Ich gehöre wirklich nicht zu denen, die erst zu spät bemerken,
was eine Mutter bedeutet.
An Ida Kästner, Leipzig, 6. November 1926
Erich Kästner hatte eine so innige Beziehung zu seiner Mutter wie kaum jemand sonst: »Es ist so schön, daß wir einander lieber haben als alle Mütter und Söhne, die wir kennen, gelt? Es gibt dem Leben erst den tiefsten heimlichen Wert und das größte verborgene Gewicht. Auch wenn man vor Arbeit keine Zeit hat, an den andern zu denken – im Unterbewußtsein herrscht immer diese unendliche Sicherheit, daß der andere da ist.« So unverstellt wie in diesem Brief vom 10. Januar 1929 äußerte Erich Kästner seine zärtliche Liebe für seine Mutter selten, aber dass sie ihm so nahstand wie kein anderer Mensch, versuchte er ihr immer wieder zu sagen und zu zeigen. Rührend, wenn der 26-jährige Student aus Leipzig schreibt, Weihnachtsgeschenke seien zwar etwas Schönes, »aber ich glaube, Muttchenbesuch ist noch schöner«, oder ihr, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, klarzumachen versucht, wie wichtig ihm die gemeinsamen Reisen sind.
Ida Kästner liebte ihren Sohn über alles. Sie kannte »kein Glück außer meinem«, heißt es im Neujahrsbrief Kästners vom 30. 12. 1926, und »ihr Leben galt mit jedem Atemzuge mir, nur mir« in Als ich ein kleiner Junge war. Und der Sohn vergalt ihr diese Liebe und Hingabe, so gut er vermochte, unablässig bemüht, »eines der besten Söhnchen zu sein«, ein Mustersohn eben, so wie er seiner Mutter zuliebe ein Musterschüler gewesen war.
Ein Muttersöhnchen war Kästner darum nicht. Seine Mutter unterdrückte ihn ja nicht, im Gegenteil, sie förderte ihn und beförderte seine Selbstständigkeit, wo sie nur konnte, ließ z. B. bereits dem Siebenjährigen den Willen, allein für die Mutter einkaufen zu gehen (Frau Hebestreit spioniert). Schon sehr früh übernahm Ida Kästner die Rolle der besten Freundin und Kameradin – wunderbar beschrieben in Meine Mutter, zu Wasser und zu Lande. Die Kehrseite dessen war, dass sie ihren Sohn damit sehr früh in die Rolle des männlichen Partners drängte, eine Rolle, die er – zu Lasten seines Vaters – zunächst auch ganz naiv annahm. So wenn er sich – im Brief vom 23. 2. 1924 – etwas überheblich wunderte, dass er mit Teilzeitarbeit mehr verdiente als sein Vater mit ganztägiger Fabrikarbeit. Erst ganz allmählich und mit auch räumlich wachsender Entfernung erkannte und begriff der Mustersohn, dass selbst eine so innige, exklusive Zweierbeziehung sich mit den Jahren naturnotwendig verändern musste: Er wurde älter, seine Mutter aber wurde alt. »Das klingt einfacher, als es ist«, lässt Kästner 1935 in Emil und die drei Zwillinge die Großmutter in dem Ernsten Gespräch zu ihrem Enkel sagen. Und einfach war es sicher nicht. »Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins« – diese Klage Frau Fabians dürfte Kästner auch von seiner Mutter gehört haben.
