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Beginnen wir gleich mit einem Paradox. Heutige Eremiten sind Menschen, die mitten im Leben stehen. Nicht nur vom Alter, sondern auch von der Geisteshaltung her. Sagt Schwester Benedicta, die Frau, die jetzt seit acht Jahren über den Dächern von Bonn in einer alten Klause lebt. Sie muss es wissen. Sie kennt viele ihrer »Kollegen«. Schwester Benedicta ist eine der Initiatorinnen eines ersten Treffens von deutschsprachigen Eremiten aus mehreren europäischen Ländern, das 2010 in der Erzdiözese Freiburg eine in jeglicher Hinsicht bunte Schar an Menschen zusammenführte.
Die 33, die kamen, waren auch aus Österreich, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Tschechien angereist: Einsiedler in strengem kirchlichen Habit oder in legeren Jeans, in unauffälliger Straßenkleidung oder mit orthodox anmutendem Gewand unter dem Rauschebart. Das Treffen verlief so positiv, dass sie allesamt nun kontinuierlich alle drei Jahre ihre Erfahrungen mit ihrer auf den ersten Blick so eigenartigen Lebensform zusammenlegen wollen. Sie sind sozusagen die Kerngruppe heutiger deutschsprachiger Eremiten, also laut Wortsinn der »Wüstenbewohner«, die mehr oder weniger abgeschieden von der übrigen Gesellschaft leben.
Schwester Benedicta ist eine kleine Frau mit freundlichem, offenem Gesicht, die sich seit 2006 in der schon Jahrhunderte zuvor genutzten Klause am Godesberg sozusagen zwischen Himmel und Erde zurückgezogen hat. In ihrem kleinen Hof verströmen das Zitronenbäumchen und der Olivenstrauch hier am Rhein fast mediterranes Flair. Durch die Beine der 66-Jährigen schlüpft Momo, die zugelaufene Katze, die allein das Leben der Einsiedlerin teilt. Eine Mini-Küche, ein Zimmerchen mit Bibliothek, eine Ecke zum Schlafen und unter dem Giebel eine klitzekleine Kapelle mit einem Kruzifix, vielen Ikonen und Kerzen: Das ist die Welt, die einer heutigen Eremitin zum Leben reicht. Hier ist sie sich allein genug. Diese Welt liegt aber nur ein paar Meter von einem der Bonner Touristenmagneten, der pittoresken Godesburg-Ruine, entfernt. Das Rheinpanorama fotografierende Japaner, im Burgrestaurant feiernde Gäste, auf dem Burgplateau sonnenbadende Spaziergänger: Alle sie stören nicht. Schwester Benedicta ist zwar räumlich nah am pulsierenden Leben, aber auf ihre Art gleichzeitig weit entfernt.
Wie eben auch die anderen heutigen Eremiten, die ihr Zuhause nicht nur in einsamen Almhütten, sondern auch in der städtischen Mansardenwohnung oder im ausrangierten Zirkuswagen gefunden haben. Deren erstes Treffen 2010 habe bislang natürlich nur eine ganze Reihe von denjenigen zusammengeführt, die als Ordens- oder Diözesaneremiten letztlich unter den Fittichen der Kirchen verblieben sind, ist von Schwester Benedicta zu erfahren. Beim nächsten Treffen 2013 wolle man durchaus auch Menschen willkommen heißen, die noch auf der Suche sind, hofft die Eremitin. Wobei es schwierig sein dürfte, an diese »Kolleginnen und Kollegen« überhaupt heranzukommen. Anfang 2013 waren über 40 Personen angemeldet.
Aber ist Eremit zu sein und nicht nur vom Alter her mitten im Leben, also auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, wie Schwester Benedicta sagt, nicht an sich schon ein Widerspruch? Stellen wir uns unter leibhaftigen Einsiedlern nicht per se exotische Sonderlinge vor, die in einer Art Folklorekulisse in einsamen Berghütten und auf malerischen Felsen den lieben langen Tag nur fromm ins Gebet versunken sind? Sehen wir vor unserem geistigen Auge nicht todernste, befremdliche, ja weltfremde Mitmenschen, die noch nie Teil der Gesellschaft waren und die bis auf weiteres mit ihrer Umwelt abgeschlossen haben? So die gängigen Klischees.
