, war kalt wie üblich. Vergnatzt goß ich es in die Waschschüssel. Natürlich wird der Krug mit dem Rasierwasser auch nicht heiß sein, und zum Frühstück gibt es bestimmt wieder diesen stinkenden Fisch, den du nicht ißt, diesen Haddock oder wie das Zeugs heißt. Ein Morgen wie viele andere in diesem Haus – dachte ich.
Draußen vor dem Fenster knirschte der Kies unter den Reifen eines Autos. Ich zwängte mich eben in die Hosen. Ein Blick durch die Scheiben genügte – es war so weit. Der vor der Haustür stehende schwarze Polizei-«Jaguar« war gekommen, mich abzuholen. Schon drangen aus der Diele Männerstimmen nach oben, dann klopfte es. Kurz, energisch. Ich konnte gerade noch »herein« sagen, da ging die Tür auch schon eben so energisch auf.
»Wir haben die Anweisung, Sie zur Internierung mitzunehmen. Bitte packen Sie Waschzeug, Kleidung und Unterwäsche zum Wechseln sowie andere unverzichtbare Dinge in einen Koffer. Sie werden längere Zeit weg sein. Wir geben Ihnen 30 Minuten, um alles fertig zu machen.« Einer von zwei schwarzbemützten Polizisten leierte den Spruch, den er wohl nicht zum ersten Mal aufsagte, noch in der Tür herunter. Erst danach bauten sich die zwei wie Zinnsoldaten im Zimmer auf und folgten wachsam jeder meiner Bewegungen. Hinter den Polizisten stand die Taylor mit verlegen grinsendem Kuhgesicht. Die Augen hinter ihren dicken Brillengläsern straften die Verlegenheit Lügen.
Das Packen ging schnell. Was besaß ich schon groß. Das einzige gute Stück, der gestreifte Anzug aus einem Billigladen, konnte gleich draußen bleiben, ein Internierungslager war keine Tanzparty. Ja, die Bücher… Aber kaum wollte ich einige einpacken, traten die Polizisten als Verhinderungskommando in Aktion. Das Radio, das ich beim Trödler erstanden hatte, um allabendlich die Nachrichten vom Kriegsgeschehen verfolgen zu können, kam als Reisegepäck kaum in Frage. Die Wolldecke mitzuschleppen, die Mutter mir noch aus Berlin nachgeschickt hatte, verspürte ich keine Lust. Rein mit dem Nötigsten, Deckel zu, fertig.
Was aber sollte mit den Dingen geschehen, die ich zurücklassen mußte, den Büchern, dem Radio, dem Anzug, der im Leihhaus erstandenen klapprigen Schreibmaschine und all dem Kram? Die Polizisten, die hinter ihrer Zinnsoldatenstrenge menschliche Anteilnahme mit ihrem Opfer verbargen, wußten Rat. Ich sollte alles ordentlich zusammenpacken, verschließen, damit nichts verloren ginge, und es der Wirtin zur Aufbewahrung anvertrauen, was sie sicher gern für mich tun würde.
Die Wirtin zog eine Grimasse. Ich aber tat, wie mir empfohlen, stopfte alles in einen großen verschließbaren Koffer. Bis auf die Schreibmaschine und das Radio.
»Lassen Sie ruhig alles im Schrank stehen, ich sorg’ schon dafür«, bot sich die Taylor an. »Den Koffer und die Restsachen auch. Wir heben alles für Sie auf.« Ich hörte die Heuchelei heraus und wußte: deine Sachen siehst du nie wieder. Die reißt sich die falsche Schlange unter den Nagel, sowie du aus dem Haus bist. Mistress Taylor rechnete fest damit, mir nie mehr lebend zu begegnen. Schweigend fuhren die Polizisten mit mir direkt zur Polizeidirektion in der Grafschafts-Hauptstadt. Good bye Craighborough, farewell Odeon, du Kinopalast, wo ich manchem Mädchen unter den Rock gefaßt habe, mach’s gut »Alter Schuh«, du warst und bleibst das lustigste, lauteste, besoffenste Pub der ganzen Stadt, laßt euch nicht unterkriegen, Kollegen im Betrieb, wo ich fast drei Jahre Stahl gefeilt, abgedreht, gehobelt und geschliffen habe. Es war schön bei euch allen, God bless you. Und merkt euch das Datum, es war der 28. Juni 1940. Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen?