Abnabelungsprozesse zwischen Eltern und Kindern, speziell zwischen Müttern und Söhnen, sind immer heikel, und umso schwieriger, wenn einem jemand wie Ida Kästner gegenübersteht. Kästner kannte seine Mutter viel zu gut und wusste, dass er nur ganz behutsam versuchen durfte, Abstand von ihr zu gewinnen, und er liebte sie auch viel zu sehr, um sie – für die die Mutter-Sohn-Symbiose das Naturgegebene war – durch schroffe Distanzierung aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Wie gefährdet seine Mutter war, hat Erich Kästner in Ein Kind hat Kummer eindringlich beschrieben. Wir können nur ahnen, wie sehr ihn die Selbstmordversuche Idas traumatisiert haben. Noch viele Jahre später brauchte er nur zwei, drei Tage nichts von ihr gehört zu haben – einmal pro Tag war die Regel –, schon spürt man aus seinen Briefen die panische Angst, sie könnte wieder einen ihrer depressiven Momente haben. Auch das war ja einer der Gründe, warum er seiner Mutter täglich schrieb – sie auf diese Weise seiner Existenz und Liebe unablässig zu versichern und sie so vor jeder Beunruhigung und seelischen Belastung zu bewahren, deren schädliche Auswirkungen er in Kinderjahren zu fürchten gelernt hatte. Als bei Kriegsende 1945 die Postverbindung abriss und keine täglichen Sohnesbriefe mehr kamen, setzte Ida Kästners geistiger und seelischer Verfall rapide ein. Ihr Fühlen und Denken kreiste nunmehr fast ausschließlich um den angebeteten fernen Sohn, dem sie ununterbrochen schrieb, fast so wie in dem Lied einer alten Frau am Briefkasten. Aber diese Briefe waren zunehmend verwirrt, wie ihre Schreiberin auch, und schließlich übernahm der bis zum Schluss geistig klare Vater das Briefeschreiben.
Kästner schickte seiner Mutter fast alles, was er schrieb, und sie hob die Texte getreulich und stolzerfüllt auf. Die Romane schickte er ihr oft schon im Manuskript und bat sie um ihre Meinung. Ida Kästner muss eine durchaus kritische Leserin gewesen sein, kompetenter, als man vielleicht nach der Lektüre ihres Neujahrsbriefs vom 2. Januar 1927 annehmen würde. Aber anschaulich schreiben konnte auch sie. Die Briefe seiner Mutter, deren Sprache Kästner vermutlich durchaus amüsierte, haben ihn immer wieder dazu angeregt, ihren eigenwilligen, sprunghaften Stil liebevoll, wenn auch nicht ohne Ironie, zu imitieren, so in Frau Großhennig schreibt an ihren Sohn, Frau Stramm schreibt an das Wohnungsamt und Frau Fabian schreibt an ihren Sohn.
Wenn man Kästners Briefe an seine Mutter liest, erst recht, wenn man sie laut liest, wundert einen nicht, dass dieser Mann Dialoge schreiben konnte. Er trainierte das Schreiben mündlicher Redeweise ja täglich! Und zum Mündlichen, zur gesprochenen Sprache, gehören auch die ungezählten Koseformen, all die Söhnchen, Muttchen, Kleidchen, Mützchen, Scheinchen … Aus den Dialekten sind uns diese Koseformen vertraut – das Jungchen, Büble, Buebele, Buberl usw. –, in den slawischen Sprachen sind sie Legion. Wenn Kästner schreibt: »Geh in den Großen Garten, setz Dich zu Pollender ins Sönnchen …« (22. 6. 1927), dann könnte hier der slawische Sprachgebrauch abgefärbt haben. Böhmen ist von Dresden schließlich keine fünfzig Kilometer entfernt.
Noch ein Wort zu den »Scheinchen«, die Kästner so gern seiner Mutter schickte: Bargeldlose Überweisungen waren damals noch mit viel Aufwand verbunden und darum unüblich. Größere Summen zahlte man auf der Post ein, und der Geldbriefträger brachte sie dann dem Empfänger. Und kleinere Summen legte man eben der Einfachheit halber den Briefen bei.