Schwester Benedicta allein lebt schon den Gegenentwurf. Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in eine rheinische Familie hineingeborene Frau steht mit beiden Beinen fest in der Realität und ist dazu mit dem für die Region so typischen handfesten Humor gesegnet. Als 20-Jährige trat sie in einen aus Italien stammenden Servitinnen-Orden ein. »Mir war schon als junges Mädchen klar, dass ich diesen Weg gehen wollte.« Doch im Laufe von fast vier Jahrzehnten als Schwester in Krankenhäusern und Kirchengemeinden, also mitten im prallen Leben mit all seinen Freuden und Leiden, habe sie den Ruf, ja die Einladung Gottes gespürt, Eremitin zu werden, und das als Endfünzigerin auch ihrem Orden vermitteln können. »Und dieses Leben erfüllt mich seit Jahren zutiefst.«
Schwester Benedicta hatte also, wie es die Eremiten untereinander formulieren, sozusagen »ihren Heuwagen schon eingefahren«, als sie sich von der Gemeinschaft absonderte. Man werde nicht als Eremit geboren, erläutert die Ordensfrau. »Das wird dir nicht in die Wiege gelegt. Ein Stück Weg dahin hat jeder.« Meistens seien es Leute um die 40, bei denen der Weg gelinge, Leute mit Lebenserfahrung. Es gebe aber bei weitem nicht nur Ledige, die wie sie den Weg über einen kirchlichen Orden genommen hätten. Sie persönlich habe ja schon 38 Ordensjahre »auf dem Buckel« gehabt und sei dann reif fürs einsiedlerische Leben gewesen. »Nein. Es gibt auch Väter und Mütter unter den Eremiten, es gibt Geschiedene.«
Die hätten irgendwann an einer Kreuzung ihres Lebensweges einen Ruf verspürt und seien ihm nachgegangen. »Und das ist selten ein Damaskus-Erlebnis, dass man vom Pferd fällt und plötzlich weiß: Jetzt musst du den Weg gehen. Nein, meist ist das eine Entwicklung, ein Prozess.« Und es gebe Eremiten, die vom Pferd gefallen seien, die aber erst langsam realisiert hätten, dass ihr Leben so nicht weitergehen könne, beschreibt es die Bonner Eremitin. Und dann grenzt sie ein, dass die Entscheidung, in Stille zu leben, auf keinen Fall eine Flucht bedeuten dürfe. »Das wäre widersinnig. Da fällt dir die Decke ganz flott auf den Kopf. Denn du kannst nicht mehr fliehen. Du kannst nichts mehr auf andere abwälzen. Du musst dich dir selbst stellen, deiner Eitelkeit, deinem Stolz.« Als Eremit sei man nur sich selbst ausgesetzt. »Und Gott«, fügt die Einsiedlerin hinzu.
Menschen, die es wie Schwester Benedicta aus religiösen Gründen in die Einsamkeit zieht, waren in der Vergangenheit und sind auch heute nicht die einzigen, die sich dafür entscheiden, sich aus der Gemeinschaft zu verabschieden. Da gibt es heute im Berner Oberland etwa den Elektriker, der seinen Weg in die Spiritualität gut zehn Jahre in einer Hütte in einem Flussbett gefunden hat, ohne dabei die Anerkennung einer Kirche zu suchen. Da gibt es den ehemaligen Kreuzfahrtschiff-Offizier aus Deutschland, der sich seit 40 Jahren allein genug ist: hermetisch abgeschieden zwischen Kakteen auf einer Mittelmeerinsel. Auch von ihm ist kein explizit christliches Statement bekannt. Und da gibt es zum Beispiel den Ex-Designer, der sich seit gut 30 Jahren jeden Tag aufs Neue freut, im Schäferkarren auf der Schwäbischen Alb allein zu sein. Der Mann spricht von rein philosophischer Prägung. Oder da gibt es wiederum die deutsche Künstlerin, die seit Jahrzehnten in Höhlen und Hütten Nordindiens eremitisch lebt: als Nonne eines Shivaiten-Ordens.
Was ist also das Geheimnis der gerade in den letzten Jahren wachsenden Zahl von Menschen, die sich bewusst allein in den Heuschober ins Grüne oder in die kirchliche Klause, ins Hochhaus mitten in der Stadt oder à la Robinson Crusoe in die Sperrholzhütte zurückziehen? Die ihre Reise zu sich selbst ohne Rückfahrkarte gebucht haben. Warum gehen Zeitgenossen irgendwann in ihrem Leben sozusagen in die Wüste? Schauen wir beispielsweise in die christliche Religions- und Kulturgeschichte, so haben sich schon gut 1.500 Jahre zuvor Menschen für diese radikale Lebensform entschieden. In den ersten Jahrhunderten des Christentums verließen Männer und Frauen zu Hunderten die Zivilisation der Städte, um in der ägyptischen Wüste der Tiefe der menschlichen Seele auf die Spur und Gott näherzukommen.