Kurz nach meiner Ankunft auf der Polizeidirektion eskortierten Polizisten Max und Mario in den Raum, in dem man mich warten ließ. Die beiden hatte ich kurz vor Beginn des Krieges zufällig auf der Straße kennengelernt, und indessen waren wir gute Freunde geworden. Max Hano und Mario de Conti waren politische Emigranten, Kommunisten, die 1939 nach dem Einmarsch der Nazis in die Tschechoslowakei auf abenteuerlichen Wegen über Polen nach England flüchteten. Ein Flüchtlingskomitee hatte sie in Craighborough untergebracht, wo ihr Erscheinen einiges Aufsehen erregte, denn so etwas sprach sich in dem langweiligen Städtchen mit seinen von schmalbrüstigen, niedrigen Reihenhäusern gesäumten Straßen schnell herum. Viel zu bieten hatte ja der Ort nicht – zwei verrußte Bahnhöfe zweier Eisenbahngesellschaften, ein paar altersgraue Textilfabriken – die Mills, wie man sie nannte –, das Hotel »Duke’s Head, wo Craighboroughs Hautevolee verkehrte, sowie zwei Maschinenfabriken, in einer von denen ich in die Lehre ging. Und dann natürlich das »Odeon«, das fast luxuriöse Kino direkt am Markt.
Max, ein blasser, hohlwangiger Typ mit dunklem, welligen Haar kam aus Oberschlesien. Die kleinen schwarzen Kohlesplitter unter seiner Gesichtshaut verrieten den Bergmann. Im Gegensatz zu Mario, einem lustigen Burschen, war Max eher verschlossen und in politischen Dingen äußerst prinzipiell, ja, eher schon dogmatisch, worüber ich später oft in Streit mit ihm geriet.
Welcher Nationalität der blonde, kräftig gebaute Mario angehörte, wußte er selbst nicht recht zu sagen. Sohn einer slowenischen Mutter und eines italienischen Vaters geriet er in seiner Heimatstadt Triest mit den Faschisten in Konflikt, flüchtete auf schwer nachvollziehbaren Wegen nach Prag, wo er auf genau so rätselhafte Weise Anschluß bei den deutschen Antifaschisten fand. Die sahen offenbar in dem lustigen Kerl eine Art politisches Patenkind. Abgesehen von wenigen Brocken Englisch konnte der slowenische Italiener vier Sprachen: Italienisch, Slowenisch, Deutsch und Tschechisch. Alle nicht sehr gut, bisweilen redete er sie auch durcheinander wie ein Mixed Pickle. Sein Deutsch war das seltsamste, das ich je gehört hatte. Er sprach es unbekümmert und mit einer derart komisch falschen Grammatik, daß ich mir oft das Lachen nicht verkneifen konnte.
Zuerst begegnete mir das ungleiche Paar mit gehörigem Mißtrauen. Das schwand wie Schnee unter der Sonne, nachdem sie mich besucht und meine vielen linken Bücher gesehen, sich ausführlicher mit mir unterhalten hatten. Als ich ihnen noch erzählte, daß meine Mutter illegal gegen die Nazis gearbeitet hatte, wobei ich ihr mit kleinen Botengängen half, begann aus der Bekanntschaft bereits Freundschaft zu keimen. Bald steckten wir drei ständig zusammen.
Natürlich war ich froh, als auch sie auf der Polizeidirektion eingeliefert wurden, wenn auch nicht allzu überrascht. Der ungute Zustand, zu einer Zeit, in der jeden Moment Hitlers Wehrmacht vor Dovers weißen Klippen an Land gehen konnte, dem unberechenbaren Willen der Wächter eines Internierungslagers ausgeliefert zu sein, ließ sich mit guten, politisch erfahrenen Freunden zur Seite schon leichter ertragen.
Der Aufenthalt zwischen den nichtssagenden Wänden der Polizeidirektion währte nicht lange. Unsere Bewacher sammelten lediglich unsere Akten ein. Ganz schön stattlich war der Ordner, auf dem in gezirkelter Bürokratenschrift mein werter Name prangte. Ich muß gestehen, daß ich einen gewissen Stolz auf meine Verbrechermonographie empfand. Hätte nie gedacht, was ich für ein gefährlicher Bursche war. Weiß Gott, welchen Müll die Polizei über einen gerade 19jährigen wie mich zusammengetragen hatte, der in England nichts weiter wollte, als den sich abzeichnenden, schlimmsten Völkermord der Geschichte zu überleben und es sich dank der schmerzhaften Erfahrungen seines kurzen Lebens erlaubte, links zu denken.
