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Vorbemerkung

Die Welt ist rund. Man geht auf Reisen …
Erich Kästner, Eisenbahnfahrt

»Ich fahre leidenschaftlich gern mit der Eisenbahn«, schreibt Kästner, »man legt in der Stunde sechzig Kilometer zurück, ohne nur einen Schritt zu gehen.« Tatsächlich dürfte kaum ein Autor so viele Gedichte über das Eisenbahnfahren geschrieben haben wie er: Das Eisenbahngleichnis, Eisenbahnfenster, Goldne Worte kurz vor Abfahrt, Eisenbahnfahrt, um nur die zu nennen, die in diese Auswahl aufgenommen sind. Kein anderes Verkehrsmittel brachte die Reisenden in den Jahren zwischen den Weltkriegen so zuverlässig, bequem und geruhsam von einem Ort zum andern wie die Eisenbahn. Es war eine Art zu reisen, wie sie Kästners Naturell entsprach: Er konnte aus dem Fenster hinaus- und gleichzeitig sich selbst und anderen beim Unterwegssein zuschauen. Die Angst vieler Zeitgenossen vor einem Zugunglück (In der Eisenbahn, Frau Fabian reist ab) scheint er nicht geteilt zu haben.

In den Kinderjahren hatte Kästner mit seiner Mutter die fernere und nähere Umgebung Dresdens erkundet, mit ihr – und Kusine Dora – fuhr er auch das erste Mal an die Ostsee, nach Müritz (Sommer an der Ostsee). Er erlebte das Meer, »diesen atemberaubend grenzenlosen Spiegel aus Flaschengrün und Mancherleiblau und Silberglanz«, und das stille Hinterland mit Heide und Wäldern: »Die Welt war anders als daheim und genauso schön.« So schön, dass er als Student zum Sommersemester 1921 dorthin zurückkehrte, nach Rostock, und auch später die dortige Ostseeküste immer wieder für ein paar Tage oder Wochen besuchte (Pfingsten am Meer, Ferien und Menschenkunde), nun aber zum Studium der Menschen und ihrer merkwürdigen Bräuche und Erlebnisse (Ball im Osten: Täglich Strandfest, Rekord wider Willen) – und zur Erholung, auch wenn das Wetter nicht immer mitspielte (Modernes Reiselied).

Von Warnemünde aus fuhr er mehr als einmal mit der Eisenbahnfähre nach Dänemark, zuletzt im Juni 1935, um für die Anfangskapitel seines geplanten Kriminalromans – in dieser Auswahl unter dem Titel Eine Miniatur verschwindet – noch einmal in Kopenhagen und auf dem Trajekt Details zu recherchieren.

Kästner reiste so gut wie nie allein, weist in seinen Geschichten aber allenfalls durch ein unauffälliges »Wir« auf das Vorhandensein einer Begleitperson hin, deren – meist weibliche – Identität er kaum jemals preisgibt, nicht einmal dann, wenn es sich um seine Mutter handelt und eigentlich er sie und nicht sie ihn begleitet, wie es bei den Aufenthalten in Bad Nauheim der Fall war (Die Badekur, Das Herz im Spiegel).

Um dem immer gleichen Alltag im Herzbad und »der drohenden Gehirnerweichung« zu entfliehen, bestiegen Mutter und Sohn bisweilen den Postbus und gondelten durch den Taunus. Dabei entstand eines von Kästners bezauberndsten Gedichten, Ein Beispiel von ewiger Liebe, einer Liebe, die nur deswegen ewig bestehen kann, weil sie sich nicht der Wirklichkeit stellen muss.

Ganz anders die Fußnoten zu einer Reise, die Kästner 1927 am Ende einer dreiwöchigen Reise mit seiner Mutter durch Südtirol, Norditalien und das Tessin verfasste. Aus ihnen spricht Kästner, der Lehrer, der seinen Lesern erklärt, wie sie mit präziser Planung, kluger Bescheidenheit und umsichtigem Verhalten auch auf einer Auslandsreise mit nur fünfzehn Mark täglich auskommen können, ohne sich spürbar einschränken zu müssen. Auslandsreisen galten in jenen Jahren noch als schier unerschwinglicher Luxus, und so mochte die ermunternde Aufklärung durchaus angebracht sein.

