DER PUFF-POET
Inhalt
Vorwort
Der Puff-Poet
Das Motorrad
Der Abwinker
Der Betriebsausflug
Der Fuchs von Rhodos
Das Duell
Der Überfall
Die Märchentante
Wir bleiben hier, wo wir sind!
Die Erfüllung
Über den Autor
Vorwort
Das BADHAUS, der Edelpuff einer deutschen Großstadt der Gegenwart, Tummelplatz von Verrückten und Normalen, Außenseitern und Besessenen, Hoch- und Tiefstaplern, Speichelleckern und Idealisten.
Es geht um Geld und Sex, um Macht und Ohnmacht, um falsche Liebe und echte Treue. Ein verruchtes Gewerbe? Die meisten Gäste sind sogenannte Normalbürger. Ohne sie könnte ein BADHAUS nicht existieren.
Der »Puff-Poet« Marcel Breuer erzählt. Er ist fünfunddreißig Jahre alt, stammt aus’ dem Milieu der Heiermannsprostitution (für einen Heiermann = 5 DM gab es an den Straßenecken und auf den Trümmergrundstücken der Nachkriegszeit Liebe) und arbeitet als Barkeeper im BADHAUS, nachdem er jahrelang in Puffs verschiedener deutscher Großstädte tätig war. Marcel hat sich entschlossen, im BADHAUS zu bleiben, weil ihm dort Atmosphäre und Arbeitsbedingungen behagen. In der Tat, das BADHAUS ist eine Ausnahme in der Branche: Der Besitzer, Kunst- und Menschenfreund, ist nicht der brutale Ausbeuter. Er lebt und lässt leben. Sein Motto: »Meine Gäste und meine Mädchen sollen sich wohl fühlen.«
Im BADHAUS geht es zunächst familiär gemütlich zu, doch im Laufe der Zeit verändert es sich zu einer Bordellmaschinerie mit Höchstumsatz. Der Puff-Poet — den Namen erhielt er auf Grund der kleinen Gedichte, die er bei feierlichen Gelegenheiten vortrug — genießt einerseits das Vertrauen der Gäste und spielt andererseits Seelentröster bei den Mädchen. Doch nach all den Jahren hört Marcel nur noch hin, nicht mehr zu. Das pausenlose Gesabbere, die ewigen Lebensbeichten haben seinen Willen, Anteilnahme zu zeigen, erschöpft: Er ist vollgesogen wie ein Schwamm. Und so beginnt er, Erlebtes und Gehörtes niederzuschreiben.
Der Puff-Poet
Ich heiße Marcel. So hat mich meine Mutter taufen lassen, um der Nachbarschaft zu dokumentieren, irgendein hergelaufener Franzose sei mein Vater gewesen.
Ob das Verschleierungsmanöver geklappt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls war in unserem Hause allen klar, dass nur der Mann der Nachbarin mein Vater gewesen sein konnte. Er ist Deutscher, und ich seh’ ihm ähnlich. Doch ebenso ist es möglich, dass irgendein Fünfminutenkunde meiner Mutter — dessen Gummi geplatzt war oder dem sie, aus Sparsamkeit, erst gar keinen übergestreift hatte — die Schuld an mir trug; Meine Mutter hatte ihr Leben lang schlecht rechnen und daher mit Geld und Knaus Ogino wenig anfangen können. Das bewiesen ihre lebenslange Flucht vor dem Gerichtsvollzieher und meine zahlreichen Geschwister.
All das macht mir nichts aus. Ich heiße nun mal Marcel, und der Name gefällt mir.
Er gefällt mir .genauso wie meine Arbeit im BADHAUS. Ja, nun bin ich bald vierzig Jahre alt und kenne jede Menge Puffs in Deutschland, habe in vielen gearbeitet, doch einen Laden wie das BADHAUS habe ich vorher noch nie erlebt. Dabei bin ich sozusagen in dieses Geschäft hineingeboren.
Im Alter von vier oder fünf Jahren hat man natürlich noch von nichts Ahnung. Ich lebte bei meinen Großeltern. Meine Mutter, die uns ab und zu besuchte, mir einen Berg Süßigkeiten mitbrachte und mich mit Küssen überhäufte, hielt ich lange Zeit für meine ältere Schwester.