Eng mit seiner Mutter verbunden ist auch Erich Kästners – unter Schriftstellern wohl einzigartige – hingebungsvolle Beschäftigung mit dem Thema Wäsche, diesem unvermeidlichen Bestandteil des Hausfrauenalltags. »… mein Herz hängt an all den Zeremonien, die schmutzige Wäsche in frische, glatte, duftende Stücke zurückverwandeln. Wie oft hatte ich meiner Mutter bei fast jedem Handgriff geholfen! Die Wäscheleinen, die Wäscheklammern, der Wäschekorb, die Sonne und der Wind auf dem Trockenplatz beim Kohlenhändler Wendt in der Scheunhofstraße, das Besprengen der Betttücher, bevor sie auf die Docke gerollt wurden, das Quietschen und Kippen der elefantenhaften Mangel, das Zurückschlagen und Abfangen der Kurbel« beschreibt er liebevoll »die ganze weiße Wäschewelt« im Nachwort zu Als ich ein kleiner Junge war. Und das diesem Thema gewidmete Gedicht Begegnung mit einem Trockenplatz schließt mit den Zeilen »Oh, ich erinnre mich an alles sehr / genau und will es nie vergessen«. In der so rührenden wie beklemmenden Geschichte Mama bringt die Wäsche zählt Kästner all die Wäscheteile auf, »die Bettwäsche, die Oberhemden, die gestickten Taschentücher«, die seine Mutter ihm allweihnachtlich geschenkt hatte und die nun im Bombenfeuer ebenso verbrannt waren wie die »stolze Schenkfreude, die sie nach jeder großen Wäsche immer wieder neu hineingeplättet hat«. Die strapaziösen Waschtage Ida Kästners und die Wäsche, die zwischen Mutter und Sohn hin- und hergeschickt wird, sind ständiges Thema in den Briefen, aber auch in Gedichten wie Frau Großhennig schreibt an ihren Sohn und Ein Buchhalter schreibt seiner Mutter. Vor dem Zeitalter der Waschmaschine war dieses Heimschicken der Schmutzwäsche durchaus üblich, in manchen Haushalten gab es dafür sogar kleine Koffer, für die beide Seiten, die wäschebenutzende wie die wäschewaschende, einen Schlüssel hatten.
Von den gemeinsamen Reisen Ida und Erich Kästners handeln die Gedichte Junggesellen sind auf Reisen und Abfahrt. Wichtiger waren aber noch die gegenseitigen Besuche, die in vielen Texten thematisiert sind – angefangen von der frühen Geschichte Karl der Faule, in der der Spätaufsteher Kästner sich über sich selbst mokiert, über Gedichte wie Stiller Besuch, Die Heimkehr des verlorenen Sohnes und die Episode Mutter Fabian zu Besuch in Berlin bis hin zu der fast grotesken Kriegsszene Gänsebraten aus Dresden und schließlich … und dann fuhr ich nach Dresden, der Beschreibung des ersten Wiedersehens mit den Eltern nach 1945. Dass ausnahmslos alle Mütter finden, sie sähen ihre erwachsenen Kinder viel zu selten, führt Kästner exemplarisch vor in Eine Mutter zieht Bilanz.
Ein Thema ist in dieser Auswahl ausgeklammert: Ida Kästners Rolle als Ratgeberin in Liebesdingen, ein Thema, mit dem alle Biographen sich ausführlich befasst haben. Es gibt zu diesem Thema aber keine Texte Kästners, lediglich seine Briefe, denen sich nur in den seltensten Fällen die Reaktion seiner Mutter entnehmen lässt. Ida Kästners Briefe aus der Zeit vor 1945 gingen fast alle im Krieg verloren. Eine Ausnahme gibt es: ihre Briefe aus der Zeit, als Kästners Beziehung zu Ilse Julius in die Brüche ging. »Deine Briefe sind doch das einzige, was mich in dieser bösen Zeit, die ich durchmache, noch hochhält«, fleht Kästner seine Mutter an, ihm möglichst oft zu schreiben. Wie alle Klage- und Trostbriefe aus Phasen akuten Liebeskummers kranken aber auch diese an Wiederholungszwang, was die Lektüre etwas ermüdend macht. Um es mit Heine zu sagen: »Es ist eine alte Geschichte, / doch bleibt sie immer neu; / und wem sie just passieret, / dem bricht das Herz entzwei.« Das war auch bei Kästner nicht anders.
Es gibt nur wenige »Mutter«-Texte Kästners, die keinen Bezug zu Ida Kästner haben. Zu ihnen zählen das gesellschaftskritische Experiment mit Müttern und die Erzählung Zwei Mütter und ein Kind, in der die neue Stiefmutter sich auf sehr anrührende Weise bemüht, Kontakt zu dem um seine Mutter trauernden kleinen Mädchen zu finden. Auch für die Mutter von Lottchen und Luise hat Ida Kästner nicht Modell gestanden. Nur eines ist wesentlich, die Erkennungsszene zwischen Mutter und Luise, ist eine Episode, die ich seit Kindertagen in- und auswendig kenne und trotzdem nie lesen kann, ohne einen Kloß im Hals zu haben.