»Wüstenväter« und »-mütter« nennt man diese Vorreiter des dritten bis fünften Jahrhunderts nach Christus. Ihnen verdanken die Kirchen, wie es der Autor Hans Conrad Zander in seinem Buch »Als die Religion noch nicht langweilig war« schreibt, einige ihrer größten und kostbarsten Erfahrungen. Nämlich letztendlich die Gewissheit, »dass in jedem von uns etwas ist, was nicht gesellschaftlich, sondern göttlich, einzigartig und unantastbar ist«, und dass der Einzelne das auch an die anderen weitergeben sollte. In den Lebensmustern der Wüstenväter und -mütter seien auch die modernen Möglichkeiten von Eremiten alle schon angelegt gewesen, argumentiert Zander: im heroischen Einzelgängertum des Ägypters Antonius wie in der pädagogischen Variante des ebenfalls ägyptischen Asketen Pachomius , auf den letztlich das christliche Mönchstum zurückgeht, und natürlich auch in der Show-Variante des Syrers Simeon, der auf der Säule die Einsamkeit zum Spektakel machte.
Die bekanntesten der Wüstenväter und -mütter scharten dann übrigens Gleichgesinnte um sich. Wie Pachomius gründeten sie asketische Gemeinschaften, deren Tagesablauf an einem strengen Regelwerk ausgerichtet war. So entstanden die christlichen Orden, die die abendländische Kultur im Laufe der Jahrhunderte tiefgreifend prägten: auch die Orden der Römisch-Katholischen und inzwischen auch die Kommunitäten der Evangelischen Kirche. Innerhalb derer Elemente der radikal eremitischen Denk- und Lebensweise weiterhin unterschiedlich intensiv lebendig bleiben: die Abkehr von der Zivilisation und Verweltlichung, um ein gottgefälliges und kontemplatives, in sich gekehrtes Leben zu leben, sowie mehr oder weniger auch das Schweigen. Im Rahmen der Orthodoxen Kirche fallen natürlich sofort die den frühen Wüstenvätern verwandten Prinzipien der griechischen Athos-Klöster ins Auge.
Konstant, aber eben fest innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft wurde etwa in den eremitisch angelegten römischkatholischen Orden der Kartäuser oder der Trappisten bis zu einem bestimmten Grade weiter die Nachfolge des Wüstenvaters Pachomius gelebt. Sozusagen in freier Wildbahn hatten es potentielle Nachfolger der einsam lebenden »Väter« Antonius und Simeon aber mehr als schwer. Im Westen Europas mutete zum Beispiel die britische Tradition der »Schmuckeremiten« des 19. Jahrhunderts regelrecht skurril an. Diese Männer hatten dem Publikum in Landschaftsparks gegen Bezahlung in eigens eingerichteten, auf alt getrimmten Eremitagen das Schauspiel einsamen Betens zu bieten. Der Einsiedler war nur noch im Freizeitpark geduldet, weil er ansonsten nicht ins Raster eines möglichst reglementierten Lebens passte. Wenngleich es Vertreter dieser so exotisch anmutenden Lebensform wohl immer am äußersten Rand der Gesellschaft gegeben hat.
In Westeuropa und damit auch im deutschsprachigen Raum musste also die Wertschätzung für den einzelnen Eremiten, nachdem sie lange Jahrhunderte verschüttet schien, erst wiedererweckt werden. Erst im 20. Jahrhundert meldete sich eine wachsende Zahl von Interessenten und Förderern gerade innerhalb der Katholischen Kirche zu Wort. 1983 reagierte die Institution und baute eine neue Wertschätzung der eremitischen Lebensform ins Kirchenrecht mit ein. Darin heißt es im Canon 603 plötzlich, dass die Kirche das eremitische oder anachoretische Leben anerkennt, »in dem Gläubige durch strengere Trennung von der Welt, in der Stille der Einsamkeit, durch ständiges Beten und Büßen ihr Leben dem Lob Gottes und dem Heil der Welt weihen«. Dazu wurde 1983 die Möglichkeit rechtlich verankert, dass sich Männer und Frauen zu dieser Lebensform seither vor ihrem Bischof verpflichten und sie unter seiner Leitung als Diözesaneremiten leben können.