Köln war in den letzten Kriegsjahren von den Bombern kaputtgemacht worden. Für uns Kinder boten sich die Trümmergrundstücke als spannende Spielplätze an. Ich turnte soeben auf einem dieser Schuttberge herum, als mich von der Straße her eine Stimme erreichte: »He, Marcel, komm sofort da runter! Du fällst dich noch zu Tode!« Es war meine >Schwester<.
Im Grunde hatte ich keine Lust, ihr zu folgen, dachte aber an die Süßigkeiten, kletterte runter und wartete ab, ob sie welche bei sich trug.
»Du gehst sofort nach Hause! Guck mal, wie du aussiehst!« Sie wies auf meine zerschundenen Knie und die schmutzige kurze Hose.
»Ich will nicht nach Hause«; trotzte ich, »meine Mutti hat mir erlaubt, bis zum Dunkelwerden zu spielen.«
»Was heißt hier deine Mutti? Deine Mutti bin ich.« Sie stockte in der Gewissheit, etwas Fürchterliches gesagt zu haben, beugte sich zu mir nieder, küsste und herzte mich: »Marcel, jetzt weißt du’s. Ich bin deine Mutti. Das andere sind Omi und Opa.«
Ich sagte: »Du lügst.«
»Nein.«
Es stimmte. Ich war böse auf Omi und Opa, weil sie nicht meine Eltern waren. »Deine Mutter ist Schneiderin«, sagten die Großeltern. »Sie wohnt bei ihrer Arbeitsstelle.« Ich nahm’s hin.
Im ersten Schuljahr, ich trödelte eben mit Klassenkameraden durch unser Viertel, das zwischen Dom, Hauptbahnhof und Rheinufer lag, sah ich dann plötzlich meine Mutter, wie sie in einem Haus im Stavenhof verschwand. Der Stavenhof ist eine kleine Verbindungsstraße mit alten Häusern, die erstaunlicherweise das Bombeninferno nur leicht beschädigt überstanden haben.
Ich rief: »Mutti!« Sie war bereits verschwunden.
»Das war deine Mutter?« fragte Kläuschen, der schon zwölf Jahre später nach einer Messerstecherei sein Leben lassen musste. »Das sind Nuttenhäuser!« behauptete er.
»Quatsch«, sagte ich, obwohl mir der Ausdruck nichts bedeutete. Aber ich fand ihn bedrohlich.
Kläuschen grinste und rief im Singsang: »Du bist ein Hurenkind, ein Hurenkind!«
Ich lief ihm nach und schlug ihn auf die Nase. Das hätte ich besser gelassen. Er vermöbelte mich nach Strich und Faden. Diese körperlichen Auseinandersetzungen waren wirklich nichts für mich. Mit dem Köpfchen war ich besser. Opa sagte immer: »Aus dir wird noch mal was. Wir schicken dich auf die Oberschule.« Doch das Köpfchen schützte mich nicht vor den Prügeln, wie ich sie jetzt wieder einstecken musste.
Weinend lief ich in das Haus, in dem Mutter verschwunden war. Eine etwa fünfzigjährige Frau, die mitten im dunklen, muffigen Flur auf einem Stuhl saß, versperrte mir den Weg. Sie war mit einer Kittelschürze bekleidet, trug Lockenwickler im Haar, hatte knallrot geschminkte Lippen und ein Gelbsuchtgesicht.
»Na, Kleiner, wo willst du hin?«
»Meine Mutti arbeitet hier. Sie ist Schneiderin.« »Deine Mutti?«
»Ja, ich hab’ sie hier reingehen sehn.«
»Wie heißt du denn?«
»Marcel Breuer.«
»Ach sooooo …«
Neugierige Blicke musterten mich von oben bis unten. »Wart mal mein Junge. Ich schau’ nach, ob sie Zeit hat. Versprich mir, hier stehnzubleiben. Ja?«
Ich nickte. Die Dunkelheit, die steile, baufällig aussehende Treppe, all das wirkte beängstigend auf mich. Die Alte stieg ächzend nach oben und kehrte kurz darauf zurück. »Deine Mutti hat jetzt keine Zeit. Geh nach Hause! Sie sagt, sie käme heute Abend.«
»Ich will aber jetzt zu ihr«, beharrte ich. Die Alte machte ein trauriges Gesicht, zog mich an sich und wollte mich küssen. Ich roch die muffige Strickjacke, ihren kalten Schweiß, ekelte mich und wand mich aus ihren Armen.