Wegen der vielen Muttchenbriefe ergab sich die chronologische Anordnung der Texte fast von selbst. Darum haben auch einige Gedichte Eingang in diesen Band gefunden, die die Zeitumstände schildern, unter denen Kästner schrieb, berühmte Verse wie Möblierte Melancholie oder Große Zeiten und weniger berühmte wie Das Spielzeuglied oder Auf einer kleinen Bank vor einer großen Bank, Letzteres ein Text, der Kästners erstaunliche Aktualität deutlicher zeigt, als uns derzeit vielleicht lieb ist.
München, Winter 2010
Sylvia List
Es gibt Erinnerungen, die man, wie einen Schatz in Kriegszeiten, so gut vergräbt, dass man selber sie nicht wiederfindet. Und es gibt andere Erinnerungen, die man wie Glückspfennige immer bei sich trägt. (…) Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergessliche war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit.
Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war
Als ich ein kleiner Junge war, baute mein Vater noch keine lebensgroßen Pferde. Er wollte so viel Geld wie möglich verdienen, damit ich Lehrer werden konnte. Und er arbeitete und verdiente, so viel er vermochte, und das war zu wenig.
Deshalb beschloss meine Mutter, einen Beruf zu erlernen. Und wenn meine Mutter etwas beschlossen hatte, gab es niemanden, der es gewagt hätte, sich ihr in den Weg zu stellen. Kein Zufall und kein Schicksal wären so vorlaut gewesen! Ida Kästner, schon über fünfunddreißig Jahre alt, beschloss, einen Beruf zu ergreifen, und sie ergriff ihn. Weder sie noch das Schicksal zuckten mit der Wimper. Die Größe eines Menschen hängt nicht von der Größe seines Wirkungsfeldes ab. Das ist ein Lehrsatz und ein Grundsatz aus dem Kleinmaleins des Lebens. In den Schulen wird er nur selten erwähnt.
Meine Mutter wollte, trotz ihres Alters wie ein Lehrling, das Frisieren erlernen und eine selbstständige Friseuse werden. Nicht mit einem Ladengeschäft, das wäre zu teuer geworden. Sondern mit der Erlaubnis, das Gewerbe des Frisierens, des Ondulierens, der Kopfwäsche und der schwedischen Kopfmassage in der Wohnung auszuüben. Der Innungsmeister, den sie aufsuchte, machte viele Einwände. Sie ließ keinen Einwand gelten, und so galt keiner. Sie wurde an Herrn Schubert, einen renommierten Damenfriseur in der Strehlener Straße, verwiesen. Hier lernte sie, mit Talent und Feuereifer, alles, was es zu lernen gab, und kam, wochenlang, erst abends nach Ladenschluss heim. Müde und glücklich.
Damals war ich viel allein. Mittags aß ich für fünfzig Pfennig im Volkswohl. Hier herrschte Selbstbedienung, und das Essbesteck, das man mitbringen musste, holte ich aus dem Ranzen. Zu Hause spielte ich, mit Mamas Schlüsselbund, Wohnungsinhaber, machte Schularbeiten und Besorgungen, holte Holz und Kohlen aus dem Keller, schob Briketts in den Ofen, kochte und trank mit dem Lehrer Schurig, wenn er heimgekommen war, Kaffee und ging, während er sein Nachmittagsschläfchen auf dem grünen Sofa erledigte, in den Hof. Wenn er wieder fort war, wusch und schälte ich Kartoffeln, schnitt mich ein bisschen in den Finger und las, bis es dämmerte.
Oder ich marschierte quer durch die Stadt und holte meine Mutter bei Schuberts ab. Wenn ich, aus Angst, zu spät zu kommen, zu früh kam, sah ich zu, wie sie die Brenneisen schwang, erst an einem Stück Seidenpapier ausprobierte und dann an den meterlangen Haaren der Kundinnen. Die Frauen hatten ja damals noch lange Haare, und bei manchen reichten sie bis in die Kniekehlen! Es roch nach Parfüm und Birkenwasser. Die Kundinnen blickten unverwandt in den Spiegel und begutachteten die Frisur, die unter Mamas flinken Händen und unter Zuhilfenahme von Haarwolle, Brillantine und Lockennadeln hervorwuchs. Zuweilen blieb Meister Schubert, im weißen Kittel, neben seiner Schülerin und deren Opfer stehen, lobte oder griff kurz ein und zeigte sich von Woche zu Woche zufriedener.