Gehorsam, Keuschheit und Armut wurden als Bedingungen gemäß den sogenannten evangelischen Räten, also den Ordensregeln, formuliert. Eremitisches Leben finde zwar soziologisch am Rande der Gesellschaft und der Kirche statt, stehe aber in seiner Gottverbundenheit und tiefen Solidarität mit den anderen nun auch immer im spirituellen Zentrum der Glaubensgemeinschaft, erläutert das etwa der Münsteraner Bischof Felix Glenn. Damit waren auch von offizieller katholischer Seite her die Weichen neu gestellt. Das so ins Kirchenrecht aufgenommene Credo hatte dann folgerichtig seit 1983 unter den dieser Kirche eng verbundenen Aspiranten eremitischen Lebens eine ungeheuer befreiende Wirkung. Während innerhalb der Evangelischen Kirche kein eremitisches Leben Einzelner bekannt ist, bewarben sich innerhalb ihrer Schwesterkirche immer mehr meist aus Ordensgemeinschaften stammende Männer und besonders auch Frauen, ein entsprechendes Gelübde aussprechen zu können. Eine ganze Reihe hatte dabei übrigens schon die Konversion vom Protestantismus hinter sich.
Die Bonner Eremitin Schwester Benedicta mag als Beispiel dafür gelten, dass heute auch innerhalb eines Ordens das Eremitengelübde ablegt werden kann. Andere Anwärter wie die 56-jährige Maria Anna wurden als Diözesaneremiten anerkannt, Maria Anna vom Bistum Osnabrück. Seither lebt sie als Eremitin allein in einem Bauernhaus in Niedersachsen. Unter ihrem Namen Maria Anna Leenen ist die Frau, die als 30-Jährige »nach einer intensiven inneren Erfahrung« zum Glauben kam und dann »die Berufung zur Eremitin« verspürte, übrigens eine Schaltstelle im Kreis katholischer Einsiedler. Maria Anna ist seit Jahren eine vielgefragte Gesprächspartnerin für die Medien. Zudem verfasste sie seit 2001 Bücher wie »Einsam und allein. Eremiten in Deutschland«, in denen sie ihr eigenes und deren Anliegen aus der Selbstperspektive schildert. Dazu ist sie mit ihrer Regensburger »Kollegin« Schwester Britta eine der wenigen Vertreterinnen ihrer »Zunft«, die mit der eremitischen Botschaft auch übers Internet aktiv an die Öffentlichkeit gehen. Maria Anna postet auf www.eremiten-in-deutschland.de.
Sind nun die so ganz unterschiedlichen archaischen Typen des alten Wüstenvätertums, die des Antonius, des Pachomius und des Simeon, bei diesen modernen Einsiedlern wiederzufinden? Spüren die heutigen Eremiten bei ihren so unterschiedlichen Ausbrüchen aus den normalen Lebensabläufen, dass sie ebenfalls »göttlich, einzigartig und unantastbar« sind, und dass das eine ihrer Botschaften an die Mitmenschen sein könnte? Wobei die Erfahrungen der ersten christlichen Eremiten in der Wüste vor 1.500 Jahren ja auf keinen Fall die Weltflucht bedeuteten. »Getrennt von allen und doch vereint mit allen« sah sich etwa der Eremit Evagrios Pontikos im vierten Jahrhundert. Die Verbundenheit mit den Mitmenschen wurde hier in der selbst gewählten und oft auch schmerzhaft empfundenen Einsamkeit neu und sogar mit mehr Tiefe durchdekliniert.
Werden die modernen deutschsprachigen Eremiten, die hier befragt werden konnten, das in der einen oder anderen Weise bestätigen? Oder werden sie andere Ziele formulieren? Warum also gibt es heutzutage immer mehr Menschen, die sich allein auch genug sind? Die eine strikte Abkapselung nicht nur als Phase des geistigen Auftankens einschieben, die nicht nur einmal kurz aus ihrem Alltag aussteigen, sondern die das Alleinsein auf Dauer konsequent verwirklichen und dafür ihr gesamtes Leben umstülpen. Was hat diese Menschen angetrieben, sich zu sich selbst aufzumachen? Aus welchen Lebenszusammenhängen sind sie gekommen?