»Deine Mutti hat Besuch«, sagte sie, »ein Kunde, dem sie die Hosen anprobiert. Du darfst jetzt nicht zu ihr.«
Ich lief nach Hause und erzählte alles. Opa war verstört, Omi auch. Abends kam Mutti, und sie haben die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt.
Es dauerte zwei weitere Jahre, bis ich begriff. Damals erfuhr ich auch, dass ich eine drei Jahre ältere Schwester hatte, die Margot hieß und im Heim aufwuchs. Ich war meiner Mutter ihres Berufes wegen nicht böse. Das, was sie tat, galt in unserem Viertel als normal. Kaum ein Elternteil meiner Klassenkameraden ging einem >anständigen< Beruf nach. Die meisten Väter hatten im Knast oder als Kriminelle im KZ gesessen. Der ehrbarste war noch ein Wirt, der die oberen Etagen seiner Kneipe stundenweise an Prostituierte vermietete.
Das deutsche Wirtschaftswunder wanderte an unserer Familie vorbei. In Omis und Opas Dreizimmerwohnung hausten noch Tante Gisela, Tante Gerda, Onkel Peter, Onkel Willi und Onkel Paul. Tante Gisela hatte blitzschnell zwei Kinder bekommen, und auch meine Mutter kam kurz hintereinander weitere dreimal nieder. Bei der letzten Geburt wurde sie krank. »Sie hat die Motten«, hieß es, und sie musste in eine Lungenheilanstalt. Ihr Einkommen fehlte uns an allen Ecken und Kanten. Für mich hatte das schlimme Auswirkungen. Weil wir das Schulgeld nicht aufbringen konnten, wurde nichts aus dem Besuch des Gymnasiums. Die Volksschule bot keine Herausforderung mehr für mich. Ich erledigte das Pensum im Handumdrehen und hing bis in die Nächte auf der Straße rum.
Die Nachkriegszeit mit dem Problem, Essen abzustauben, egal wo und wie, hatte meine Eigentumsbegriffe geprägt. Ich stellte fest, dass der am besten lebte, der am kräftigsten oder am gerissensten war. Das Letztere zu sein wurde mein Ziel.
Zwei begonnene Lehren, erst als Steuerberater, dann als Versicherungskaufmann, endeten mit Rausschmiss, weil ich nach nächtlichen Streifzügen unlustig, zu spät oder gar nicht zur Arbeit erschien. Zudem hatte ich bei beiden Stellen von Anfang an ums Überleben kämpfen müssen, nachdem sich dort herumgesprochen hatte, aus welchem Stadtteil ich stammte. Mit sechzehn wurde ich Liebhaber einer dreiundvierzigjährigen
Nutte, mit siebzehn wechselte ich zu einer jüngeren. Iris war einundzwanzig. Sie ließ es nicht zu, dass ich mir eine Arbeit suchte.
»Was soll das? Dann arbeitest du am Tag, ich in der Nacht, und wir sehen uns nie. Ich verdien’ genug für uns beide!«
Aber irgendwie hatte mein Vater ein nicht in dieses Viertel passendes Erbgut in mir aufkeimen lassen. Es fiel mir schwer, von Iris Geld anzunehmen. Es fiel mir schwer, weil ich mir dabei vorstellte, wie sie mit jedem für zwanzig Mark ins Bett ging.
Ich machte mich unabhängig.