Gemeinsam mit unseren Polizeiakten landeten wir noch am Nachmittag in Wigston Barracks, einer Kaserne, wo unsere Bewacher uns der Obhut der Armee übergaben. Dem Gesicht des Stabsfeldwebels, der den Transport wie ein eingeschriebenes Paket per Unterschrift übernahm, ließ sich ablesen, daß er am liebsten gefragt hätte, was er in einer Kaserne der Rückwärtigen Dienste mit einer Ladung Zivilisten, in Klammern feindlich, anfangen sollte. Er tat es nicht und entschied, uns, bis er uns (möglichst bald) wieder los würde, in der Turnhalle unterzubringen. Groß genug für den nötigen Auslauf war sie ja, schlafen konnten wir auf den Sprungmatten. Ein zu unserer Bewachung abkommandierter Korporal brachte Decken. Aus der Küche kamen heißer Tee, Corned Beef, Quetschkartoffeln, Brot, Besteck und Blechgeschirr, die Soldaten meinten es den Umständen gemäß gut mit uns.
Nur der Langeweile, die nach dem Essen das Kommando übernahm, ließ sich schwer beikommen. Max lief mit finsterer Miene wie ein Zoo-Löwe unentwegt auf und ab. Mario alberte an der Sprossenwand herum. Ich versuchte, mit dem freundlich wirkenden Korporal ins Gespräch zu kommen, der sich ebenfalls langweilte. Der sah keine Veranlassung, einer Unterhaltung auszuweichen, wir waren ja friedlich. Daß ich fließend und fast akzentfrei englisch sprach, verwunderte ihn nicht, solche Fähigkeiten erwartete er von feindlichen Agenten und Bombenlegern, als die er uns betrachtete, wie er vorsichtig andeutete.
Dieser, sein Glaube, verwunderte hingegen uns. Nur sehr schwer wollte der junge Soldat begreifen, keine Nazis, Fallschirmspringer oder Saboteure zu bewachen, sondern Freunde seines Landes, Emigranten. Wie sollte ein netter, etwas simpler britischer Berufssoldat auch eine Politik verstehen, die Freunde hinter Stacheldraht verbannte, wir verstanden sie ja selbst kaum. Womit wir eine Erfahrung machten, die für uns in der kommenden Zeit von Bedeutung sein sollte: Unsere Bewacher waren fast immer bewußt falsch über die ihnen anvertrauten Menschen informiert worden.
Den Korporal brachte der Widerspruch zwischen unserer Selbstdarstellung und dem, was seine Vorgesetzten ihm über uns eingebleut hatten, in Gewissenskonflikte. Aber Befehl war Befehl, er sollte uns, egal was er glaubte, auf Schritt und Tritt bewachen, und genau so war es gemeint. Was Schwie rigkeiten für ihn mit sich brachte, wenn einer von uns zur Toilette wollte, die keinen direkten Zugang von der Turnhalle hatte. Jedes Mal mußte der arme Kerl mit dem Gewehr in der Hand mittrotten.
Am nächsten Vormittag kam ein Leutnant vorbei, um nach uns zu sehen. Seine wahrscheinlich im Reglement vorgesehene, aber gut gemeinte Frage, ob es Beschwerden gebe, beantworteten wir beinahe im Chor mit einem entschiedenen »Ja! Wir sind Flüchtlinge. Wir protestieren gegen unsere Festnahme. Wollen Sie bitte unseren Protest an die zuständigen Stellen weiterleiten.«
Hilflos spielte der Leutnant an seinem blankgewienerten Ledergürtel herum. Er habe nur dafür zu sorgen, daß wir bis zu unserem Weitertransport in ein Lager sicher und anständig untergebracht seien. Alles andere liege außerhalb seiner Kompetenz. »Sie kommen schon morgen hier weg«, fügte er hinzu. »Ihre Beschwerden können Sie dann in dem Lager einreichen, in das meine Leute Sie bringen werden.«
Die Passanten, denen am folgenden Tag drei von Soldaten unter Gewehr zum Bahnhof eskortierte Zivilisten unbestimmter Herkunft begegneten, genossen den Anblick voll. »Wie im Western, wenn der Sheriff und seine Gehilfen die Viehdiebe durch die Stadt zum Jail treiben«, blödelte Mario. Mir war nicht zum Blödeln, ich empfand diese öffentliche Zurschaustellung als äußerst peinlich. Als dann auch noch der trockene Max hinzufügte, »fehlt nur der Strick fürs Lynchen«, fand ich das absolut nicht lustig. Ebenso wenig wie die Bahnfahrt ins Lager York, bei der sie uns drei zusammen mit unseren bewaffneten Aufpassern wie einen Verbrechertransport im Abteil einschlossen. Aber die Bewacher behandelten uns bei all ihrer abweisenden Schweigsamkeit wenigstens freundlich.