In Norditalien und dem Tessin hatte Kästner seine ganz persönlichen Lieblingslandschaften entdeckt, die Gebirgsseen. »Eine idealere Vereinigung verschiedener Schönheiten«, schwärmte er, sei »nicht ausdenkbar«. Auf der großen Schweizreise, die er im Jahr darauf, 1928, unternahm, wieder mit seiner Mutter (Leute auf Reisen), konnte er dieser Vorliebe frönen: Der Genfer See wurde von einem Ende zum andern bereist, von da ging’s über den Neuenburger See und Interlaken zum Vierwaldstätter See, und vermutlich wurde auch der Zürichsee nicht ausgelassen, auch wenn wir davon keine Nachricht haben. Von Interlaken, zwischen Thuner und Brienzer See gelegen, gelangten Mutter und Sohn bekanntlich In Halbschuhen auf die Jungfrau, wo Kästner sich an den »Märchengipfeln aus blitzend weißem Kristall« nicht sattsehen konnte. Seither fuhr er, wann immer möglich, im Winter ins Gebirge, um den Anblick schneebedeckter Gipfel und Hänge zu genießen.

Unter den deutschen Gebirgsseen hatte es ihm ganz besonders der unterhalb der Zugspitze gelegene Eibsee angetan. In der Schilderung des Ausflugs, den Luise und ihre Mutter ins Gebirge machen (Ein Wochenende wie Himbeeren mit Schlagsahne), hat er diesem verwunschenen dunklen See, der von oben aussieht, »als ob der liebe Gott bloß mal so hingespuckt hätte«, sein ganz persönliches Denkmal gesetzt.

Die letzte große Bildungsreise, die Kästner in den 20er-Jahren unternahm, führte ihn nach Paris. In Gesellschaft von Erich Ohser – Zeichner, Kollege, Freund – und seiner Exfreundin Ilse Julius besichtigte er die üblichen Sehenswürdigkeiten, aber worauf er neugierig war, was ihn fesselte und was er beschrieb, war wieder das Alltagsleben der Stadt mit seinen beschaulichen, pittoresken und amüsanten Eigentümlichkeiten (Jardin du Luxembourg, Eine Stadt wird erobert). 1952 freute Kästner sich auf das Wiedersehen mit Paris – er wollte dorthin zu Filmverhandlungen und anschließend zum pen-Kongress nach Nizza , aber es graute ihm vor der Zeit, die dazwischen lag, vor der langen Bahnfahrt ohne Speisewagen, vor den doppelten Pass-, Devisen- und Zollkontrollen an den Grenzen, mit deren Gründlichkeit er bei anderen Nachkriegsreisen wahrhaft unvergessliche Erfahrungen gemacht hatte (Zwischen hier und dort).

Im Vergleich dazu war das Reisen vor dem Krieg noch erheblich komfortabler gewesen. Doch wurde es in den 30er-Jahren zunehmend schwierig, ins Ausland zu reisen. Schon 1931 hatte Deutschland eine Reichsfluchtsteuer eingeführt und den Devisentransfer beschränkt. Im Oktober 1934 schließlich wurde die Mitnahme von Devisen auf 10 Reichsmark pro Person und Reise (heute etwa 40 Euro) begrenzt. Zum Glück konnte Kästner seinen Kopenhagenaufenthalt 1935 mit dänischen Buchhonoraren finanzieren.

Sein »Herr aus Chemnitz« aber, von dem Kästner 1927 auf Grund einer wahren Begebenheit berichtet, wäre wohl sehr froh gewesen, hätte auch er an seinem Reiseziel über ein Bankguthaben verfügt. Dann hätte er sich nicht sämtlicher Wertgegenstände entblößen müssen, weil die Berliner sich weigerten, seine Sächsische Edelvaluta als Zahlungsmittel zu akzeptieren.

Kästner plante seine Reisen sorgfältig, spontane Abenteuer waren nicht seine Sache. Aber nicht umsonst liebte er seit jeher Figuren wie den fantasievollen Lügenbaron Münchhausen. Und so erfand er 1925 den übermütigen Amfortas Kluge. Dieser will zum Zweck einer Reportage an den Kongo, landet aber auf Grund eines Navigationsfehlers am Nordpol (Fünf Minuten Nordpol). Anschließend reist er mit seinem Freund Bobby nach Tibet (Als Scheuerfrau beim Dalai-Lama), wo die beiden irrwitzigen Gefahren trotzen und auf ihrer Flucht quasi im Vorübergehen auch noch als Erste den Mount Everest besteigen. Diese köstlichen Geschichten zeigen, dass Der 35. Mai in Kästners Werk nicht so singulär ist, wie man vielleicht meinen könnte.