Zunächst durchs Zocken. Doch Glück ist unzuverlässig. Also half ich nach. Das Ganze ging so: Erwin und ich spielten zusammen. Wir suchten Tölpel, Trottel oder Gimpel, wie wir sie nannten, die sich mit uns an den Tisch setzten und spielten. Ich hielt in der Kneipe nach Fremden Ausschau, von denen ich annahm, sie besäßen Geld, und setzte mich zu ihnen an den Tisch. Ich erzählte vom Hütchen und Stöckchen, bis ich dem von mir ausgewählten Opfer vorschlug, zur Unterhaltung Skat zu spielen.
»Woher nehmen wir den dritten Mann?«
Ich sah mich um. Wie zufällig sah ich Erwin, tat so, als kenne ich ihn nicht und fragte: »Spielen Sie einen Skat mit uns?« Mit dem Satz »Ich spiele schlecht Skat« setzte er sich dazu. Zunächst wurde um Bier gespielt, später um einen Heiermann (5 DM) oder gar ein Pfund (20 DM) pro Runde oder um einen Pfennig bis einen Groschen pro Punkt. Am Anfang ließen wir das Spiel normal laufen oder den Fremden gewinnen. Dann kam der Trick. Ich lenkte den Tölpel ab, und Erwin tauschte das Kartenspiel aus. Das neue Blatt war »gelegt«. Der Fremde bekam einen Grand Hand zugeteilt, saß allerdings in der Mittelhand. Wir gaben ihm Contra, er sagte Re.
Ich spielte aus.
Der Tölpel musste viermal bedienen.
Erwin schmierte rein, sechzig Augen, das reichte. Der Tölpel schuldete uns dreihundert Mark.
Viele konnten nicht zahlen, mussten Ring, Uhr oder Krawattennadel ablegen oder einen Scheck ausstellen.
All das läuft nur kurze Zeit, dann ist man bekannt wie ein bunter Hund. Keiner spielt mehr mit. Einmal ging ich deshalb mit Willi auf Tour. Willi war Einbrecher und schoss mittels Schleuder dicke Kugellagerkugeln durch Juwelierscheiben und angelte wertvolle Stücke aus der Dekoration. Doch das war mir zu gefährlich.
Als ich neunzehn war, kam’s zum großen Krach. Iris wurde derart aggressiv, dass ich sie vermöbelte. Es war das erste und letzte Mal, dass ich eine Frau schlug, aber ich denke, sie hatte es erwartet. Huren erwarten, dass man sie ab und zu schlägt. Das ist meine Erfahrung. Wenn du es nicht tust, nehmen sie dich nicht für voll.
Iris war am nächsten Tag versöhnungsbereit. Ich lehnte ab. Sie reagierte link und zeigte mich bei der Polizei wegen Zuhälterei und versuchtem Totschlag an. Im Urteil wurde aus dem Totschlagsversuch eine Körperverletzung, die Zuhälterei blieb, und das Gericht schickte mich, um meiner Verwahrlosung entgegenzutreten, für drei Jahre ins Jugendgefängnis. Was für ein Witz! Dort traf ich ja nur Verwahrloste! Ich gab mir allerdings Mühe mit mir selbst, machte im Knast die mittlere Reife nach, schrieb meine .ersten Gedichte, doch einen Job fand ich später trotzdem nicht.
Meine Mutter war inzwischen nach Frankfurt gezogen, lebte mit George zusammen, einem Neger, und ging in der Altstadt immer noch auf den Strich, obwohl sie mittlerweile schon über vierzig war. Sofort nach meiner Entlassung fuhr ich sie besuchen.
Frankfurt machte, nach drei Jahren Abstinenz, einen tollen Eindruck auf mich. Als erstes ging ich in die >Sonne von Mexico< und traf dort den Kölner-Freddie. Wir tranken Bier zusammen. Ich erklärte meine Lage: Frisch aus dem Knast, hungrig, durstig, geil! Er schenkte mir einen Halben (50 DM) und sagte:
»Geh mal nach nebenan in den ersten Stock. Die Frau heißt Tammy. Von der wirste gut bedient. Dann kommste wieder her, und wir quatschen weiter. Vielleicht kann ich dir ‘nen Job besorgen. Warste schon mal in Hamburg?«
Ich ging zu Tammy. Sie nannte sich wegen der vielen Amis so. Leider erwartete sie einen Stammfreier, und ich hatte es eilig.