Schließlich teilte er der Innung mit, dass die Hospitantin bei ihm alles Erforderliche gelernt habe, für ihr Handwerk viel Geschick und Geschmack besitze und dass er, als Meister und Inhaber Goldener und Silberner Medaillen, die Zulassung der Antragstellerin entschieden befürworte. Daraufhin erhielt Frau Ida Amalia Kästner, geb. Augustin, eine Urkunde, worauf der »Vorgenannten« erlaubt wurde, sich als selbständige Friseuse zu bezeichnen und zu betätigen. Daraufhin holte ich, am selben Abend, in der Restauration »Sibyllenort«, Ecke Jordanstraße, zwei Liter einfaches Bier, und der Sieg wurde gewaltig gefeiert.
Als Friseurladen wurde, da kein anderer Platz übrigblieb, das linke Vorderviertel des Schlafzimmers hergerichtet. Mit einem Wandspiegel, einer Lampe, einem Wasserbecken, einem Anschluss für den Trockenapparat und mit Wandarmen für die Erhitzung der Brenn- und Ondulierscheren. Auf eine Warmwasseranlage wurde großmütig verzichtet. Sie wäre zu teuer geworden. Die Herstellung heißen Wassers für die Kopfwäsche, auf den Gasflammen in der Küche, wurde mir übertragen, und ich habe in den folgenden Jahren ganz gewiss Tausende von Krügen aus der Küche ins Schlafzimmer transportiert.
1 Ida Kästner, um 1906
Kämme und Bürsten, Frottier- und Handtücher, flüssige Seife, Haarwasser, Brillantine, Nadeln, Lockennadeln, Haarnetze, Haareinlagen und Fette für die Kopfmassage mussten angeschafft werden. Geschäftskarten wurden verteilt. An der Haustür wurde ein Porzellanschild angeschraubt. Abonnementkarten, für Frisuren und für Kopfmassagen, wurden gedruckt. Oh, es gab vielerlei zu bedenken!
Schließlich musste Tante Martha noch ein paar Tage ihren Kopf hinhalten. Die ältere Schwester ondulierte, massierte und frisierte die jüngere, bis beiden vor Eifer und Gelächter die Puste ausging. Der einen taten die Finger und der anderen der Kopf weh. Doch die Generalprobe war nötig gewesen. Premieren ohne Generalprobe gibt es nicht. Erst dann darf das Publikum kommen. Und das Publikum kam.
Die Frau Bäckermeisterin Wirth und die Frau Bäckermeisterin Ziesche, die Frau Fleischermeisterin Kießling und die Frau Gemüsehändlerin Kletsch, die Frauen des Klempnermeisters, des Fahrradhändlers, des Tischlermeisters, des Blumenhändlers, des Drogisten und des Papierwarengeschäftsinhabers, die Frau des Schneidermeisters Großhennig, des Weiß- und Kurzwarenhändlers Kühne, des Restaurateurs, des Fotografen, des Apothekers, des Spirituosenhändlers, des Kohlenhändlers, des Wäschereibesitzers Bauer, die Inhaberin des Milchgeschäfts, die Töchter dieser Frauen, die Leiterinnen von Filialen und die Verkäuferinnen – alle strömten herbei. Erstens mussten sie, hinterm Ladentisch, adrett aussehen. Zweitens gab es in unserer Gegend wenig Damenfriseure. Drittens kamen sie, weil wir bei ihnen einkauften, und viertens, weil meine Mutter tüchtig und preiswert war.
Sie hatte alle Hände voll zu tun. Das Geschäft florierte. Und oft genug musste ich aufpassen, dass das Mittagessen auf dem Herde nicht völlig verbrutzelte. »Erich, iss schon immer!«, rief sie von nebenan. Aber ich wartete, drehte die Gasflammen klein, löffelte Wasser in die dampfenden Kochtöpfe, präparierte die Bratpfanne, deckte den Küchentisch und las, bis, nach längeren Unterhaltungen zwischen der Kundschaft und der geschätzten Friseuse im Korridor, endlich die Wohnungstür zuschlug.