In den 20er-Jahren ist Kästner viel und gern gereist. Er konnte einfach nicht stillsitzen: »Man geht auf Reisen, / damit sich die Nervosität verliert.« Er wollte die Welt sehen, zumindest den Teil, in dem er sich in den beiden lebenden Sprachen, die er beherrschte – Deutsch und Französisch – verständigen konnte, schließlich wollte er sich nicht wie ein »Halbidiot« vorkommen. Aber er war nie gerne lange fort, immer sehnte er sich zurück: »Herrlich ist es, in die Welt zu fahren, / wenn nur nicht das Heimweh wäre!« Am Heimweh lag es wohl, dass er von den 30er-Jahren an immer wieder an Orte und in Gegenden fuhr, in denen er sich heimatlich fühlte. Und als nach 1945 Reisen an viele seiner Lieblingsorte unmöglich wurden, er in München ein Haus mit einem riesigen blumen- und vogelreichen Wildgarten hatte und das Reisen auch längst nicht mehr so beschaulich wie früher war, ging ihm die Reiselust allmählich verloren. In Als ich ein kleiner Junge war behauptete er 1957 sogar, seine »echte und unbelehrbare Abneigung vorm Reisen« sei eine ererbte Familieneigenschaft.

Aber da sieht man einmal mehr, wie sehr die Erinnerung täuschen kann – auch jemanden wie Erich Kästner.

München, Januar 2012

Sylvia List

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Fahrt in die Welt

Seltsam ist’s mit einem Schiff zu fahren,

das sich abschiedsschwer vom Ufer trennt.

Jenes Land, in dem wir glücklich waren,

wird ein Strich am Firmament.

Lange stehen wir an Bord und winken,

bis die Heimat wie ein Traum vergeht.

Muss das Alte immer erst versinken,

ehe Neues aufersteht?

Doch dann schauen wir nicht mehr zurück.

Unbekannte Ufer werden kommen

und vielleicht ein unbekanntes Glück.

Und das Herz ist fast beklommen.

Und wir freuen uns am Wunderbaren,

und wir reisen gern durch neue Meere.

Herrlich ist es, in die Welt zu fahren,

wenn nur nicht das Heimweh wäre!

Fahrten ins Blaue

Erfahrungen sind dazu da, dass man sie macht. Ob man dadurch, wie der Volksmund behauptet, klug wird, steht auf einem anderen Blatt. Dafür, dass Millionen Menschen Tag für Tag Erfahrungen sammeln, gibt es, an unserem Sprichworte gemessen, zwei Milliarden kluge Leute zu wenig, und das sollte zu denken geben.

Eine Unterabteilung der Erfahrungen, die man macht, ohne daraus zu lernen, sind die Wünsche, die in Erfüllung gehen. Wem wäre, so mäkelig in eigner Sache er auch sein mag, nicht schon das eine oder andre Mal ein Wunsch in Erfüllung gegangen! Gab er deshalb die Wünscherei auf? Nein. Und wenn er sich, falls er eine Märchenfigur ist, sogar drei Wünsche gestatten darf – wird er von Wunsch zu Wunsch klüger? Nein.

Man kennt Ausnahmen. Im Märchen und im Leben. Frau Grosche zum Beispiel. Übrigens nicht aus einem Märchen, sondern aus Weixdorf, einem reizenden Seeflecken bei Dresden. Frau Grosche lernte tatsächlich aus der (allerdings recht verqueren) Erfüllung eines Wunsches, und das wollen wir ihr nicht vergessen. Die Geschichte passierte vor rund zwanzig Jahren, und somit bleibt ungeklärt, ob es derartig belehrbare Mitmenschen auch heute noch gibt. Ich habe Freunde, die es bezweifeln.

In Dresden existierte also, früher einmal, eine halbamtliche Einrichtung, die sich »Fahrten ins Blaue« nannte und, besonders bei den kleinbürgerlichen Hausfrauen, sehr beliebt war. Man fand sich, mittwochs und samstags nach dem Mittagessen, am Stübelplatz ein, wo mehrere leere Omnibusse warteten, zahlte ein paar Mark und erwarb sich damit das Anrecht, an einem Ausfluge teilzunehmen, dessen Ziel »unbekannt« war. An einem von den Schaffnern bis zuletzt geheim gehaltenen Endpunkte, irgendeinem der zahlreichen ländlichen Juwele der Umgebung, wurden Kaffee und Kuchen geboten. Und abends trafen die Frauen, von dem kleinen vorgespiegelten Abenteuer aufs angenehmste unterhalten und ermüdet, wieder bei ihren aufs Abendbrot und den Reisebericht wartenden Familien ein.