Später erzählte mir Freddie: »Ich soll nach Hamburg als Bediener in ‘nen neugebauten Puff. Will aber nicht von Frankfurt weg, hab’ grad ne gute Partie (Zuhälterausdruck für Mädchen) hier stehen. Ich mach das in Hamburg klar für dich, wenn du willst. Ich verbürge mich für dich. Na, was ist?«
Ich sagte nur: »Mach nur« und fuhr zu meiner Mutter.
Sie wohnte in Sachsenhausen nach dem Motto: »Arbeiten auf dem Kiez (Strich), aber wohnen weit weg davon.«
Ihre Neubauwohnung sah aus wie die Möbelausstellung von Möbel-Franz. Besonders stolz war sie auf die Fernseh-Radio-Musiktruhe, ein monströses Ding, und auf die Viermeterachtzig-Schrankwand. Sie und die aufgeplusterten Sitzmöbel erdrückten das Zimmer auf Zellengröße.
Schwanger war Mutter auch schon wieder.
Sie gab sich viel Mühe, mein Leibgericht zu kochen: Dicke Bohnen mit Speck, aber sie blieb eine miserable Köchin. Bis das Essen auf dem Tisch stand, hatte ich, vom genossenen Alkohol, einen Schwips. Der war auch nötig, denn als um acht Uhr meine Schwester Margot aufkreuzte, die ich erstmals an diesem Tage kennenlernen sollte, standen sie und ich uns peinlich berührt gegenüber. Margot war Tammy.
Später legte sich unsere Beklemmung. Immer, wenn wir uns ansahen, brachen wir in prustendes Lachen aus, konnten uns kaum beruhigen. Mutter sah uns misstrauisch an. Wir haben ihr den Grund unserer Heiterkeit nie verraten.
Der Job in Hamburg war ein Geschenk des Himmels. Er war nicht schwierig. Erwartet wurde Zuverlässigkeit, das hieß: tägliche Anwesenheit von zwölf Stunden.
Der Puff war kurz zuvor neu erbaut worden und verfügte über etwa hundert Zimmer. Jede Etage benötigte einen Bediener, ein Mittelding aus Kellner und Aufpasser.
Das war meine Arbeit. Erfüllen sollte ich Wünsche, nach Getränken, Handtüchern, Bettwäsche und Parisern. Außerdem musste ich täglich die Schichtmiete für die Zimmer kassieren.
In meinem Dienstraum gab’s eine kleine Teeküche. Ansonsten war mein Zimmer so spartanisch wie die Nuttenzimmer auch. Es war genauso klein, besaß ein winziges Spülbecken, eine Kochplatte und statt einer Arbeitsliege meinen Schreibtisch. An der Wand hing ein Fächerschrank für die Zimmerschlüssel und ein Brett mit den Lämpchen der Alarmanlage, jedes mit der Zimmernummer versehen. Dann gab’s noch drei Stühle und das sogenannte Fenster, ein Oberlicht. Der Raum war grün gestrichen und erinnerte mich an meine Gefängniszelle.
Essen für die Frauen wurde durch mich bestellt. Lieferant war meist ein nahe gelegenes Lokal oder ein Imbiss. Bezahlen mussten die Frauen ein Essen immer, egal, ob sie es wollten oder nicht. Das gehörte zur Preisgestaltung und nannte sich >Block<.
Die Kalkulation sah folgendermaßen aus:’Zwei Schichten pro Zimmer und Tag. Keine Frau wohnte fest in ihrem Zimmer. Daher war der Name Dirnenwohnheim reine Makulatur. Fickheim wäre das richtige Wort gewesen. Pro Schicht musste jede Frau achtzig Mark Nettomiete bezahlen. In dem Betrag waren fünf Hand- und fünf Betttücher enthalten. Zusätzlich wurden pro Schicht zehn Mark für die Bedienung (mich) und weitere zwanzig Mark fürs Essen fällig. Der >Block< betrug also einhundertzehn Mark. Gezahlt werden musste immer, auch wenn sie die Schicht schwänzten oder krank waren oder auch wenn sie nichts verdient hatten. Blieb eine Frau zwei Schichtmieten im Rückstand, war ich verpflichtet, nach jedem Freier, den sie bedient hatte, Teilbeträge zu kassieren, bis alles beglichen war.