Die geschätzte Friseuse wirkte auch außer Haus. Dann packte sie ihr Handwerkszeug, samt dem Spiritusbrenner, in die Mappe und eilte im Geschwindschritt bis, wenn es sein musste, in die entferntesten Stadtviertel. Diese beruflichen Gewaltmärsche galten vor allem den Kundinnen »im festen Abonnement«. Auf sie musste besondere Rücksicht genommen werden, denn sie waren schließlich das Rückgrat des Geschäfts. Sie zahlten ja zehn oder zwanzig Frisuren oder Massagen auf einmal! Unter den Abonnentinnen befand sich die Gattin eines reichen Juweliers, aber auch eine ärmliche Hausiererin, und gerade an sie erinnere ich mich gut.
Sie hieß Fräulein Jaenichen, wohnte am Turnerweg, über einer Kneipe, in einem trostlosen Zimmer und konnte sich nicht selbst frisieren, weil sie ein Krüppel war. Ihre Hände, aber auch die Füße, ja, der ganze Körper, alles war krumm und schief und verbogen. Niemand kümmerte sich um die unglückliche Person. Und so humpelte sie, auf eine kurze und eine längere Krücke gestützt, mit einer schweren Kiepe auf dem Buckel, über Land. Sie klingelte bei den Bauern und verkaufte allerlei kleinen Hausrat: Knöpfe, Bänder, Sicherheitsnadeln, Borten, Schnürsenkel, Schürzen, Wetzsteine, Gasanzünder, Nähseide, Strickwolle, Häkeldeckchen, Taschenmesser, Bleistifte und vieles andre. Und gerade weil sie so abschreckend aussah, die Arme, legte sie besonderen Wert darauf, schön frisiert zu sein. Morgens gegen sechs Uhr musste meine Mutter aus dem Haus. Ich begleitete sie sehr oft, als würde es ihr dadurch leichter, das muffige Zimmer und den Anblick der unglückseligen Person zu ertragen. Eine halbe Stunde später halfen wir ihr, den schweren Korb mit den breiten Ledergurten zu schultern. Und dann kroch und watschelte sie, auf die ungleichen Krücken gestützt, zum Neustädter Bahnhof, von wo aus sie, in Vorortzügen, auf die Dörfer fuhr. Sie wankte, gebückt und nach beiden Seiten pendelnd, den Bahndamm entlang, hinein in die kühle Frühe und brauchte zehnmal mehr Zeit als die anderen Leute, die sie überholten. Es sah aus, als humple und trete sie auf der Stelle.
Sehr wichtig waren auch, geschäftlich betrachtet, die Hochzeiten. Da galt es, in der Wohnung der Brauteltern zehn, zwölf, wenn nicht gar fünfzehn weibliche Wesen herzurichten: die Brautjungfern, die Mutter, die Schwiegermutter, die Schwestern, Tanten, Freundinnen, Großmütter und Schwägerinnen und, vor allem, die glückliche Braut höchstselbst. Die Wohnungen waren klein. Die Aufregung war groß. Man trank süßen Südwein. In der Küche brannte der Quarkkuchen an. Die Schneiderin brachte das Hochzeitskleid zu spät. Die Braut heulte. Der Bräutigam kam zu früh. Die Braut heulte noch mehr. Der Brautvater schimpfte, weil er die Schachtel mit den Kragenknöpfchen nicht fand. Die Frauen, in Taft und Seide, schnatterten. »Frau Kästner!«, rief es hier. »Frau Kästner!«, rief es dort. Frau Kästner steckte inzwischen den Brautschleier und schnitt, weil er zu lang war, mit der Schere einen halben Meter weißen Tüll ab.
Vorm Hause bremsten die Hochzeitskutschen. Der Bräutigam und ein Brautführer polterten mit Flaschenbieren treppab, um den Kutschern das Warten zu erleichtern. Doch auch das war kein rechter Ausweg. Denn der Herr Pastor am Traualtar, der wartete nicht! Es wurde ja nicht nur bei Müllers geheiratet, sondern auch bei Schulzes, Meiers und Grundmanns. Wo waren die Buketts und die Körbchen für die Blumenstreukinder, und wo steckten die Blumenstreukinder selber? Natürlich in der Küche, voller Kakaoflecken! Wo war die Flasche mit dem Fleckenwasser? Wo die Zylinderschachtel? Wo das Myrtensträußchen fürs Knopfloch? Wo waren die Gesangbücher?