Der Kreis der kirchlich gebundenen Eremiten um Schwester Benedicta geht von heute rund 80 dieser Menschen allein in Deutschland aus. Hauptsächlich seien es Frauen. Aber damit wären nur die der Katholischen Kirche nahestehenden deutschsprachigen Einsiedler sowie ein orthodoxer Eremit berücksichtigt. Im Jahr 1994 hatte eine Umfrage von Ernst Schneck für den gesamten deutschsprachigen Raum noch 39 katholische Eremiten gezählt. Innerhalb von knapp 20 Jahren hätte sich die Zahl allein der unter den Fittichen beider Kirchen stehenden Eremiten wohl damit erheblich vervielfacht. Und die sogenannten freien Eremiten, deren Zahl völlig unbekannt ist, wären nicht im Ansatz mit erfasst.
Da ist zum Beispiel Pater Gabriel Bunge, der seit über 30 Jahren unter dem Schutz der Abtei Einsiedeln im Tessin als Eremit lebt. Der 72-Jährige ist eine der Leitfiguren nicht nur unter den deutschsprachigen Einsiedlern. Eine ganze Reihe der in diesem Buch Befragten gaben genau diesen charismatischen Priestermönch als ihren Wegbegleiter zum Eremitentum und dann auch als ihren »geistlichen Vater« an, also als den Menschen, mit dessen Hilfe sie auch die schweren Phasen ihres Weges bewältigen. Dass der auch als Buchautor gefeierte Benediktinerpater nach einem langen Findungsprozess vor ein paar Jahren spektakulär zur russisch-orthodoxen Kirche übertrat, nehmen ihm die weiterhin katholischen »Eremitenkollegen« keineswegs übel. Das Wort von Pater Gabriel hat ohne jeden Zweifel Bestand.
Der so Verehrte wurde 1940 in ein engagiert katholisches Elternhaus in Köln hineingeboren und ist in seiner Art einen konsequenten Weg ohne sichtbare Brüche gegangen. An der Universität Bonn begann Gabriel Bunge Philosophie und vergleichende Theologie zu studieren und promovierte, um alsbald in den Benediktinerorden einzutreten. Ein Aufenthalt in orthodoxen Klöstern in Griechenland hinterließ aber ebenfalls Spuren: die lebenslange Liebe für das östliche Mönchtum. Nach 18 Jahren in einem Kloster in Belgien gelang dem Pater, dem man seine Kölner Sprachmelodie immer noch anhört, 1980 mit dem Segen seiner Oberen der Wechsel in die Schweizer Einsiedelei.
Pater Gabriel sieht sich seither, wie er es einer Journalistin 1992 schilderte, monastisch so leben, wie es im frühen Christentum vorgezeichnet sei. Für ihn sei der Rückzug in die Abgeschiedenheit ebenso wichtig wie der Verzicht, um auf dem Lebensweg Fortschritte zu machen. Armut, Keuschheit und Gehorsam seien die Leitlinien, nach denen er lebe. Soziale Kontakte seien zwar nicht verboten, ihnen seien aber strikte Grenzen gesetzt. Zu enge Kontakte zu Mitmenschen könnten zu Spannungen führen, die den Einsiedler in Konflikte zögen. Und genau diese Probleme menschlicher Beziehungen dürften in der Welt eines Eremiten keinen Raum beanspruchen, so Pater Gabriel. Ein Eremit habe sich nicht von der Welt verabschiedet, nur von ihrer Betriebsamkeit.
Schwester Renate ist ebenfalls eine dieser unter den deutschsprachigen Einsiedlern hoch angesehenen Persönlichkeiten. Die 77-jährige Diözesaneremitin hatte 14 prägende Jahre in dem regional bekannten Wallfahrtsort Klus Eddessen im Weserbergland hinter sich, bis sie der Gesundheit wegen Ende 2008 in ein altersgerechtes Haus ihres Benediktinerordens zurückkehrte. Zehn Jahre habe sie zuvor dafür kämpfen müssen, bis ihre Gemeinschaft sie endlich nach ihrem Herzenswunsch in diese Klause ziehen ließ, schrieb 2003 eine große deutsche Zeitung im Rückblick. Schwester Renate redet heute nicht gerne über die schwere Zeit, sondern lieber über die wirklich wichtigen Dinge, die sich im Inneren von Eremiten abspielten.