Die zehn Mark pro Schicht für mich beinhalteten auch meine Tätigkeit als Bodyguard.
Neben dem Bett eines jeden Zimmers befand sich die Alarmklingel. Schrillte die Glocke und flackerte an meiner Wand das Lämpchen, lief ich, bewaffnet mit einem Gummiknüppel, zum Ort der Tat und betete jedes Mal, dass ich den Knüppel nicht benutzen musste.
Meist waren es Fehlalarme, ausgelöst durch Beine, Füße oder Hintern während des Bumsens. Ich besaß einen Vierkant, um jedes Zimmer, auch wenn es von innen verschlossen war, betreten zu können.
Pro Schicht verdiente ich mindestens dreihundert Mark. Oft wurden es, durch Trinkgelder der Frauen angehäuft, vier-, gar vierhundertfünfzig oder auch fünfhundert Mark! Ja, die Frauen gaben mir, dem stellvertretenden Ausbeuter, Trinkgeld, und zwar reichlich!
Die Ausbeuterei lief, wie immer, von oben nach unten.
Erstaunlich, wer alles davon profitierte.
Ausbeuter Nummer eins waren die Eigentümer.
Sie vermieteten einen Verschlag von nicht mal acht Quadratmetern für achtzig Mark pro Tag an einen Erstpächter.
Achtzig mal dreißig Tage macht zweitausendvierhundert pro Monat, fast dreißigtausend im Jahr, mal hundert Zimmer; das ergab drei Millionen. Innerhalb von zwei Jahren brachte das Haus mehr an Miete ein, als der Neubau gekostet hatte.
Na, war das ‘ne Rendite?
Später, als ich in einem anderen norddeutschen Puff arbeitete, begleitete ich den Erstpächter zu einer Eigentümerversammlung .
Alles war streng geheim gehalten worden. Für die Tagung hatten sie das mitten im Wald liegende Hotel >Penner< bei Nienburg gemietet. Es wurde bewacht, als sei die Königin von England zu Besuch. An der Tür hing ein Schild: WEGEN TAGUNG DES TIERSCHUTZVEREINS FOR PUBLIKUMSVERKEHR GESCHLOSSEN!
Da saßen sie denn nun, die Tierschützer. Sie gehörten zum gehobenen Mittelstand: Ärzte, höhere Beamte, selbstständige Handwerker waren ebenso dabei wie ein Brauer aus Bayern, ein Schulleiter, ein Juwelier, ein Bürgermeister und ein Richter. Alles Leute, die außerhalb dieser Tagung, auf das horizontale Gewerbe angesprochen, voll Abscheu das Gesicht verzogen hätten. Andererseits besaßen sie typische Freiergesichter, wie ich sie kannte, wenn sie, den Blick zur Erde gesenkt, im Gefolge einer Frau an meiner offenen Tür vorbeischlichen.
Eigentümerversammlungen wurden einberufen, wenn es darum ging, die Miete anzuheben, oder wenn der Erstpächter, der ja den Strohmann abgab, Schwierigkeiten mit den Behörden bekam.
Erstpächter waren die nächsten in der Ausbeuterhierarchie. Sie garantierten den Eigentümern die Miete. Dafür schlugen sie bereits an die Etagenpächter um vierzig Mark auf und kassierten einhundertzwanzig pro Tag. Sie, die Erstpächter, waren allerdings die Prellböcke.
Alle Puffs in Deutschland stehen auf gläsernen Füßen. Sie sind geduldet, als Steuerzahler sogar erwünscht, werden aber als Institution abgelehnt. Erstpächter sind beliebte Opfer für hohe Bußgelder, die, ob in der Sache gerechtfertigt oder nicht, aus Angst vor Behördenrepression prompt bezahlt werden. Behörden sind potenzielle Gegner der Puffs und trainierte Schikanierer. Sie entwickeln ständig neue Auflagen, um bessere Druckmittel zu besitzen.