So geschah es eines schönen Mittwochs früh, dass Frau Grosche, übrigens die Wirtin eines hübschen Gartenrestaurants, zu ihrem Manne sagte: »Das ganze Jahr komme ich nicht aus dem Haus. Man gönnt sich nichts. Habe ich deshalb geheiratet? Nein, mein Lieber! Weißt du was? Ich werde heute eine Fahrt ins Blaue mitmachen!«

»Meinetwegen!«, antwortete der Gatte. »Amüsier dich gut!«

Sie benutzte den Vorortzug nach Dresden, stieg am Neustädter Bahnhof in die Straßenbahnlinie 6 und erklomm, am Stübelplatz angelangt, einen der wartenden Omnibusse. Die Fahrt ins Abenteuer begann pünktlich und nahm für alle den normal überraschenden Verlauf. Nur nicht für Frau Grosche. Ihre Überraschung war anderer Natur.

Haben Sie es schon erraten? Ja? Genau so kam es! Das sorgfältig verschwiegene Reiseziel war an diesem Mittwoch ausgerechnet der ländliche Gasthof, dessen Wirtin Frau Grosche war und den sie am Morgen mit der festen Absicht verlassen hatte, endlich etwas Funkelnagelneues zu erleben!

»Gut, dass du kommst!«, rief ihr Mann, der den Quark- und den Streuselkuchen eifrig in Streifen schnitt. »Binde dir schnell ’ne frische Schürze um, und hilf mir beim Servieren!« Sie band sich eine frische Schürze um und belud ein Tablett mit Kaffeegeschirr und selbstgebackenem Kuchen. Als sie es anhob, um es in den Garten zu tragen, wo ihre Reisegefährten in der Sonne saßen, sagte sie, und dies spricht für ihre überdurchschnittliche Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen: »Das nächste Mal bleib ich gleich hier!«

Sommer an der Ostsee

In den Sommerferien des Jahres 1914 griff Tante Lina tief und energisch in den Geldbeutel. Sie schickte meine Mutter und mich mit Dora an die Ostsee. Das war meine erste große Reise, und statt des Rucksacks trug ich zum ersten Mal zwei Koffer. Ich kann nicht sagen, dass mir der Tausch sonderlich gefallen hätte. Ich kann Koffertragen nicht ausstehen. Ich habe dabei das fatale Gefühl, dass die Arme länger werden, und wozu brauch ich längere Arme? Sie sind lang genug, und auch als Junge wünschte ich mir keine längeren.

Vom Anhalter zum Stettiner Bahnhof spendierten wir uns eine Pferdedroschke »zweiter Güte«, und so sah ich, zwischen Koffern hindurchlugend, zum ersten Mal ein Eckchen der Reichshauptstadt Berlin. Und zum ersten Male sah ich, auf der Fahrt durch Mecklenburgs Kornfelder und Kleewiesen, ein Land ohne Hügel und Berge. Der Horizont war wie mit dem Lineal gezogen. Die Welt war flach wie ein Brett, mit Kühen drauf. Hier hätte ich nicht wandern mögen.

Besser gefiel mir schon Rostock mit seinem Hafen, den Dampfern, Booten, Masten, Docks und Kränen. Und als wir gar von einer Bahnstation aus, die Rövershagen hieß, durch einen dunkelgrünen Forst laufen mussten, wo Hirsche und Rehe über den Weg wechselten und einmal sogar ein Wildschweinehepaar mit flinken gesprenkelten Frischlingen, da war ich mit der norddeutschen Tiefebene ausgesöhnt. Zum ersten Male sah ich Wacholder im Wald, und an meinen Händen hingen keine Koffer. Ein Fuhrmann hatte sie übernommen. Er wollte sie abends beim Fischer Hoff in Müritz-Ost abliefern. Der Wind, der die Baumwipfel wiegte, roch und schmeckte schon nach der See. Die Welt war anders als daheim und genauso schön.

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1   Dora Augustin (l.) und Ida Kästner, Müritz 1914

Eine Stunde später stand ich, vom Strandhafer zerkratzt, zwischen den Dünen und sah aufs Meer hinaus. Auf diesen atemberaubend grenzenlosen Spiegel aus Flaschengrün und Mancherleiblau und Silberglanz. Die Augen erschraken, doch es war ein heiliger Schrecken, und Tränen trübten den ersten Blick ins Unendliche, das selber keine Augen hat. Das Meer war groß und blind, unheimlich und voller Geheimnisse. Gekenterte Schiffe lagen auf seinem Grund, und tote Matrosen mit Algen im Haar. Auch die versunkene Stadt Vineta lag drunten, durch deren Straßen Nixen schwammen und in die Hutläden und Schuhgeschäfte starrten, obwohl sie keine Hüte brauchten, und Schuhe schon gar nicht. Fern am Horizont tauchte eine Rauchfahne auf, dann ein Schornstein und nun erst das Schiff, denn die Erde war ja rund, sogar das Wasser. Monoton und nass, mit weißen Spitzenborten gesäumt, klatschten die Wellen gegen den Strand. Schillernde Quallen spuckten sie aus, die im Sande zu blassem Aspik wurden. Raunende Muscheln brachten sie mit und goldgelben Bernstein, worin, wie in gläsernen Särgen, zehntausendjahralte Fliegen und Mücken lagen, winzige Zeugen der Urzeit.