»Denn wenn ich wirklich zu mir selbst komme, dann komme ich zu Gott. Das kann auch demjenigen passieren, der gar nicht an Gott zu glauben scheint«, baut die erfahrene Eremitin eine Brücke zu sicher so manchem freien Einsiedler. Gott sei nämlich ihrer Meinung nach nicht irgendwo im Jenseits, erklärt Schwester Renate. Zu sich selbst kommen wollte die erfahrene Benediktinerin im Laufe ihrer Ordenszeit auf jeden Fall. »Und zwar nicht als Abenteuer. Ich wollte keine Aussteigerin sein«, sondern im gelebten Alltag dem unbegreiflichen Geheimnis Gottes fest auf der Spur bleiben: allein als Eremitin. Dass heutzutage gerade Frauen eher diesen Weg einschlügen, begründet Schwester Renate mit möglichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Die von ihrer Erziehung geprägten Männer definierten sich sicher noch mehr über Leistung, die nun sichtbar und messbar gerade ein Eremit nicht erbringe. »Frauen dagegen können vielleicht mit offeneren Händen leben, weil sie empfangen können«, so die Diözesaneremitin.
Ein Mann »mit offenen Händen« ist auf jeden Fall Bruder Gereon, ein rheinischer Diplom-Theologe, dessen Weg einen regelrecht spannenden Verlauf genommen hat. Seit Mitte 2012 hat sich der heute 43-Jährige als Diözesaneremit des Bistums Münster in einer Klause in einem kleinen Ort im hohen Norden, in Friesland, zurückgezogen. 30 Quadratmeter umfasst sein einsiedlerisches Reich in einer kleinen katholischen Diasporagemeinde, für die er, um sich zu ernähren, einige Wochenstunden als Organist und Bildungsexperte arbeitet.
Dieser friesische Eremit kommt wie Pater Gabriel aus Köln, einer pulsierenden Millionenstadt und Mittelpunkt der innerhalb der Katholischen Kirche wichtigen Erzdiözese Köln. Bruder Gereon dürfte zahlreichen Rheinländern aber auch noch als politischer Kabarettist in Erinnerung sein. Der schlaksige Gereon Perse trat nämlich noch 2002 an der Seite von Kabarettstars wie Jürgen Becker oder Willibert Pauels auf. Da hämmerte er auf die Tasten seines Flügels, da schwitzte er auf der Bühne, wenn er singend gegen Militarismus und die Härten des Kapitalismus vom Leder zog. Gleichzeitig hatte Perse aber schon da seinen neuen Lebensweg angebahnt: Seit 1994 hatte er die geistliche »Gemeinschaft für Ökumene, Glaube und Gebet« in Köln mit aufgebaut, innerhalb derer er irgendwann begann, selbst monastisches, also klosterähnliches Leben auszuprobieren.
Bald habe es dann angefangen, »das Gefühl, mich stärker der Stille aussetzen zu müssen«, antwortet Bruder Gereon heute auf die Frage nach seinem Ausgangspunkt für eremitisches Leben. Seit 1996 verwirkliche er diese Lebensform. 1998 habe er dafür der Katholischen Kirche das erste Versprechen gegeben. 2008 verpflichtete er sich in Siegburg endgültig dazu, von nun an die Regeln eremitischer Mönche einzuhalten. »Meine Entscheidung zum eremitischen Leben erscheint mir unumkehrbar«, antwortet Bruder Gereon auf die Frage nach seiner Perspektive. »Die Stille zu wagen«, sei die Sehnsucht gewesen, die ihn nun auch ins ländliche Friesland getrieben habe, sagt der Mann, der seine ersten vier Lebensjahrzehnte in der tosenden Großstadt gelebt hat.