In den USA gibt es die Schutzgelderpressung, doch die Verbrecherorganisationen dort schützen ihre Klienten wenigstens vor Erpressung anderer und tun was für ihr Geld.
Behörden kassieren nur. Hinzu kommen Behördenangestellte, die sich ihre kleine Scheibe selbst abschneiden, sei es in bar oder in Naturalien, sprich Freifick.
Die meisten Puffbetreiber mussten sich ihre >Betriebsgenehmigung< für das neue Haus erst bei der ortsansässigen Konkurrenz erkaufen. Entweder als großen, im Voraus zu zahlenden Barbetrag oder durch laufende Beteiligung.
Weigerten sie sich zu zahlen, rief die Konkurrenz, wie eine Gewerkschaft, zum Boykott. Kein Lude stellte seine Partie in den neuer> Puff. Andernfalls bekamen sie kein Bein mehr auf die Erde. Da Deutschlands Luden, zumindest die großen, überregionale Kontakte pflegten, blieben das keine leeren Drohungen. Kaum einer wagte es, dagegen anzugehen.
Wenn fünfzig Luden, zusammengetrommelt aus etlichen Städten, fünf Tage lang einen Kontakthof besetzen und durch bloße Anwesenheit, ohne Gewaltanwendung, jedes Kontaktgespräch unterbinden, wirkt das sofort aufs Portemonnaie und bleibt die beste Waffe. Der neue Puff geht pleite oder läuft erst gar nicht an.
Der nächste Ausbeuter in der Reihe war der Etagenpächter. Er mietete einen Flur für hundertzwanzig Mark pro Tag und Zimmer, teilte den Tag in zwei Schichten, verlangte für jede Schicht achtzig Mark netto plus Block und machte seinen Schnitt. Dafür garantierte er dem Erstpächter die Miete. Risiken waren so besser verteilt.
Nach einigen Wochen stellte ich fest, welches Glück ich gehabt hatte, diesen Job zu kriegen. Normalerweise wird er innerhalb der Clans verteilt. In meiner Etage wollten verschiedene Clans ihren Mann einbringen. Um Streit zu vermeiden, holte der Etagenpächter jemanden aus einer anderen Stadt: mich.
Meine Position machte mich korrumpierbar. Damals, in den Mittsechzigern, gab’s mehr Anwärterinnen als Stellplätze. Eros-Center liefen gut! Gegen Schmiergeld stellte ich diese oder jene Frau bevorzugt ein. Manche Mark gab’s extra, wenn die Luden der Abrechnung ihrer Frauen misstrauten und mich baten, die Pariser zu kontrollieren. Pariser mussten im Haus gekauft werden. Wer eigene mitbrachte, flog raus. Wem nachgewiesen wurde, dass er ohne Gummi gearbeitet hatte, flog auch raus. Offizieller Grund: Angst vor Geschlechtskrankheiten. Wahrer Grund: Angst vor Beschiss. Jeder betrog jeden und hatte Angst, betrogen zu werden.
Am häufigsten gab’s bei den Freiern Protest. Oft stand ich mit meinem Gummiknüppel im Zimmer vor einem elenden Häufchen Mann, der bereits zweihundert Mark bezahlt, nicht aber das bekommen hatte, was ihm versprochen schien. Damals war das Geschäft hart. Es fehlten die Saunaklubs, die inserierenden Hausfrauen, die Dorfpuffs voller Amateure.
Obwohl die meisten Freier wussten, was ihnen blühte, kamen sie dennoch wieder, suchten Liebe oder deftigen Sex und fanden nur Masturbierautomaten.
Sie betrogen sich selbst, ebenso wie die Huren sich betrogen, die glaubten, durch ihren Job unabhängig zu sein.
Wie oft sah ich eine dieser >coolen< Frauen weinend vor einem Kunden aus dem Zimmer flüchten.
Die Frauen stammten aus allen Ländern der Welt und aus allen sozialen Schichten. Manche verdienten gut, andere nicht. Das war keine Frage der Schönheit, sondern eine von Schauspielkunst. Wie den Männern ging es auch den Frauen darum, mit möglichst geringem Einsatz möglichst viel rauszuholen.