Sie wurden im Kiosk neben der Mole als Andenken verkauft, zwischen Zwetschgen und Kinderschaufeln, Gummibällen, Basthüten und Zeitungen von gestern. Am Rande des Erhabenen fand das Lächerliche statt. Man war den Städten entflohen und hockte jetzt, angesichts der Unendlichkeit, noch viel enger nebeneinander als in Hamburg, Dresden und Berlin. Man quetschte sich auf einem Eckchen Strand laut und schwitzend zusammen wie in einem Viehwagen. Links und rechts davon war der Strand leer. Die Dünen waren leer. Die Wälder und die Heide waren leer. Während der Ferien lagen die Mietskasernen am Ozean. Sie hatten keine Dächer, das war gut. Sie hatten keine Türen, das war peinlich. Und die Nachbarn waren funkelnagelneu, das war für die Funkelnagelneugierde ein gefundenes Fressen. Der Mensch glich dem Schaf und trat in Herden auf.

Wir gingen an den Strand, ins Wasser und auf die Mole nur hinaus, während die Herde in den Pensionen zu Mittag und zu Abend aß. Sonst machten wir Spaziergänge und Ausflüge wie daheim. Die Küste entlang nach Graal und Arendsee. In die Wälder, an schwelenden Kohlenmeilern vorbei, zu einsamen Forsthäusern, wo es frische Milch und Blaubeeren gab. Wir borgten uns Räder und fuhren durch die Rostocker Heide nach Warnemünde, wo die Menschenherde auf der Ferienweide noch viel, viel größer war als in Müritz. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten. Da wendeten wir die Räder um und fuhren in die einsame Heide zurück. (Hier oben in Mecklenburg hatte sich meine Mutter endlich wieder aufs Rad gewagt. Denn an der Ostsee gab es keine Berge. Hier war die vertrackte Rücktrittbremse ein überflüssiges Möbel.)

Am schönsten war die Welt am Meer in sternklaren Nächten. Über unseren Köpfen funkelten und zwinkerten viel mehr Sterne als daheim, und sie leuchteten königlicher. Der Mondschein lag wie ein Silberteppich auf dem Wasser. Die Wellen schlugen am Strand ihren ewigen Takt. Von Gjedser zuckte das Blinkfeuer herüber. Es war ein Gruß aus Dänemark, das ich noch nicht kannte. Wir saßen auf der Mole. Uns war so vieles unbekannt, und wir schwiegen. Plötzlich erscholl Operettenmusik in der Ferne und kam langsam näher. Ein Küstendampfer kehrte, mit Lampions geschmückt, von einer der beliebten und preiswerten »Mondscheinfahrten in See« zurück. Er legte schaukelnd am Molenkopf an. Ein paar Dutzend Feriengäste stiegen aus. Lachend und lärmend trabten sie an unserer Bank vorüber. Kurz darauf versank das Gelächter hinter den Dünen, und wir waren wieder mit der See, dem Mond und den Sternen allein.

Am 1. August 1914, mitten im Ferienglück, befahl der deutsche Kaiser die Mobilmachung. Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa. Jetzt gab es keine Mondscheinfahrten mehr, und niemand blieb in seinem Strandkorb sitzen. Alle packten die Koffer. Alle wollten nach Hause. Es gab kein Halten.

Rekord wider Willen

Dass Fett gewöhnlich oben schwimmt,

Das stimmt. –

In Sassnitz sprach Direktor Braun

Zu seiner Frau: »Auf Wiederschaun!«

Und während sie sich weitersonnte,

Probiert’ er, ob er schwimmen konnte.

Es ging: Es gab ihm förmlich Spaß,

Sodass er Sassnitz ganz vergaß.

Dann kriegte er den Krampf ins Bein

Und warf sich rücklings. Und schlief ein.

Als er erwachte, sah er Strand.

Braun suchte Grund und ging an Land.

Er wollte mit den Leuten reden.