4
Doch mit diesen Burschen, die uns hier an Bord der »Dunera« treiben, als hätten sie eine Herde Schlachtvieh für Übersee vor sich, werden wir wohl noch einiges erleben. Der eigentlich recht robust aussehende Mann mittleren Alters neben mir, der mit der Masse um uns herum dem Prügelspalier auf der Gangway im Schneckengang näherrückt und wie gebannt auf die sich dort abspielenden Szenen starrt, wird plötzlich weiß wie ein Tuch… Vergeblich versucht er, gegen die ihn übermannende Erregung anzukämpfen. »Was ist los?« frage ich, »Ist Ihnen nicht gut?«
Mit großen Augen schaut er mich an. »Nicht gut«, murmelt er so leise, daß ich Mühe habe ihn zu verstehen. »Nicht gut? Mir geht es prima, ganz ausgezeichnet sogar, einfach wunderbar«, steigert er sich. »So herrlich, wie man sich eben fühlt, wenn einem wieder die Einlieferung ins KZ Buchenwald damals nach der Kristallnacht vom November 38 hochkommt.« Seine letzten Worte gehen in ein böses, heiseres Lachen über.
Armer Kerl. Hoffentlich flippt er nicht aus, wenn er erst den Soldaten, die solche Erinnerungen in ihm wecken, unmittelbar gegenübersteht. Ich nehme mir vor, denen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Nicht zögern, keinesfalls Angst zeigen, eben so auftreten, wie man einem bissigen Hund begegnen soll. Ein krummer Rücken zieht noch immer Schläge an, wie der Wurm die Krähe. Ich blicke hinter mich, stelle erleichtert fest, trotz des Durcheinanders noch mit meinen neuen Freunden, den Lehrlingen aus der Yorker Baracke zusammen zu sein, nehme einen großen Schritt und betrete, starr nach vorn blickend, die wippende Gangway. Ich laufe schnell, zielbewußt. Ein Tritt in den Hintern beschleunigt die Gangart. Nicht stolpern, befiehlt mein Selbsterhaltungstrieb. Und den Koffer schön festhalten. Einer der Soldaten sieht das anders. Er stellt sich mir in den Weg, grapscht nach dem Koffer, entreißt ihn mir mit solcher Vehemenz, daß sich dabei der lederne Tragegriff an einer Seite löst und mir die Finger nach hinten umknicken.
Beim zweiten Hinschauen erscheint ihm offenbar der billige, von zwei schwarzen Riemen zusammengehaltene Kasten aus grauem Vulkanfiber zu schäbig, um der Mühe des Öffnens wert zu sein. Auch der Träger des Gepäckstücks riecht ihnen nicht nach fetter Beute. Also fliegt das Ding ungeöffnet und unverletzt durch das stichbereite Seitengewehr einem zweiten Soldaten zu, der es dankenswerter Weise nicht über Bord sondern auf einen Haufen am Achterdeck des Schiffes schleudert, wo schon andere Koffer, Kleidungsstücke, Waschbeutel und dergleichen Dinge gelandet sind. Abgesehen von dem Tritt überstehe ich das Anbordgehen ohne physische Mißhandlung. Aber die Beleidigungen, die mir aus aufgerissenen Mäulern wie ein übler Wind entgegenschlagen, schmerzen auch, obwohl ich sie lieber überhören möchte. Das Fell ist wohl doch noch nicht dick genug, diesen disziplinlosen Berufssoldaten kühl die Stirn zu bieten, deren stumpfe Gesichter, mehr noch, deren kalte Augen verraten, aus welcher Gosse sie sich rekrutieren. Nur langsam dämmert es mir, daß die Armee ihren Bodensatz, Straffällige, zusammengeklaubt hat, um die, wie wir später erfahren sollen, 2.542 Internierten auf diesem Schiff zu bewachen, die in ihrer übergroßen Mehrheit Asyl suchend nach England kamen.