Wer den verbindlichsten Ton anschlug, lockte die meisten Männer aufs Zimmer. Wer dort am überzeugendsten das geile Weib und den Orgasmus simulierte, behielt die größte Zahl von Stammfreiern.
Als Schamgrenze galten Küsse auf den Mund.
Alle anderen Körperteile waren freigegeben. Dennoch versuchten viele Frauen, durch Falleschieben dem Kunden vorzutäuschen, dass sein Glied eingedrungen war, während es in Wirklichkeit nur mit der Hand vorbeigeführt wurde.
Ich fragte mich, ob der Zwang, sich für Geld die Gefühle vergewaltigen zu lassen, den Frauen aufs Gemüt schlug und ob es ihnen gelang, privat die Hemmungen abzubauen, die sie sich für den Dienst auferlegt hatten. Man sprach nie darüber. Ich zweifle aber, ob sie es wagten, den im Puff angesammelten Frust bei ihren Zuhältern abzulassen.
Zuhälter sind eine Menschensorte für sich!
Wichtigste Voraussetzung ist die seltsame Mischung aus Egozentrik, Gefühlskälte und der hoch entwickelten Fähigkeit, sich in Frauen hineinzufühlen.
Wenn ich an das Verhältnis von Loddel und Hure denke, fällt mir aus meiner Hamburger Zeit spontan Gitti ein.
Gitti arbeitete schon auf meinem Flur, bevor ich nach Hamburg kam. Monatelang lief sie an mir vorbei und zahlte ihre Miete, ohne dass ich mehr über sie wusste als ihren Namen.
Sie war hoch in den Dreißigern, schlank, klein, blond, schon seit fünfzehn Jahren auf dem Strich und oft betrunken. Irgendwann, als das Geschäft schlecht lief, hockte sie sich zu mir und trank ein Bier.
Von da an kam sie öfter.
Sie erzählte von Erik, dem Mann, mit dem sie seit fünfzehn Jahren zusammen sei. Es war verwunderlich, dass ich ihn nicht kannte, denn ab und zu tauchten alle Luden bei mir auf, wollten dies oder das oder einfach auf den Feierabend ihrer Frauen warten. Ich war etwa ein Jahr dort, als Gitti sich veränderte. Sie hing nicht mehr rum, trank weniger und sah manchmal richtig glücklich aus.
Ein paarmal wurde sie von einem Mann abgeholt. Erik konnte es nicht sein. Der Typ war höchstens fünfundzwanzig, ein Lude der neuen Generation.
Es war etwa drei Wochen nach Gittis Veränderung. Eines Tages stand ein Mann in der Tür zu meinem Kabuff und fragte: »Wo ‘sn Gitti?«
»Besetzt. Warten Sie bitte im Kontakthof!«
»Ich bin kein Freier«, sagte er freundlich und kam rein. Das hatte ich mir gedacht. Er trug einen feinen Kammgarnanzug, polierte Schuhe, ein seidenes Sporthemd, das, vorne offen, mehrere dicke Goldketten enthüllte. Er setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl und zündete sich die Zigarette mit einem goldenen DuPont-Feuerzeug an.
»Bist du Erik?« fragte ich neugierig.
»Nein. Kennst du Erik nicht?«
»Wenn ich, ihn kennen würde, brauchte ich nicht zu fragen.«
»Ach so, ja.« Er lachte, drückte seine Zigarette aus. »Ich bin Waldo, ein Freund von Gitti und Erik. Sag mal, mit wem läuft sie denn zur Zeit durch die Gegend?«
»Ich glaube ein Stammfreier ist bei ihr.«
»Nicht jetzt, im Zimmer. Den mein’ ich nicht. Ich mein’ nach Feierabend.«
Ich wurde vorsichtig. »Keine Ahnung, sie erzählte mir mal was von ‘nem Erik.«
Er nickte. »Du kennst ihn ja nicht. Ist ein guter Typ, der Erik. Wenn du mal in Urlaub fährst, besuch ihn, sag ihm, dass du Bediener auf Gittis Flur bist, dann biste willkommen. «
»Urlaub? Wo?«