2 Geschäftskarte Ida Kästners
Endlich knallte die Wohnungstür zu. Endlich rollten die Kutschen zur Kirche. Endlich war die Wohnung leer. Fast leer! Die Nachbarin, die versprochen hatte, auf den Braten aufzupassen, begann die Tische und die Stühle zusammenzustellen und die Hochzeitstafel zu decken. Mit den schönen Damasttüchern. Mit dem Meißner Zwiebelmusterporzellan. (»Protzellan« nannte ich das.) Mit dem Alpakasilber. Mit den bunten Kristallgläsern, die »Römer« heißen. Mit kunstvoll über den Damast verstreuten Blumen.
Meine Mutter saß inzwischen, mit müden Füßen und schmerzenden Händen, am Küchentisch, trank eine Tasse Bohnenkaffee, probierte den Kuchen, wickelte für mich ein Stück ein, stopfte es in ihre große Tasche und zählte den Verdienst und das Trinkgeld. Alle Knochen taten ihr weh. Im Kopf sauste und brauste es. Doch die Hochzeit hatte sich gelohnt. Die nächste Rate fürs Klavier konnte bezahlt werden. Und die nächste Klavierstunde bei Fräulein Kurzhals auch.
Fräulein Kurzhals wohnte bei ihren Eltern, im gleichen Hause wie wir, nur zwei Stock höher, und war mit mir leider sehr unzufrieden. Und leider mit Recht. Das teure, goldverzierte Klangmöbel stand ja in Lehrer Schurigs Wohnzimmer! Wenn er in seiner Schule war, war ich in meiner Schule. Wenn ich zu Hause war, war meist auch er zu Hause. Wann hätte ich gründlich üben sollen? Andrerseits, ich musste doch die geheimnisvolle schwarzweiße Tastenkunst erlernen, denn ich wollte ja Lehrer werden!
Mir blieb ein schwacher Trost in dunklen Stunden. Auch Paul Schurig spielte miserabel Klavier. Und er war trotzdem Lehrer geworden, na also!
Das Elternhaus der Braut und die Kirche lagen in Niederpoyritz, weit draußen im Elbtal, und der Wintertag, zwischen Weihnachten und Neujahr, war hart, eiskalt und unerbittlich.
Ich wartete im Gasthof. Ich saß und aß und las, und die Stunden ließen sich viel Zeit. Sie schlichen müde um den glühenden Kanonenofen herum. Die Welt vorm Fenster war grauweiß und kahl, und der Wind fegte die Felder wie ein betrunkener Hausknecht. Er kehrte den alten, verharschten Schnee aus einer Ecke in die andre. Er wirbelte ihn wie Staub in die Luft und heulte und johlte, dass die Fenster klirrten. Manchmal blickte ich hinaus und dachte: »So muss es in Sibirien sein!« Und es war doch nur in Niederpoyritz bei Dresden an der Elbe.
Als mich meine Mutter nach fünf Stunden abholte, war sie von der Arbeit so erschöpft, dass sie sich nicht auszuruhen traute. Sie drängte zum Aufbruch. Sie wollte heim. Und so machten wir uns auf den Weg. Es war ein Weg ohne Wege. Es war ein Tag ohne Licht. Wir versanken in Schneewehen. Der Sturm sprang uns von allen Seiten an, dass wir taumelten. Wir hielten uns aneinander fest. Wir froren bis unter die Haut. Die Hände starben ab. Die Füße waren wie aus Holz. Die Nase und die Ohren wurden kalkweiß.
Kurz bevor wir die Haltestelle erreichten, fuhr die Straßenbahn davon, so sehr wir auch riefen und winkten. Die nächste kam zwanzig Minuten später. Sie war ungeheizt und von Schnee verklebt. Wir saßen während der langen Fahrt stumm und steif nebeneinander und klapperten mit den Zähnen. Daheim legte sich meine Mutter ins Bett und blieb zwei Monate liegen. Sie hatte große Schmerzen in den Kniegelenken. Sanitätsrat Zimmermann sprach von einer Schleimbeutelentzündung und verordnete Umschläge mit fast kochendem Wasser.