Sich den überwiegenden Teil des Tages im äußeren und inneren Schweigen zu üben und nach Möglichkeit Störungen von außen zu vermeiden, heiße nun die Lebensregel, ergänzt der Mann, der einst gerade den wortgewaltigen öffentlichen Auftritt suchte, der vom Applaus des Publikums lebte. »Geh mit Achtsamkeit und innerer Ausrichtung auf Gott deinen Tätigkeiten nach«, heiße eine weitere seiner Regeln, so Bruder Gereon heute nach seiner Kehrtwende. Der Mann des Wortes ist zum Schweiger geworden – und fühlt sich im Reinen mit sich selbst. Er hat sich äußerlich streng von der Welt getrennt. Aber er sei dort, wo seine Seele in Gott wurzle, mit der ganzen Schöpfung wieder neu verbunden. Er wisse natürlich, dass Zeitgenossen auch ohne kirchlichen Hintergrund eremitische Wege gingen, fügt Bruder Gereon hinzu. Zu denen habe die Gemeinschaft der 33 Eremiten, die sich 2010 erstmals traf und zu der er gehört, nicht recht den Überblick. »Aber die Übergänge sind fließend.«
Denn Wege wie der von Gereon Perse weisen doch einige Parallelen zu denen anderer Einsiedler auf, die die Frage nach einer kirchlichen Bindung staunend verneinen. Der 67-jährige Anthon Wagner etwa ist ein Mann, dem seit über 30 Jahren sein alter Schäferkarren auf der Schwäbischen Alb zum Leben genug ist. Wagner ist studierter Graphik-Designer. Er arbeitete für eine Werbeagentur, bis er sich 1973 mit Kunst- und Gebrauchsgraphik selbstständig machte. In der Region ist er seit Jahren für seine Miniatur-Kunst bekannt, die er seit 2006 im kleinen Museum Anthon in Breitenholz, einem 700-Seelen-Dorf abseits des Verkehrs zwischen Tübingen und Herrenberg, ausstellt. Doch bei den 700 Seelen ist Anthon Wagner nur selten. Tagsüber arbeitet er in einem Atelier, das er sich im Dorf angemietet hat. Und danach geht es sofort wieder in die Zweimal-zwei-Meter-Behausung auf der Wiese.
Beim Zeichnen dieses Schäferkarrens sei er vor drei Jahrzehnten mit dem alten Eigentümer dieses Gefährts ins Gespräch gekommen, berichtet Wagner. Dieser Kontakt habe schließlich zum Übergang des 100-jährigen Karrens in sein Eigentum geführt. »Speziell für diesen Karren erstand ich eine einsame Wiese am Waldrand des Naturparks Schönbuch«, so der Einsiedler. Nach der Renovierung habe er dort dann ein paar Testnächte verbracht. »Und ich war fasziniert von der Stille, der Möglichkeit des ungestörten Nachdenkens, des Einsseins mit der Natur.« Der Prozess, das Schäfergehäuse dann wirklich als Lebensmittelpunkt zu wählen, habe sich dann ziemlich geradlinig vollzogen. »Erst sporadische Übernachtungen im alten Schäferkarren, um nachzufühlen, wie der Hirte früher bei seinen Schafen hauste. Dann Gefallen gefunden am ziemlich unbeschwerten und nicht von ständiger Rücksichtnahme geprägten Leben weit weg von allen«, schildert Wagner das in seiner typischen kurz angebundenen Art.
Die Philosophie habe ihn letztlich zur eremitischen Lebensform geführt. Bereits als Jugendlicher habe er sich mit philosophischen Weltbildern und Erklärungsmustern beschäftigt. Seither stünden ihm Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer am nächsten. »Am warmen Abend zeichnend am Tisch vor meinem Karren sitzend und dann bei Kerzenlicht noch ein, zwei Seiten Schopenhauer lesen und reflektieren, könnte ich als mein höchstes Glück bezeichnen«, sagt er heute nach über 30 Jahren Einsiedler-Erfahrung. Es habe ihm natürlich letztlich doch auch einige Mühe bereitet, sich auf so wenig Raum wie in seinem Karren so einzurichten, dass man sich wohlfühlen konnte, fügt er dann noch hinzu.
Dieser Prozess sei auch heute, nach über 30 Jahren, immer noch nicht abgeschlossen, so dass »Detailkorrekturen« an der Tagesordnung seien. Doch die Früchte des einsiedlerischen Lebens seien das wert. Die Freude an Dingen, Entwicklungen, Bildern und Tönen, die er früher nicht einmal wahrgenommen habe, habe er zu seinem Glück im Laufe der Zeit wachsen gespürt. »Es geht mir einfach gut«, sagt der Mann von der Schwäbischen Alb. Und er schaut von seinem Schäferkarren, aus dem eine kleine Esse ragt, auf eine malerische Wiese und den ebenso herrlichen Ausblick in die freie Landschaft. Weit ist die rastlose Welt. Nah ist dieser Mann bei sich und der Natur, also letztlich, wenn er selbst das wohl auch nicht so formulieren würde, bei der Schöpfung Gottes. »Ich bin mir selbst genug«, sagt Anthon Wagner.